Zwischen Leben und Tod
Hamburg in Trümmern (Teil2)
Thomas Herzberg
Alle Rechte vorbehalten
Fassung: 1.0
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile ausdrücklich jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!
Mein besonderer Dank geht an:
Antje, Bärbel, Nicolas und an Frau Schmidt
Covergestaltung: Chris Gilcher – http://buchcoverdesign.de
Inhalt
Hamburg, Dezember 1946: Ein Jahrhundertwinter geißelt das ohnehin fast vollständig zerstörte Hamburg noch zusätzlich. Während Menschen erfrieren und verhungern, haben Verbrechen Hochkonjunktur. Währenddessen bekommen es die Kommissare Thiesen und Pfeiffer mit alten SS-Seilschaften zu tun, die selbst nach Kriegsende kaum etwas von ihrer Gefährlichkeit eingebüßt haben. Auch von den britischen Besatzern gibt es nur eisigen Gegenwind, der noch zunimmt, als bei einem Attentat ausgerechnet ein Thronfolger ums Leben kommt. Plötzlich beginnt auch für Thiesen und Pfeiffer ein Kampf um Leben und Tod ...
„Zwischen Leben und Tod“ ist Teil 2 meiner Nachkriegs-Krimi-Serie „Hamburg in Trümmern“. Der 1. Teil „Zwischen Schutt und Asche“ steht ebenfalls in so gut wie jedem Shop zum Download bereit.
1
»Bin mal gespannt, was uns heute hier erwartet.« Tatsächlich klang Hermann Thiesen aber eher nach dem genauen Gegenteil. »Ansonsten frag ich mich, was der ganze Zauber überhaupt soll.«
»Auf jeden Fall haben sich die Tommys ordentlich ins Zeug gelegt. Der Galgen ist brandneu, Chef.« Johann Pfeiffer flüsterte nur und lehnte sich zur Seite, um noch leiser fortzufahren: »Ich war vorhin näher dran. Man riecht sogar das Holz – beste deutsche Eiche.«
»Über die sich mein Ofen sicher mehr gefreut hätte «, kam es nicht halb so euphorisch zurück.
Dennoch klang Pfeiffer unverändert begeistert. »Rupert Wolf ist der Erste, den sie dran aufknüpfen.«
»Und garantiert nicht der Letzte«, fügte Hermann Thiesen mit höhnischer Stimme hinzu. »Hoffentlich geht’s bald los. Mir schlafen nämlich langsam die Füße ein.« Nach diesem Hinweis nahm sich der Oberkommissar ein wenig Zeit, um die Umgebung näher zu inspizieren. Extra für Rupert Wolf – besser gesagt, für dessen unmittelbar bevorstehenden Tod am Strang – hatte man reihenweise zusätzliche Stühle aufgestellt. Insgesamt an die zweihundert, die ein Kellergewölbe, das zum Gefängnis am Holstenglacis gehörte, beinahe vollständig ausfüllten. Die meisten davon waren unbesetzt. Noch! Denn schließlich war das Interesse der englischen Besatzer riesig.
»Haben Sie die ganzen Presse-Fuzzis oben vorm Eingang gesehen?«, fragte Pfeiffer seinen Chef. »Die haben sogar ein Filmteam aus London hergeschickt – mit Kameramann, Beleuchter und Regisseur.«
Hermann Thiesen lachte zum ersten Mal an diesem Tag herzhaft. »Und so, wie ich Sie kenne, haben Sie nichts Besseres zu tun, als denen so oft wie möglich vor die Linse zu laufen. Wer weiß: Vielleicht steht Ihnen ja noch ’ne große Karriere im Kino bevor.«
»Als was?«, wollte Pfeiffer wissen.
Doch Thiesen winkte ab und fuhr der Ordnung halber mit einer Ergänzung zum eigentlichen Thema fort: »Für unsere britischen Freunde ist diese Hinrichtung wie ihr eigener Reichsparteitag. Immerhin hat Rupert Wolf ’ne ganze Reihe von deren Offizieren auf dem Gewissen.«
»Und auch etliche einfache Soldaten!«, fügte Pfeiffer mit erhobenem Finger hinzu. »Den ersten Transport der Tommys hat er schon zwei Wochen nach Kriegsende, zwischen Geesthacht und Lüneburg überfallen.«
»Klingt, als wären Sie dabei gewesen. Gibt es da was, das ich noch nicht über Sie weiß?«
Johann Pfeiffer drehte sich kopfschüttelnd weg. Aber wie immer, wenn sein Chef einen seiner zynischen Kommentare von sich gab, konnte er ihm nicht lange böse sein. »Sieht so aus, als wären wir die einzigen Deutschen. Ich seh nur englische Uniformen und ...«
»Kann es gar nicht erwarten, das Schwein endlich am Strick baumeln zu sehen.« Die Stimme hinter den Kommissaren stammte von einem Kripokollegen. Der war allerdings für Eigentumsdelikte verantwortlich und erledigte seinen Job, zumindest für Thiesens Geschmack, mehr schlecht als recht. Im Nachkriegs-Hamburg – selbst in Polizeikreisen – ein völlig normaler Zustand. Die meisten sorgten sich vielmehr um das eigene als um das Wohl anderer. Und gerade wenn es um Eigentum ging, dann drückte in Zeiten von Hunger und Eiseskälte manch einer gerne beide Augen fest zu.
»Da haben Sie Ihre Verstärkung aus den eigenen Reihen«, sagte Thiesen an Pfeiffer gewandt und deutete über die Schulter. »Jetzt zufrieden?«
»Wieso meinen Sie eigentlich, dass ich Verstärkung bräuchte? Wofür denn?«
»Wenn Sie nicht gleich mit der Fragerei aufhören, dann setz ich mich woanders hin.« Thiesens Stimme klang kratzig. Er versuchte schon seit Tagen, einer aufziehenden Erkältung Herr zu werden – bei dem eisigen Wetter vermutlich ein aussichtsloses Unterfangen. Seine Frau Anna flößte ihm jeden Abend literweise dünnen Tee ein und hatte an diesem Morgen sogar eine Orange aus dem Küchenschrank gezaubert. Auf Thiesens Frage, woher die stammte, hatte sie ihm keine Antwort gegeben. Klar war nur, dass sie die vitaminreiche Attacke gegen irgendetwas auf dem Schwarzmarkt getauscht hatte.
Der Kripokollege lehnte sich wieder nach vorne, um die beiden Kommissare der Hamburger Zwei-Mann-Mordkommission mit einem weiteren überflüssigen Kommentar zu verwöhnen: »Wieso haben die euch den Fall eigentlich entzogen? Ich dachte, ihr zwei wärt für solche Fälle zuständig.«
Thiesen drehte sich ruckartig um und hätte Pfeiffer dabei beinahe vom Stuhl geschubst. »Weil unsere englischen Besatzer ’ne willkommene Möglichkeit gewittert haben, ihre eigenen Leute etwas zu besänftigen. Oder warum, meinen Sie, sieht das hier wie ’n Volksfest aus? Außerdem frage ich mich, was Sie das angeht. Haben Sie mit Raub und Diebstahl etwa nicht genug zu tun?«
Nach dieser klaren Ansage warf Pfeiffer einen verstohlenen Blick über die Schulter: »Die Verstärkung hat sich zurückgezogen und sitzt jetzt in der hintersten Reihe. Sie können manchmal aber auch echt giftig werden, Chef!«
Thiesen gab zwar keine Antwort, lächelte aber zufrieden. Dann deutete er auf eine Reihe britischer Offiziere, die kurz zuvor das Gewölbe betreten hatten. Angeführt wurden sie von Major Freeman, den die Kommissare von ihrem letzten Fall noch in guter Erinnerung hatten.
Pfeiffer lehnte sich erneut in Thiesens Richtung. »Sie hätten Ja sagen sollen, als Freeman Sie zum Kripochef machen wollte. Ich an Ihrer Stelle hätte ...«
»Was Sie an meiner Stelle alles hätten!«, polterte Thiesen dazwischen. »Wenn Sie irgendwann auf meinem Stuhl hocken, dann haben Sie bis dahin hoffentlich gelernt, dass nicht alles nur schwarz oder weiß ist.«
»Ich weiß nicht mal genau, was Sie damit meinen«, kommentierte Pfeiffer unverändert munter. Weil sich sein Chef gerade vor Kälte schüttelte, versuchte er es mit einem Friedensangebot: »Vorne am Eingang gibt’s Tee. Soll ich uns ’nen Becher holen?«
Thiesen nickte zuerst nur. Dann hielt er seinen Kollegen am Ärmel fest, als der schon davonmarschieren wollte. »Sehen Sie zu, dass Sie was Hochprozentiges dazu organisieren. Tee allein sorgt höchstens für Druck auf der Blase – davon kann ich ’n Lied singen, glauben Sie mir.«
Pfeiffer klopfte unauffällig gegen seine Manteltasche. Das Geräusch machte klar, dass sich darin das gewünschte Elixier befand. Vermutlich ein Flachmann, mit Whisky oder Cognac darin.
»Und falls sich auch was Essbares auftreiben lässt, sag ich nicht nein.« Thiesens Stimme wurde immer leiser, weil sich die Stuhlreihen rundherum langsam füllten. »Ich hab ein Loch im Bauch, da passt ’ne ganze Kuh rein.«
Pfeiffer beugte sich zu seinem Chef hinunter. »Noch was? Soll ich mal schauen, ob sich irgendwo ’ne Wolldecke findet? Oder vielleicht ’n Kissen, falls Ihnen später der Hintern wehtut?«
»Sehen Sie lieber zu, dass Sie loskommen! Sonst schwatzen Sie so lange weiter, bis es nicht mal mehr Tee gibt.«
Nachdem Johann Pfeiffer zwischen den immer zahlreicher vorhandenen Uniformierten entschwunden war, lehnte sich Thiesen gemütlich zurück. Sein Blick wanderte erneut die Stuhlreihen entlang. Hier und dort fand er ein bekanntes Gesicht, konnte den meisten allerdings keinen Namen zuordnen. Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner rechten Schulter und dachte schon, es wäre wieder der Kollege von vorhin, der noch eine überflüssige Weisheit loswerden wollte.
Doch die nächsten Worte machten diese Befürchtung zunichte: »Kommen Sie, Herr Thiesen ... der Major will uns sprechen.« Die Stimme gehörte zur Kurt Rosenbaum, dem neuen Leiter der Hamburger Kriminalpolizei.
»Da sind ja meine zwei Helden!«, begann Major Freeman, als die beiden kurz darauf vor dem Oberbefehlshaber der britischen Besatzungstruppen standen. Dessen Organ dröhnte durch die Katakomben. Wie bestellt lachten einige junge Offizier, die den Major wie ein Rudel gehorsamer Hunde umgaben. »Und schon wieder ein Mörder, den wir geschnappt haben, Gentlemen. Daran könnte ich mich gewöhnen.«
Thiesen war nicht nach Feiern zumute. Aber er schaffte es trotzdem, ein halbwegs glaubwürdiges Lächeln zu zeigen. Ein ums andere Mal sauste die Pranke des Majors auf seine Schulter. Blieb zu hoffen, dass Thiesens einziger Mantel dabei keinen Schaden nahm.
Von hinten hatte sich Pfeiffer an die Seite seines Chefs geschoben und hielt ihm einen Teebecher direkt unter die Nase. »Medizin ist schon drin«, flüsterte der junge Kommissar. Doch weil Freeman ihm einen ungnädigen Blick zuwarf, trabte er sofort wieder davon.
Dennoch verfinsterte sich das Gesicht des Majors noch weiter. Er schaute kurz zum Galgen hinüber und beugte sich dann ein Stück nach vorne. Thiesen und Rosenbaum taten es ihm gleich. Das Ergebnis waren drei Männer, die ihre Köpfe zum vertraulichen Gespräch zusammensteckten. »Wir hängen den Kerl heute.«
Thiesen wich ein Stück zurück und musterte Freeman mit skeptischer Miene. Er hatte mit Neuigkeiten gerechnet und nicht mit einer Nachricht, die seit Tagen jedem in Hamburg bekannt war. Und auch Rosenbaum sah verwirrt aus, verzichtete allerdings auf eine Nachfrage.
Der Major senkte seine Stimme und fuhr fort. »Ganz egal, was heute hier passiert ... Sie bleiben sitzen und tun nichts! Haben wir uns verstanden?«
»Dürfen wir erfahren, was Sie damit meinen?«, fragte Thiesen.
Rosenbaum wurde sogar noch etwas konkreter: »Was sollte denn passieren? Für mich sieht es aus, als wäre die Hälfte Ihrer Soldaten anwesend.«
Major Freeman tat sich mit einer Antwort sichtlich schwer. Er holte mehrfach tief Luft, lieferte aber auch danach keine wirkliche Erklärung: »Sie sehen nur zu und tun nichts! Ist das klar?«
Zwei Männer nickten. Der eine eifrig, der andere erst nach kurzem Zögern. Und weil Thiesen die Sache nicht so recht schmeckte, riskierte er eine letzte Frage: »Haben Ihre Sorgen etwas mit Rupert Wolf zu tun? Falls Sie befürchten, dass er flieht, sollten Sie lieber ein paar Bewaffnete am Eingang postieren, statt ...«
Der Major hob die Hand und sorgte damit einstweilen für Ruhe. »Vertrauen Sie mir, Gentlemen! Aber vor allem: Kommen Sie nicht auf den Gedanken, hier die Helden zu spielen.«
»Was war das denn eben?«, wollte Pfeiffer sofort wissen, als sein Chef wieder neben ihm saß. »Sah beinahe so aus, als wollte Freeman gleich noch zwei weitere Männer aufhängen.«
»Wissen Sie, was Ihr größtes Problem ist, Pfeiffer?«
»Mein Scharfsinn?«
Thiesen schüttelte energisch den Kopf.
»Mein gutes Aussehen?«
Abermals Kopfschütteln.
Pfeiffer atmete schwer und klang danach wie ein kleiner Junge. »Ist es wieder meine Neugier?«
»Allerdings«, sagte Thiesen. In anderen Situationen hätte der Oberkommissar vermutlich ein Lachen hinterhergeschickt. Doch dieses Mal fuhr er todernst fort: »Völlig egal, was gleich passiert. Sie behalten Ihre Hand die ganze Zeit an Ihrer Dienstwaffe. Sicherheitshalber!«
»Wollen Sie mir auch verraten, warum?«
Thiesen drehte sich zentimeterweise zu seinem Kollegen und schaute ihn nur vielsagend an.
»Ist okay – keine Fragen mehr. Ich mach einfach, Chef.«
2
»Das war keine Bitte, sondern ein Befehl!«, fauchte Konrad Schacht wie eh und je in Offiziersmanier. »Hast du vergessen, wen du vor dir hast?«
Seinen alten Führungsoffizier aus SS-Tagen, hatte Gregor Wamser in einer Ruine am Elbufer getroffen; fernab befahrener Straßen oder Neugieriger, die womöglich mitten in der Nacht noch zu Fuß unterwegs waren. Wahrscheinlich auch besser so, denn es lag schon länger Streit in der eiskalten Luft. »Seit der Kapitulation sind wir doch alle gleich«, kam es von Wamsers Seite viel zu unterwürfig zurück. Er verfluchte sich selbst dafür. Doch so schnell wollte er nicht klein beigeben: »Vielleicht hast du was vergessen: Wir sind nicht mehr im Krieg – schon lange nicht mehr!«
»Für die meisten von uns hat der erst richtig angefangen, als die Tommys in Hamburg einmarschiert sind. Ich hab dir doch erzählt, was der General gesagt hat: Ab sofort wehren wir uns wieder.«
»Er ist kein General und war nie einer! Und wir alle wissen, dass es gute Gründe hatte, ihm seinen ersten Stern zu verweigern.«
»Als ob das einen Unterschied macht. Er ist heute unser General, und wenn wir ihn nicht hätten, dann ginge es uns allen wesentlich schlechter.«
»Ich hab nicht mal ’nen ordentlichen Mantel«, protestierte Wamser und zeigte an sich hinunter. Selbst der Begriff Lumpen reichte nicht, um das, was von seiner Kleidung noch übrig war, ausreichend zu klassifizieren. Ein heiseres Lachen folgte. Dass es nichts mit Freude zu tun hatte, machten seine nächsten Worte deutlich: »Wenn die Nacht vorbei ist, hab ich drei Tage lang nichts Vernünftiges gefressen. Glaub mir: Ich kann mir was Schöneres vorstellen, als für dich und deinen selbsternannten General ...«
»Halt die Fresse!«, kam es zischend zurück. »Du tust, was ich dir sage, ansonsten brauchst du dir keine Sorgen um den vierten Tag zu machen. Ist das angekommen?«
»Kannst du mir wenigstens sagen, warum die Sache ausgerechnet heute noch passieren muss?« Wamser stieg immer schneller von einem Fuß auf den anderen, denn sein ganzer Körper fühlte sich wie tiefgefroren an – abgesehen von seinem Kopf, auf dem er eine Fellmütze trug. Die hatte er zwei Tage zuvor in einer Ruine gefunden. Die linke Seite war blutverschmiert gewesen. Vermutlich hatte jemand einem anderen den Schädel eingeschlagen und dabei keine Rücksicht auf das gute Stück genommen. Wamser war es egal. Seine Ohren freuten sich über Wärme und deshalb fragte er nicht nach näheren Umständen.
Doch hier und jetzt wollte er es genauer wissen. »Warum kann die Sache nicht bis morgen warten ... oder bis übermorgen? Wieso die Eile?«
»Weil sie Rupert heute aufknüpfen! Nicht morgen, nicht übermorgen und auch nicht ...«
»Und was hab ich davon?«, fragte Wamser dazwischen. Es wurde Zeit für eine klare Ansage. »Ich erledige nicht mehr eure Drecksarbeit und werd dafür mit ’nem Hungerlohn abgespeist – das war mal!«
Anstelle einer Antwort langte Konrad Schacht nacheinander in die ausgebeulten Taschen seines eigenen, deutlich besseren Mantels. Aus der einen zauberte er zwei Päckchen amerikanischer Zigaretten hervor, aus der zweiten eine halbe Tafel Schokolade. »Hier! Mehr hab ich im Moment nicht dabei.«
»Für zwei Schachteln Zigaretten und ’ne halbe Tafel Schokolade soll ich mein Leben riskieren? Hast du sie noch alle?«
»Es gab Zeiten, da haben wir einem für weniger das Licht ausgepustet.«
»Und ich hab’s doch gesagt: Die Zeiten sind vorbei!«
Konrad Schacht hatte offensichtlich verstanden, denn er klang ein wenig versöhnlicher. »Wenn du die Sache für uns erledigst, brauchst du dir in den nächsten Monaten keine Sorgen mehr zu machen.« Weil auch dieses Argument nicht sofort Wirkung zeigte, verschwanden die Hände ein weiteres Mal in den Manteltaschen. Eine davon kehrte mit einem Stofftaschentuch zurück.
»Was ist das?«, fragte Wamser. Seine Zähne klapperten mittlerweile und er konnte sie nicht davon abhalten. »Noch mehr Schokolade?«
Derweil war das Taschentuch entfaltet. Selbst im Dunkeln war ein funkelnder Ring zu erkennen und auch eine Erklärung ließ nicht lange auf sich warten: »Der hat ’ner jüdischen Millionärswitwe gehört. Wenn du’s halbwegs geschickt anstellst, reicht das Teil mindestens bis zum nächsten Sommer.«
Wamser langte mit zitternden Fingern nach der vermeintlichen Beute, taxierte sie kurz und ließ sie dann eilig in seiner rechten Hosentasche verschwinden. Die hatte, im Gegensatz zur linken, kein Loch. Sicherheitshalber wiederholte er seinen Auftrag, den er gleich zu Beginn dieser Unterhaltung empfangen hatte: »Heute ... mindestens zwei ... richtig?«
»Richtig! Und wenn du die Sache nicht versaust, bekommst du auch noch die Brosche und die Ohrringe, die zu dem Ring gehören. Damit hättest du erst mal ausgesorgt.«
»Offiziere?«
»Das ist mir scheißegal! Hauptsache zwei ... und es muss direkt nach der Hinrichtung passieren. Hast du verstanden?«
»Was ist, wenn mich die Tommys schnappen?«
»Dann stellst du dich lieber nicht allzu blöd an! Hast du die MP 40 noch?«
»Klar!«
»Genug Munition?«
»Für zwei Tommys sollte es reichen und um mir hinterher den Weg freizuschießen auch.«
Konrad Schacht meinte wohl, es sei alles gesagt. Auf jeden Fall machte es den Anschein, als wolle er sich aus dem Staub machen. Doch Wamser hielt ihn für eine weitere Frage am Arm fest. »Hat der General auch gesagt, was als Nächstes passiert? Ich meine, danach?«
»Wieso interessiert dich das? Erledige einfach deinen Auftrag und dann kannst du dich für ’ne ganze Zeit zur Ruhe setzen.«
»Falls ich es überlebe!«
»Richtig ... falls du’s überlebst.«
***
»Hoffentlich sind die mit ihren Scheinwerfern bald mal fertig«, moserte Thiesen. Kurz zuvor hatte das britische Filmteam damit begonnen, den Galgen und dessen näheren Umkreis für die bevorstehenden Aufnahmen herzurichten. Einer der Männer, ein vollschlanker Winzling mit aufgedunsenem Gesicht und Nickelbrille, fühlte sich wohl zu Höherem berufen. Hier war es plötzlich zu dunkel, dort zu hell. Es mussten sogar Stühle beiseite geräumt werden, weil die angeblich im Weg standen und für eine falsche Perspektive sorgten.
»Der Kerl ist doch nur ’n Wichtigtuer«, kommentierte Pfeiffer lachend. »Ich wette, der kotzt sich die Seele aus dem Leib, wenn die Vorstellung erst mal losgeht.«
»Bleibt zu hoffen, dass es irgendwann überhaupt mal losgeht!«, fügte Thiesen trocken hinzu.
»Das klang gerade eben alles ziemlich mysteriös.« Ein Kommentar, der von Kurt Rosenbaum stammte. Der Kripochef saß direkt hinter den beiden Kommissaren und hatte sich ein Stück nach vorne gebeugt, um Thiesen ins Ohr zu flüstern. »Haben Sie ’ne Ahnung, wovon der Major da geredet hat? Wieso sollen wir die Füße stillhalten?«
Diese Frage sorgte nur für ein wortloses Kopfschütteln.
»Und wieso warnt er uns, wenn er hinterher nichts erklärt?«, fuhr Rosenbaum mit nachdenklicher Stimme fort. »Es muss doch einen Grund geben, warum ...« Der Kripochef wurde vom Geheul einer Sirene unterbrochen. Dabei handelte es sich um den symbolischen Startschuss für die Hinrichtung.
»Falls tatsächlich was passiert, sollten wir uns lieber an Freemans Order halten«, zischte Thiesen nach hinten und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass Rosenbaum angedeutet nickte.
Weiter vorne begann die Vorstellung, auf die alle – schon wegen der Kälte in diesem Gemäuer – sehnsüchtig warteten. Doch das sollte sich schon sehr schnell ins Gegenteil verkehren. Schließlich war damit zu rechnen, dass es wie bei jeder anderen Hinrichtung ablaufen würde: Dazu gehörten – neben einem Toten – auch Männer, die sich übergaben, genauso wie andere, die einfach in Ohnmacht fielen. In der Regel genau die, die vorher am lautesten mit ihren Heldentaten im Krieg geprahlt hatten.
Insgesamt vier englische Soldaten – die Stiefel blank geputzt, jeder eine Maschinenpistole im Anschlag – schoben oder zerrten Rupert Wolf gemeinsam in Richtung Galgen. Die Handgriffe wirkten einstudiert, jede Bewegung übertrieben, geradezu theatralisch. Das dürfte wohl der Dramaturgie dienen, die das Filmteam jedem Einzelnen eingebläut hatte. Ein fünfter Soldat, ein junger Second Lieutenant in perfekt sitzender Uniform, verlas bereits mit dröhnender Stimme den Hinrichtungsbeschluss. Dabei schaute er viel zu oft in die Kamera und zeigte ein Lächeln, das eher nach Hollywood als zum gegebenen Anlass passte.
Pfeiffer beugte sich erneut zu seinem Chef. »Da hinten stehen sich etliche Tommys die Beine in den Bauch. Schätze, es sind mindestens fünfhundert Zuschauer. Was meinen Sie?«
»Halten Sie den Schnabel und hören Sie einfach zu!« Thiesen packte seinen Kollegen am Arm. Der hatte verstanden, denn seine Hand fuhr langsam wieder zur Dienstwaffe und verharrte dort. »Egal, was passiert ... Sie tun nichts, ohne dass ich es Ihnen sage!«
»Klar, Chef! Ist doch Ehrensache.«
Thiesen kam jede einzelne Sekunde wie eine Minute vor. Der Henker, ein grauhaariger Riese mit aschfahlem Gesicht, hatte anscheinend viel Zeit. Rupert Wolf stand bereits völlig regungslos auf der Klappe, die sich schon sehr bald unter ihm öffnen würde. Dafür sollte ein Hebel sorgen, den man bei diesem Galgen passenderweise mit roter Farbe angestrichen hatte.
Thiesen hatte schon etlichen Hinrichtungen durch Erhängen beigewohnt. Vielen davon vor Kriegsende, einigen danach. Wenn nicht einfach nur ein Seil über einen Ast oder einen Balken geworfen wurde, nahmen die Vorbereitungen am meisten Zeit in Anspruch. Und wenn sich die Klappe erst mal mit lautem Geschepper auftat, war es in der Regel innerhalb von wenigen Sekunden vorbei. Einen planmäßigen Ablauf vorausgesetzt, fiel der Delinquent einen guten Meter in die Tiefe. Ein Hals, der dabei von einem überaus stabilen Strick festgehalten wurde, ließ das nicht ohne Weiteres mit sich machen. Insbesondere die Halswirbel verweigerten gerne ihre Teilnahme an diesem irrwitzigen Spiel. Sprich: Sie brachen. Nicht selten von hässlichem Knacken begleitet, das manch Zartbesaitetem zu einer spontanen Ohnmacht verhalf.
»Der lässt sich aber ’ne Menge Zeit«, stellte nun auch Pfeiffer genervt fest. »Schätze, es wird Mitternacht, bevor wir hier rauskommen.«
»Wieso ist das ein Problem? Haben Sie heut noch was vor?«
Pfeiffer hielt sich einen Finger an die Lippen. »Psst ... ich glaub, es geht los.«
Tatsächlich hatte der Scharfrichter Rupert Wolf soeben den schwarzen Sack vom Kopf gezogen. Im Gesicht des mehrfachen Mörders war jedoch nicht die geringste Spur von Angst zu erkennen. Ganz im Gegenteil. Der Tommy-Schlächter – diesen Spitznamen hatten ihm die Hamburger verpasst – grinste und ließ seinen Blick seelenruhig über die Stuhlreihen wandern, während ihm der Strick um den Hals gelegt wurde. Gerade so, als hätte er noch alle Zeit der Welt bis zu seinem letzten Atemzug.
»Hoffentlich zieht der Kerl gleich am Hebel«, moserte Thiesen aufs Neue, denn auch er wollte in erster Linie nach Hause. Major Freemans Warnung hatte er zwischenzeitlich verdrängt. Tags zuvor hatte Thiesen am Rande des Schwarzmarkts ein Päckchen Zigaretten gegen halbwegs genießbaren Speck und vier große Kartoffeln getauscht. Seine Anna hatte versprochen, daraus ein Festmahl zu zaubern. Einen Vorgeschmack auf Weihnachten hatte sie es genannt und vor Glück geweint. Blieb zu hoffen, dass sie am Heiligabend nicht auf verschimmeltem Brot herumkauen müssten. Die deutsche Bevölkerung – anders gesagt: das, was noch davon übrig war – hatte immer mehr unter den Folgen eines verlorenen Weltkriegs zu leiden. Nicht mehr lange, darüber waren sich alle einig, dann würde in Hamburg jeder Zweite verhungern oder erfrieren. Egal ob Bettler oder Polizist – denn mit den Bezugsscheinen, für die es rein gar nichts gab, waren alle gleich.
Thiesen wollte es sich nicht eingestehen, hatte aber das unbestimmte Gefühl, dass dieses gemeinsame Abendessen – wahrscheinlich ein Mitternachtsschmaus mit Anna und seinen drei Kindern – der letzte unbeschwerte Moment für lange Zeit werden könnte. Aber wenigstens wären sie hinterher alle satt. In dieser Welt musste man lernen, sich an Kleinigkeiten zu erfreuen.
Hätte Thiesen auch nur ansatzweise geahnt, was im nächsten Augenblick passieren würde ... allein der Gedanke an Essen wäre ihm vermutlich im Halse stecken geblieben.
3
Seine MP 40, eine Maschinenpistole, die im Zweiten Weltkrieg in Anlehnung an den Erfinder als sogenannte ›Schmeisser‹ traurige Berühmtheit erlangte, hatte Wamser unter seinem Kleiderschrank versteckt. Er zog eine leere Schublade heraus, in der er – falls vorhanden – saubere Socken und Leibwäsche aufbewahrte, und warf sie achtlos in die Ecke. Die Zeit des Leisetretens war für ihn vorbei, das hatte er schon auf dem Weg hierher beschlossen. Und dieses Loch, das mit einem Zuhause nicht mal annähernd etwas zu tun hatte, würde er nach dem heutigen Abend kein weiteres Mal betreten. Nie wieder!
Als seine alten SS-Freunde ihm nach Kriegsende dieses Zimmer überließen, taten sie gerade so, als käme das einem Ritterschlag gleich. Nur, dass er sich diese Behausung mit haufenweise Ungeziefer teilen musste, das aus jedem Spalt in der Wand krabbelte, hatten sie dabei verschwiegen. Und auch, dass sie eine Gegenleistung für ihr Wohlwollen erwarteten, blieb zunächst unerwähnt. Erst als es ein paar Tage nach seinem Einzug an die Tür klopfte, wusste Wamser, worauf er sich eingelassen hatte.
Schon am nächsten Tag stand der Überfall auf einen englischen Werttransport bevor. Judengold nannten sie es. Das stammte aus Zahnfüllungen und eingeschmolzenen Schmuckstücken. Dazu edle Pelze, Bestecke und hochwertiges Porzellan. Reichtum vergangener Zeiten, den etliche Menschen mit ihrem Leben bezahlen mussten.
Zuletzt zwei englische Offiziere und vier weitere Soldaten, die bei diesem Raubüberfall im Kugelhagel gestorben waren. Berufsrisiko.
Von der Beute hatte Wamser allerdings nie etwas zu sehen bekommen. Für ihn gab es von Zeit zu Zeit eine Dose Fleisch und an besonders guten Tagen eine Flasche billigen Schnaps dazu. Die wirklichen Früchte genossen derweil andere.
Wamser dachte an den Ring in seiner Tasche und daran, dass er sich mit dem Teil absetzen und vielleicht irgendwo neu anfangen könnte.
Aber wo?
Und wie?
Die Seilschaften der SS reichten auch nach Kriegsende noch sehr weit. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Um tatsächlich neu anzufangen – mit neuem Pass, neuer Bleibe und vorzugsweise einem neuen Gesicht – reichte der Gegenwert des Rings niemals.
Wamsers Finger fanden den Griff der Maschinenpistole, die unter dem Schrank in zwei ledernen Schlaufen hing. Ersatzmunition steckte in einem kleinen Fach daneben. Er zog das Magazin heraus und nickte zufrieden. Mit zweiunddreißig 9mm Parabellum hatte er es schon bestückt, bevor er die Waffe nach ihrem letzten Einsatz wieder unter dem Schrank verstaut hatte. Sicherheitshalber. Schließlich wusste man ja nie, wer plötzlich vor der Tür stand. Davon abgesehen, wollte er noch zwei weitere Magazine mit Munition bestücken. Dafür würde ihm auf der Flucht kaum genug Zeit bleiben.
Ausgerechnet in diesem Moment erinnerte sich Gregor Wamser an sein altes Leben – an seine Frau, die beiden Söhne und seine Mutter. Bis Ende ’42 hatten sie alle zusammen in einem kleinen Haus am Hamburger Stadtrand gewohnt. Seinerzeit bescheidener Wohlstand, heute der Geschmack von Paradies und einem unerreichbaren Traum. Wamser selbst hatte dieses kleine Glück nur erleben dürfen, bis er mit einer eilig aufgestellten Panzerdivision der SS Richtung Stalingrad abkommandiert wurde. Deren oberster Befehlshaber, Heinrich Himmler, klang nicht mehr besonders überzeugend, wenn er vom nahenden Sieg über den Erzfeind Russland schwärmte. Vielleicht auch, weil sich in Deutschland Gerüchte über Frontsoldaten mehrten, die wie ausgehungerte Tiere über ihre gefallenen Kameraden herfielen. Von Kannibalen in Uniform war hinter vorgehaltener Hand die Rede und vom herbeigesehnten Tod im Schützengraben, der für die meisten eine willkommene Erlösung verhieß.
Die Division, zu der Wamsers Aufklärungszug gehörte, schaffte es nicht mal bis zur russischen Grenze. Zweihundert Kilometer vor Warschau, am Ufer der Weichsel, ging den ersten Panzern der Brennstoff aus. Zu diesem Zeitpunkt war die Schlacht um Stalingrad längst zu Gunsten der Russen entschieden. Es fehlte nur noch das offizielle Kriegsende. Und während deutsche Soldaten zu Tausenden starben oder in Gefangenschaft gerieten, nutzten Wamser und seine SS-Kameraden die Gelegenheit, um im polnischen Hinterland ausführlich zu brandschatzen. Blieb nur zu hoffen, dass sie niemanden übrig gelassen hatten, der heute noch über die Massaker an wehrlosen Frauen, Kindern und Alten zu berichten wusste.
Wamser stopfte die Maschinenpistole und zwei Reservemagazine in einen Sack und verstaute einige Lumpen und alte Zeitungen darauf. Er hatte es nicht weit bis zum Holstenglacis. Doch wenn er auf dem Weg in eine Kontrolle käme, könnte er sich notfalls als Lumpensammler ausgeben. Und falls ein Tommy doch einen Blick in den Sack riskieren wollte, würde der seinen Übereifer gleich mit dem Leben bezahlen. In Wamsers Augen ein fairer Tausch.
Er hatte bereits die Tür erreicht und warf noch einen letzten flüchtigen Blick über die Schulter. Eine Öllampe, die ihm als einzige Lichtquelle diente, hatte er nicht mal gelöscht. Wozu auch? Einen Moment lang überlegte er tatsächlich, ob er die Lampe nehmen und sie unter den Kleiderschrank schleudern sollte. Das Ding würde wie Zunder brennen und nicht nur sein, sondern auch das Zuhause aller anderen in dieser Ruine genüsslich verschlingen.
›Eine letzte Gräueltat gefällig?‹, fragte eine böse Stimme in seinem Hinterkopf.
›Lieber nicht!‹, mahnte eine andere, die sich in den letzten Jahren viel zu selten zu Wort gemeldet hatte.
4
Für den Weg vom Delinquenten bis zum Hebel, der die Klappe unter Rupert Wolfs Füßen öffnete, brauchte der Henker eine Ewigkeit. Als seine Finger endlich das rot angestrichene Holz umfassten, wurde es in den Katakomben plötzlich totenstill. Nur das Surren der Kamera und das leise Knistern der zahlreichen Scheinwerfer waren noch zu hören.
Die Luft war im wahrsten Sinne des Wortes wie elektrisiert.
Thiesen schaute zu Major Freeman hinüber. Vielleicht war es Zufall, doch die Augen der beiden Männer trafen sich für einen kurzen Moment. Und warum auch immer: Dem Major huschte dabei ein seltsames Lächeln um die Mundwinkel.
Für weitere Gedanken war es zu spät, denn der Henker zog am Hebel. Das sorgte jedoch nicht für die erwarteten Konsequenzen. Unter Rupert Wolfs Füßen tat sich zwar die Klappe auf, doch der Verurteilte fiel nicht etwa nach unten, sondern baumelte danach, beinahe auf unveränderter Höhe, in der Luft. Sein Körper zuckte unkontrolliert, während seine Füße links und rechts immer wieder gegen das Holz der Plattform schlugen. Ein Takt, der vom Kampf gegen den unausweichlichen Tod dirigiert wurde.
»Das wird lange dauern«, stellte Pfeiffer mit unheilvoller Stimme fest. »Sehr lange!«
Doch Thiesen hörte gar nicht richtig hin … er war mit seiner eigenen Theorie beschäftigt. Dass Rupert Wolf nicht nach unten gefallen und sein Genick nicht gebrochen war, erschien schon merkwürdig genug. Aber auch der Knoten um seinen Hals war ganz offensichtlich falsch gebunden, bewegte sich kaum und schnitt ihm deshalb die Luft nicht vollständig ab. Natürlich war sein Gesicht mittlerweile fast so rot wie der Hebel und seine Augen traten ein wenig hervor. Aber unter diesen Umständen könnte sein Todeskampf ebenso gut noch Stunden andauern.
Von hinten meldete sich Kurt Rosenbaum zu Wort. Der Kripochef klang dabei, als läge auch um seinen Hals ein Strick. »Was hat Freeman vor? Das ist doch kein Zufall!«
Thiesen drehte sich um und präsentierte bereitwillig seine eigene Vermutung: »Er will der Welt zeigen, was jemandem blüht, der sich an Tommys vergreift.«
»Und das vor laufender Kamera. Das wird in London für volle Kinosäle sorgen,« fügte Pfeiffer mit unpassender Fröhlichkeit hinzu.
Weiter links, in der Nähe des Ausgangs, keuchten zwei Uniformierte um die Wette. Einer von beiden erbrach sich in hohem Bogen und ließ seine Kameraden erschrocken auseinanderspringen.
Rechts brüllte ein Engländer lachend etwas in seiner Landessprache.
»Was hat er gesagt?«, wollte Thiesen wissen.
Pfeiffer lieferte die Übersetzung: »Er meint, dass es für ihn nächsten Sonntag in die Heimat geht. So lange hätte er noch Zeit.«
Ein markerschütternder Schrei, der aus Rupert Wolfs zur Hälfte zugeschnürter Kehle gepresst wurde, hallte durch die Katakomben. Sein Körper zuckte im Todeskampf wie unter Stromschlägen und rotierte mittlerweile um die eigene Achse. Thiesen konnte erkennen, dass der Mann sich eingenässt hatte. Auch der hintere Damm war wohl gebrochen, denn dort wurde ein weiterer dunkler Fleck immer größer.
Erste Uniformierte, die besonders dicht am Galgen saßen, rümpften ihre Nasen und beschwerten sich lauthals über den Gestank.
»Ich tue mir das nicht länger an. Das ist barbarisch!«, stellte Thiesen fest und sprang im selben Moment auf.
Pfeiffer war ebenfalls hochgeschossen und folgte ihm auf Armlänge. Bevor sein Chef den Ausgang erreichte, konnte er ihn am Mantel festhalten. »Ich glaube, wir sollten lieber bleiben!«
»Wozu?«, fragte Thiesen, während er herumwirbelte. »Ich hab genug Tod und Elend gesehen. Da muss ich mir nicht ...«
»Schätze, der Major wird nicht begeistert sein«, unterbrach Pfeiffer. »Der erwartet sicher von uns, dass wir bis zum bitteren Ende ausharren.«
»Machen Sie doch, was Sie wollen! Seh ich aus, als bräuchte ich ’n Kindermädchen?«
Pfeiffer packte seinen Chef am Oberarm und hob ihn auf dem Weg zum Ausgang beinahe von den Füßen. Draußen angekommen, fuhr er fort: »Wir haben seit unserem ersten Fall ’nen ganz guten Stand bei den Tommys. Können Sie mir erklären, warum Sie den gefährden wollen?«
»Was fällt Ihnen eigentlich ein?« Thiesen riss sich los und schaute wütend zu seinem Kollegen, aber auch Untergebenen empor. In solchen Momenten spielte die Hierarchie plötzlich eine Rolle. »So können Sie mit ihresgleichen reden, aber nicht mit mir! Verstanden?«
Johann Pfeiffer wurde immer kleiner. Der körperliche Unterschied zwischen ihm als Riesen und seinem Chef als Zwerg war durch diese klare Ansage mindestens relativiert.
Doch das hielt Thiesen nicht von einer Fortsetzung ab: »Ich hab Ihnen bis jetzt viel durchgehen lassen. Sie haben bisher ganz passable Arbeit geleistet – mir und meiner Familie auch privat geholfen. Aber glauben Sie nicht, dass ich deshalb ...«
»Ich hab’s verstanden«, unterbrach Pfeiffer kleinlaut. »Kommt nicht wieder vor. Ehrenwort!«
Thiesen wollte antworten, doch er fand dazu keine Zeit mehr. Major Freeman und zwei von dessen blutjungen Offizieren waren im Anmarsch.
»Was ist los, Gentlemen? Gefällt Ihnen die Vorstellung nicht?«
Während Pfeiffer nur unsicher lächelte, hielt Thiesen sich mit einem Kommentar nicht zurück: »Ich habe selbst im Nazideutschland keine derartige Hinrichtung erlebt. Sie sollten aufpassen, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse nicht verwischen, Major.«
»Was soll das heißen?«
»Ich denke, ein anderer hat schon genug Unheil in unserem schönen Land angerichtet«, fuhr Thiesen bereitwillig fort. »Wenn Sie meinen, dass Sie ...«
Freemans hob abwehrend die Hand und sorgte damit für Schweigen. Er lehnte sich zur Seite und schaute kurz in die Katakomben. Von dort war noch immer Rupert Wolfs ersticktes Röcheln zu hören. Schließlich wandte sich der Major an einen seiner Offiziere und befahl ihm etwas auf Englisch, was zur Konsequenz hatte, dass dem jungen Mann spontan sämtliche Gesichtsfarbe abhandenkam.
»Was hat er ihm befohlen?«, wollte Thiesen wissen, nachdem der Tross englischer Offiziere in die Katakomben zurückgekehrt war.
»Ich hab’s nicht ganz verstanden«, erwiderte Pfeiffer wahrheitsgemäß. »Der Major spricht ein fürchterliches Kauderwelsch. Aber es ging wohl darum, dass der junge Lieutenant es beenden soll.«
»Meint er mit beenden ...?«
»Was sollte er denn sonst meinen, Chef?«
5
Gregor Wamser hatte die Kaiser-Wilhelm-Straße im Rekordtempo hinter sich gelassen und danach den Karl-Muck-Platz überquert. Eisiger Wind nagte an jeder freiliegenden Stelle in seinem Gesicht. Seine Nase lief, die Augen tränten unaufhörlich. Der Sack, in dem die MP 40 steckte, wurde ihm immer schwerer. Aber das lag wohl nicht an dessen Gewicht, sondern an dem, was Wamser bevorstand. Auf dem Weg hatte er sich immer wieder Gedanken über Sinn oder Unsinn dieser Aktion gemacht. Zweimal war er stehen geblieben und wollte sogar umdrehen. Er überlegte ernsthaft, die Maschinenpistole aus dem Sack zu holen, sich deren Mündung in den Mund zu stecken und abzudrücken. Ein schnelles Ende, das ihm in diesem Moment durchaus reizvoll erschien. Und wer wusste denn, ob im Himmel nicht vielleicht seine Familie auf ihn wartete?
Als Resultat dieser albernen Vorstellung musste er lachen. Für einen wie ihn würde Petrus die Pforte ganz bestimmt nicht öffnen. Es sei denn, da oben hätten die Verantwortlichen in den letzten Jahren ihre Augen vor der Realität und Missetaten fest verschlossen.
Dann – Wamser schlotterte am ganzen Körper und das lag nicht allein an der Kälte – hatte er einen Entschluss gefasst. Er wollte es drauf ankommen lassen. Ein letztes Mal den Abzug ziehen, ein paar Tommys erledigen und hinterher die Flucht antreten. Mit dem Ring und den weiteren in Aussicht gestellten Schmuckstücken könnte er tatsächlich ein neues Leben beginnen. Eines, in dem die schmerzhaften Erinnerungen eines Tages hoffentlich verblassen würden.
Klar, es handelte sich um ein Himmelfahrtskommando. Aber allein dieser Begriff machte es für ihn schon reizvoll.
Auch wenn die Straßen wie leergefegt waren, hatte er sich trotzdem in den Grünanlagen von ›Planten und Blomen‹ – ein Park mitten in Hamburg – versteckt. Die Kälte kroch auch in die letzte Falte seiner schäbigen Unterwäsche und sorgte dort für Gänsehaut. Aber nicht mehr lange, dann wären die ach so hochgelobten britischen Besatzer mit ihrer Hinrichtung fertig. Und danach, so viel stand fest, würde eine weitere folgen. Wer und wie viele war ihm letztendlich egal ...
Wamser hatte ohnehin genug von der Warterei. Er packte den Sack – der ihm plötzlich ein gutes Stück leichter vorkam – noch etwas energischer und machte sich auf den Weg zum Holstenglacis. Rupert Wolfs bevorstehende Hinrichtung feierten die Tommys schon seit Tagen. In den Zeitungen hieß es, man würde an diesem Abend den Kopf einer Bande von skrupellosen Räubern, Erpressern und Mördern seiner gerechten Strafe zuführen. Wolfs sämtliche Komplizen hätte man bereits im Zuge des letzten Überfalls allesamt erschossen. Damit sei die Gefahr ein für alle Mal gebannt.
Wamser musste in sich hineinlachen. Rupert Wolf war nie der Kopf gewesen, höchstens der Arsch. Davon gab es eine Menge. Und ja: Ein paar hatten sie erwischt ... aber längst nicht alle. Nicht mal einen Bruchteil.
Kurz darauf erreichte Wamser sein Ziel: die offene Luke eines Kohlenkellers, gegenüber vom Gefängnistor. Genau diesen Ort hatte ihm sein früherer Führungsoffizier beschrieben und dabei klargemacht, dass an Ort und Stelle alles soweit vorbereitet wäre. Wamser müsse nur abdrücken, mehr nicht.
Und tatsächlich schienen die Voraussetzungen geradezu ideal: Vor dem Tor standen lediglich zwei Wachposten, ein Sergeant und ein Lance Corporal. Keine Offiziere, aber darauf kam es ja auch nicht an.
›Nur abdrücken!‹, wiederholte Gregor Wamser in Gedanken und schüttelte danach den Kopf. Wenn es doch nur ums Abdrücken ging, warum hatte der Idiot von Schacht es dann eigentlich nicht selbst übernommen?
***
Thiesen stand noch immer wie angewurzelt vor dem Eingang der Katakomben, während Pfeiffer um die Ecke linste. »Der Major hockte wieder auf seinem Stuhl. Sein Lieutenant unterhielt sich gerade mit dem Henker.«
»Vielleicht hat der heut Abend noch was vor und will es auch endlich hinter sich bringen.«
Pfeiffer schickte einen verständnislosen Blick in Richtung seines Chefs und widmete sich dann abermals dem Geschehen rund um den Galgen. »Der Lieutenant fummelt an seiner Pistolentasche herum.«
»Hoffentlich kommt dabei kein Unbeteiligter zu Schaden«, fügte Thiesen ketzerisch hinzu. »Bei unseren englischen Freunden kann man ja nie wissen.«
Pfeiffer drehte sich erneut um. Zum ersten Mal an diesem Abend hatte sich sein sonst üblicher Frohsinn verabschiedet. »Ich sag’s mal so: Rupert Wolf hat’s jeden Moment hinter sich. Hoffe, Sie sind dann endlich zufrieden, Chef.«
Thiesen konnte nicht mehr antworten, denn ein Schuss hallte durch die Katakomben. Unmittelbar danach wurden Stimmen laut. Teilweise Proteste, bei einigen war allerdings auch gründliche Erleichterung herauszuhören.
Pfeiffer drehte sich gerade wieder um und wollte wohl einen Kommentar loswerden, da erklangen weitere Schüsse. Dieses Mal jedoch hinter Thiesen und deutlich hörbar vom Gefängnishof her.
»Was ist denn da oben los?«, fragte der junge Kommissar, der bereits nach ein paar langen Sätzen seinen Chef passiert und die ersten Steinstufen hinter sich gelassen hatte.
Thiesen folgte ihm, so schnell es ging, und erreichte als guter Zweiter den gepflasterten Hof.
Dort herrschten tumultartige Szenen. Im gleichen Moment hoben die Alarmsirenen an und zahlreiche Suchscheinwerfer erwachten zum Leben.
Pfeiffer hatte sich ein Stück vorgewagt und kehrte keuchend zu seinem Chef zurück. Auch, weil aus jeder Ecke bewaffnete Soldaten erschienen. In solchen Fällen wurde zuerst geschossen und dann nachgefragt.
»Konnten Sie sehen, was los ist?«, fragte Thiesen.
»Da hat wohl jemand die Torwache aufs Korn genommen. Sieht so aus, als wären zwei Tommys tot.«
Bevor Thiesen Zeit für eine Reaktion fand, stürmten mehrere britische Offiziere in den Innenhof. Allen voran Major Freeman, dessen Stimme schon zwischen den hohen Mauern widerhallte.
»Er ist stinksauer«, übersetzte Pfeiffer salopp.
»Das höre ich auch! Irgendwas Genaueres?«
»Er hat seinen Leuten befohlen, das Gefängnis abzusperren. Außerdem soll sich jeder verfügbare Waffenträger auf die Suche nach dem Attentäter machen.«
»Und was ist mit uns?«
Pfeiffer drehte sich um und stand kurz darauf direkt vor seinem Chef. »Was soll ich denn tun? Ihn in diesem Zustand fragen, ob er für uns ’ne Ausnahme macht und uns jetzt gleich gehen lässt?«
Thiesen linste an Pfeiffer vorbei. Ein paar Meter entfernt gestikulierte der Major derart heftig, dass sogar seine Untergebenen in Deckung gingen. »Sie haben recht: Vielleicht warten wir lieber noch ein bisschen.«
»Würde ich auch sagen.« Pfeiffer zeigte zum Tor, durch das man kurz zuvor die leblosen Körper der beiden Soldaten in den Innenhof gezerrt hatte. Rundherum standen zahlreiche Uniformierte, deren Gesichter in erster Linie Fassungslosigkeit widerspiegelten.
»Fürchte, das wird ’n Nachspiel haben«, flüsterte Thiesen. »Wäre Rupert Wolf unseren englischen Freunden nicht durch Zufall ins Netz gegangen, dann hätte sich Hamburg auf ’ne vierwöchige Ausgangssperre gefasst machen müssen. Wir waren ganz kurz davor und Sie wissen, was das bedeutet: noch mehr Hungertote, weil die Tommys ab sechs Uhr abends auf jeden schießen, der sich nicht rechtzeitig ausweisen kann.«
Pfeiffer fasste seine Gedanken in Worte: »Sie meinen, Freeman wird dieses Mal nicht mit sich reden lassen und die Stadt dichtmachen?«
»Würden Sie das an seiner Stelle?«
»Wahrscheinlich ja.«
»Dann weiß ich nicht, was die Frage soll.«
6
Der Angriff auf die Torwache dauerte lediglich ein paar Sekunden. Gregor Wamser betätigte den Abzug, hatte das Magazin der MP 40 vollständig entleert und danach zufrieden festgestellt, dass die zwei Wachtposten auf den Pflastersteinen lagen. Er konnte im Dunkeln zwar nicht viel erkennen, aber die beiden rührten sich nicht mehr. Was das bedeutete, war wohl klar.
Die MP ließ Wamser an Ort und Stelle zurück. Auf seiner Flucht würde ihn das Teil von nun an höchstens behindern, denn ihm waren – vermutlich irgendwo zwischen den Sträuchern bei ›Planten un Blomen‹ – die Reservemagazine abhandengekommen.
Er sprang direkt durch die Kohlenluke ins Freie, bog nach links ab und raste davon. Vorerst ohne konkretes Ziel.
›Einfach nur weg‹, hallte es in seinem Kopf wider. Als hinter ihm die Sirenen und Scheinwerfer auf den Mauern zum Leben erwachten, hatte er längst die Feldstraße erreicht und war im Begriff, nach rechts in den Holstenwall abzubiegen. Von diesem Moment an hatte er ein Ziel. Schließlich sprach sein ehemaliger Führungsoffizier von einem Versteck, das Wamser nach dem Anschlag nutzen könne. Erfolg vorausgesetzt.
Und von Erfolg durfte man – bei zwei von seinen Kugeln durchsiebten Tommys – wohl reden.
Wamser machte extra einen Umweg über den Zeughausmarkt und bog erst dahinter Richtung Hauptbahnhof ab. Sein Ziel lag im Hamburger Stadtteil Borgfelde, den die Bomben der Alliierten beinahe vollständig dem Erdboden gleichgemacht hatten.
Eine halbe Stunde später – mittlerweile keuchte er wie eine alte Dampflok und seine Beine wurden zunehmend weicher – stieg er die Stufen zu einem Keller hinab. An der Tür, die erstaunlich stabil aussah, fand er keinen Hinweis darauf, dass hier womöglich ein Versteck seiner SS-Kameraden zu finden wäre. Trotzdem klopfte er. Zuerst vorsichtig, dann etwas energischer, weil nichts passierte.
Er hörte es poltern.
Auch in seinem Inneren, denn Wamsers Herz schlug, als wolle es ihm aus der Brust springen. Sein Atem ging stoßweise und er versuchte krampfhaft, ihn unter Kontrolle zu bringen. Er wusste nicht, was hinter der Tür auf ihn wartete. Auf jeden Fall hoffte er auf ein Nachtlager, eine Decke und vielleicht auf einen Schluck Schwarzgebrannten, der ihn alles vergessen ließ. In dieser Zeit wurden die Wünsche eines Mannes von Tag zu Tag bescheidener.
Ein Schlüssel wurde hörbar ins Schloss gesteckt und umgedreht. Es folgte ein Knirschen, das die Antwort auf Wamsers Hoffnungen ankündigte.
Doch die erstarben von einem Atemzug zum nächsten, als sich die Tür vor ihm öffnete.
Er verfluchte sich selbst und seine Dummheit. Die ganze Geschichte war auch zu schön, um wahr zu sein ...
***
Seit dem Angriff auf die beiden Wachposten war fast eine Stunde vergangen. Mittlerweile hatten die Soldaten das Gefängnis am Holstenglacis vollständig abgeriegelt. Niemand kam mehr heraus und genauso wenig hinein. Es sei denn, derjenige trug eine britische Uniform und hatte einen guten Grund.
»Freeman macht Ernst«, zischte Thiesen in Pfeiffers Richtung. »Können Sie von seinem Gebrüll irgendwas verstehen?«
»Sie wollten doch unbedingt Englisch lernen, Chef.« Pfeiffer konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. »Brauchen Sie Nachhilfe? Ich kann Ihnen gerne ...«
»Sie können übersetzen! Was sagt er?«
»Jeder, der Dienst hat, soll sich auf die Suche machen. Ich hab’s nicht genau verstanden, aber mit weiteren Konsequenzen will er sich wohl bis morgen früh Zeit lassen.«
Thiesen drehte den Kopf und schaute zum Tor hinüber. Die beiden toten Soldaten hatte man kurz zuvor auf Tragen verfrachtet und weggebracht. »Der Major kann das ganze Empire mobil machen. Der Attentäter ist sowieso längst über alle Berge.«
Um neugierige Zuhörer auszuschließen, beugte sich Pfeiffer nach vorne und flüsterte nur. »Das sollten Sie ihm aber lieber nicht sagen. Und wo wir gerade vom Teufel reden ...«
Der Major war im Anmarsch, Kripochef Rosenbaum folgte ihm wie ein gehorsames Hündchen.
»Was ist bloß mit Ihrer Stadt los?«, fluchte Freeman schon aus einiger Entfernung. Man hätte glatt annehmen können, Thiesen und Pfeiffer wären für die vorangegangene Gräueltat verantwortlich. »Ich glaube, Ihre Leute wollen gar keinen Frieden.«
»Das sind nicht meine Leute«, korrigierte Thiesen den Major unbeeindruckt. »Erst recht nicht, wenn einer davon auf Ihre Soldaten schießt.«
Freeman schaute zuerst Pfeiffer wütend an, der neben seinem Chef immer kleiner wurde und warf dann einen Blick auf Kurt Rosenbaum. Der war – ähnlich wie Thiesen – von schmächtiger Statur und ebenfalls klein geraten.
Trotzdem versuchte es der Kripochef mit einer zaghaften Widerrede: »Einer Ihrer Wachposten meinte doch, er hätte einen einzelnen Mann fliehen sehen. Wir sollten uns also lieber auf die Suche nach dem Attentäter konzentrieren und keine Zeit verschwenden.«
»Zeit verschwenden?«, wiederholte der Major und klang dabei beinahe belustigt. »Vertrauen Sie mir: Meine Leute finden das Schwein!«
Thiesen wollte gerade etwas erwidern, schloss nach einem vielsagenden Blick von Rosenbaum jedoch unverrichteter Dinge wieder seinen Mund. Er tat gut daran, denn Freeman war mit seinem Vortrag noch nicht fertig: »Ab Morgen gilt eine Ausgangssperre für ganz Hamburg ... bis wir den Kerl hinter Gittern haben.«
Nach dieser Ankündigung konnte Thiesen nicht mehr an sich halten: »Sie haben doch gesagt, dass Sie sich mit solchen Entscheidungen bis morgen früh
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Thomas Herzberg
Bildmaterialien: distruzione nazista © Giuseppe Porzani (fotalia.com)
Cover: Chris Gilcher – http://buchcoverdesign.de
Lektorat: Frau Schmidt, Bärbel Mörseburg
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2019
ISBN: 978-3-96714-063-7
Alle Rechte vorbehalten
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