Cover

Leseprobe

Gieriges Sylt

Hannah Lambert ermittelt 6

Friesenkrimi

Thomas Herzberg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Fassung: 1.0

 

Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, dazu auffordert oder auch nur ermuntert!

 

 

 

 

 

 

 

Ein großes Dankeschön geht an:

 

Bärbel, die von Anfang bis Ende dabei war (ohne dich würde es nur halb so viel Spaß machen)

Frau Schmidt (die sich auch wieder richtig „reingehängt“ hat), Nicolas, Roswitha (aus der Uckermark)

Covergestaltung: Chris Gilcher (http://buchcoverdesign.de)

 

Ein Bonus-Dankeschön geht an Manuel, der selbst einen Airbus A320 fliegt und damit bereits auf Sylt gelandet ist. Er hat dafür gesorgt, dass im Cockpit alles mit rechten Dingen zugeht ;)

 

Was man über Sylt wissen sollte …

 

 

»Rüm hart, klaar kiming« (weites Herz – klarer Horizont): Ein Zitat, das den inselfriesischen Kapitänen zugeordnet wird. Damit beschreiben sie – neben der Mentalität der Menschen, die dort zu Hause sind – auch eine in Deutschland einzigartige Landschaft. Sylt ist vermutlich der bekannteste Teil davon. Aber wer glaubt, auf der beliebten Ferieninsel nur Schickimicki vorzufinden, irrt gewaltig. Denn wer genauer hinsieht und einen kleinen Fußmarsch nicht scheut, stößt hier auf einmalige Orte, die man nie wieder vergisst. Es heißt nicht umsonst: »Wer sich in Sylt verliebt, den lässt die Leidenschaft nie wieder los.« Vom Millionär und Gentleman-Playboy Gunter Sachs stammt folgendes Zitat zum anderen Gesicht der Insel: »Ich fühle mich in Kampen auf Sylt ein bisschen wie ein Affe im Zoo … aber mit lieben Besuchern.«

Klar, wer den Sound neuester Sportwagen, Champagner und teure Boutiquen zum Glücklichsein braucht, wird auf Sylt ebenfalls fündig. Jeder wie er mag … und ich glaube, das beschreibt die Mentalität der Menschen hier am besten.

 

Sylt in Zahlen:

 

Länge von Nord nach Süd: 38 Kilometer

Breite von West nach Ost: 12,6 Kilometer (an der schmalsten Stelle sind es weniger als 500 Meter)

 

Und weil eben keine Straße nach Sylt führt, erfolgt die Anreise nur per Autozug, Fähre oder Flugzeug. Wer sich auf den Weg macht, dem wünsche ich viel Spaß auf der Insel. Vielleicht laufen wir uns ja zufällig bei Gosch über den Weg und essen zusammen ein Fischbrötchen. Aber Vorsicht: Nicht nur ich, sondern auch die Möwen dort sind verdammt hungrig ;)

 

 

 

Inhalt

 

 

Sylt, Anfang August: Auf der beliebten Ferieninsel landet ein Airbus aus Düsseldorf. Bis dahin läuft an Bord alles routinemäßig. Doch während über hundert urlaubshungrige Passagiere bereits dem Terminal entgegeneilen, bleibt ein Mann in der zweiten Reihe reglos sitzen. Mit gutem Grund, schließlich ist er tot. Besonders brisant, weil es sich dabei um den ehemaligen Finanzchef der Gemeinde Sylt handelt, der in etliche Korruptionsfälle verwickelt ist.

Bei ihren Ermittlungen sehen sich Hannah, Ole und ihr neuer Kollege Ralf zunächst einem Geflecht aus Lügen und Verrat gegenüber. Dahinter – das wird jeden Tag deutlicher – verbergen sich die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele …

 

"Gieriges Sylt" ist Teil 6 der Reihe "Hannah Lambert ermittelt".

 

Jeder Fall ist in sich abgeschlossen. Es kann allerdings nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ;)

 

Bisher erschienen:

  • "Ausgerechnet Sylt"
  • "Eiskaltes Sylt"
  • "Mörderisches Sylt"
  • "Stürmisches Sylt"
  • "Schneeweißes Sylt"
  • "Gieriges Sylt"
  • "Turbulentes Sylt"

 

"Hannah Lambert ermittelt" ist mit weit über 600.000 verkauften Exemplaren eine der erfolgreichsten Krimi-Serien der letzten Jahre. Alle Teile sind als eBook und als Taschenbuch verfügbar. Band 1-6 sind bereits als Hörbuch erschienen, Teil 7 folgt in Kürze.

 

Weitere Informationen und Bücher findet ihr auf meiner Homepage:

 

ThomasHerzberg.de

 

Thomas Herzberg auf Facebook

 

 

1

 

 

»Das darf doch nicht wahr sein! Sind die lebensmüde oder einfach nur völlig verrückt?« Flugkapitän Horst Sander klang nach dem letzten Funkspruch des Towers halb belustigt, halb wütend. Kein Wunder, denn mitten im Landeanflug auf den Sylter Flughafen hatte ihn der diensthabende Lotse angewiesen, sofort abzubrechen und eine Platzrunde zu drehen. Der Hintergrund war haarsträubend: Eine Cessna hatte vier Fallschirmspringer irgendwo nahe Westerland abgesetzt und sich bei der Landung unerlaubt vorgedrängelt. In solchen Fällen sah das Verfahren obligatorisch den Abbruch des Landemanövers vor. Im Klartext: Die über hundert Passagiere an Bord des Airbus A320 hatten noch einen ausgiebigen Rundflug über die schöne Ferieninsel vor sich. Bei sonnigem Wetter und klarer Sicht ein Bonus, der vermutlich so gut wie jedem gelegen käme.

Um die Maschine nach dem Durchstarten auf neuen Kurs und Flughöhe zu bringen, waren lediglich ein paar Handgriffe erforderlich. Die erledigten der Kapitän und sein Erster Offizier routiniert, beinahe wie im Schlaf. Danach drehte sich Sander nach rechts. »Glaubt man sowas? Möchtest du in einer Cessna sitzen und Bekanntschaft mit einem ausgewachsenen Airbus machen?«

Es sah aus, als würde der Copilot ernsthaft darüber nachdenken, bevor er den Kopf schüttelte. »Wenn alles glatt läuft, werde ich nächste Woche zum ersten Mal Vater. Unsere Lebensversicherung ist zwar nicht schlecht, aber …«

Es klingelte im Cockpit. Auf dem kleinen Monitor, der zur Sicherheitskamera gehörte, war das Gesicht einer Flugbegleiterin zu sehen. Nachdem die Tür entriegelt war, steckte sie ihren Kopf herein. »Habt ihr etwa vergessen, wo‘s langgeht?«, erkundigte sie sich kichernd.

»Planänderung«, erwiderte der Kapitän, dessen Stimme wie ein Bass klang. »Du kannst die Passagiere darauf vorbereiten, dass wir vorm Weststrand Notwassern. Die sollen was Hübsches anziehen und das Eincremen nicht vergessen.«

Inzwischen hatte sich die Flugbegleiterin ins Cockpit geschoben und die Tür zum Kabinenbereich geschlossen. Sie stand direkt hinter Sander, ihre Hände lagen auf seinen Schultern. Ein Maß an Vertrautheit, das sicherlich nicht nur mit den beengten Verhältnissen zusammenhing.

»Da unten links ist Kampen«, stellte sie fest und lehnte sich währenddessen über Horst Sander.

Der ließ es sich gern gefallen, dass dabei ein voluminöser Busen seinen Hinterkopf beinahe zur Hälfte umschloss. Offensichtlich war es ihm auch egal, dass sein perfekt gescheiteltes Haar durcheinandergebracht wurde. Er holte tief Luft und verkündete den neuen Flugplan: »Oben am Ellenbogen legen wir uns ordentlich in die Kurve und fliegen den kompletten Weststrand runter. Für die Aktion sollten wir eigentlich extra Geld verlangen.«

»Hoffentlich denken die Touris nicht, dass wir Carepakete abwerfen«, fügte der Erste Offizier lachend hinzu. »Meine Schwiegereltern sind gerade auf Sylt, denen würde ich sowas zutrauen und ...« Er verstummte plötzlich und lauschte einem Funkspruch des Towers über den Kopfhörer. Neben ihm hatte Sander seinen zur Seite geschoben, um mehr Platz für andere Freuden zu lassen.

»Die Fallschirmspringer sind schon vor zehn Minuten sicher gelandet. Wir sollen auf der 32 von Süden aus reinschlittern, Freigabe zur Landung erteilt«, erklärte der Copilot und sprach leise weiter: »In der Haut des Cessna-Piloten möchte ich jetzt nicht stecken. Schätze, der hat ein richtiges Problem am Allerwertesten.«

Der Kapitän warf einen Blick aus dem seitlichen Cockpitfenster. Unter dem Airbus breitete sich der Sylter Ellenbogen aus, Deutschlands nördlichster Punkt. Sander stöhnte ein bisschen wehmütig. »Dann fällt die Reise am Weststrand entlang eben aus. Wir drehen eine große Runde über der Nordsee und gleiten ganz ruhig über Hörnum rein. Am besten informierst du umgehend den Tower.«

Der Erste Offizier setzte einen entsprechenden Funkspruch ab und checkte nacheinander ein paar Instrumente. »Wir haben Seitenwind aus Westen, etwa 15 Knoten.«

Sander fiel in seinem Sitz zurück. Durch dieses Manöver nahm sein Hinterkopf erneut Kontakt zum Vorbau der Flugbegleiterin auf. Wobei seine nächsten Worte dem Copiloten galten: »Heute übernimmst du die Landung«, verkündete er genüsslich. »Hals- und Beinbruch!«, ging es mit einem an die Frau gerichteten Grinsen weiter. »Ist sein erstes Mal auf Sylt.«

 

Eine Viertelstunde später bremste der Erste Offizier den Airbus sanft vor dem Terminal des Sylter Flughafens ab und brachte ihn mit einem kurzen Ruck zum Stehen. Nachdem die Triebwerke auf dem Weg zur Parkposition heruntergekühlt waren, konnten sie nun abgeschaltet werden. Sofort setzten sich zwei rollende Gangways in Bewegung, die an den Ausgängen vorne und hinten in Stellung gebracht wurden.

Auch in der Kabine liefen die Vorbereitungen zum Verlassen des Flugzeugs auf Hochtouren. Die beiden Flugbegleiterinnen am vorderen Ausstieg unterhielten sich leise, während die üblichen Tumulte rund um das Handgepäck anfingen.

»Ich bleibe ein paar Tage auf Sylt«, flüsterte Susanne Schmidt, die gerade erst aus dem Cockpit zurückgekehrt war. »Marlies löst mich ab. Wenn sie nach Hause kommt, warten ein Amtsrichter und ’ne Scheidung auf sie.«

»Ich hab schon seit zwei Wochen ständig Rückenschmerzen«, beklagte sich ihre Kollegin und strich sich dabei mit der Rechten über den Bereich oberhalb ihres Hinterteils. »Mein Freund meint, ich sollte am besten umschulen.«

»Und was dann? Willst du im Büro hocken und verstauben?«

Für eine Antwort blieb keine Zeit, denn einer der Fluggäste – ein zwergenhafter Mann von etwa sechzig – hatte wohl Probleme, sein Handgepäck aus dem oberen Fach zu zerren. Susanne setzte ein geübtes Lächeln auf und half ihm ungefragt. Als auch der Hinterausgang geöffnet war, leerte sich die Kabine schnell. Die meisten Passagiere konnten es vermutlich gar nicht abwarten, ihr Feriendomizil zu erreichen und danach den Tag am Strand oder in einem schicken Restaurant ausklingen zu lassen.

Zwei der Flugbegleiterinnen waren längst damit beschäftigt, Müll und andere Hinterlassenschaften in Plastiksäcke zu stopfen. Das Boarding für den Rückflug nach Düsseldorf würde in etwas mehr als einer Stunde beginnen. Bis dahin gab es noch einiges zu tun. Doch plötzlich blieb Susanne Schmidt mitten im Gang wie angewurzelt stehen.

»Da vorne hockt noch einer«, zischte sie ihrer Kollegin zu, die sich von hinten näherte.

»Der hat die Landung verschlafen – ist wahrscheinlich betrunken. Hoffentlich schafft er es gleich aus eigener Kraft nach draußen. Mit meinem Rücken kann ich auf alles andere gut verzichten.«

Susanne setzte sich wieder in Bewegung. In Höhe der zweiten Reihe blieb sie stehen und beugte sich nach vorne. »Hallo? Hallo!« Sie lachte kurz. Um sich noch weiter zu nähern, musste sie ihren Busen bändigen und sich an der Kopfstütze der zweiten Sitzlehne festhalten. Ihre rotlackierten Finger fanden eine Schulter, rüttelten sanft daran. »Hallo! Aufwachen … wir sind da.«

Der Mann war angeschnallt. Weil Susanne immer heftiger an ihm rüttelte, geriet sein ganzer Körper in Bewegung und kippte zuerst seitlich zum freien Fensterplatz. Der bot jedoch keinen Widerstand. Deshalb wurde diese Eigendynamik erst gestoppt, als sein Kopf gegen die Rückenlehne der ersten Sitzreihe krachte. Gleichzeitig öffnete sich sein Mund. Eine zähe Flüssigkeit lief heraus und tropfte auf den Boden zwischen seinen Füßen.

Susanne ließ blitzartig die Schulter los und fuhr wie nach einem Stromschlag erschrocken zurück. Ihr Kopf schnellte zur Seite, wo sie den Blick ihrer Kollegin fand. »Du ... ich glaube, der ist tot.«

»Gibts Probleme?«, erkundigte sich Kapitän Sander. Der Pilot hatte sich bis eben noch ausgiebig vor der Cockpittür gereckt. Zweifellos Dehnübungen, um sich auf den Rückflug vorzubereiten. Sein Bass dröhnte durch die ganze Kabine: »Was ist denn los? Schläft da einer unserer Fluggäste etwa noch?«

Zu einer Antwort waren beide Frauen nicht imstande. Aber es reichte wohl als Erklärung, dass sie synchron auf den Mann zeigten, der unnatürlich verkrümmt auf seinem Sitz kauerte.

Sander warf nun selbst einen Blick auf die bizarre Szenerie, zögerte allerdings. Da er sich mehr und mehr zwei erwartungsvollen Augenpaaren gegenübersah, schob er sich zwischen die Sitzreihen und ging dort ein Stück in die Knie. Bei den beengten Verhältnissen kam das einem akrobatischen Akt gleich.

»Der ist tot«, flüsterte Susanne Schmidt, noch bevor Sander etwas sagen oder ebenfalls an einer Schulter rütteln konnte. Dementsprechend verzichtete der Pilot auf eigene Versuche und sah in erster Linie erleichtert aus, nachdem er wieder gerade im Gang zwischen den Sitzreihen stand.

Die zweite Flugbegleiterin schaute zu ihm hoch. »Sollen wir die Polizei rufen?«

Sander sah die Frau an, als würde er an ihrem Verstand zweifeln. »Was denn sonst, Bea? Willst du lieber nachsehen, ob er auch ein Ticket für den Rückflug gebucht hat?«

 

 

2

 

Samstagmorgen, im Büro der Mordkommission in Niebüll

 

 

»Vielleicht verrätst du mir endlich mal, was zwischen dir und der Chefin eigentlich los ist.« Diese Aufforderung von Ralf Jansen glich einer Beschwerde. »Seit Monaten redet ihr nur noch das Notwendigste und geht euch, wenn möglich, aus dem Weg. Ich komme mir langsam vor, als wären wir hier bei der richtigen Polizei.«

Sven-Ole Friedrichsen schaute von seinem Handy auf und grinste. »Was meinst du denn mit der ›richtigen Polizei‹?«

»Na ja, früher hatten wir auch mal Spaß, haben viel gelacht und … du weißt doch ganz genau, was ich meine.«

»Frag die Chefin!«, knurrte Ole und tippte wieder auf seinem Handy herum.

Ralf hatte sich hinter seinem – als Neuling immer noch behelfsmäßigem – Arbeitsplatz erhoben und stand inzwischen vor Oles Schreibtisch. Dort baute er sich auf und holte tief Luft. »Ich hab sie gefragt. Mindestens drei Mal!«

»Und? Was hat sie gesagt?«

»Dass ich dich fragen soll.«

»Was du ja hiermit getan hast.«

Ralf machte einen weiteren Schritt, bis seine Oberschenkel die Schreibtischkante berührten. Es fehlte nur, dass er Ole am Kragen packte. »Die Chefin will gegen neun hier sein, hat sie eben am Telefon gesagt. Du hättest also noch locker Zeit, um ein umfassendes Geständnis abzulegen.«

»Als Erstes soll mir diese Chefin mal erklären, warum wir am Wochenende hier antanzen müssen. Konnte unsere große Wiedersehensfeier nicht auch bis Montag warten?«

»Du tust gerade so, als wäre das meine Idee gewesen.«

»Du willst also ein ›Geständnis‹«, wiederholte Ole und sah aus, als würde er sich über dessen Inhalt Gedanken machen. »Nein, danke! Kein Bedarf! «

Ralfs schweres Atmen verriet, dass er auch diesen neuen Klärungsversuch als gescheitert ansah. Er legte den Rückwärtsgang ein und landete wieder hinter seinem Schreibtisch, auf dem sich ein riesiger Aktenstapel türmte.

Ole hatte eine passende Frage auf Lager: »Was macht eigentlich dein Cold Case-Abenteuer? Hast du endlich aufgegeben oder geht das Theater noch weiter?«

Die Rede war von einem Mordfall, der beinahe zehn Jahre zurücklag. Seinerzeit hatte es einen Sylter Bauunternehmer namens Eduard Kasper erwischt. Den hatte jemand am helllichten Tag in der Garage seiner reetgedeckten Luxusvilla in Kampen erschossen. In Anbetracht sonstiger Ereignislosigkeit hatte sich Ralf diesen alten Mordfall schon vor Wochen aus dem Archiv geholt und wälzte seither den ganzen Tag verstaubte Akten.

Er fiel gegen die Lehne seines Schreibtischstuhls und verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Zwei der wichtigsten Zeugen sind letztes Jahr gestorben. Der erste an einem Herzinfarkt und der andere an Krebs.«

»Vielleicht belässt du es einfach dabei«, schlug Ole vor. »Es gibt eben manchmal Fälle, bei denen der Täter aus gutem Grund unentdeckt bleibt. Sowas nennt man den perfekten Mord.«

Ralf schüttelte den Kopf. »Den gibt es bekanntlich nicht – sollte einer wie du wissen! Außerdem hab ich über ein Dutzend neuer Hinweise gesammelt. Erst letzte Woche hab ich herausgefunden, dass der Kasper umfangreiche Kontakte zu einer Bank in Flensburg unterhielt. Die haben es wohl jahrelang mit Sicherheiten nicht allzu ernst genommen und Kreditanträge mit Scheuklappen durchgewunken.«

»Und was jetzt?«, maulte Ole. Er war aufgestanden und ließ sich anschließend auf der Schreibtischkante vor Ralf nieder. »Brauchst du professionelle Hilfe? Soll ich mal ein bisschen rumstöbern und schauen, was ich so finde?«

»Du solltest dich lieber um unsere Chefin kümmern, wenn sie zurück ist. Ich wünsche mir jeden Tag, es wäre alles wieder so, wie’s mal war.« Ralf dachte kurz über seine nächsten Worte nach. »Es ist echt verrückt. Wenn ich wenigstens wüsste, worum es geht, dann könnte ich möglicherweise helfen oder …«

»Kannst du nicht! Und jetzt lass mich damit in Ruhe!«

Dieses ›in Ruhe lassen‹ setzte Ralf zumindest insofern um, als dass er schwieg. Trotzdem schmollte er unverändert.

Was Ole erneut auf den Plan rief. »Mein Gott … du bist doch sonst nicht so blöd. Kannst du dir nicht denken, was zwischen Hannah und mir ist – oder nicht ist?«

Warum auch immer, diese Beinahe-Einladung schlug Ralf aus und fuhr mit einem ganz anderen Thema fort: »Die Chefin war drei Wochen auf Fortbildung. Bin gespannt, was sie so zu erzählen hat.«

»Was wohl? Sie hat dort wochenlang die Füße hochgelegt und ab sofort lässt sie hier wieder die Peitsche knallen. Alles wie immer.«

Als hätte die Inhaberin dieser ›Peitsche‹ heimlich mitgehört, flog die Tür zum Büro nach innen auf. Hannah Lambert trat mit den symbolisch wehenden Fahnen herein. »Moin! Ihr seid ja beide schon da.«

Während Ralf hochschoss und seiner Chefin entgegenstürmte, um sie zu begrüßen, räkelte sich Ole auf der Schreibtischkante. Und er hatte auch als Erster eine Antwort parat: »Du hast Anwesenheit befohlen, wo sollten wir also sonst sein? «

Hannah ignorierte die Frage und steuerte zielsicher auf ihren Schreibtisch zu. Den umrundete sie und blieb dahinter stehen, um ihn zufrieden in Augenschein zu nehmen.

»Ich hab alles erledigt«, erklärte Ralf das Fehlen jeglicher in Aussicht stehender Arbeit. Auf Hannahs Schreibtischplatte befanden sich lediglich die obligatorischen Büroutensilien, fein säuberlich und wie mit einem Lineal ausgerichtet.

»Gute Arbeit, Kollege!«, lobte Hannah. Erst als ihr Blick Ole traf, verflüchtigte sich ihr Lächeln.

Zu allem Überfluss hatte der gleich etwas zu meckern: »Du hast dich in den letzten drei Wochen kein einziges Mal gemeldet.«

»Doch!«, korrigierte sie ihn schnippisch. »Heute.«

»Dann eben abgesehen von heute. Hier hätte auch ein Serienkiller sein Unwesen treiben oder die Welt untergehen können – davon hättest du wahrscheinlich gar nichts mitbekommen.«

Hannah plumpste auf ihren Schreibtischstuhl und verschränkte die Hände vor der Brust. Danach schaute sie Ole und Ralf abwechselnd an. »Haben wir einen Serienkiller, der sein Unwesen treibt?«

Ralf lachte und schüttelte den Kopf. Sein Gesicht machte klar, dass er auf weitere Erklärungen lieber verzichten wollte.

Ole offensichtlich nicht, denn er holte bereits tief Luft. Das Telefon vor ihm verhinderte zunächst eine weitere Eskalation. Er langte zum Hörer. »Friedrichsen, Kripo Niebüll!«

Während sich Ole mit dem Anrufer unterhielt, näherte sich Ralf Stück für Stück Hannah und fragte leise: »Wie war’s denn in Eutin, Chefin?«

Hannah winkte ab. Wohl hauptsächlich, weil sie sich auf Ole und die Wortfetzen eines Telefonats konzentrierte. Als das Gespräch beendet war, schickte sie einen erwartungsvollen Blick zum Schreibtisch gegenüber. »Was ist los? Gibts Arbeit?«

»Das war Martin«, begann Ole mit vielsagender Miene. »Er ist am Flughafen in Westerland und braucht Verstärkung.«

»Wieso ausgerechnet am Flughafen?«, fragte Ralf neugierig.

»Weil vor dem Terminal ein Airbus mit ’ner Leiche drin steht. Und ihr glaubt nicht, um wen es sich dabei handelt.«

»Um wen denn?«, wollte Hannah wissen.

»Werner Fischbach.«

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«

»Doch … leider.«

 

3

 

 

»Wieso können wir den Mann nicht einfach aus dem Flugzeug schaffen und Sie machen draußen oder im Terminal mit Ihrer Arbeit weiter?« Eine Frage, die Kapitän Sander so oder so ähnlich schon einige Male zuvor gestellt hatte.

Und wie bisher antwortete Martin Clausen – die Sylter Ein-Mann-Kripo – denkbar knapp: »Weil wir auf Frau Lambert warten müssen, denn die entscheidet, wie es weitergeht.«

Sander machte einen Schritt in Clausens Richtung, senkte seine Stimme und bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall. »Könnten Sie denn mal versuchen, Frau Lambert telefonisch zu erreichen? Ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist: Im Terminal sitzen über hundert Leute, die zurück nach Düsseldorf wollen. Oder möchten Sie denen vielleicht erklären, warum …?«

»Das gehört nicht zu meinen Aufgaben«, unterbrach Clausen den Redeschwall. Er hatte sein Handy aus der Tasche gezogen, wischte kurz auf dem Display herum und atmete erleichtert aus. »Frau Lambert ist bereits vom Zug runter und auf dem Weg zu uns. Das hat sie mir vor einer Viertelstunde geschrieben.«

Sander – ein Mann von Mitte fünfzig, der es aufgrund seines Jobs vermutlich gewohnt war, dass ihm alle Respekt zollten – warf den drei Flugbegleiterinnen, die hinter Clausen standen, einen bedeutungsvollen Blick zu. »Heißt das, sie kommt jeden Moment hier an?«

»Wenn sie den Weg kennt, ja.«

 

***

 

Ein paar Minuten zuvor war Ole in Westerland gerade zum ersten Mal abgebogen, da beschwerte sich Hannah: »Wieso fährst du durch den Ort und nicht außen rum? Das geht doch viel schneller.«

»Wenn du lieber fahren willst, halte ich gerne an.«

Hannah schüttelte wortlos den Kopf und starrte – wie schon während der gesamten Fahrt von Niebüll bis hierher – wieder aus dem Seitenfenster.

Von diesem Gehabe hatte Ole anscheinend genug und klang entsprechend frustriert. »Ich halte das nicht mehr aus! Du behandelst mich im besten Fall wie Luft, kochst in jeder Hinsicht dein eigenes Süppchen und …«

»Soll ich für dich mitkochen?«, fragte Hannah. Völlig unerwartet hatte sie sich in Oles Richtung gedreht und lächelte verhalten. »Ich weiß nicht, was du von mir erwartest. Außerdem dachte ich, wir hätten das mit einer möglichen Beziehung zwischen uns beiden längst geklärt.«

»Das hast du geklärt!«, versuchte Ole den Sachverhalt richtigzustellen. »Ich würde immer noch und jederzeit mit dir …«

Hannahs Linke fand seinen Unterarm und brachte ihn damit zum Schweigen. Sie ließ sich ein bisschen Zeit und begann leise aufs Neue: »Du bist ein netter Kerl und ich schätze mal, auch ein toller Mann ...«

»Danke, aber dafür kann ich mir auch nichts kaufen.« Ole hatte seine überzogene Schärfe wohl selbst registriert und fuhr deutlich sanfter fort: »Ist auch egal ... wenn du ein Problem hast, bin ich so oder so für dich da.«

»Mehr als Freundschaft kann ich mir momentan nicht vorstellen«, verteidigte sich Hannah. »Weder mit dir noch sonst wem. Ich bin einfach noch nicht so weit!«

Erstmals seit dem Aufbruch in Niebüll lächelte Ole. »Also liegt es nicht an mir«, vergewisserte er sich, auch, wenn das überflüssig erschien.

Und Hannah tat ihm den Gefallen: »Falls überhaupt, dann könnte ich mir eigentlich nur mit dir was vorstellen.« Sie grinste. »Was meinst du, wie gerne ich dich im Dienstalltag rumscheuchen würde und abends dürftest du mir dafür den Hintern versohlen.«

»Sag nicht, du stehst auf SM und solche Geschichten?« Oles Mund wollte sich gar nicht wieder schließen. »Du hättest mir früher was davon erzählen sollen, dann wäre ich …«

»Ich steh auf Blümchensex!«

Bei dieser Offenbarung seiner Chefin beließ es Ole zunächst. An der nächsten Kreuzung legte er eine Kehrtwende hin und raste in die entgegengesetzte Richtung. »Du hast recht, außen rum gehts mit Sicherheit schneller.«

»Was war denn in den letzten Wochen im Büro so los?«, erkundigte sich Hannah. »Irgendwas Besonderes?«

»Ralf wühlt unentwegt in dem alten Fall rum und macht sich Hoffnungen, dass dabei was rauskommt.«

»Na ja – wenn einer das schafft, dann er.«

»Und was war bei dir? Hat die Schulung was gebracht oder hast du nur gut geschlafen und dich auf Staatskosten vollgefuttert?«

Hannah dachte eine Weile über die Fragen nach. »Es ist erstaunlich, was für technische Möglichkeiten es mittlerweile gibt. Die haben uns gesagt, dass das BKA neuerdings in der Lage ist, einen DNA-Test innerhalb von neunzig Minuten durchzuziehen. Natürlich nur auf gesonderten Antrag und in dringenden Fällen. Weißt du, was das für unsere Arbeit bedeutet?«

»Mhm ... in erster Linie, dass es ab sofort bei allen extrem dringend ist. Oder glaubst du, jetzt hat noch jemand Lust, zwei Wochen auf sein Testergebnis zu warten?«

»Du findest auch in jeder Suppe ein Haar«, knurrte Hannah. »Wie wär‘s, wenn du dich einfach mal freust? Weißt du noch, wie wir im letzten Jahr den Filipkowski auf freien Fuß setzen mussten, weil es mit der Auswertung des DNA-Tests so lange gedauert hat?«

»Klar! Aber ich weiß auch noch, wie wir ihn eine Woche später wieder festgenommen haben, nachdem wir ihm endlich beweisen konnten, dass er seine Schwester umgebracht hat.«

»Und das wäre unter den neuen Voraussetzungen sogar noch schneller gegangen.«

Ole bog erneut ab und kam denkbar nüchtern zu einem Ergebnis: »Ändert unterm Strich auch nichts. Der Typ sitzt lebenslänglich hinter Gittern und darf frühestens in vierzehn Jahren mit ’ner Bewährungsanhörung rechnen.«

Einige Zeit herrschte Schweigen, allerdings keines von der unangenehmen Sorte. Als der Sylter Flughafen in Sichtweite lag, fasste sich Hannah hörbar ein Herz und stotterte beinahe. »Bevor du es von anderen hörst: Während der Fortbildung hatte ich was laufen … mit ’nem Kieler Kollegen.«

Oles erste Reaktion war ein Lachen. Doch das blieb ihm im Halse stecken, als er sich zur Seite drehte und Hannahs Gesicht sah. »Hast du nicht eben noch gesagt, dass du dir – wenn überhaupt – nur was mit mir vorstellen könntest?«

»Ja«, druckste Hannah herum. »Mein Gott … Hans-Dieter und ich haben fast jeden Abend zusammen verbracht und …«

»›Hans-Dieter‹?«, wiederholte Ole fassungslos. »Wie alt ist der Typ? Über siebzig … kann er noch alleine laufen?«

Hannah polterte lachend dazwischen: »Du kannst mich mal! Und ich werde mich bestimmt nicht vor dir rechtfertigen, weil es eben einfach passiert ist.«

»Was ist passiert?«

»Was wohl? Frag doch nicht so blöd!«

»Redest du von Blümchensex?«

Hannah beließ es bei einem Schulterzucken.

Das fing Ole überraschend erleichtert auf. »Dann muss ich jetzt ja wenigstens kein schlechtes Gewissen mehr haben.«

»Heißt das, du hast mich mit ’ner Anderen betrogen?«, empörte sich Hannah künstlich.

»Betrogen? Wir waren doch nie ein Paar!«

»Trotzdem … im Geiste hab ich mich für dich aufgespart.«

»Oh, ›im Geiste‹! Und nebenbei hast du mit deinem Hans-Dieter …«

Hannah packte Ole erneut am Unterarm und brachte ihn damit zur Ruhe. »Können wir das Thema nicht einfach abhaken und zur Tagesordnung übergehen?«

»Können wir. Hatte sowieso nichts anderes vor.«

 

 

4

 

 

»Hatten Sie nicht gesagt, dass Ihre Kollegin jeden Moment eintreffen müsste«, beklagte sich Flugkapitän Sander.

Clausen wollte schon reagieren, als wie bestellt Schritte auf der Gangway zu hören waren. Im nächsten Augenblick tauchte Hannah auf, die zwischen der offenen Cockpittür und Kabine stehen blieb. Hinter ihr stand Ole. Der hatte hauptsächlich Interesse am Arbeitsplatz der Piloten und präsentierte allen anderen seine Rückansicht.

Trotzdem übernahm Clausen die Vorstellung: »Da hätten wir Frau Lambert und Herrn Friedrichsen, beide von der Kripo in Niebüll.«

Horst Sander setzte ein professionelles Lächeln auf und hielt Hannah seine Rechte entgegen. »Ich bin der Flugkapitän. Wäre es möglich, dass wir uns kurz unter vier Augen unterhalten?«

Hannah stimmte zu. Auf der Suche nach Voraussetzungen für dieses Zwiegespräch schaute sie sich bereits um.

»Am besten nutzen wir das Cockpit«, schlug Sander selbstbewusst vor und schritt voran. Er schlängelte sich an Ole vorbei und positionierte sich inmitten seiner üblichen Wirkungsstätte. »Treten Sie ein, Frau Lambert! Nur zu!«

»Darf ich mitkommen?«, flüsterte Ole, während sich auch Hannah an ihm vorbeiquetschte.

»Du bleibst gefälligst hier draußen und nimmst eine erste Sichtung vor!«

»Was denn für ’ne ›Sichtung‹? Ich will ins Cockpit und ...«

»Schau dir die Leiche an, rede mit den Flugbegleiterinnen – das müsste doch genau deinem Spezialgebiet entsprechen. Oder etwa nicht?«

Als man kurz darauf unter sich war, begann der Kapitän sofort mit einer Erklärung: »Ich habe vor einer halben Stunde mit dem Inhaber unserer Fluggesellschaft telefoniert. Er ist außer sich vor Wut und wollte sich umgehend mit dem Innenminister von Nordrhein-Westfalen in Verbindung setzen.« Es folgte ein vielsagendes Lächeln, das unnatürlich weiße Zähne in einem gebräunten Gesicht zum Vorschein brachte. »Die beiden golfen regelmäßig zusammen.«

Hannah tat unbeeindruckt. »Verraten Sie mir auch sein Handicap oder was soll ich mit dem Hinweis anfangen?«

»Wir müssen so schnell wie möglich wieder starten. Ich habe es schon Ihrem Kollegen da draußen gesagt: Im Terminal sitzen über hundert Leute, die auf ihren Rückflug nach Düsseldorf warten. Ich hab dafür gesorgt, dass man dort einen Raum zur Verfügung stellt, in dem Sie die Leiche untersuchen können und was Sie sonst noch so zu tun haben. Sie denken doch hoffentlich nicht, dass einer meiner Passagiere oder jemand von der Crew etwas mit dem Tod des Mannes zu tun hat?«

Hannah ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Unterdessen nahm sie das Cockpit näher in Augenschein.

Dieses Interesse fing Sander auf und machte ihr souverän lächelnd ein passendes Angebot: »Wenn Sie wollen, dürfen Sie gerne mal mitfliegen und dabei direkt hinter mir sitzen. Meinetwegen gleich heute. Wie wär‘s?«

»Ich brauche fünf Minuten mit der Leiche, aber allein!«, begann Hannah, ohne auf das Angebot einzugehen. »Falls sich keine Anzeichen für ein gewaltsames Tötungsdelikt finden, gebe ich die Maschine umgehend wieder frei.«

Horst Sander war seine Erleichterung deutlich anzusehen. Er wollte sich schon in Bewegung setzen, jedoch hielt ihn Hannah am Ärmel seiner Uniformjacke fest. »Allein heißt, dass Sie und Ihre Kollegen das Flugzeug verlassen ... am besten sofort.«

»Kein Problem! Und wenn Sie fertig sind, dann …?«

»Melde ich mich.«

Nachdem die beiden Piloten und die drei Flugbegleiterinnen den Airbus beinahe fluchtartig verlassen hatten, empfing Ole seine Chefin breit grinsend.

»Und, wie ist dein erster Eindruck?«, fragte die ohne Umschweife.

Doch Clausen war schneller. »Wir hatten mal ’ne Leiche unten in Hörnum – zu der Zeit hast du dir gerade die Pause vom Norden genommen. Da hatte ein Mann seine Frau vergiftet und die sah ganz genauso aus.«

Aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse im Inneren der Kabine zückte Hannah ihre Taschenlampe und schob sich zwischen die Sitze. Dort ging sie so weit wie möglich in die Knie. Der Lichtkegel brachte das blau angelaufene Gesicht zum Leuchten. »Das ist tatsächlich Werner Fischbach«, war ihr erster Kommentar. Den Sylter Kämmerer – also Finanzchef der Gemeinde – hatte sie noch vergangene Woche auf der Titelseite einer Tageszeitung gesehen. Seinerzeit hatte er allerdings wesentlich lebendiger gewirkt.

Endlich kam auch Ole zu Wort: »Eine der Flugbegleiterinnen meinte, dass er laut Bordkarte ursprünglich am Gang hätte sitzen müssen. Er hat wohl den Platz mit der Frau neben sich getauscht. Einer gewissen Elfriede Kaufmann … aus Kampen.«

Hannah schaute fragend zu Ole auf.

»Die Frau hat das Flugzeug verlassen und ist mit Sicherheit längst nach Hause gefahren. Soll ich …?«

»Natürlich sollst du!«

Martin Clausen mischte sich wieder ein. »Bei dem alten Fall hat mir der zuständige Rechtsmediziner seinerzeit erklärt, dass ein starkes Nervengift zu einer kompletten Atemlähmung führt. Ich kann mir nicht helfen – Fischbach sieht genauso wie die Frau von damals aus.«

Hannah lehnte sich zur Seite und tauchte mit dem Kopf noch tiefer. Ihre linke Hand, die längst in einem Einmalhandschuh steckte, verschwand unter dem Sitz und kehrte von dort mit einem Plastikbecher zurück.

»Könnte auch vom letzten Flug stammen«, bemerkte Ole. »Oder vom vorletzten«, fügte er lachend hinzu.

Inzwischen hatte sich Hannah mühevoll hochgestemmt und baute sich im schmalen Gang neu auf. Sie hielt Ole den Plastikbecher entgegen und lächelte aufgesetzt. »Oder wir haben es mit der Tatwaffe zu tun. Vielleicht bist du so nett und tütest unser erstes Beweisstück ein?«

Ole, der ebenfalls Gummihandschuhe trug – nahm den Becher mit spitzen Fingern und verfrachtete ihn in einen der mitgebrachten Beutel. »Soll ich die Spurensicherung alarmieren?«

Hannah reagierte gar nicht, legte eine Kehrtwende hin und war im nächsten Moment durch den vorderen Ausgang verschwunden. Bei strahlendem Sonnenschein stieg sie die Gangway wie ein Model Stufe für Stufe hinunter. Unten wurde sie bereits von Kapitän Sander erwartet. Freudestrahlend.

»Und?«, fragte der auf eine Weise, die eine positive Antwort regelrecht voraussetzte. »Sind Sie zufrieden? Wenn Sie die Maschine freigeben, fangen wir auf der Stelle mit dem Boarding an.«

»Damit müssen Sie noch ein bisschen warten.«

»Was soll das heißen?«

»Das Flugzeug bleibt, wo es ist!«, erklärte Hannah in resolutem Ton. »Es deutet einiges darauf hin, dass es sich um einen Tatort handelt.«

»›Tatort‹?«, wiederholte der Kapitän ungläubig. »Sie denken, dass …?«

»Was ich denke, tut hier nichts zur Sache. Bis auf Weiteres muss ich jedem – also auch Ihnen und Ihrer Crew – das Betreten der Maschine strikt untersagen. Falls das Gepäck noch an Bord ist, darf es nicht entladen werden. Außerdem beschlagnahme ich sämtlichen Müll sowie Getränke und sonstige Lebensmittel an Bord. Und ich benötige die Passagierliste. Sofort!«

Sander holte schon Luft, doch Hannah kam ihm mit energischer Stimme zuvor. »Sollten Sie Ihren Chef beim Golfen erreichen, bestellen Sie ihm schöne Grüße! Wir machen so schnell wir können.«

 

5

 

 

Ole hatte das Interesse an der Leiche längst verloren und stand wieder in der offenen Tür zum Cockpit. Clausen linste an ihm vorbei und stieß einen leisen Pfiff aus. »Donnerwetter! Wie lange es wohl dauert, bis man weiß, welchen Knopf oder Schalter man wann zu bedienen hat?«

»Ich hab früher nächtelang am Flugsimulator gespielt«, erwiderte Ole völlig unbeeindruckt. »Hab mir extra dafür ’nen schnelleren Rechner gekauft.«

»Und?«

»Wette, ich krieg den Vogel auf jeden Fall hoch und einigermaßen auf Kurs.«

»Und was ist mit der Landung?«

»Ist schon schwieriger – hat manchmal aber auch ganz gut geklappt.«

Auf der Gangway waren erneut Schritte zu hören. Hannah steckte den Kopf in die Kabine und schüttelte ihn sofort. »Männer!«

»Bist du schon mal hier vorne mitgeflogen?«, wollte Ole von ihr wissen.

Hannah drehte sich um und zeigte die Gangway hinunter. Dort standen der Flugkapitän und seine Crew, dem Aussehen nach ratlos. »Geh runter und frag ihn, ob sein Angebot auch für dich gilt!«

»Was für ’n Angebot?«

»Er hat mir gesagt, dass ich im Cockpit mitfliegen darf.«

»Aber auch nur, weil du ’ne Frau bist«, maulte Ole zurück. »In meinem Fall wird er sich schön hüten.«

»Darf ich dann endlich davon ausgehen, dass du deine Arbeit vernünftig machst und nicht vergisst, wieso wir eigentlich hier sind?«

Um Hannah gerecht zu werden, zog Ole die Cockpittür bis auf einen Spalt zu. »Ich hab die Spurensicherung informiert. Die machen sich jeden Moment auf den Weg.«

»Was ist mit Ralf?«, fragte Hannah.

»Was soll denn mit ihm sein?«

»Er soll sich melden, sobald er die Passagierliste hat und anschließend jeden Einzelnen durchleuchten. Wenn wir Glück haben, findet sich eine direkte Verbindung zu Fischbach.«

»Ich weiß gar nicht, was ihr ohne euren neuen Mann machen würdet«, schob Clausen lachend ein.

Hannah nickte und richtete ihren gequälten Blick auf Ole. »Weiß ich auch nicht.«

 

***

 

»Sie können sich also noch ganz genau an damals erinnern?«, fragte Ralf eine ältere Dame, die ihm gegenüber am Schreibtisch saß.

Martha Kruse hatte sich pünktlich um eins eingefunden, um der Aufforderung, eine Aussage zu machen, nachzukommen. Im Vorfeld hatte sich Ralf sämtliche Daten seines Cold Case angesehen und wusste, dass die Frau schon neunundachtzig war, aber dennoch allein in ihrem Haus in Kampen wohnte.

Er mühte sich um den Tonfall eines Wunschenkels. »Nichts für ungut, Frau Kruse. Die Sache ist beinahe zehn Jahre her. Wie wollen Sie denn heute noch wissen, dass Herr Kasper an dem Tag zweimal nach Hause gekommen ist?«

»Ich weiß es eben«, erwiderte die ältere Dame wie selbstverständlich. »Er hat damals so einen Mercedes gefahren, bei dem der Auspuff ständig röhrte. Ich habe ihn gefragt, ob das Teil vielleicht kaputt ist, aber …« Was weitere Ausführungen betraf, blieb es bei einem Schulterzucken.

Ralf überflog seine Unterlagen. »Herr Kasper hatte seinerzeit einen Achtzylinder Mercedes. Da kann es schon sein, dass der ziemlich viel Lärm gemacht hat. Aber kommen wir zurück zum besagten Tag: Sie sind sich also absolut sicher, dass er gegen Mittag zum ersten Mal nach Hause gekommen und kurz darauf wieder weggefahren ist?«

»Hat nicht mal fünf Minuten gedauert. Als er wieder raus zum Auto ist, sah er fürchterlich wütend aus und hat geflucht – lauter als sein Auspuff.«

»Wieso haben Sie das damals nicht der Polizei erzählt?«

»Wollte ich doch!«, kam es entrüstet zurück. »Ihre Kollegen meinten wohl, ich wäre ein bisschen tüdelig. Die haben gar nicht richtig zugehört.«

Ralf vergrub sich in seiner Akte. In erster Linie, um einem Lachanfall zu entgehen. Nachdem er genug Kraft gesammelt hatte, fuhr er fort: »Und dann ist er ein zweites Mal zurückgekommen. Habe ich das richtig verstanden?«

Martha Kruse nickte nur und schaute Ralf ein wenig missbilligend an.

»Und wie ging’s weiter?«, hakte er nach.

»Er ist im Auto sitzen geblieben. Und da war irgendwie so eine zweite Stimme ... nicht seine. Das hat fürchterlich gedröhnt.«

»Vielleicht ein Autotelefon?«

Die Miene der alten Frau verzog sich skeptisch. »Finden Sie es gut, dass man in Autos neuerdings auch telefonieren kann?«

»›Neuerdings‹ ist gut«, kommentierte Ralf schmunzelnd. »Das ist seit etwa dreißig Jahren möglich.«

»Er hat auch rumgebrüllt«, fuhr Martha Kruse auf der anderen Schreibtischseite fort.

»Sie reden von Herrn Kasper?«

»Ich hab nichts verstanden, nur sein Gesicht gesehen.« Ein schwaches Lächeln huschte um einen faltigen Mund. »Hat ausgesehen wie ’ne Tomate.«

»Und was ist dann passiert?« Ralfs Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung. »Haben Sie jemanden gesehen? Vielleicht eine weitere Person, die vom Grundstück geflohen ist?«

»Da saß ich doch längst im Sessel und hab meine Serie geguckt. Rote Rosen, das ist …«

»Ich kenne die Serie«, unterbrach Ralf. Seine Enttäuschung war ihm anzuhören. Auch wenn ihm gerade jegliche Zuversicht abhandengekommen war, unternahm er einen neuen Anlauf. »Haben Sie die Schüsse gehört?«

»Bin wohl davon aufgewacht. Da war Rote Rosen fast zu Ende und …«

»Seien Sie mir nicht böse, Frau Kruse«, schob sich Ralf erneut mit Worten dazwischen. »Mir geht es um den Mord an Herrn Kasper und …«

»An den Abenden zuvor hatte er zweimal Besuch.«

»Wissen Sie denn, von wem?«

»Das war so ein Sportwagen. Der ist immer gleich in die Garage gerollt und der Kasper konnte das Tor gar nicht schnell genug schließen.«

»›Ein Sportwagen‹«, wiederholte Ralf. Auch dieser neue Hinweis wollte bei ihm keine spontane Begeisterung hinterlassen. Insbesondere, weil selbst die teuersten Luxuskarossen schon seit Jahrzehnten keine Besonderheit mehr auf Sylt waren. Dementsprechend fragte er: »Würden Sie den Wagentyp wiedererkennen?«

»Selbstverständlich würde ich! Und wenn Sie mir Autos zeigen, dann nur in schwarz. Der von damals war nämlich auch schwarz.«

Ralfs Handy klingelte und verhinderte die nächste Frage. »Da muss ich mal ran«, entschuldigte er sich umständlich. »Ist meine Chefin.«

Und die legte ohne Begrüßung los: »Sie müssten jeden Moment per Mail eine Passagierliste erhalten, das habe ich gerade veranlasst. Knöpfen Sie sich jeden Einzelnen gründlich vor! Und kümmern Sie sich zuerst um die Sitzreihen direkt vor, hinter und neben der, wo Werner Fischbach gesessen hat.«

»Ich bin hier gerade mitten in einer Befragung«, erwiderte Ralf. »Kann ich die noch schnell …?«

»Geht es da um die alte Sache, in der Sie seit Wochen rumwühlen?«

»Ja«, gab Ralf vorsichtig zu.

»Dann legen Sie alles, was das betrifft, erst mal beiseite! Wir haben einen neuen Fall und der hat Vorrang.«

 

6

 

 

»Was hat Ralf gesagt?«, wollte Ole wissen.

»Dass er sich sofort um die Passagiere kümmert.« Hannah stand wieder zwischen den beiden Sitzreihen und betrachtete Werner Fischbachs Leichnam nachdenklich. »Martin hat recht: Ich tippe auch auf ’ne Vergiftung.«

Ole hingegen hatte Bedenken. »Vielleicht hat er ja irgendwelche Medikamente nicht vertragen, was Schlechtes gegessen oder …«

Martin Clausen trat hinzu. »Am besten veranlasst ihr, dass euer neuer Kunde so schnell wie möglich in der Kieler Rechtsmedizin landet. Schätze, Doktor von Storch kann es gar nicht erwarten.«

»Erinnere mich bloß nicht an den«, stöhnte Hannah genervt. »Wenn wir wissen, womit man Fischbach vergiftet hat, dann versuchen wir, selbst was von dem Zeug zu bekommen und füttern den Storch damit.«

»Und das von meiner Chefin«, entrüstete sich Ole scheinheilig. »Glaub ja nicht, dass ich dir zu ’nem Alibi verhelfe, wenn du als Mörderin unterwegs bist. Freundschaft hin oder her.«

Hannah drehte sich um und sah Ole aufmüpfig an. »Pass auf, dass es dich nicht erwischt! Und sieh lieber zu, dass du dir die Adresse von Fischbachs Sitznachbarin besorgst und zu ihr fährst. Die muss doch irgendwas mitbekommen haben, wenn unmittelbar neben ihr jemand stirbt.«

Ole salutierte und befand sich bereits im Rückwärtsgang, als ihn Hannah mit weiteren Worten aufhielt: »Vorher rufst du Ralf an und lässt dir die Namen der drei benachbarten Sitzreihen geben! Irgendwer muss was mitgekriegt haben.«

»Er hat dich würdig vertreten«, wusste Clausen zu berichten, nachdem Ole verschwunden war. »Letzte Woche hatten wir einen Selbstmord in Kampen. Da war mal wieder einer der Millionäre so glücklich, dass er sich mit dem Gürtel seines Bademantels in der Sauna aufgehängt hat.«

Hannah löste ihren Blick von der Leiche und schaute stattdessen ihren Kripokollegen an. »Was hat Ole denn getan? Die Witwe getröstet?«

»Eine Witwe gabs nicht. Die Tochter – so ’n junges Ding von Anfang zwanzig – hat ihren Vater gefunden. Ole hat sich rührend um sie gekümmert und dafür gesorgt, dass sie betreut wird.«

»Ich sag ja gar nicht, dass er einen schlechten Job macht«, nuschelte Hannah. »Es wäre nur schön, wenn er endlich lernen würde, private Dinge für ein paar Minuten auszusperren. Bei unserem Job ist es manchmal nötig, dass wir …«

»Das musst du mir nicht erklären!«, unterbrach Clausen ruppig. »Aber wenn überhaupt, dann ist Ole der Einzige, der den ganzen alltäglichen Mist einigermaßen unbeschadet übersteht und nicht jeden Abend mit nach Hause nimmt. Vielleicht solltest du dir daran mal ein Beispiel nehmen. Verkehrt kann‘s nicht sein.«

Hannah verzichtete auf einen Kommentar und widmete sich wieder dem Leichnam. »Man darf sowas nicht zu laut sagen, aber Werner Fischbach wird bestimmt keiner ’ne Träne hinterherweinen.«

Diese These bestätigte Martin Clausen eifrig nickend. »Bei den ständigen Korruptionsvorwürfen wundert es mich schon länger, wie der sich noch auf seinem Stuhl gehalten hat.« Ein leises Lachen folgte, dazu ein Blick über die Schulter. Man war nach wie vor alleine in der Kabine. »Ich bin mir sicher, dass er jeden geschmiert hat, der ihm ans Bein pinkeln wollte.«

Kapitän Sander steckte seinen Kopf durch die vordere Tür. »In etwa anderthalb Stunden landet eine Ersatzmaschine. Wir müssten diese hier ein Stück in den hinteren Bereich schleppen lassen.« Sein fragender Blick galt Hannah, garniert von einem unsicheren Lächeln. »Ist das ein Problem?«

Sie beließ es bei einem knappen »Nein«, schob sich in den Gang und steuerte auf Horst Sander zu. Der stand inzwischen wieder vor der Tür seines Cockpits. »Gab es an Bord etwas zu essen?«, fragte Hannah ohne Umschweife.

»In der kurzen Zeit von Düsseldorf nach Westerland? Wie soll das funktionieren?«

»Okay«, lenkte Hannah ein. »Wie siehts mit Getränken aus?«

»Sobald wir unsere Flughöhe erreicht haben, werden den Passagieren Erfrischungen angeboten. Alle kostenpflichtig, die sind schon lange nicht mehr im Preis inbegriffen.«

»Können Ihre Kolleginnen denn nachvollziehen, wer was genau getrunken hat?«

»Falls bar bezahlt wurde, wahrscheinlich nicht. Aber wenn eine Kreditkarte benutzt wurde, dann …«

Hannah fuhr unsanft dazwischen: »Wer kann mir diesbezüglich etwas sagen?«

Zum ersten Mal klang Kapitän Sander genervt. »Die leitende Flugbegleiterin: Susanne Schmidt. Bis eben stand sie unten an der Gangway, aber mittlerweile müsste sie im Terminal sein, um das Boarding vorzubereiten.«

Hannah bemühte sich um ein verbindliches Lächeln, doch das endete, bevor es ihre Augen erreichte. »Sie werden auf Ihr Flugpersonal verzichten müssen, bis wir alle befragt haben.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Allerdings!«

Sander wirbelte ohne ein weiteres Wort herum und riss bereits sein Handy aus der Tasche, während er dem Flugzeug den Rücken kehrte.

»Du schaffst es sogar, einen Piloten zu zähmen«, stellte Clausen fest. Wobei seine Stimme nicht nach Bewunderung, sondern vielmehr nach Resignation klang. »Langsam wundert es mich nicht, dass du keinen abbekommst.«

»Keinen was?«

»Schon gut.«

»Nein, es ist nicht gut!«, korrigierte Hannah wütend. »Geht es bei euch Männern eigentlich auch um irgendwas anderes als die nächste Trophäe im Schlafzimmer?«

Clausens rechter Mundwinkel wanderte nach oben, der linke blieb stehen. »Du hast sie echt nicht mehr alle! Und wenn sonst nichts mehr ist – ich muss mich noch um ’ne Fahrerflucht-Sache vom Wochenende kümmern.«

Hannah holte durch den Mund tief Luft, doch ihre Lippen schlossen sich unverrichteter Dinge wieder. Ihr war anzusehen, wie viel Kraft sie dieses selbstverordnete Schweigen kostete.

»Wenn du Ole siehst und er es überlebt, grüß ihn schön!« Mit diesen Worten verabschiedete sich Clausen und war im nächsten Moment verschwunden.

Hannah blieb allein zurück. Allein mit sich, allein mit ihren Gedanken und allein mit einem Leichnam, der inzwischen anfing, den typischen Gestank zu verströmen. Nicht mehr lange, dann wäre es hier im Inneren der Kabine nicht mehr auszuhalten …

 

 

7

 

 

»Friedrichsen, von der Kriminalpolizei Niebüll!« Ole stand vor einem überaus gepflegten mehrstöckigen Wohnhaus mitten in Westerland und brüllte in die Wechselsprechanlage.

»Friedrichsen?«, schnarrte es ihm aus dem Lautsprecher entgegen.

»Ja … von der Polizei. Machen Sie bitte auf, Frau Kaufmann!«

»Können Sie sich ausweisen?«, kam es nach beinahe endlosem Warten zurück. Der Tonfall der älteren Frau verriet Misstrauen. Jetzt folgte zu allem Überfluss auch noch eine Belehrung: »Im Fernsehen heißt es, man soll sich immer den Ausweis zeigen lassen.«

»Dafür müssten Sie mich aber zunächst mal reinlassen«, erwiderte Ole verzweifelt.

Der Summer erklang. Ferner eine Information: »Sie müssen ganz nach oben.«

Dort angekommen, fand Ole nur eine Wohnung vor. Offensichtlich handelte es sich um das Penthouse eines todschicken Mehrfamilienhauses. Die Stufen waren entweder aus Marmor oder sahen zumindest so aus. Die Wände waren schneeweiß und auf den ersten Blick makellos. Ole meinte, einen Hauch von frischer Farbe zu riechen.

Die Wohnungstür stand nur einen winzigen Spalt offen. Eine stabile Kette war zu sehen, die wohl im Falle eines Falles Schlimmeres verhindern sollte. Aus dem dunklen Flur krächzte es ins Treppenhaus. »Haben Sie einen Ausweis?«

Den hatte Ole bereits auf dem Weg nach oben gezückt und schob ihn jetzt durch den schmalen Schlitz. Knöchrige Finger griffen danach und es dauerte erneut Ewigkeiten, bis sich etwas tat.

Die Tür schloss sich vollständig. Nachdem die Sicherheitskette entfernt war, öffnete sie sich zentimeterweise. Ole wollte schon nachhelfen, doch dann sah er zuerst seinen Dienstausweis und zu guter Letzt das Gesicht von Frau Kaufmann.

»Friedrichsen?«, kam die Nachfrage, als würde sie den Namen zum ersten Mal hören.

»Sven-Ole mit Vornamen. Sind Sie so nett und lassen mich rein?«

Die alte Frau zögerte und wirkte abwesend, machte sich offenbar über tausend Dinge gleichzeitig Gedanken. »Sind Sie der Sohn von Hajo Friedrichsen?«

»Nicht dass ich wüsste«, prustete Ole. »Mein Vater heißt Wilhelm und hat einen Hof auf dem Festland.«

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Thomas Herzberg
Bildmaterialien: Chris Gilcher (http://buchcoverdesign.de)
Cover: Chris Gilcher (http://buchcoverdesign.de)
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2021
ISBN: 978-3-96714-150-4

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /