Cover

Titel

Eisiger Tod

Wegners erste Fälle (1. Teil)

von Thomas Herzberg

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Bildmaterialien: Titelbild: © GilGalad / photocase.de

Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com

 

Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de

 

Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!

Besonderen Dank verdienen meine Freunde aus Afghanistan, Syrien und der Türkei, die mir bei meinen Recherchen rund um das Thema Islam immer wieder gerne geholfen haben.

 

Und ebenso ein ganz großes Dankeschön an:

Lektorat, Korrektorat: worttaten.de – Michael Lohmann

Bärbel für ihr 2. Korrektorat

 

 

Inhalt:

 

Januar 1979. Nach einigen Jahren im Streifendienst tritt Manfred Wegner seinen ersten Posten bei der Hamburger Mordkommission an. Was mit Bergen von Akten und Langeweile beginnt, ändert sich abrupt, als die Leiche eines Rentners unter Schneemassen gefunden wird. Mehr und mehr stellt Wegners erster Fall nicht nur ihn, sondern auch seinen kauzigen Chef auf die Probe. Nach dem bestialischen Mord an einer Bauernfamilie nimmt der Druck auf das neue Ermittler-Team jeden Tag zu ...

 

Eisiger Tod ist der Start in die neue Serie Wegners erste Fälle. Wer zuvor schon seine schwersten Fälle mitverfolgt hat, möchte sicherlich wissen, wie es mit dem Raubein angefangen hat. Begleiten wir Manfred Wegner, damals nicht mal 25, auf seinem Weg an die Spitze der Hamburger Mordkommission ...

 

 

Prolog

 

Am 28. Dezember 1978 setzten, nach einem vergleichsweise milden Weihnachtsfest, erhebliche Schneefälle über Schleswig-Holstein, Hamburg und dem nördlichen Niedersachsen ein. Eisige Temperaturen, Sturm mit Orkanstärke und immer gewaltigere Schneemassen versetzten den Norden in einen Ausnahmezustand. Ein solches Chaos hatte es nie zuvor gegeben. Zwei weitere Schneewellen, im Februar und März 1979, sorgten dafür, dass Norddeutschland siebenundsechzig Tage am Stück unter einer geschlossenen Schneedecke lag: ein gigantischer Kühlschrank, der Millionen Menschen den (kalten) Atem anhalten ließ ...

 

1

 

Silvesterabend 1978. Kurz vor Mitternacht

 

Zum sicherlich zehnten Mal an diesem Tag versuchte Herbert Fromm, sein Haus durch die Hintertür zu verlassen. Immer dann, wenn der Holzstapel vor seinem Kachelofen schrumpfte, blieb ihm nichts anderes übrig, als für neues Brennmaterial zu sorgen. Es sei denn, er legte gesteigerten Wert darauf zu erfrieren. Oder die Ölheizung hochzufahren, deren Durst ihm ein Loch ins Portmonee fraß. Immerhin, der Orkan hatte ein wenig an Kraft verloren. Kälte und Schneefall nahmen dagegen von Stunde zu Stunde eher zu.

Herbert Fromm stemmte sich gegen die massive Hintertür, die sich keinen Millimeter bewegte. Kein Wunder! Vor einer halben Stunde hatte der Hausherr einen Blick aus seinem Dachfenster gewagt um festzustellen, dass die Schneeberge bereits bis zur Ziegelkante seines Hauses reichten. Herbert Fromm hatte in seinen mehr als siebzig Lebensjahren viel erlebt. Er erinnerte sich noch heute lebhaft an den Nachkriegswinter 1946/47, als hier, nahe Geesthacht, das Thermometer über 30 Grad unter Null angezeigt hatte. Aber derartige Schneemassen waren ihm zuvor nicht untergekommen.

Egal!

Er brauchte Feuerholz!

Also schlurfte Herbert Fromm zur Vordertür, um sein Haus erneut zu umrunden. Durch meterhohe Verwehungen. Durchs weiße Chaos. Er zog den Reißverschluss seines Parkas bis zum Hals hoch und schloss sämtliche Knöpfe. Eine Fellmütze, dicke Handschuhe und zwei Schals komplettierten das Bild des Vermummten eindrucksvoll. Als er jetzt die Haustür nach außen aufstieß, kroch die Kälte innerhalb von Sekunden bis in die letzte Falte seiner langen Unterhosen. Riesige Schneeflocken klatschten in sein Gesicht und schmolzen sofort auf den wenigen freiliegenden Stellen seiner Haut. Wütend stapfte er zwei Schritte nach vorne und warf die Tür hinter sich ins Schloss, bevor der Schnee sich auf der Schwelle sammeln konnte und womöglich auch noch den Rückweg dadurch versperrte. Er setzte einen weiteren Fuß nach vorne und versank augenblicklich bis zu den Knien im lockeren Schnee. Seine Beine wirkten zentnerschwer, seine Füße wie am Boden festgeklebt. Mühsam arbeitete er sich Zentimeter für Zentimeter durch das monströse Hindernis in Weiß, um so schnell wie möglich seinen Schuppen zu erreichen, den er auf der Rückseite seines Hauses vor vier Jahren errichtet hatte. Direkt in dem Jahr, als er sich – viel zu spät – in den Ruhestand verabschiedet hatte. Arbeitsfähige Männer waren noch immer Mangelware in Deutschland, insbesondere Handwerksmeister, die Berufserfahrung mitbrachten. Zu viele gestandene Männer hatte ein nicht enden wollender Krieg dahingerafft oder für alle Zeit gebrochen. Seit einigen Jahren holte die Schmidt-Regierung haufenweise Gastarbeiter ins Land. Das Volk im wirtschaftlich erstarkten Deutschland schien kein Interesse an einfachen, aber notwendigen Arbeiten wie Müllentsorgung oder Taxifahren zu haben.

Gastarbeiter, schoss es Herbert Fromm durch den Kopf. Er kicherte in sich hinein. Ob man die vier Jahre, die er in russischer Kriegsgefangenschaft verbracht hatte, auch als Gastarbeit bezeichnen konnte? Wohl kaum! Von den über dreißigtausend Insassen des Lagers hatten es am Ende nicht einmal viertausend zurück nach Deutschland geschafft. Der Rest war entweder erfroren, hatte sich zu Tode geschuftet oder Krankheiten wie Typhus und Lungenentzündungen rafften die Gefangenen wie Fliegen dahin.

Am Schuppen angekommen, musste Herbert Fromm zunächst den Schnee vor der Tür beiseiteschaufeln, wobei hier, an der windabgewandten Seite, viel weniger lag als auf der anderen. Er hatte am Morgen offensichtlich ganze Arbeit geleistet, als er das letzte Mal Holz geholt hatte. Er bückte sich nach dem Schneeschieber, der neben der Tür lag und dessen Stiel ein Stück aus der weißen Masse ragte.

Nachdem der Weg in den Schuppen frei war, blieb er noch einen kurzen Moment reglos stehen und lauschte in die Ferne. Hier und dort hörte er einen Knallfrosch. Vermutlich übermütige Kinder, die trotz dieses Sauwetters einer Oma einen freundlichen Gruß in den Postkasten warfen. Zum nächsten Haus waren es gute zwei Kilometer. Aber selbst wenn es nur einen Steinwurf entfernt gewesen wäre, dieses undurchdringliche Schneegestöber hätte das Anwesen ebenso vollständig verschluckt.

Entschlossen zog Herbert Fromm jetzt die Tür auf und fluchte laut, als sich direkt vor seiner Nase eine kleine Lawine ihren Weg vom Dach bahnte. Schimpfend stieg er über den Schneehügel hinweg und beschloss, den erst zu beseitigen, wenn die beiden Körbe mit Feuerholz gefüllt waren. Also zog er einen Handschuh aus und tastete nach dem Lichtschalter. Die trübe Glühlampe nahm nur zögernd ihre Arbeit auf, was man ihr bei dieser Eiseskälte kaum verdenken konnte.

Neben dem Geruch von Holz, Farbe und muffigen Kartons nahm Herbert Fromm einen weiteren, seltsamen Gestank wahr, der ihm zwar bekannt vorkam, den er allerdings nicht sofort einordnen konnte. Ein Rascheln zu seiner Linken ließ ihn erstarren. Eilig griff er über sich, um die stärkere Glühlampe dazuzuschalten, die er im letzten Jahr dort montiert hatte. Erleichtert starrte er auf zwei große Blätter Zeitungspapier, die, vom eisigen Wind getrieben, über den gepflasterten Boden rauschten. Er lachte und schalt sich seiner eigenen Ängstlichkeit, um sich jetzt endlich den Holzbergen zu widmen, die er um einen guten Teil abbauen wollte. Vor morgen Abend konnte er gut auf eine weitere Odyssee dieser Art verzichten. Eilig schnappte er sich die obersten Scheite, um diese, einen nach dem anderen, im ersten Korb aufzustapeln. Als es erneut hinter ihm raschelte, schaute er nicht einmal auf, sondern stapelte nur umso eifriger. Noch drei oder vier Scheite, dann könnte er schon mit dem zweiten Korb anfangen.

Der erste Hieb der Spaltaxt verfehlte sein eigentliches Ziel und durchtrennte auf seiner Reise nur einen Teil von Herbert Fromms Schultermuskulatur und sein rechtes Schlüsselbein. Der alte Mann sackte vor den Holzbergen zu Boden und erkannte sein eigenes Blut, das auf den Pflastersteinen vor ihm seltsam grell leuchtete. Eigenartige Gedanken schossen durch seinen Kopf. Erinnerungen an Russland und an das Lager, in dem man ihn und seine Mitstreiter jahrelang wie Vieh gequält hatte. Hinrichtungen gab es jeden Tag. Schon der Diebstahl einer einzigen Kartoffel wurde, im günstigsten Fall, mit einem spontanen Kopfschuss geahndet. Wenn man hingegen Pech hatte, lief es auf eine Enthauptung hinaus, die in der Regel mit einem stumpfen Schlachterbeil vorgenommen wurde. Einundzwanzig Schläge hatte er bei einer dieser Exekutionen gezählt, bis sich der Kopf des armen Kerls vom Torso trennen wollte.

Das letzte Wort, das Herbert Fromm durch den Kopf ging, bevor der zweite Axthieb seinen Schädel fast in zwei Teile spaltete, war Knoblauch ...

2

 

»Du siehst beschissen aus, Manfred! Hast du nach Uschis Silvester-Party noch weitergemacht? Ich hab dich doch vor deiner Haustür abgesetzt ...«

»Halt die Klappe, sonst siehst du gleich noch schlimmer aus als ich. Da vorne müssen wir rechts ... Scheiße, wir sind spät dran!«

»Das sind wir doch immer.«

 

Im großen Versammlungsraum des Präsidiums hatten sich rund drei Dutzend Männer eingefunden. Junge, von Eifer erfüllte Polizisten, die nach einigen Jahren im Streifendienst an diesem ersten Arbeitstag des Jahres 1979 darauf warteten, eine neue Karriere bei der Hamburger Kriminalpolizei zu beginnen.

Punkt neun Uhr trat der stellvertretende Polizeipräsident vor die unruhige Truppe und begann in sonorem Ton. »Zunächst einmal, Herrschaften, gratuliere ich Ihnen allen zum Bestehen der Prüfung und zur Aufnahme in den Dienst bei der Kripo. Mein Name ist Horst Schüler, ich bin der zweite Chef der Hamburger Polizei. Wenn Sie mich das nächste Mal sehen, dann geht es entweder um Ihre Beförderung oder Ihre Entlassung.«

Lautes Lachen ging durch die Reihen.

»Ich übergebe jetzt an meinen Kollegen Paul Franke, der diesem Präsidium vorsteht und der dafür verantwortlich ist, Sie am heutigen Morgen auf die verschiedenen Dienststellen zu verteilen. Bitte, Paul ...« Schüler wies mit einladender Geste auf das kleine Podium.

Leises Klopfen unterbrach die Stille. Zwei große junge Männer traten ein, deren Mienen betreten wirkten.

»Wer sind Sie?«, bellte Horst Schüler den beiden entgegen.

»Wegner, Manfred Wegner«, begann der größere mit relativ fester Stimme. »Das ist Helge Schramm ... wir haben einer alten Frau geholfen, die sich in einer Schneewehe festgefahren hatte«, fügte Wegner selbstbewusst hinzu.

»Und wenn Sie zu einem Einsatz gerufen werden, bei dem ein Mann seine Frau erschießen will ...«, begann Horst Schüler im Stil eines Oberlehrers, »... erklären Sie danach den beiden Halbwaisen auch, dass Sie noch den Verkehr geregelt haben und deshalb ihre Mutter tot ist?«

»Kommt drauf an«, gab Wegner fast unbekümmert zurück.

»Worauf? Ach, setzen Sie sich einfach und halten Sie besser den Mund.« Paul Franke wollte das Scharmützel unterbinden. »Sie führen sich ja gut ein, Kollegen!«

Der Beamte betrat das Podium und zog eine Liste hervor. »Ich lese jetzt Ihre Namen vor. Sobald Sie aufgerufen wurden, sammeln Sie sich bei Ihrem Ressortleiter.« Er deutete auf eine Gruppe von Zivilbeamten, die neben dem Ausgang warteten. »Ihre Kollegen werden für Ihre Ausrüstung sorgen und Sie danach zu den jeweiligen Dienststellen mitnehmen. Verstanden?« Frankes Gesicht nahm einen genervten Ausdruck an.

Stummes Nicken ging durch die Reihen.

»Das habe ich dir zu verdanken«, flüsterte Helge Schramm in Wegners Ohr, der auf dem klapprigen Stuhl neben ihm zusammengesackt war. »Obwohl, die Lüge mit der Oma war gut.«

»Mach dir keine Sorgen. In ein paar Tagen haben die unseren Auftritt vergessen. Es gibt Schlimmeres ...«

»Zum Beispiel?«, bohrte Schramm grimmig.

»Wenn du am Neujahrsmorgen aufwachst und nicht einmal den Namen der Braut kennst, die neben dir liegt.«

Weiter vorne ratterte Paul Franke einen Namen nach dem anderen herunter. Eilig erhoben sich die Aufgerufenen und sammelten sich in kleinen Gruppen am Ausgang.

»Wie alt?«, erkundigte sich Schramm grinsend.

»Ich hoffe, achtzehn ... keine Ahnung.«

»Und? War sie wenigstens gut?«

»Was weiß ich denn?«, fauchte Wegner etwas zu laut zurück. »Sie war nackt, ich auch. Mehr weiß ich nicht ...«

»Langweile ich Sie, Herr Wegner?«, dröhnte es von vorne. Paul Frankes Gesicht verfinsterte sich bedrohlich.

»Keineswegs! Ich bin nur neugierig, wo ich am Ende lande«, antwortete Wegner lautstark. »Kann es kaum erwarten ...«

Franke schüttelte den Kopf. »Sie würde ich am liebsten nochmal für weitere drei Jahre auf Streife schicken. Wer weiß, was ein Kerl wie Sie anrichtet, ganz gleich, wo Sie am Ende landen.«

Ein paar Minuten später steckte Paul Franke die Liste in seine Tasche zurück. Bis auf zehn Männer waren die jungen Polizisten allesamt nach und nach mit ihren Begleitern verschwunden. Fragende Blicke wurden getauscht. Der erfahrene Beamte auf dem Podium genoss offensichtlich die Spannung und ließ die neuen Kollegen noch eine ganze Weile schmoren, bis er endlich fortfuhr. »Sie wundern sich vermutlich, warum wir Sie keiner Dienststelle zugeteilt haben.«

Kollektives Nicken. Auch Wegner und Schramm tauschten kopfschüttelnd Blicke.

»Sie alle verbindet etwas, das Sie Ihren Kollegen voraushaben ...«

»Und das wäre?«, unterbrach Wegner.

»Sie sind älter, haben Ihre Ausbildung mit besonders guten Ergebnissen abgeschlossen ...« Franke schaute auf eine andere Liste. »Das gilt allerdings nicht für Sie, Kollege Wegner«, bemerkte er kopfschüttelnd. »Vor allem aber sind Sie allesamt Hamburger, kennen die Stadt, ihre Menschen und Besonderheiten.«

Noch immer schwiegen die jungen Beamten. Keiner ahnte zu diesem Zeitpunkt, inwiefern sich die zweifellos vorhandenen Ortskenntnisse als herausragendes Prädikat erweisen sollten.

»Sie alle kommen, Ihre Zustimmung vorausgesetzt, in eine Abteilung Ihrer Wahl.«

3

 

Trotz eisiger Temperaturen hatte die Leiche schon bald zu stinken begonnen. Schnell war ein Loch, das wie der Eingang zu einem Iglu aussah, in einer nahegelegenen Schneewehe ausgehoben. Der steife Körper ließ sich relativ leicht über die mittlerweile festgetretene Schneedecke schleifen. Aus dem gespaltenen Schädel purzelten kleine Brocken heraus. Blutreste, Gehirnmasse, was auch immer es sein mochte. Die Spuren im Schnee waren schon kurz darauf mit eisigem Puder verdeckt, das unbegrenzt zur Verfügung stand. Fünf, sechs lange Bewegungen mit dem Schneeschieber reichten aus, um das Loch zu schließen, als ob es niemals dort gewesen wäre.

Die dürre, leicht bucklige Gestalt schlurfte zum Schuppen zurück, um wenig später mit einem Korb Feuerholz wieder herauszukommen. Der Kachelofen gierte nach neuem Futter. Die Speisekammer quoll förmlich über. Es wurde Zeit für ein ordentliches Frühstück.

 

***

 

Wieder war es Wegner, der sich zu fragen traute: »Was bedeutet das genau?«, begann er mit gerunzelter Stirn. »Bekommen wir dann auch einen Dienstgrad?«

»Natürlich! Ihre Kollegen hier ...«, Franke deutete in die Runde, »... werden Kommissar-Anwärter. Wobei die Anwartschaft verdammt lang wird, anders lässt sich das nicht verantworten.«

»Und ich?«, bohrte Wegner.

»Für Sie denke ich mir noch einen Dienstgrad aus. Vielleicht Erste Nervensäge ... oder Schlitzohr.«

Grölendes Lachen.

»Es gibt vier Dezernate, wobei drei davon chronisch unterbesetzt sind: die Sitte, Wirtschaft … und Mord«, fügte Franke in gequältem Ton hinzu.

»Ich will zur Sitte«, flüsterte Helge Schramm. »Du doch sicher auch, oder?«

Wegner schüttelte entschlossen den Kopf.

»Kommen wir also zur Verteilung! Wer von Ihnen will zur Sitte?« Frankes Gesicht sah aus, als ob er die Antwort bereits kannte.

Neun Arme schossen förmlich in die Höhe.

Kurz darauf durchschritt der Präsidiumsleiter die Reihen und blieb vor einem schmächtigen Winzling mit Hornbrille stehen. »Wie heißt der Kollege, der das Revier auf dem Kiez leitet?«, fragte er ohne Umschweife.

Achselzucken.

»Sie kommen zur Wirtschaft.«

»Aber ...« Der Kauz mit dünner Stimme schien protestieren zu wollen. »Sie haben doch gesagt, dass wir uns ein Ressort aussuchen dürfen.«

»Haben Sie doch. Und ich freue mich, dass Ihre Wahl auf Wirtschaft gefallen ist. Das passt zu Ihnen.«

Er ging weiter. »Was tun Sie, wenn Ihnen eine Hure erzählt, dass ein Freier sie verprügelt hat?«, fragte er einen Riesen, dessen Gesicht seinen IQ auf beeindruckende Weise widerspiegelte.

»Weiß nicht, Sie anrufen?«

»Auch Wirtschaft, wobei ich nicht weiß, was man dort mit Ihnen anfangen soll.« Jetzt machte Franke ein paar lange Schritte, an deren Ende er vor dem Einzigen stand, der seine Hand nicht erhoben hatte: Manfred Wegner. »Warum zieht es ausgerechnet Sie nicht zur Sitte? Sie hätten sofort einen Freischein von mir bekommen.«

»Hab ein paar Jahre auf dem Kiez geboxt. Wer weiß, wem ich dort begegne, der seine schiefe Nase meiner Faust zu verdanken hat? Danke. Kein Bedarf!«

»Und was wollen Sie dann?«

»Mord!«

 

Zwanzig Minuten später – die übriggebliebenen Polizisten waren, mehr oder weniger freiwillig, auf die Dezernate verteilt – leerte sich der Raum.

»Sie bleiben noch, Wegner!«, rief Paul Franke, während er die anderen gestenreich aus dem Raum beförderte. »Wir haben noch etwas zu besprechen, Kollege.« Jetzt deutete er auf einen Stuhl, setzte sich ebenfalls und begann kurz darauf in einem frustriert wirkenden Ton: »Schon von Gerd Kallsen gehört ... unserer Ein-Mann-Mordkommission?«

»Sollte ich?« Natürlich war Wegner Kallsen im Streifendienst ein paar Mal über den Weg gelaufen. Davon, dass er ihn wirklich kannte, konnte man jedoch nicht sprechen.

»Ich will ehrlich sein«, fuhr Franke schnaufend fort. »Hauptkommissar Kallsen ist ... gewöhnungsbedürftig, um es freundlich auszudrücken.«

»Was bedeutet ...?«, erkundigte sich Wegner relativ unbeeindruckt.

»Ich habe in den letzten sechs Monaten neun Kollegen durch die Mordkommission geschleust. Keiner hat es mehr als ein paar Wochen mit Kalle ausgehalten. Ich würde es als Herausforderung beschreiben ...«

»Ich mag Herausforderungen«, kommentierte Wegner grinsend.

Franke schaute sein Gegenüber eine ganze Weile nachdenklich an, bevor sich sein Mund erneut öffnete: »Wenn ich Sie so anschaue und es mir überlege ... vielleicht sind Sie genau der Richtige, um dem Kollegen Kallsen Paroli zu bieten.«

 

Ein paar Minuten später musste sich Wegner eingestehen, dass sich seine Beine ein wenig weich anfühlten und er einen dicken Kloß in seinem Hals aufsteigen spürte.

Hauptkommissar Kallsen – Mordkommission prangte es in großen Buchstaben an der Tür vor ihm, deren Klinke er mit leicht zitternden Fingern umschloss.

Egal!

Was sollte schon passieren?

Er klopfte energisch, was von innen grummelnd kommentiert wurde. Wegner trat ein und fokussierte seinen Blick auf Kallsens Gesicht, das misstrauisch, aber nicht unfreundlich wirkte.

»Wegner, Manfred Wegner ... ich bin der Neue. Guten Morgen!«

»Ich hab’s gewusst!«, begann Kallsen ohne Begrüßung.

»Was haben Sie gewusst?«

»Dass Paule mir eins von seinen neuen Lämmern schickt, damit ich es zur Schlachtbank führe ...«

»Sehe ich aus wie ein kleines, plüschiges Geschöpf, das sich dorthin führen lässt?« Wegner baute sich auf. Einmeterneunzig, breite Schultern, Arme wir Frauenbeine. »Da müssen Sie aber schon kräftig an der Leine zerren.« Er streckte Kallsen seine Pranke entgegen und drückte dessen dürre Finger energisch.

»Ein Querkopf!«, stellte der Hauptkommissar unbeeindruckt fest, wobei sein Gesicht vielleicht auch eine winzige Spur von Respekt widerspiegelte. »Setz dich, mien Jung. Und ... moin.«

»Wie soll ich Sie ansprechen?«

»Du kannst Kalle sagen, aber du bleibst beim Sie, sonst gibt’s was an die Ohren. Wenn du mich Holzbein oder Krüppel nennst, so wie die anderen es gerne tun, dann fliegst du am gleichen Tag.« Kallsen nahm beide Arme zu Hilfe und ließ seine Unterschenkelprothese lautstark auf den Schreibtisch krachen. »Bis vor zwei Jahren hatte ich tatsächlich noch so’n richtiges Holzbein ... dann hat mir die Beihilfe dieses Plastikding spendiert.«

Wegner hob die Hand und klopfte auf die hautfarbene Hülle der Prothese. »Wirkt stabil. Kann man darauf wirklich laufen?«

»Zumindest besser als ohne, du Spaßvogel.«

»Das leuchtet ein. Aber was ist, wenn Sie einen verfolgen müssen oder auf Sie geschossen wird?«

»Dann brauch ich einen mutigen Kerl, der das für mich erledigt oder sich vor mich stellt, um die Kugel abzufangen.«

»Und das soll ich dann sein?«, fragte Wegner, dessen Grinsen abrupt erstarb.

»Genau, mien Jung. Das ist deine Aufgabe. Ich übernehme das Denken und du bist fürs Grobe verantwortlich.«

»Na, dann ...!«

4

 

Es wurde Zeit, höchste Zeit! Mehr als vier Tage waren seit dem Mord im Holzschuppen vergangen und wer wusste denn, ob der Mann nicht Verwandte hatte oder sonst jemanden, der ihn besuchen wollte? Spätestens, wenn die Panzer der Bundeswehr auch die letzten Nebenstraßen geräumt hatten, würde das Leben auch vor den Toren Hamburgs wieder erwachen. Dieses Risiko durfte er nicht eingehen. Überleben! Nur darum ging es. Überleben und so viel wie möglich hamstern, um mit den Vorräten auch die nächsten Wochen oder gar Monate zu überstehen. Aber auf den Komfort der letzten Tage würde er in jedem Fall verzichten müssen, so viel stand fest.

Im Nachttisch des alten Mannes war er auf ein Bündel kleiner Scheine und einen Haufen Münzen gestoßen. Hinter der Rückwand des Kleiderschranks sogar auf ein paar Hunderter. In diesem Moment, als er sich ein letztes Mal mit wehmütigem Blick in Richtung Wohnzimmer umdrehte, drückte das Geld beruhigend in seiner Hosentasche. Ein Rucksack, den er mit allerlei Vorräten und Kleidungsstücken des Mannes gefüllt hatte, hing auf seinem Rücken.

Er zog die Haustür hinter sich ins Schloss und spürte augenblicklich den eiskalten Wind, der wie ein wildes Tier an seinen Wangen nagte. Am liebsten wäre er sofort wieder umgedreht. Er hätte vielleicht noch ein bis zwei Tage lang die Wärme und trügerische Geborgenheit genossen. Aber das kam nicht infrage. Er musste weiterziehen. Weg von diesem Haus, von einem Tatort, an dem man, spätestens wenn es taute, die Leiche des alten Mannes finden würde. Ein letztes Mal drehte er sich um. Sein Blick war tränenverschleiert, sein Magen zog sich krampfartig zusammen. Wohin ihn das Schicksal verschlagen würde, wusste er nicht. Nur, dass das, was vor ihm lag, kaum so angenehm sein dürfte wie das hinter ihm.

 

***

 

Seit zwei Tagen saß Wegner an seinem Schreibtisch und hatte seither nichts anderes zu tun, als die Akten alter Fälle zu sortieren. Sämtliche Papiere darin waren vergilbt, Tatortfotos verblichen, wodurch die Geschichten, die manche Aufnahme erzählte, nicht weniger erschreckend auf ihn wirkten.

Es war fast zehn, als Gerd Kallsen verschlafen das Büro betrat. »Moin!«, war das einzige Wort, das er mürrisch herauspresste.

»Moin, Chef. Gut geschlafen?«

»Sehe ich so aus, als ob ich gut geschlafen hätte?«

Wegner schaute prüfend auf. »Nicht unbedingt. Kater?«

»Ich hab das Gefühl, als ob ’ne Dampflok über meinen Schädel gerollt wäre. Was haben wir heute ... Dienstag?«

»Mittwoch, warum?«

»Weil’s da bei Rüdi an den Landungsbrücken gutes Frühstück gibt. Außerdem ist Fisch immer noch das Beste, was gegen einen dicken Schädel hilft ... zumindest bei mir.«

Wegner schaute nur fragend.

»Worauf wartest du, Junge? Lass uns fahren, dann zeig ich dir mal ein paar der Tatorte, an denen wir die eine oder andere Leiche gefunden haben.«

»Ich hätte noch einige Fragen zu den Fällen, die ich hier sortiere.«

»Vor oder nach dem Frühstück? Und überleg dir deine Antwort gut ...«

Wegner holte eine riesige Brotdose aus seiner Aktentasche, öffnete den Deckel und hielt sie seinem Chef entgegen. »Vor dem zweiten Frühstück«, gab er grinsend zurück. »Die hab ich bei meiner Mutter abgeholt, auf dem Weg ins Büro. Sie kann’s einfach nicht lassen.«

Kallsen musterte die dick bestrichenen Stullen kritisch, langte dann aber in die Dose und holte gleich zwei von ihnen heraus. Sofort biss er ein großes Stück von der ersten ab. »Gute Mutter«, prustete er mit vollem Mund hervor. »Erzähl ihr bloß, dass du einen hungrigen Kollegen hast, der keine Mutter mehr hat, die ihm Stullen schmiert.«

»Wie alt sind Sie eigentlich, Kalle?« Wegner hatte noch immer Probleme damit, seinen Chef mit diesem seltsamen Namen anzusprechen.

»Vierundfünfzig! Ne ... fünfundfünfzig. Hatte ja letzte Woche Geburtstag.«

»Glückwunsch. Also ... nachträglich.«

Kallsen nickte nur und biss ein weiteres Mal herzhaft ab. »Also, was willst du wissen?«

Wegner schob einen Haufen Akten zur Seite. »Diese Fälle sind alle gelöst. Die Täter sind verhaftet oder tot.«

»Wenn du es sagst ...«

»Aber diese hier«, Wegner deutete auf einen zweiten, flacheren Stapel, »sind ungelöst.«

»Ja, so was gibt es, mein Lieber. Wir finden nicht jeden Mörder. Daran wirst du dich gewöhnen müssen.«

»Und warum schaufle ich hier in den Mappen herum und hefte den ganzen Mist wahrscheinlich zum hundertsten Mal ab? Welchen Sinn hat das, wenn wir die Mörder ohnehin nicht mehr finden?«

»Kannst du mit der Wahrheit umgehen, Jungchen?«

»Besser als mit Lügen!«

»Okay, dann hörst du die Wahrheit: Ich hab hier kaum etwas zu tun. So viele Leute werden in Hamburg nicht umgebracht und meistens, Gott sei Dank!, stellen sich die Täter oder sie hinterlassen so eindeutige Spuren, dass selbst ein

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Melanie Schubert
Bildmaterialien: Bildmaterialien: Titelbild: © GilGalad / photocase.de Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de
Korrektorat: Michael Lohmann - worttaten.de
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5929-6

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