Cover

Leseprobe

Schneeweißes Sylt

Hannah Lambert ermittelt 5

Friesenkrimi

Thomas Herzberg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Fassung: 1.0

 

Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, dazu auffordert oder auch nur ermuntert!

 

 

 

 

 

 

 

Ein großes Dankeschön geht an:

 

Bärbel, die von Anfang bis Ende dabei war (du bist einmalig!)

Meine lieben Testleser/innen (in alphabetischer Reihenfolge):

Anke (meine Praktikantin von nebenan), Antje (die ich ständig mit Anke verwechsle), Frau Schmidt (die man gar nicht verwechseln kann), Nicolas, Roswitha (aus der Uckermark)

Covergestaltung: Chris Gilcher (http://buchcoverdesign.de)

 

Vorwort

 

 

 

 

»Rüm hart, klaar kiming« (weites Herz – klarer Horizont): Ein Zitat, das den inselfriesischen Kapitänen zugeordnet wird. Damit beschreiben sie – neben der Mentalität der Menschen, die dort zu Hause sind – auch eine in Deutschland einzigartige Landschaft. Sylt ist vermutlich der bekannteste Teil davon. Aber wer glaubt, auf der beliebten Ferieninsel nur Schickimicki vorzufinden, irrt gewaltig. Denn wer genauer hinsieht und einen kleinen Fußmarsch nicht scheut, stößt hier auf einmalige Orte, die man nie wieder vergisst. Es heißt nicht umsonst: »Wer sich in Sylt verliebt, den lässt die Leidenschaft nie wieder los.« Vom Millionär und Gentleman-Playboy Gunter Sachs stammt folgendes Zitat zum anderen Gesicht der Insel: »Ich fühle mich in Kampen auf Sylt ein bisschen wie ein Affe im Zoo … aber mit lieben Besuchern.«

Klar, wer den Sound neuester Sportwagen, Champagner und teure Boutiquen zum Glücklichsein braucht, wird auf Sylt ebenfalls fündig. Jeder wie er mag … und ich glaube, das beschreibt die Mentalität der Menschen hier am besten.

 

Sylt in Zahlen:

 

Länge von Nord nach Süd: 38 Kilometer

Breite von West nach Ost: 12,6 Kilometer (an der schmalsten Stelle sind es weniger als 500 Meter)

 

Und weil eben keine Straße nach Sylt führt, erfolgt die Anreise nur per Autozug, Fähre oder Flugzeug. Wer sich auf den Weg macht, dem wünsche ich viel Spaß auf der Insel. Vielleicht laufen wir uns ja zufällig bei Gosch über den Weg und essen zusammen ein Fischbrötchen. Aber Vorsicht: Nicht nur ich, sondern auch die Möwen dort sind verdammt hungrig ;)

 

 

Inhalt

 

 

Sylt, Ende Januar: Am Weststrand stoßen Spaziergänger auf die Leiche einer jungen Frau. Keine Unbekannte, wie sich schnell herausstellt. Erste Hinweise führen direkt zu den Reichen und Schönen der Insel. Kein Wunder also, dass Hannah und Ole im Zuge ihrer Ermittlungen immer tiefer in den Drogensumpf der beliebten Urlaubsinsel gezogen werden. Nicht umsonst behaupten böse Zungen, in Westerland und Kampen würde es das ganze Jahr über schneien ...

»Schneeweißes Sylt« ist Teil 5 der Reihe „Hannah Lambert ermittelt“. Bisher erschienen:

 

  • »Ausgerechnet Sylt«
  • »Eiskaltes Sylt«
  • »Mörderisches Sylt«
  • »Stürmisches Sylt«
  • »Schneeweißes Sylt«
  • »Gieriges Sylt«
  • Turbulentes Sylt«

 

Jeder Fall ist in sich abgeschlossen. Es kann allerdings nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ;)

 

 

Hannah Lambert ermittelt ist mit weit über 600.000 verkauften Exemplaren eine der erfolgreichsten Krimi-Serien der letzten Jahre. Alle Teile sind als eBook und auch als Taschenbuch verfügbar. Band 1-6 sind bereits als Hörbuch erschienen, Teil 7 folgt in Kürze.

 

Weitere Informationen und Bücher findet ihr auf meiner Homepage:

 

ThomasHerzberg.de

 

Thomas Herzberg auf facebook

 

 

1

 

Westerland, Samstag gegen Mitternacht

 

 

»Hi, ich bin Gerry! Hab gehört, du kannst für weiße Weihnachten sorgen. Stimmt das?«

Angesichts dieser Frage tat Merle erstaunt, heuchelte Verwirrung. Vor allem, weil es inzwischen Ende Januar und Weihnachten längst vorbei war. Außerdem stank dieser Typ, der von ›weißen Weihnachten‹ träumte, fürchterlich aus dem Hals. Sie wich sogar ein Stück zurück.

Doch beinahe gleichzeitig beugte sich der Spinner nach vorne, schwankte kurz und wagte einen neuen übelriechenden Anlauf. Dabei zeigte er über die Schulter. Gemeint waren drei Männer mittleren Alters, offensichtlich seine Freunde oder was auch immer. Die standen am Tresen der Diskothek Sunny und tauschten schon den ganzen Abend viel zu lautstark sagenhafte Heldentaten aus. Plump inszenierte Hahnenkämpfe, die nur dazu dienten, das weibliche Geschlecht zu beeindrucken. Bisher allerdings mit dürftigem Erfolg.

Und auch Merles Antwort fiel entsprechend aus: »Ich weiß nicht, was du meinst. Lass mich gefälligst in Ruhe und zieh Leine!«

Dieser Gerry – ein Möchtegern-Schönling und garantiert kein einheimischer Sylter – kam ihr noch ein Stück näher. Sein Mund öffnete sich. Merle schlug die Mischung aus Zigarettenqualm und etwas Hochprozentigem entgegen. »Jetzt hab dich doch nicht so! Ich weiß ganz genau, dass du hier …«

»Wie viel Schnee willst du denn?«, unterbrach ihn Merle grob. Sie hatte genug vom Vorspiel. Und der Spinner ließ sich ja ohnehin nicht mit den üblichen Mitteln wie Ahnungslosigkeit und Arroganz vertreiben. Davon abgesehen würde sich ein Bulle in Zivil niemals so dämlich anstellen. Also wollte sie das Geschäft so schnell wie möglich abwickeln und sich hinterher anderen, weit angenehmeren Dingen widmen.

Gegenüber verschwand eine Hand in einer Hosentasche und kehrte mit einer Geldklammer zurück, die ein ansehnliches Bündel grüner Scheine umschloss. Zwei davon hingen bereits vor Merles Nase in der Luft. »Reicht das für vier Leute?« Ein weiterer Fingerzeig über die Schulter folgte. Dort am Tresen johlten die Freunde gerade gegen Lady Gaga und ihr Pokerface an. Ansonsten drehte es sich wohl um eine junge Frau von etwa zwanzig, der das lüsterne Trio eindeutige Avancen machte. Das Ergebnis – kein Pokerface, aber eine schallende Ohrfeige für einen der Kerle – übertönte sogar Lady Gaga.

Merle wurde es zu bunt. Sie rupfte dem Typen die beiden Hunderter aus der Hand und verstaute sie blitzschnell in ihrer Handtasche. Im Gegenzug fischte sie ein paar kleine Tütchen heraus, die sie geschickt abschirmte, um sie vor neugierigen Blicken zu schützen. Für höchstens drei Gramm gestrecktes Kokain waren zweihundert Euro eigentlich viel zu viel. Aber der Idiot hatte es eben nicht besser verdient.

»Meine Kumpels und ich feiern heute Junggesellenabschied«, ging es vor ihr mit schlechtem Atem weiter. »Wenn Christian erst mal unter der Haube ist, werden wir bestimmt nicht mehr …«

»Dann noch viel Spaß«, schob Merle mit gleichgültiger Stimme dazwischen. Sie wollte sich schon wegdrehen, da spürte sie eine Hand an ihrer Schulter. Die zog an ihr und brachte sie in Rückenlage. Obendrein kam eine gelallte Frage: »Bist du immer so unfreundlich zu deinen Kunden?«

Merle öffnete bereits den Mund – allerdings nicht, um freundliche Worte loszuwerden –, da gesellte sich ihre Schwester Mareike hinzu. Als eineiige Zwillinge sahen sich die beiden zum Verwechseln ähnlich. Und dass sie auch an diesem Abend ein identisches Outfit gewählt hatten, machte es nicht einfacher, sie zu unterscheiden.

»Euch gibts im Doppelpack?«, wunderte sich der Möchtegern-Schönling und kicherte albern. Ein Auftreten, das in Sachen Männlichkeit dem ultimativen Kopfschuss gleichkam. »Habt ihr Bock, mit mir und meinen Kumpels was zu trinken? Keine Angst … ganz unverbindlich!«

Mareike schaffte es, Merle und deren nächster Abfuhr zuvorzukommen. Vermutlich besser so. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und strich dem Verehrer sogar kurz über die Wange. »Pass mal auf, Süßer: Meine Schwester und ich haben was zu besprechen. Vielleicht kommen wir später noch zu euch rüber. Ist das okay für dich?«

Offensichtlich, denn der Spinner zog endlich Leine.

»›Süßer‹«, wiederholte Merle kopfschüttelnd. »Leidest du neuerdings an Geschmacksverirrung, Schwesterherz?« Sie zeigte auf das Quartett vor dem Tresen, das inzwischen wieder komplett war. Die Begrüßung fiel lautstark aus. Zu allem Überfluss war sofort von ›Schnee‹ und ›Koks‹ die Rede.

»Ist nicht meine Schuld«, rechtfertigte sich Merle. »Das sind Idioten.«

Sie bekam keine Antwort. Zumindest nicht mit Worten. Stattdessen packte Mareike ihre Schwester am Arm und zog sie am Rand der Tanzfläche durch die halbe Diskothek. Dort hatte Lady Gaga vor einiger Zeit an Crystal Rock übergeben. Deren Hit Powerless aus den Dancecharts sorgte für neuen Andrang zwischen Lautsprechern und buntem Blitzlichtgewitter.

Als powerless – also energielos – konnte man Mareike, die ihre Schwester auf dem schmalen Gang vor den Toiletten zur Rede stellte, nun wirklich nicht bezeichnen. »Du hast mir versprochen, dass du mit dem Mist aufhörst! Kannst du mir mal verraten, was das soll? Du hast Mama und mir …«

»Warst du schon mal auf Entzug?«, platzte Merle wütend dazwischen. »Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn einem kalter Schweiß von der Stirn läuft und man keinen klaren Gedanken mehr fassen kann? Oder hast du schon mal unter der Dusche gestanden und dich selbst vollgesch…?«

»Und mit Koks passiert das alles nicht?«, erkundigte sich Mareike der Form halber. Natürlich kannte sie die Antwort und fuhr gleich fort: »Mama und ich haben alles getan, um dir zu helfen. Damit du von diesem Scheißzeug wegkommst, hab ich sogar meine kompletten Ersparnisse geopfert! Erinnerst du dich noch oder ...?«

»Ich hab dich nicht drum gebeten!«

Ein Fakt, gegen den Mareike nichts einwenden konnte. Deshalb drohte sie mit ganz anderen Maßnahmen: »Wie wär‘s denn, wenn ich deine Hintermänner auffliegen lasse?«

Merle schaute sie halb erstaunt, halb geschockt an. »Untersteh dich! Außerdem … was weißt du denn schon über meine angeblichen Hintermänner?«

»Mehr, als du denkst.«

Irgendwo mitten auf der Tanzfläche gab es Streit. Während Crystal Rock zum Ende kam, ging es dort erst richtig los. Und wie sollte es anders sein: Merles Kunde von eben hatte diese Auseinandersetzung, die im Begriff war, handgreiflich zu werden, wohl angezettelt. Aber Theo, der Türsteher vom Sunny, kam gerade noch rechtzeitig, um die Streithähne zu trennen. Mit hundertfünfzig Kilo Muskeln und Samensträngen wollten sich die beiden anscheinend nicht anlegen, denn sie ließen voneinander ab. Schlussendlich lagen sie sich in den Armen und johlten um die Wette.

»Du nimmst jetzt deinen Krempel und fährst nach Hause!«, befahl Mareike ihrer Schwester unmissverständlich. »Morgen reden wir mit Mama und versuchen, einen Therapieplatz für dich zu finden. Das Geld kratzen wir schon irgendwie zusammen. Wenn‘s gar nicht anders geht, frag ich eben Papa.«

»Das lässt du schön sein! Ich will nicht, dass er weiß …«

»Und was dann?«

Zunächst herrschte Funkstille zwischen den Schwestern. Die Situation stand spürbar auf der Kippe. Merle war anzusehen, wie sie innerlich mit sich rang. Unterdessen entspannte sich ihre Miene und sie sah plötzlich wie ein hilfloses Mädchen aus. Vielleicht hätte sie sich sogar darauf eingelassen. Wäre tatsächlich nach Hause gefahren, wären da nicht Luis Fonsi und Daddy Yankee gewesen. Denn als deren Megahit Despacito anfing, hielt Merle nichts mehr an Ort und Stelle.

»Ich will tanzen!«, schrie sie ihre Schwester an und wirbelte im selben Moment herum. Ebenso schnell verschwand sie inmitten Gleichgesinnter auf der Tanzfläche und riss beim ersten Refrain, den alle mitgrölten, begeistert die Arme empor.

Mareike stand noch eine Weile einfach so da und beobachtete die Gäste im Sunny. Die Diskothek hatte erst vor ein paar Monaten mitten in Westerland neu eröffnet und war mittlerweile der inoffizielle Mittelpunkt des Sylter Nachtlebens. Viele Alternativen gab es auf der Insel auch nicht. Wer zu später Stunde ausgelassen feiern wollte, landete irgendwann beinahe zwangsläufig in dieser Location. Und das, obwohl man hier für ein Bier vom Fass neun Euro und für die meisten Longdrinks mindestens das Doppelte hinblättern musste. Die billigste Flasche Champagner gab es nicht unter dreihundert Euro.

»Hast du Lust, was mit mir zu trinken?« Vor Mareike stand plötzlich ein hochgewachsener Typ von geschätzt Ende zwanzig, gut gekleidet, mit einer sündhaft teuren Rolex am Armgelenk. »Nur was trinken, völlig unverbindlich.«

Sie wollte schon den Kopf schütteln und sich – im Gegensatz zu ihrer Schwester – auf den Heimweg machen, da besann sie sich eines Besseren. Sie hatte Durst. Und wie der Zufall es wollte, konnte der Typ offensichtlich Gedanken lesen, denn er legte lachend nach: »Hab gehofft, du hast auch Lust auf Champagner …«

 

 

2

 

Rantum/Sylt, Sonntagvormittag

 

 

»Das war endlich der Letzte«, stöhnte Ole. »Oben hast du Pullover draufgekritzelt.« Also ließ er den Umzugskarton aus einiger Höhe direkt vor Hannahs zukünftigem Kleiderschrank zu Boden krachen. Das Resultat war lautes Scheppern.

»Ich hatte die beiden Vasen von meiner Oma zwischen die Pullover gesteckt«, erklärte Hannah diesen Sachverhalt erschreckend ruhig. »Hörte sich so an, als hätten es die Dinger jetzt hinter sich.«

»Kannst du mir sowas nicht früher sagen? Wer stopft denn seine Klamotten in einen Karton und verstaut dann zwei wertvolle Vasen darin, um ausgerechnet die …?«

»Ich! Macht das nicht jeder so?«

Ole klang zunehmend frustriert. »Vielleicht kann ich die Teile ja kleben.« Er ließ sich auf einem Stuhl nieder, den er – zusammen mit dessen hölzernem Zwillingsbruder – vor dem letzten Karton hereingetragen hatte. »Ich hab dich vorher gewarnt, Chefin! Umzüge sind nicht so meins. Und ich hatte dir auch gesagt, dass ich keine Verantwortung übernehme, falls was kaputtgeht. Du erinnerst dich hoffentlich?«

Hannah tat, als würde sie einen Vertrag aus dem Bund ihrer ausgebeulten Jogginghose ziehen und überflog ihn mit todernster Miene. Auf Seite zwei oder drei des unsichtbaren Kontrakts stockte sie und kam nickend zu einem Fazit. »Stimmt! Aber hier steht auch, dass du uns was von McDonald‘s holst, sobald alles im Haus ist.«

»Und das soll ich unterschrieben haben?«, hakte Ole lachend nach. »Lass mich raten: Dabei gehts gar nicht um dich, sondern vielmehr um deine Familie. Weil Felix das Eis so liebt und deine Mutter die Chicken Wings

»Aber dieses Mal mit doppelt Süß-Sauer-Sauce, wenn ich bitten darf! Und lass dir nicht wieder so ’n halbes Eis andrehen!«

»Deswegen extra nach Westerland«, maulte Ole, während er den Raum und das Chaos aus teilweise bis zur Decke gestapelten Kartons und einzelnen Möbelstücken hinter sich ließ. »Hätt ich das geahnt, wär ich heut Morgen bestimmt nicht in aller Herrgottsfrühe auf die Insel rübergekommen, um dir zu helfen.«

Hannah holte ihren widerspenstigen Helfer auf dem Flur ein. Dort packte sie ihn geschickt von hinten, verdrehte sofort seinen Arm auf den Rücken und schob ihn im typischen Polizeigriff gegen die Wand. »Hab ich dir schon gesagt, dass du ein richtiger Freund bist? Wahrscheinlich sogar mein bester.«

»Und wie man an heute Morgen sieht, auch dein einziger«, keuchte Ole unter Schmerzen. »Ist ja auch kein Wunder! Wer so mit seinen Freunden umgeht … lass mich endlich los, du garstiger Kampfzwerg!«

»Nur wenn du versprichst, hinterher lieb zu sein.« Hannah wartete keine Antwort ab und entließ den Arm aus seiner Geiselhaft. Als sich Ole zu ihr umdrehte, tätschelte sie ihm die Wange und flüsterte bloß noch. »Ich kann mich nicht entscheiden.«

Oles Miene, die ursprünglich weiteren Protest ankündigte, veränderte sich rapide. Plötzlich sah er besorgt aus und war im Begriff, Hannah zu umarmen. »Bereust du‘s schon? Wenn du dir das mit dem Umzug zu deiner Mutter noch mal durch den Kopf gehen lassen willst, ist es auch okay für mich. Ich trag einfach alles wieder raus in die Autos und wir schaffen dein ganzes Zeug zurück aufs Festland. Kein Problem! Du kannst auch erst mal bei mir wohnen, falls Bruno deine Bude schon anderweitig vermietet hat.«

»Darum gehts doch gar nicht«, hauchte ihm Hannah auf Zehenspitzen filmreif ins Ohr.

Ole lief eine Gänsehaut über den Rücken. »Und worum dann? Sag schon!«

»Ich überlege, ob ich zum Big Mac und den Pommes ’ne Apfeltasche nehme. Was meinst du? Schaff ich das?«

Anstelle einer Antwort stieß Ole seine Chefin von sich und bekam vor Empörung kaum genug Luft für eine Beschwerde: »Du hast sie echt nicht mehr alle! Und du musst aufpassen, dass du nicht bald völlig ohne Freunde dasitzt.«

Hannah zeigte ganz unbekümmert auf ihr zukünftiges Schlafzimmer, in dem sich die Kartons stapelten. »Meinen Krempel hab ich doch hier. Wozu brauche ich jetzt noch Freunde?«

»Zum Beispiel, weil du es mit deiner Mutter höchstens zwei Wochen unter einem Dach aushalten wirst«, konterte Ole zickig. »Übrigens: Maike tippt nur auf ’ne Woche und Gerd Hoffmann meinte gestern am Telefon, dass es nicht mehr als ein paar Tage werden. Fällt dir dazu noch was ein?«

»Klar! Vergiss bloß meine Apfeltasche nicht!« Mit diesen Worten verabschiedete sich Hannah augenzwinkernd.

Nachdem Ole im Sylter Januargrau durch die Haustür der Lambert-Villa verschwunden war, kehrte sie nicht in ihr chaotisches Schlafzimmer zurück, sondern bog nach rechts in die Wohnküche ab. Dort saß ihre Mutter am Tisch und löste Kreuzworträtsel. Aber es war anzunehmen, dass sie alles mitgehört hatte.

Entsprechend fiel ihr erster Kommentar aus: »Du kannst wirklich von Glück reden, dass du einen Freund wie Ole hast.« Gertrud Lambert verzog das Gesicht und grübelte offenbar angestrengt über etwas. Dabei handelte es sich vermutlich nicht um die Hauptstadt von Indonesien oder einen Nebenfluss der Mosel, wie ihre nächsten Worte deutlich machten: »Keine Ahnung, wie das alles ohne ihn funktionieren sollte – bei deinem Durcheinander.«

»Ich dachte, wir hätten uns auf einen Waffenstillstand geeinigt.« Hannah zog den Kühlschrank auf, inspizierte nacheinander die Fächer und schloss die Tür unverrichteter Dinge. Drinnen klimperten ein paar Glasflaschen. »Du kannst sagen, was du willst – ich für meinen Teil hab mich bis jetzt dran gehalten. Oder etwa nicht?«

Ihre Mutter zeigte zum Kühlschrank, ein Ablenkungsmanöver. »Nichts gefunden?«

Hannah ließ sich auf der Küchenbank nieder und rutschte stückweise unter den Tisch. »Wer von uns erledigt in Zukunft eigentlich die Einkäufe?«, fragte sie mit der unschuldigen Stimme eines jungen Mädchens.

»Ich hatte gehofft, du. Mir ist der ganze Kram schon lange zu schwer. Außerdem koche ich ja auch jeden Tag und …«

»Ist in Ordnung.« Hannah zog ihr Smartphone aus der Tasche, platzierte es vor sich auf dem Tisch und wischte eine Weile lustlos auf dem Display herum.

»Ist das alles?« Ihrer Mutter war offenes Erstaunen anzuhören, beinahe Entsetzen. »Du hast kein Problem damit, wenn ich nicht mehr einkaufen gehe und du das erledigen musst?«

»Wieso sollte ich? Hast du doch lange genug getan ... auch für Felix.«

Allein dieser Name bewirkte, dass sich die Gesichter beider Frauen von einem Moment zum nächsten dramatisch verfinsterten. Es war, als würde sich plötzlich ein dunkler Schleier über dem Küchentisch ausbreiten. Gertrud Lambert machte mit dünner Stimme den Anfang: »Ich dachte, wir wären wenigstens ein bisschen über das Ganze hinweg.«

»Ich auch.«

»Willst du drüber reden?«

»Worüber denn?«, kam es verbittert von Hannahs Seite zurück. »Darüber, dass mein einziges Kind neuerdings in einer Wohngruppe lebt? Oder vielleicht, dass ich meine Bude leichtfertig gekündigt hab und mein Kater jetzt endgültig bei Bruno wohnt? Oder wollen wir lieber …?«

»Es ist besser für ihn – erst mal.«

»Für wen von den beiden?«, fragte Hannah, obwohl sie die Antwort natürlich kannte.

»Felix ist dort gut untergebracht und wir haben so die Möglichkeit, uns aneinander zu gewöhnen – ohne weiteres Störfeuer. Oder willst du etwa, dass dein Sohn …?«

»Was darf ich denn unter ›Störfeuer‹ verstehen?«

»Das meine ich doch nicht böse!«, versuchte Gertrud Lambert ihre eigenen Worte zu relativieren. »Du musst schon zugeben, dass der Alltag ohne Felix manchmal ein bisschen leichter ist. Auf jeden Fall unkomplizierter.«

»Muss ich?« Hannah hob den Kopf. Sie wirkte nicht wütend, vielmehr gründlich ernüchtert. Entsprechend fiel ihr Fazit aus: »Nimm es mir bitte nicht übel … ich hab mich in erster Linie wegen Felix auf den Umzug eingelassen. Jetzt ist er weg und wir hocken zu zweit hier rum. Ich glaube, das hast du dir auch anders vorgestellt.«

»Aber du kannst ihn regelmäßig besuchen, wenn du bei mir wohnst. Oder meinst du etwa, du hättest es andernfalls geschafft, täglich auf die Insel rüberzukommen, um …?«

»Natürlich nicht«, wiegelte Hannah ab. Danach schwieg sie zunächst. Nur ihr Gesicht sprach traurige Bände.

Ihre Mutter fuhr energisch fort: »Nach dem Vorfall neulich haben wir zusammen beschlossen, dass er erst mal in diese Wohngruppe kommt. Wenigstens für ein halbes Jahr – hinterher sehen wir weiter.«

»Aber hier hat es doch auch immer ganz gut geklappt«, gab Hannah zu bedenken. Immerhin ein indirektes Lob an die Adresse ihrer Mutter. »Und wenn ich daran denke, wie er die ersten Tage in der Wohngruppe ausgeflippt ist …« Sie verstummte. Ihre Miene sah wie versteinert aus. »… ich könnte den ganzen Tag heulen, von morgens bis abends.«

Gertrud Lambert schaute besorgt drein. Bevor sie etwas sagte, wischte sie mit dem Handrücken eine Träne weg, die ihr an der Wange herunterlief. »Hast du Ole gebeten, auf dem Rückweg anzuhalten und ihm sein Lieblingseis vorbeizubringen?«

Hannah nickte nur. Zu Worten war sie vorerst ohnehin nicht in der Lage.

»Da freut er sich, so viel ist sicher. Außerdem gibt es für ihn sowieso nichts Schöneres als zusammen mit Ole …«

»Herzlichen Dank!«, presste Hannah an Rotz und Tränen vorbei. Sie rutschte auf der Küchenbank ein Stück seitwärts, wollte aufstehen, aber der Tisch bremste sie aus.

Gegenüber geriet der Teebecher ihrer Mutter ins Wanken. Doch die hatte nur Interesse an den Händen ihrer Tochter, schnappte danach und umklammerte sie mit weißen Knöcheln. »Es ist für uns beide nicht einfach ... wir schaffen das, vertrau mir!«

»Sicher?«, schniefte Hannah. Sie hörte sich erneut wie ein kleines Mädchen an.

»Ganz sicher! Wir müssen nur zusammenhalten und uns möglichst wenig streiten. Das kann doch nicht so schwer sein.«

Hannahs Handy klingelte, aber sie reagierte überhaupt nicht.

»Willst du nicht rangehen?«

Statt zu antworten, schob Hannah ihr Smartphone quer über den Küchentisch. Oles Gesicht war darauf zu sehen. Ein Foto, das irgendwann im Sommer am Strand entstanden war. Es zeigte einen der seltenen, unbeschwerten Momente, in denen Hannah und er mal keinen Mordfall zu lösen hatten.

Gertrud Lambert lehnte sich nach vorne. Seitdem sie ein eigenes Smartphone hatte, wusste sie sogar, wie man damit ein Gespräch annahm. »Soll ich? Was ist denn, wenn was mit Felix ist?«

Mit sehr viel Fantasie konnte man Hannahs Reaktion als Nicken deuten. Und weil Ole vermutlich jede Sekunde aufgeben würde, schritt ihre Mutter kurzerhand zur Tat. Sie wischte übers Display und aktivierte sofort den Lautsprecher. »Wir sind hier in der Küche«, meldete sie sich so laut, dass sie beinahe auf ein Telefon hätte verzichten können.

»Wieso geht denn Hannah nicht ran?«, fragte Ole.

Für eine Antwort darauf war es noch zu früh, also wich Gertrud Lambert mit einer Gegenfrage aus: »Ist was mit Felix?«

»Ich hab‘s nicht mal bis zu McDonald‘s geschafft. Können Sie Hannah bitte ausrichten, dass ich sie gleich zu Hause abhole?«

Gertrud Lambert wollte reagieren, doch ihre Tochter grapschte schon nach dem Handy. Als Erstes deaktivierte sie den Lautsprecher und hatte anschließend ihre Stimme erstaunlich gut im Griff. »Was ist denn los?«

»Ich weiß noch nichts Genaueres. Einer von unseren Streifenkollegen hat eben angerufen. Am Weststrand, etwa in Höhe der Sansibar, wurde ’ne Leiche gefunden«, erklärte Ole.

»Wo bist du gerade?«

»Stehe jeden Moment vor eurer Tür, um dich abzuholen. Ist vielleicht besser, wenn du dir noch ’ne richtige Hose anziehst.«

»Danke für den Hinweis!« Hannah beendete kurzerhand das Gespräch. Sie stand bereits und schaute unverändert geknickt zu ihrer Mutter herab.

»Ein neuer Fall?«, fragte die.

»Ich hoffe nicht.«

»Ole hat doch irgendwas von einer Leiche gesagt.«

»Sollst du lauschen? Außerdem hat nicht jede Leiche was mit einem Mord zu tun. Die wenigsten, falls du‘s genau wissen willst.«

»Trotzdem könntest du ein bisschen Ablenkung gebrauchen.«

»Und dafür muss jemand gewaltsam sterben? Das ist doch hoffentlich nicht dein Ernst, Mama?«

 

 

3

 

Am Sylter Weststrand, zwei Stunden zuvor

 

 

»Nicht mehr lange und mir fallen die Beine ab«, beschwerte sich Jennifer bei ihrem Freund Marcel. Die beiden hatten sich schon vor dem Frühstück von Hörnum-Odde, Sylts südlichster Spitze, in Richtung Norden aufgemacht. Bisher lagen etwa sechs Kilometer Fußmarsch hinter ihnen. Immer am Strand entlang, was zusätzliche Kondition erforderte. Hinzu kam eisiger Wind aus Nordost, der Sylt und seinen Bewohnern schon seit Tagen einen Vorgeschmack auf Schnee lieferte. Aber noch hielten die Wolken an ihrer weißen Pracht fest. Nur das Heidekraut der Dünen hatte sich längst hell verfärbt.

»Ohne einen heißen Kakao in der Sansibar mach ich mich nicht auf den Rückweg«, fuhr Jennifer ausgelassen fort. Sie setzte bereits die nächsten Schritte nach vorne, stoppte jedoch mitten in der Bewegung und zeigte zum neu errichteten Treppenaufgang, der vom Weststrand hoch zur Sansibar führt. »Was hat denn Sparky da gefunden?« Die Rede war vom Terrier, der Marcels Mutter gehörte. In Aussicht auf einen Spaziergang war der Hund zwei Stunden zuvor beinahe ausgerastet. An und für sich nichts Ungewöhnliches. In der Welt eines Terriers war eben manchmal jedes Sandkorn eine ausgewachsene Sensation. Aktuell beschäftigte er sich allerdings mit etwas, das unter dem Treppenaufgang verborgen lag. Der kleine Sparky versuchte krampfhaft, seinen Fund hervorzuziehen.

»Das sieht doch wie ’ne Leiche aus«, stammelte Jennifer, die an Ort und Stelle zur Salzsäule erstarrt war.

»Natürlich liegt da ’ne Leiche«, wiederholte Marcel spöttisch. Unüberhörbar, was er von der Vermutung seiner Freundin hielt. »Gehts dir gut oder war der letzte Prosecco gestern Abend schlecht?«

Jennifer beharrte auf ihrer Meinung. »Da hinten, unter der Treppe … wo’s nach oben geht. Bist du blind?«

Davon wüsste Marcel wahrscheinlich. Zunächst musste er seine Mütze aus dem Gesicht ziehen, um besser sehen zu können. Er wollte es einfach nicht glauben und schob allein den Gedanken an eine Leiche beiseite. Außerdem taten seine Füße weh und er sehnte sich in erster Linie nach einer Sitzgelegenheit. »Das ist ’ne Tüte!«, erklärte er nach einem prüfenden Blick in die Ferne. »Das sieht doch ’n Blinder mit Krückstock.«

»Das ist alles, aber keine Tüte!«, fauchte Jennifer zurück. Ihr Atem sorgte in der eisigen Luft für gewaltige Dunstwolken. »Und das würde sogar dein Blinder erkennen – mit oder ohne Stock.«

Je näher sie kamen, desto mulmiger wurde auch Marcel. Sein Verstand weigerte sich äußerst hartnäckig, Jennifers Behauptung als Tatsache zu akzeptieren. Aber was sollte dieses helle Gestrüpp, an dem Sparky knurrend zerrte, sonst sein? Bestimmt kein Seegras. Weder um diese Jahreszeit und erst recht nicht so weit oben, unmittelbar vor den Dünen. Er hoffte inständig, dass es keine Haare waren.

Jennifer, die ein paar vorsichtige Schritte wagte, blieb so plötzlich stehen, dass Marcel beinahe von hinten in sie reingekracht wäre. Weiter rechts fühlte sich eine Sturmmöwe gestört und flatterte kreischend davon. Mit viel Fantasie hätte man meinen können, eine konkrete Beschwerde herauszuhören.

Als das Geschrei langsam nachließ, galt auch die Aufmerksamkeit des Terriers nicht mehr dem Gestrüpp, sondern etwas anderem, das wie ein Kleidungsstück aussah.

»Scheiße!«, flüsterte Marcel. »Ich glaub, du hast recht.«

»Und ich gehe da auf keinen Fall näher ran!« Jennifers Stimme zitterte vor Aufregung. Ihren Freund hielt sie mit aller Kraft am Jackenärmel fest. »Du auch nicht … lass uns bitte die Polizei rufen, ja!«

Immer noch ein gutes Stück entfernt ließ Sparky von seiner vermeintlichen Beute ab, um kläffend zwei Möwen zu vertreiben, die sich ebenfalls an der angeblichen Tüte zu schaffen machen wollten. Während der Hund den beiden nachsetzte, landete eine dritte Möwe hinter ihm im Sand. Der Terrier vertrieb auch diesen Kontrahenten und kümmerte sich danach wieder um sein eigentliches Ziel. Dieses Mal war er noch weiter unter den Treppenaufgang gekrochen und zerrte an etwas anderem.

»Bitte lass es ’ne Tüte sein! Von mir aus irgendwas anderes … ganz egal«, jammerte Marcel.

Von Jennifers Stimme war inzwischen kaum mehr als ein Hauch übrig. »Sparky kommt zurück. Er hat was im Maul.«

Dieses Fundstück entpuppte sich als Schuh. Genauer gesagt: als ein Stiletto, mit 15-Zentimeter-Absatz.

»Wer geht denn bei dem Wetter mit solchen Stelzen an den Strand?«, fragte Marcel leise. »Damit kommt man ja keine drei Meter weit, ohne sich was zu brechen.«

»Das ist doch völlig egal, jetzt ruf endlich die Polizei!«

Statt der Anweisung seiner Freundin zu folgen, riss sich Marcel von ihr los und tastete sich Meter für Meter nach vorne. Der Sand unter seinen Stiefeln war feucht und klebte an den Sohlen. Das machte jeden Schritt beschwerlich. Immer noch in sicherer Entfernung blieb er stehen. Seine Beine schlotterten, waren weich wie Pudding. Er suchte etwas, woran er sich festhalten konnte. Natürlich erfolglos.

Unterdessen arbeitete sein Verstand fieberhaft und hatte längst das eine oder andere Detail zweifelsfrei identifiziert: Bei dem Gestrüpp handelte es sich nicht um ausgeblichenes Seegras, so viel stand fest. Und das, was er von Weitem für eine Tüte gehalten hatte, war ein glitzerndes Oberteil. Dessen einer Träger war heruntergerutscht und gab den Blick auf eine schneeweiße Brust frei. Eine fürchterliche Szenerie, denn erste Möwen hatten sich daran zu schaffen gemacht.

Marcel stockte der Atem. Die unausweichlichen Fakten sickerten wie durch ein Loch in sein Bewusstsein, als er von hinten zwei Hände spürte, die sich an seiner wattierten Jacke festkrallten. Jennifer hatte sich also ebenfalls nach vorne gewagt. Wie es schien, hatte sie einen kurzen Blick auf das Grauen erhaschen können.

»Du hast recht«, stotterte Marcel. Allein der Anblick der Toten setzte ihm immer heftiger zu. Hier war alles anders, als man es aus dem Fernsehen kannte. Abgesehen von den Sofa-Helden vor den heimischen Mattscheiben gingen die typischen Fernsehkommissare, Profiler oder Pathologen stets ganz ungezwungen mit solchen Situationen um. Häufig wurde sogar über den Zustand von Leichen gescherzt. Zur anschließenden Obduktion gab es Torte oder Leberknödel.

Jennifer zog mittlerweile derart vehement an Marcels Jacke, dass sie ihn damit aus dem Gleichgewicht brachte. Zwei Atemzüge später ließ sie unvermittelt los und plumpste hinter ihm in den Sand. Er wirbelte herum und verspürte im ersten Moment das absurde Bedürfnis, sich einfach neben sie zu legen. Er war aufgeregter als je zuvor in seinem Leben. Den immer schnelleren Takt gab sein Herzschlag vor, der in seinen Ohren hämmerte.

Am Ende waren es Jennifers schneeweißes Gesicht und der Gedanke an die tote Frau, die für eine Art Reset in seinem Kopf sorgten. Mühselig und mit zitternden Fingern fischte er sein Handy aus der Jackentasche, um die 112 zu wählen.

»Hallo! Können Sie mich hören?«, brüllte Marcel, als sich eine Frau mit routinierter Stimme meldete. Inzwischen hatte Sparky eine neue Möwe entdeckt und bellte dem gefiederten Widersacher hinterher. Ausgerechnet jetzt frischte der eisige Nordostwind noch mal richtig auf, sodass man kaum mehr sein eigenes Wort verstehen konnte. Trotzdem wollte die Frau am anderen Ende der Leitung wissen, mit wem sie es zu tun hatte und worum es bei diesem Notruf ging.

»Hier liegt ’ne Leiche«, haspelte Marcel. Er wusste nicht, ob er überhaupt zu hören war. Darüber hinaus ärgerte er sich über sein unprofessionelles Verhalten. Doch es wurde nicht etwa besser, ganz im Gegenteil. »Also ... eine Frau. Ich glaube, die ist tot … ich weiß nicht … sieht tot aus.«

»Was heißt ›Sie glauben‹? Haben Sie nicht nachgesehen?«

»›Nachgesehen‹?«, wiederholte Marcel fassungslos. »Ich kann doch nicht …«

»Stimmt!«, unterbrach ihn die Frau ruppig. »Sie müssen Erste Hilfe leisten … und zwar sofort! Ich schicke umgehend die Polizei und einen Rettungswagen.«

›Erste Hilfe‹, geisterte es noch eine Weile durch Marcels Kopf. Auch wenn er es am liebsten vermieden hätte, überflog er den schneeweißen Körper der Frau ein weiteres Mal mit Blicken. Und er kam zu einem Ergebnis: Hier war es für jede Art von Hilfe viel zu spät ...

 

 

4

 

 

»Seit wann geht denn bei dir deine Mutter ans Handy?«, fragte Ole, als Hannah neben ihm auf den Beifahrersitz plumpste.

»Seit eben! Wieso ist das so wichtig?«

»Weil du sie früher allein dafür umgebracht hättest. Wahrscheinlich auch für weniger.«

Hannah winkte ab und mühte sich um ein gütiges Lächeln, was selten genug vorkam. »Gibts schon was Neues von der Leiche am Weststrand?«

»Der Notruf kam vor etwa zwei Stunden rein. Unsere Streifenkollegen sind ausgerückt und längst vor Ort, mehr weiß ich nicht. Oder doch: Es handelt sich wohl um ’ne junge Frau, die für unseren Sylter Januar ziemlich wenig anhatte.«

»Wo genau hat man sie denn gefunden?«, hakte Hannah nach.

»Direkt unterm neuen Aufgang vom Strand hoch zur Sansibar

»Nach den letzten Sturmfluten können wir alle froh sein, dass es den Weststrand überhaupt noch gibt. Ich glaube, es wurde noch nie so viel neuer Sand aufgespült wie im letzten Jahr.«

»Früher wäre dir sowas völlig egal gewesen«, erwiderte Ole belustigt. »Aber jetzt – wo du selbst wieder Sylterin bist – scheinst du dir neuerdings ganz andere Sorgen zu machen. Wenn du so weitermachst, wirst du bald Bürgermeisterin von Westerland. Da würde im Rathaus ein rauer Wind wehen.«

»Das fehlt mir gerade noch«, knurrte Hannah, während sie aus dem Seitenfenster starrte. »Bei dem Schietwetter kann man gar nicht sehen, wo das Wasser aufhört und der Himmel anfängt. Da schnellt die Selbstmordrate automatisch in die Höhe.«

»Dann meinst du also, wir haben es nicht mit Mord zu tun, sondern …?«

»Ich hoffe!« Hannah rutschte ein freudloses Lachen heraus. »Obwohl meine Mutter meint, ich bräuchte ’nen neuen Mordfall, um mich abzulenken. Keine Ahnung, wie sie auf den Schwachsinn kommt.«

Ole wartete kurz, doch es ging nicht weiter. Er senkte seine Stimme, klang gefühlvoll. »Also habt ihr zwei wieder über Felix geredet?«

»Ließ sich irgendwie nicht vermeiden. Und ganz ehrlich: Ich könnte immer noch kotzen!«

»Wenn wir nicht auf die Schnelle diesen Platz in der Wohngruppe für ihn gefunden hätten, dann wäre er zwangseingewiesen worden … in die Psychiatrie. Das sollte selbst dir klar sein.«

»Natürlich! Aber es ändert nichts daran, dass ich ihn schrecklich vermisse. Obendrein bin ich wahrscheinlich die schlechteste Mutter der Welt und darf mich sowieso nicht beklagen. Den ganzen Blödsinn stellt er doch nur an, weil er meine Aufmerksamkeit will.«

»Wie kommst du denn auf das dünne Brett?«

Hannah atmete inzwischen stoßweise. Sie war eindeutig den Tränen nahe. »Ich will darüber jetzt nicht reden!«

»Ist wegen des Unfalls eigentlich noch was nachgekommen?« Oles Frage galt einem Crash mitten in Rantum, der einige Wochen zurücklag. Hannahs Sohn Felix hatte sich durch die Vordertür der Lambert-Villa nach draußen geschlichen und war auf die Straße gerannt, wo ihm ein Auto ausweichen musste. Dieses Manöver endete in einem Vorgarten. Dessen Eigentümer zeigte nicht das geringste Verständnis für einen behinderten Jungen oder seine beinahe hysterische Mutter. Selbst dann nicht, als die ihren Dienstausweis der Kriminalpolizei zückte. Am Ende hatte Gertrud Lambert die Wogen mit Geld geglättet. Oles Meinung nach mit viel zu viel Geld. Schließlich waren dem Malheur nur ein paar Büsche, Sträucher und der halbe Gartenzaun zum Opfer gefallen.

In Hannahs Stimme mischte sich ein Hauch von Weltuntergang. »Ich hab das Gefühl, meine Mutter gewöhnt sich ziemlich schnell an ihr neues Dasein.«

»›Dasein‹?«

»Ich meine, an ein Leben ohne Felix!« Hannah schaute zur Seite und versuchte, die Tränen wegzublinzeln. »Kannst du dir das vorstellen? Meine Mutter, die plötzlich irgendein neues Hobby für sich entdeckt? Oder sich mit ihren Freundinnen in Westerland zum Frühstücken trifft?«

»Seit wann hat deine Mutter denn Freundinnen? Ich wüsste nicht mal von einer – in der Hinsicht ist sie dir viel zu ähnlich.«

»Das war doch nur ’n Beispiel! Mir gehts darum, dass sich meine Mutter gedanklich von Felix distanziert. Nach nicht mal drei Wochen ohne ihn!«

»Tut sie nicht!«

»Und woher willst du das so genau wissen?«

»Ganz einfach: Deine Mutter wird sich niemals von Felix distanzieren – das klingt übrigens ziemlich bescheuert. Und ich hab es dir noch nie so deutlich gesagt, aber du weißt es doch eigentlich selbst: Ohne sie wäre dein Sohn heute bestimmt nicht so weit, wie er ist. Und er wäre viel früher in irgendeinem Heim oder in der Psychiatrie gelandet.«

Nach dieser ungewohnt drastischen Wortwahl von Ole herrschte im Wagen eine Weile Schweigen. Hannah fand ihre Stimme erst wieder, als sie auf den Großparkplatz direkt an der Hörnumer Straße rollten. Von dort waren es noch etwa zweihundert Meter Fußmarsch bis zur Sansibar.

»Was hast du eigentlich eben damit gemeint, dass meine Mutter mir viel zu ähnlich ist, um Freundinnen zu haben?«

»Nicht viel los heute«, wich Ole aus und überflog den riesigen Parkplatz mit Blicken. »Bei dem Wetter bleiben die meisten Einheimischen zu Hause und Touris kommen erst zurück, wenn’s wieder wärmer wird.«

Hannah zog am Türöffner, dann verharrte sie mitten in der Bewegung. Ihr Tonfall klang bedrohlich. »Über die Geschichte mit der Ähnlichkeit reden wir später, Freundchen!«

Nach dem Aussteigen holte Ole seine Chefin etwa auf halber Strecke ein. Direkt vor den beiden kämpfte sich ein älteres Ehepaar Meter für Meter nach vorne, gegenseitig untergehakt. Es war nicht eindeutig zu erkennen, wer da wem half.

»Sollen wir oben schon mal ’ne Bestellung für Sie aufgeben?«, bot Ole lachend an, während sie an den alten Leuten vorbeizogen. Hannah setzte mit stoischer Ruhe einen Fuß vor den anderen und beachtete ihn gar nicht.

»War nicht so gemeint«, entschuldigte sich Ole halbwegs überzeugend. »Und du hast ja immerhin Maike – die würde ich ohne Bedenken als richtige Freundin bezeichnen.«

»Als deine oder meine?«

»Am besten einigen wir uns auf halb und halb«, schlug Ole vor. »Ist jetzt zwischen uns wieder alles in Ordnung?«

Hannah drehte sich im Laufen zu ihm um. Ihre nächsten Worte machten deutlich, dass sie das vorherige Thema längst abgehakt hatte. »Ich will versuchen, Felix aus der Wohngruppe rauszuholen. Hilfst du mir dabei?«

»Ich weiß nicht, wie du das anstellen willst. Außerdem glaube ich, dass er dort zunächst ganz gut aufgehoben ist. Vielleicht solltest du dich lieber mit der Tatsache abfin…«

»Das war nicht meine Frage! Ich will wissen, ob du mir hilfst.«

»Klar helf ich dir. Muss ich doch … schließlich bist du meine Chefin.«

Die beiden hatten inzwischen die Sansibar erreicht. Auf den Holzstufen vor dem Kult-Restaurant, auf denen im Sommer kaum ein freier Platz zu finden war, herrschte an diesem eisigen Sonntagvormittag im Januar nur wenig Betrieb. Zwei Männer, die lediglich Anzughosen und Oberhemden trugen, rauchten um die Wette und stiegen dabei im Takt von einem Fuß auf den anderen. Drinnen war allerdings einiges los, das konnte man durch die Fenster erkennen.

»Ich war letztes Wochenende mit ’ner Freundin hier und hatte zum ersten Mal das Filetsteak. Göttlich!«, schwärmte Ole.

Hannah blieb stehen und schaute sich nach den Streifenkollegen um, die angeblich längst vor Ort sein sollten. Doch es war niemand zu entdecken. Ole, dem anzusehen war, dass er immer noch mit seiner kulinarischen Exkursion zu tun hatte, bekam ihren Unmut ab: »Filetsteak also. Heißt das, ich darf schon mal was beiseitelegen, weil du mich am Monatsende wieder anpumpst?«

»Da seid ihr ja endlich!«, rief ein Uniformierter bereits aus einiger Entfernung. Der hochgewachsene Blondschopf kam über den Treppenaufgang vom Weststrand hoch. Man begrüßte sich nacheinander per Handschlag, anschließend versammelten sich alle Polizisten unten am Strand. Von dort war das Dach der Sansibar nur auf Zehenspitzen zu erkennen. Am oberen Rand der Treppe hatten sich mittlerweile ein paar Schaulustige eingefunden, die der zuständige Kollege aber gut unter Kontrolle hielt. Ein zweiter würde eventuelle Störungen von der Wasserseite aus unterbinden.

Aktuell herrschte Ebbe. Die Nordsee zeigte sich also von ihrer zahmen Seite. Kaum vorstellbar, dass sie sich anderentags als Bestie erwies. Eine, die sich zum Leidwesen aller Sylter immer häufiger ein Stück der beliebten Ferieninsel einverleibte. Da halfen auch alle Wellenbrecher, Anpflanzungen oder Sandaufspülungen nicht. Der Natur und ihren Urgewalten konnte man sich auf Dauer nicht widersetzen.

»Was soll das denn?«, empörte sich Ole, nachdem er einen ersten Blick auf die absurde Szenerie unter dem Treppenaufgang werfen konnte. »Ist das ein schlechter Witz?«

Hannah stand neben ihm, ihr fehlten komplett die Worte.

Ole wirbelte herum und wandte sich an den Kollegen in Uniform. »Wart ihr das?«

Der junge Polizeihauptmeister stapfte durch den Sand und sah ganz zufrieden aus, als er sein eigenes Werk betrachtete. »Vorhin waren hier Kinder … und ein paar Hunde.« Ein Fingerzeig folgte, der dem anderen Beamten weiter oben, nahe der Sansibar galt. »Gerd hat sich ’ne große Tischdecke geliehen. Irgendwas mussten wir doch drüber decken.«

»Das war gute Arbeit!«, lobte Hannah und sah sich sogleich zwei erstaunten Gesichtern gegenüber. »Was meint ihr? Die wollen ihr Tischtuch bestimmt nicht zurückhaben, oder?«

Genau an dem zupfte Ole gerade, um die Leiche darunter in Augenschein zu nehmen. »Gottverdammt … da haben sich die Möwen schon bedient.«

Hannah trat neben ihn. Sie zog das Tischtuch noch ein Stück weiter nach unten. Inzwischen waren der Kopf und der gesamte schneeweiße Oberkörper der Toten sichtbar.

»Wollt ihr wissen, wer das ist?«, fragte der uniformierte Kollege völlig unerwartet.

»Natürlich wollen wir!«, erwiderte Ole. »Mach’s nicht so spannend!«

»Auf jeden Fall eine von den Althoff-Schwestern … Merle oder Mareike, keine Ahnung.«

»Sehen die sich so ähnlich?«, hakte Hannah nach.

Die Antwort übernahm Ole: »Das sind eineiige Zwillinge. Ich hab die hier auf den ersten Blick gar nicht erkannt. Ist ja auch kein Wunder, schließlich hab ich sie aus der Perspektive noch nie gesehen.«

»Sicher?«

»Hundertprozentig, Chefin!«

»Dürfte ich dann wenigstens wissen, woher du die Schwestern kennst? Hast du mit einer …?«

»Die gehören hier auf Sylt in jeder Disco und jedem Club zum Inventar«, kam Ole irgendwelchen, mit Sicherheit schlüpfrigen Vermutungen zuvor. »Und nein: Ich hatte mit keiner von beiden was, falls es dich beruhigt.«

»Die sind ja auch erst achtzehn oder neunzehn«, steuerte der Dritte im Bunde bei. »Aus dem Alter bist du raus«, ging es an Ole gerichtet weiter. Weil er sich deshalb Hannahs verständnislosem Blick gegenübersah, machte der junge Beamte eilig kehrt und kümmerte sich wieder um die Sicherung des Fundortes.

Ole fuhr erst fort, als man unter sich war. »Man kann nicht behaupten, dass die Schampus-Zwillinge einen besonders guten Ruf hätten.«

»›Schampus-Zwillinge‹?«, wiederholte Hannah im passenden Tonfall. »Ist das dein Ernst?«

»Den Namen haben sie doch nicht von mir bekommen. Und glaub mir: Wenn eine in dem Alter schon so weit ist, dann lass ich lieber die Finger davon.«

Hannah schaute ihren Kollegen prüfend an. »Red doch Klartext! Wir sprechen von zwei Schlampen, die sich hier auf Sylt an reiche Säcke rangeschmissen haben. Oder etwa nicht?«

Ole tat zumindest empört. »So kannst auch nur du es ausdrücken. Aber, ja … wäre schon möglich.«

»Und jetzt ist eine von beiden tot«, stöhnte Hannah, während sie die Leiche erneut in Augenschein nahm. Kurz darauf kniete sie neben dem Leichnam im Sand. »Hilf mir mal!«

»Darf ich vielleicht erst mal erfahren, was du vorhast? Glaubst du nicht, es wäre besser, auf die Spurensicherung zu warten und …?«

»Nein, glaube ich nicht!«

»Und wenn wir …?«

»Jetzt halt die Klappe und hilf mir endlich!«

 

 

5

 

 

»Ich weiß nicht mal mehr genau, wie ich gestern Abend nach Hause gekommen bin. Mich hat ’n Taxifahrer vorm Sunny aufgelesen, so viel hab ich noch aufm Schirm. Aber danach herrscht Filmriss … wie war’s denn bei dir?«

»Eine von den Schwestern ist noch mit zu mir gekommen«, erklärte Falk Kröger am Telefon. Seine Stimme klang rau. Kein Wunder, denn er war eben erst vom Klingeln seines Handys aufgewacht.

Am anderen Ende der Leitung lachte sein Freund Tobi und fragte: »Welche von beiden? Merle oder Mareike?«

»Woher soll ich das denn wissen? Irgendwann hab ich sowieso nicht mehr kapiert, wem ich da einen Drink nach dem anderen spendiert hab.«

»Wie sah denn dein Deckel zum Schluss aus?«

»Keine Ahnung … anderthalb oder zwei Riesen. Hab mit der Karte von meinem Alten bezahlt.«

»Dann trifft’s ja keinen Armen. Hast du Koks im Haus?«

»Sag nicht, du brauchst schon mittags ’ne Line! Ich mach mir langsam echt Sorgen um dich, Alter. Wer so früh am Tag …«

»Quatsch nicht rum! Kann ich vorbeikommen?«

»Klar! Aber bring gefälligst irgendwas Essbares mit! Mein Kühlschrank ist leer und mir hängt der Magen in den …« Falk verstummte kurz. »Das glaubst du nicht!«

»Was ist denn los?«, wollte Tobi wissen.

»Ich wisch hier nebenbei auf meinem Tablet rum. Die blöde Kuh hat gestern Abend die ganze Zeit Fotos gemacht und sofort alle gepostet. Selbst von meiner Wohnung sind zwei dabei und sogar … Scheiße!«

Falks Freund Tobi klang nach einer dunklen Vorahnung. »Was ist los? Hat sie dich beim Poppen gefilmt?«

»Nicht ganz. Aber auf dem einen Bild hier steh ich nackt in meinem Schlafzimmer ... vorm Fenster.«

»Ist ja auch ’ne schöne Aussicht. Und solange sie dich nicht beim …«

»Das Foto hat jetzt schon über tausend Likes!«

»Ich schau mir das mal an und mach mich direkt auf den Weg.«

Falk lachte freudlos auf. »Du kommst doch nicht, um mich zu trösten – du bist nur scharf auf mein Koks.«

»Macht das einen Unterschied?«

»Eigentlich nicht. Bis gleich!«

 

***

 

Während Hannah mit dem Leichnam beschäftigt war, kniete Ole neben ihr im Sand und wischte auf seinem Handy herum. Deswegen musste er sich eine grimmige Frage gefallen lassen: »Was hast du vor? Einen Schnappschuss für zu Hause machen? Oder verdienst du dir neuerdings was dazu und versorgst die Presse mit Horrorbildern?«

Ohne Antwort hielt er Hannah sein Smartphone vor die Nase.

»Neues von den Schampus-Schwestern«, las sie einen User-Namen vom Display laut ab. »Das ist nicht wahr! Haben die sich wirklich selbst so genannt? Ich meine … in aller Öffentlichkeit?«

»Siehst du doch!« Ole wischte ein Bild weiter. »Ansonsten nennen sie sich auch gerne die M&M’s, was für Merle und Mareike steht. Einer der letzten Posts, auf dem sie dasselbe wie jetzt anhat, stammt von heut Morgen halb vier und wurde im Sunny aufgenommen.«

»Ist das nicht der neue Laden in der Strandstraße?«

»Na ja, so neu ist der nun auch nicht mehr. Bist du noch nie drin gewesen?« Ein vielsagender Blick von Hannahs Seite reichte völlig. Entsprechend hektisch fuhr Ole fort: »Der Laden wurde seinerzeit angekündigt, als hätte jemand das Pulver neu erfunden. Inzwischen hab ich das Gefühl, dort läuft immer nur dieselbe Mucke und wenn ein armer Schlucker wie ich was trinken will, muss er vorher sein Sparschwein schlachten.« Ole machte eine kurze Pause und wischte weiter. »Scheiße!«

»Das sagst du übrigens viel zu oft«, mahnte Hannah. »Ansonsten erzähl!«

»Ich hab hier ein Bild, das auch von gestern stammt, aber früher aufgenommen wurde.«

»Und?«

»Da sind beide Schwestern drauf. Und die hatten am Abend das Gleiche an.«

Hannah kam sofort zu einem Ergebnis: »Dann wissen wir also nicht, welche so spät noch im Sunny gefeiert hat.«

»Wahrscheinlich beide«, erwiderte Ole, während er weiterwischte. Ihm entfuhr bereits der nächste Kommentar: »Donnerwetter! Das musst du dir angucken, Chefin!«

»Was ist denn jetzt wieder?«

»Würde sagen, wir haben unseren ersten Verdächtigen«, stellte Ole genüsslich fest und hielt sein Handy hoch. »Darf ich vorstellen: Falk Kröger. Seinem Vater gehört mindestens ein halbes Dutzend Restaurants auf der Insel und das neue Hotel, oben in …«

»Ich weiß, wer Hermann Kröger ist!«, unterbrach Hannah grob. »Verrätst du mir auch, warum sein Sohnemann verdächtig ist?«

Ole warf selbst einen Blick auf sein Handy. »Das hier hat eine der Schwestern gestern Abend direkt aus der Wohnung von Kröger junior gepostet, gegen halb drei.«

»Ergo

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Thomas Herzberg
Bildmaterialien: Sylt-Karte: Hartung-Verlag/Neumünster, Stephanie Wilm
Cover: Chris Gilcher (http://buchcoverdesign.de)
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2021
ISBN: 978-3-96714-114-6

Alle Rechte vorbehalten

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