Der Hurenkiller
Wegners schwerste Fälle (Teil 1)
von Thomas Herzberg
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Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com
Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig.
Lektorat, Korrektorat: worttaten.de – Michael Lohmann – lohmann@worttaten.de
Aus der Reihe Wegners erste Fälle:
Aus der Reihe Wegner & Hauser (Hamburg: Mord)
Aus der Reihe Wegners schwerste Fälle:
Aus der Reihe Wegners letzte Fälle:
Aus der Reihe "Hannah Lambert ermittelt":
Aus der Reihe "Zwischen Mord und Ostsee":
Weitere Titel aus der Reihe Auftrag: Mord!:
Unter meinem Pseudonym „Thore Holmberg“:
Hamburg. Eine Prostituierte nach der anderen wird bestialisch ermordet.
Der Hurenkiller geht um, titelt die Boulevardpresse bereits nach kurzer Zeit. Für Manfred Wegner und Stefan Hauser bedeutet das in erster Linie schlaflose Nächte und Magenschmerzen. Und immer dann, wenn sich die Beamten der Mordkommission dicht an ihrem Ziel glauben, sind sie am weitesten davon entfernt.
Rasante Spannung, Gefühle und Verzweiflung ... bis zum überraschenden Ende. Die erste mitreißende Geschichte rund um den raubeinigen Hauptkommissar, der die Dienstwaffe locker und das Herz am rechten Fleck trägt. Alle Teile der Reihe Wegners schwerste Fälle waren lange Zeit in den Top100 der E-Book-Charts zu finden und freuen sich über viele positive Rezensionen. Danke!
!!! XXL-Leseprobe !!!
Am Ende dieses Buches finden Sie eine XXL-Leseprobe von:
Eisiger Tod (Teil 1 der neuen Reihe Wegners erste Fälle)
§ 211 Mord
(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder
sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.
»Was ist denn ... um diese Zeit?«, brummte Wegner unfreundlich in sein Handy.
»Chef ... wir haben schon wieder eine Tote!«
»Wo?«
»Nähe Horner Kreisel.«
»Schick mir die Adresse. Ich mach mich auf den Weg.«
Hauptkommissar Manfred Wegner wurde als Leiter der Hamburger Mordkommission immer dann gerufen, wenn an einem Tatort auf Anhieb zu erkennen war, dass es sich um ein gewaltsames Tötungsdelikt handelte. In letzter Zeit allerdings nahmen diese Anrufe deutlich überhand. Kaum eine Woche verging, in der es ihm möglich war, zwei Nächte hintereinander entspannt durchzuschlafen.
Die Boulevardblätter nannten den Täter nur noch den Hurenkiller. Ein Titel, der zumindest sofort verriet, auf welche Zielgruppe sich dieses perverse Schwein spezialisiert hatte. Schon nach dem zweiten Mord hatte Wegner eine Soko gegründet, die sich ausschließlich mit der Suche nach diesem Mann und seiner Ergreifung befasste.
Warum sie davon ausgingen, dass es sich um einen Mann handelte?
Ganz einfach: Die Morde wurden mit solch ungezügelter Brutalität ausgeführt, dass nur ein ausgewachsener, sehr kräftiger Mann dazu imstande war. Ein Schwächling oder gar eine Frau hätte es keinesfalls vollbracht, die Opfer derart abzuschlachten – so viel stand fest.
Was Mord betraf, lag Hamburg in der Statistik schon seit Jahren eher im Mittelfeld. Da gab es in Deutschland ganz andere Städte, in denen fast täglich jemand gewaltsam zu Tode kam.
Aber unser Hurenkiller arbeitet sehr hartnäckig daran, diese Statistik gründlich nach oben zu korrigieren, dachte Wegner frustriert, während er seinem alten Hund in den Kombi half. Rex, ein selten dämlicher Name für einen Schäferhund! Wegner hatte ihn von seinem Bruder geerbt. Elf oder sogar zwölf Jahre alt war der arme Kerl mittlerweile. Man erkannte an seinem Gang, dass er früher häufig als Hunde-Modell für Hüftleiden gebucht worden war. Tatsächlich allerdings hatte Rex die ersten neun Jahre seines Lebens in einer Hundestaffel gedient. Er wurde jedoch ausgemustert, als er, seinerzeit besonders schlecht gelaunt, einem Dealer zwei Finger abgebissen hatte. Wegners Bruder konnte damals die Einschläferung nur dadurch verhindern, dass er den alten Knaben in seine private Obhut nahm. Als Ralf Wegner dann, nur ein Jahr später, an Magenkrebs starb, zog der Schäferhund noch ein weiteres Mal um.
»Mein Gott, warum fährt denn dieser dämliche Idiot nicht zu?«, keifte Wegner genervt. »Soll ich dich vielleicht über die Kreuzung schieben, du hirnloser Affe?« Sogar Rex knurrte im Kofferraum, aber wohl eher, weil ihm die Schreie seines Herrchens in den empfindlichen Ohren dröhnten.
»Ich hab die Schnauze voll, jetzt erschieß ich diesen Arsch!«, schimpfte Wegner und sprang genervt aus seinem Kombi. Am Wagen vor ihm angekommen, klopfte er grob gegen das Seitenfenster. Als er dann jedoch die Fahrerin sah – ein zweifellos sehr attraktives, junges Mädchen – wurde er gleich deutlich ruhiger. Vermutlich hatte das arme Ding nur den Motor abgewürgt. Als sie die Scheibe herunterließ und zu ihm aufsah, kullerten bereits dicke Tränen.
»Ich weiß nicht, was los ist, das passiert heut‘ Abend schon zum dritten Mal«, piepste sie verlegen.
Wegner wollte gerade etwas antworten, da sah er Blaulicht von hinten heranrauschen. Mit einer dramatischen Vollbremsung kam ein Peterwagen direkt hinter seinem Kombi zum Stehen, was Rex anscheinend grob aus seinen Träumen riss. Jedenfalls versuchte der alte Schäferhund, die beiden aussteigenden Polizeibeamten durch die geschlossene Heckscheibe aufzufressen.
»Gehen Sie von meinem Wagen weg!«, brüllte Wegner den Polizisten unfreundlich entgegen.
»Machen Sie mal halblang, erwiderte der erste Beamte, nicht minder ungehalten. »Stellen Sie sich mit gespreizten Beinen an den Pkw und legen Sie die Hände auf das Dach. Sofort!«
Das Mädchen weinte mittlerweile völlig hysterisch. Dieser Abend dürfte ihr vermutlich noch lange Zeit in Erinnerung bleiben.
»He, das ist Wegner, Hauptkommissar Wegner«, informierte nun der zweite seinen Kollegen gequält.
»Oh!«, der erste Uniformierte übte sich in schüchternem Grinsen. »Tschuldigung ... konnte ja nicht ahnen, dass Sie ...«
»Jaja, lassen Sie`s gut sein.« Wegner deutete durch das Seitenfenster. Helfen Sie lieber der jungen Frau hier. Ich muss weiter – bin im Einsatz.«
»Wir haben es schon über Funk gehört. Hammer Landstraße ... ist es wieder der Hurenkiller?«
»Hast du was im Magen, Manfred?« Stefan Hauser, Wegners Kollege und Partner, hatte ihn vor der Tatort-Absperrung rüde gestoppt und sogar ein Stück beiseite gezogen.
»Das Letzte war dieser trockene Muffin, gestern Mittag, in der Kantine. Wieso?«
»Du solltest regelmäßiger essen. Rex sieht auch ganz abgemagert aus.«
»Ach, lass mich doch mit deinem Hausfrauengelaber in Ruhe. Nur weil du und dein schwuler Freund euch drei Mal am Tag was Warmes gönnt ...« Plötzlich verschlug es Wegner die Sprache, er konnte es kaum fassen. Als er den kleinen Raum betrat, sah es so aus, als wäre hier ein menschlicher Körper explodiert. Die Wände, die Gardinen, das komplette Bett, ja sogar die Decke – alles blutüberströmt. Auf dem Boden türmten sich die Eingeweide der Toten. Abgerissene Gliedmaßen lagen verstreut, mittendrin der Torso beziehungsweise das, was davon übrig war.
»Mein Gott«, begann Wegner atemlos. »Wenn ich es nicht genauer wüsste, dann würde ich denken, dass wir ein Tier und keinen Menschen jagen. Wer richtet sowas nur … ich meine, wie kann einer …?« Seine Stimme versagte zunächst ihren weiteren Dienst.
»Es wird jedes Mal schlimmer«, fügte Stefan Hauser eine ganze Weile später flüsternd hinzu. »Der Doc sagt, dass im Körper der Frau kein unversehrter Knochen mehr zu finden ist.«
»Haben wir Spuren?« Wegner hatte sich ein Stück weit gefangen.
»Auf den ersten Blick nichts ... wie immer.«
»Und die anderen Damen – hat von denen eine was gesehen?«
»Fehlanzeige, auch wie immer.«
Lautes Knurren und giftiges Bellen vom Flur her riss die beiden Kommissare aus ihren Gedanken. Einen Moment später steckte Dr. Specht, der Rechtsmediziner, den Kopf zur Tür herein. »Manfred, dein Hund hat gerade meinen Fotografen gebissen. Kannst du ihn nicht einfach zuhause lassen?«
»Schnauze! Rex hat mehr Kriminalfälle aufgeklärt, als du in deinem ganzen Leben je zu sehen bekommen wirst.« Wegner warf seinem Kollegen Hauser ein Blick zu, um sich eine Bestätigung für diese These abzuholen. Danach fuhr er grinsend fort: »Und Vorsicht, Dieter ...«, er schob seine Jacke ein Stück beiseite und deutete auf seine Dienstwaffe, »... ich bin bewaffnet!«
Kopfschüttelnd verließ Dr. Specht den Raum. Kurz darauf lehnte er sich allerdings noch einmal in den Türrahmen. »Falls es dich interessiert – mein Fotograf blutet sogar.«
»Ich dachte, du bist Arzt. Versorg den Mann … aber zackig! Ich brauch vernünftige Bilder vom Tatort.«
Endlich wieder auf dem Bürgersteig vor dem fünfstöckigen Wohnhaus angekommen, atmeten die zwei Kommissare erleichtert aus. Wegner sah die Fassade empor und schüttelte zunächst nur wortlos den Kopf. »Ist das ein reines Hurenhaus? Ich meine ...«
»Zu hundert Prozent!« Stefan Hauser nickte aufgeregt. »Er folgte dem Blick seines Chefs, der im obersten Stockwerk verharrte. Dort brannten hinter jedem Fenster kleine rote Lampen, die klarmachten, was dahinter passierte. »Die meisten kommen aus Osteuropa, im Erdgeschoss arbeiten auch ein paar ...«
»Das spielt wohl kaum eine Rolle«, unterbrach Wegner seinen Kollegen. Mit betretener Miene schaute er den Leichenträgern hinterher, die in einer Zinkwanne die Einzelteile des Opfers davontrugen.
»Neunundzwanzig Jahre alt, aus Polen«, kommentierte Hauser frustriert. »Sie hatte sogar eine Tochter – die hat ihre Mutter so gefunden. Und jetzt sitzt die Kleine oben bei der Hurenmutter.«
»Und was wird aus der Lütten?« Wegners Gesicht verriet, dass er die Antwort bereits kannte.
»Ich lasse sie in ein Heim bringen. Was soll ich denn sonst tun?«
»Ich hab das Gefühl, es wird von Mal zu Mal schlimmer«, gab Wegner in mutlosem Ton zurück. »Kannst du mir vielleicht sagen, was wir falsch machen, Stefan?«
Hauser zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung! Aber wir werden das Schwein finden, das verspreche ich dir.«
Vom Tatort aus war Wegner wieder nach Hause gefahren, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Er war über fünfundzwanzig Jahre bei der Mordkommission, acht davon – nach zähen Kämpfen – auch deren Leiter. Eine Mordserie wie diese war ihm jedoch noch nie zuvor untergekommen. Schon nach dem dritten Mord hatten die Zeitungen von einem Serientäter gesprochen. Zu diesem Zeitpunkt weigerte sich Wegner selbst allerdings noch hartnäckig, ihn so zu nennen. Der Presse gegenüber erwähnte er lediglich ein paar Übereinstimmungen im Täterprofil.
Todmüde, aber trotzdem völlig aufgedreht, hatte er dann schon kurz nach sieben in einer Bäckerei gesessen, um wenigstens in Ruhe zu frühstücken. Gegen acht kamen er und Rex im Büro der Mordkommission an. Der Schäferhund verschwand sofort in seinem Körbchen, während Wegner sich kraftlos in seinen Drehstuhl fallen ließ. Einen Atemzug später lagen seine Füße auf dem Schreibtisch.
»Sag mal, Manfred, ist das da Hundescheiße an deinen Schuhen?«, erkundigte sich Stefan Hauser gereizt. Wegners Kollege saß schon seit einer halben Stunde im Büro und sortierte Zeugenaussagen.
»Wieso ... brauchst du welche?«
»Ach, Manfred, du bist ein Schwein! Kannst du nicht wenigstens die Kacke von Rex draußen lassen? Letzte Woche habe ich sogar ein Stück Pansen in meiner Aktenmappe gefunden. Das ist wirklich eklig.«
»Im Krieg hätten sich unsere Väter ein Stück Pansen gewünscht, als sie in Stalingrad im Schützengraben verhungert sind.«
»Ich weiß nicht, ob es dir schon aufgefallen ist: Der Krieg ist vorbei!«, schrie Hauser nun ungehalten, so dass auch Rex in seinem Korb zu knurren anfing.
Weitere Streitigkeiten wurden jedoch Dr. Specht unterbrochen, der anscheinend erste Erkenntnisse mit den beiden Streithähnen teilen wollte. Der Rechtsmediziner hatte augenscheinlich die Nacht durchgearbeitet.
»Dieter, was bringst du uns Gutes?«, begann Wegner auffallend freundlich.
»Sagt mal, riecht es hier nach Hundescheiße?«, erkundigte sich jetzt auch der Doc angewidert.
»Nein«, antwortete Wegner ihm fröhlich, »das ist Stefans neues Tucken-Parfum: Lack de Kack.«
»Du kannst mich mal ganz gewaltig am Arsch lecken, Manfred!«, brüllte Hauser beleidigt und eilte aus dem Raum.
»Das ist aber auch ’ne Mimose«, urteilte Wegner lachend. »Und den Gefallen werde ich ihm sicher nicht tun, sonst legt er im Auto noch seine Hand auf mein Knie.« Jetzt gackerte auch der Doc und aller Streit war vergessen.
Wenn die ersten Ergebnisse einer Obduktion für die ermittelnden Beamten von Bedeutung sein könnten, dann erstellt der Gerichtsmediziner eine Art Vorbericht. So schien es auch in diesem Fall zu sein, denn Dr. Specht gehörte nicht zu den Befürwortern übereilter Schlüsse.
»Also, was hast du?«, wollte Wegner wissen.
»Die komplette DNA, also zumindest die Voraussetzungen dafür«, erklärte der Specht grinsend. »Haut, Haare und sogar Blutspuren.«
»Woher?«
»Wir haben einen der abgerissenen Arme unter dem Bett herausgezogen. Die Frau scheint sich im Todeskampf in die Kopfhaut des Täters verkrallt zu haben. Auf jeden Fall fanden wir unter ihren Fingernägeln alles, was wir brauchen.«
»Und dafür mussten erst einmal fünf Frauen sterben, bis wir endlich was Brauchbares von diesem Ungeheuer haben?«, murmelte Wegner verbittert. »Wann hast du das komplette Ergebnis?«
»Die DNA dauert ein paar Tage, wie immer. Den Rest hast du in vier bis fünf Stunden. Heute Mittag bekommst du meinen Bericht.«
»Gut gemacht, Dieter ... danke.« Wegner schaute aus dem Fenster. Hamburg erwachte an diesem Morgen ungewohnt träge zu neuem Leben. Sein Blick wanderte zu Rex, der mit zitternden Vorderpfoten in seinem Korb lag. Wahrscheinlich jagte er im Traum einen Hasen – oder einen Crack-Dealer – besser Letzteres.
Es ging schon auf zehn, als Wegner, von neuem Hunger und Kaffeedurst geplagt, in die Kantine schlurfte. Auch Stefan Hauser saß an einem der Tische und diskutierte angeregt mit einigen weiblichen Beamten über Kosmetik. Seltsam, wie die meisten Frauen auf Schwule reagieren, dachte Wegner kopfschüttelnd. Witzig, sympathisch, ja fast euphorisch umgarnten sie seinen Kollegen, als ob sie insgeheim davon träumten, die Tucke umzudrehen.
Demonstrativ ließ Wegner sich am Ende des Tisches geräuschvoll auf einen der klapprigen Stühle fallen und grummelte ein unfreundliches »Guten Morgen« dazu. Keine der Frauen nahm auch nur Kenntnis von ihm, so dass er in Ruhe seine Zeitung studieren konnte.
Kopfgeld für den Hurenkiller, titelte das Blatt am heutigen Tage geschmackvoll. Was folgte, war eine gründliche Abrechnung mit der Polizei im Allgemeinen und eine besonders fiese Diskreditierung der ermittelnden Beamten, allen vorweg Hauptkommissar Wegner.
Beim gestrigen Besuch des Chefredakteurs hatte Wegner diesem zum Schluss sogar seine Dienstwaffe an den Kopf gehalten. Zu viele Ermittlungsdetails waren an sein niveauloses Revolverblatt durchgesickert. Jeder Artikel der letzten Wochen machte es dem Täter leichter und leichter, die Ermittlungsarbeiten vorauszusehen und sich somit der Verhaftung zu entziehen.
Als dieser Bordstein-Paparazzo Einsicht in die Ermittlungsakten forderte, platzte Wegner endgültig der Kragen. Kurz darauf hatte er den Schmierfinken gepackt, vom Stuhl hochgerissen und an die Wand gedrückt.
»Es sind doch nur Nutten«, meinte dieser Mistkerl dann auch noch zu seiner Verteidigung vorbringen zu müssen.
Manfred Wegner war mit seinen gut fünfzig Lenzen zwar kein knackiger Jüngling mehr, aber er hatte noch bis vor zehn Jahren geboxt. Diese Fähigkeiten stellte er auch heute noch gerne unter Beweis, insbesondere bei menschlichem Abfall, der es nicht besser verdient hatte.
Das Nasenbein dieses vermeintlichen Starreporters quittierte seinen Faustschlag mit einem Geräusch, das so klang, als bräche ein dicker Ast. Wildes Geschrei folgte, so dass noch zwei weitere Kollegen aus dem Nebenbüro hinzueilen mussten, um die Streithähne zu trennen. Stefan Hauser hatte geistesgegenwärtig immer wieder »Angriff auf einen Beamten« gebrüllt. Dem Schmierfinken war klar, dass er gegen vier Polizeibeamte – deren Aussagen sich zweifellos wie ein Ei dem anderen gleichen würden – nichts ausrichten konnte. Blutend taumelte er aus dem Raum, versäumte es aber nicht, nasal wie eine Ente quakend, für Wegner noch eine freundliche Ankündigung zu hinterlassen: »Ich schreib dich in Grund und Boden, du brutales Schwein!«
Lachend ließ der Hauptkommissar die Zeitung auf den Tisch knallen. Jetzt allerdings fiel sein Blick auf das vertrocknete Käsebrötchen. Fast zu Tränen konnte ihn dieser Anblick eines geschmacklosen Milcherzeugnisses auf pappigem Backwerk rühren. Nicht zu vergessen die bräunlich-grüne Salat-Attrappe, die das traurige Bild abrundete.
»Herta«, brüllte Wegner die Kantinenfrau durch den ganzen Raum an, »dieses Brötchen lag doch schon letzte Woche in deiner Auslage, oder etwa nicht?«
Das gute Dutzend Beamte bog sich vor Lachen. In der Dienststelle hieß es, dass die Gefahren auf der Straße noch zu bewältigen seien, ein Essen in der Kantine jedoch auch den stärksten Bullen umhauen könne.
»Du meckerst seit zwanzig Jahren Manfred ... und wie man sieht, lebst du ja noch«, pöbelte die korpulente Frau zickig zurück.
»Aber auch nur, weil ich zweimal in der Woche auswärts esse«, antwortete Wegner ihr grimmig. Doch bevor diese freundliche Unterhaltung rund um die Gaumenfreuden der Kantine fortgesetzt werden konnte, unterbrachen wüste Schreie vom Flur die Debatte.
»Was ist denn da los?«, brummte Wegner und erhob sich, für seine Verhältnisse sogar recht flink. »Los, alle raus! Da braucht jemand Hilfe.« Die Beamten sprangen auf und eilten hinter Wegner auf den breiten Hauptflur des Reviers, von dem aus alle weiteren Gänge abzweigten. Von Schreien und wilden Flüchen begleitet, sahen sie eine Handvoll ihrer Kollegen, die einen wahren Riesen zu bändigen versuchten. An jedem seiner Arme hingen zwei Polizisten, die dabei wie Puppen wirkten, an denen der Wind zauste. Ein weiterer Beamter hatte diesen Koloss von hinten in den Schwitzkasten genommen; er baumelte auf dessen Rücken wie ein kleines Kind auf seinem großen Bruder. Der Riese hingegen gab den traurigsten Anblick ab, der Wegner in seiner Dienstzeit je zu Augen gekommen war: Er weinte bitterlich und schrie so verzweifelt, dass man ihn am liebsten getröstet hätte, anstatt ihn zu verhaften. Wobei das Blut, das an seiner ärmlichen Kleidung klebte, nicht besonders vertrauenerweckend wirkte.
Jetzt trat ein weiterer Beamter dem armen Kerl in die Kniekehle, was den Hünen abrupt zum Einknicken zwang. Wie ein Rudel hungriger Wölfe stürzte sich ein gutes Dutzend Uniformierter auf den Fleischberg und schaffte es tatsächlich, ihn mit Handschellen und Kabelbindern zu fesseln. Seine Bewegungen wurden träger und kraftloser. Sein weinendes, hilfloses, ja, an Kinderlaute erinnerndes Winseln, nahm allerdings noch zu.
»Holen Sie sofort einen Arzt!«, schrie Wegner den Schichtleiter an, »der Mann braucht eine Beruhigungsspritze, na los!«
Fast grotesk wirkte die Situation. Wegner fühlte sich an Schulhofbalgereien erinnert. Wie ein Haufen Erstklässler turnten seine Kollegen auf diesem Koloss herum, der im Vergleich eine fünfte, nein eher eine zehnte Klasse zu besuchen schien. Als jetzt einer der Beamten wie aus dem Nichts an die Wand flog, beschlich Wegner eine sonderbare Vermutung. Diese unkontrollierte Kraft, diese hemmungslose Brutalität – konnte das der Hurenkiller sein?
Mit nachdenklicher Miene saß Wegner an seinem Schreibtisch und beobachtete Rex beim Zerkauen eines Schweinsohres. Bis heute Mittag würde der alte Haudegen damit beschäftigt sein. Seitdem eine Nachbarin ihm diesen Tipp gegeben hatte, blieben zumindest seine Schuhe von Attacken weitestgehend verschont.
Wegners Gedanken kreisten um diesen Riesen und darum, ob es tatsächlich möglich war, dass ihnen Kommissar Zufall zu einem überraschenden Fahndungserfolg verholfen hatte. Es schien fast zu einfach und zu schön, als dass es wahr sein konnte. Sollte das Morden mit dieser Verhaftung endlich ein Ende finden? Und was hatte den Mann dazu gebracht, so viele unschuldige Frauen auf derart bestialische Art und Weise zu töten? Der Kerl machte einen so gutmütigen und eher hilflosen Eindruck.
Es klopfte an der Tür.
»Herein«, brummte Wegner.
»Polizeimeister Gieler. Morgen, Herr Hauptkommissar.«
»Morgen.« Wegner schaute nicht einmal auf, sondern beobachtete unverändert Rex, der sich auf die Seite gelegt hatte und weiterhin das Schweinsohr zermalmte.
»So schnell sieht man sich wieder«, fuhr der leicht verunsicherte junge Beamte fort.
Jetzt erst sah Wegner müde auf und erkannte einen der beiden Streifenpolizisten, die ihn in der vergangenen Nacht anfangs so rüde behandelt hatten. »Ach, Sie sind’s«, begann er nun kaum freundlicher. »Setzen!«
Der Streifenbeamte berichtete davon, wie sein Kollege und er – kurz vor Ende ihrer Schicht – auf diesen Berg von Mann getroffen seien. Zuerst hatten sie noch an einen Landstreicher oder Obdachlosen gedacht. Dann allerdings sei ihnen im Vorbeifahren das Blut an seiner Kleidung aufgefallen. Wie unter Drogen, völlig unkontrolliert, aber ohne jegliche Angst oder Vorsicht sei der Mann minutenlang Richtung Billbrook gewandert. Als drei weitere Funkstreifen zur Verstärkung eintrafen, wagten die Beamten gemeinsam den Zugriff.
»Der Streifenwagen in dem wir den Kerl hergebracht haben, ist auf jeden Fall reif für den Schrott!«
»Hat er nach seiner Festnahme irgendetwas gesagt?«, wollte Wegner wissen.
»Er hat die ganze Zeit geschrien und geflucht, aber verstanden hab ich kein einziges Wort.«
Nachdenklich fuhr sich Wegner durch das lichte Haupthaar. »Konnten Sie die Sprache wenigstens verstehen?«
Der Beamte zuckte mit den Schultern. »Irgendwas Slowakisches oder Serbisches, vielleicht Rumänisch, aber auf keinen Fall Polnisch … das hätte ich erkannt.«
»Gut, das war’s! Sollte ich weitere Informationen brauchen, dann melde ich mich. Geben Sie der Frau im Geschäftszimmer Ihre Kontaktdaten.«
»Herr Hauptkommissar ...«
»Was ist denn noch?«, brummte Wegner.
»Machen Sie den Kerl fertig, bitte. Ich habe die Bilder von den Morden gesehen. Machen Sie das Schwein einfach fertig.«
Anstelle einer Antwort bekam der Streifenbeamte nur ein Nicken, mehr nicht.
Kurze Zeit später betrat Hauser das Büro und begann sofort mit mürrischer Stimme: »Sag mal, hat Rex gefurzt oder warum stinkt es hier so?
Wegner sprang auf. »Stefan«, fauchte er mit drohender Geste, »ich mag dich und das weißt du ganz genau. Aber wenn wir beide kein anderes Thema mehr haben als die Verdauung meines Hundes, dann solltest du dir eine neue Abteilung suchen!« Ohne ein weiteres Wort ließ er sich auf seinen Stuhl zurückfallen und warf wütend einen dicken Aktenhefter an die Wand. Rex quittierte das Gepolter gleich mit lautem Bellen.
Jetzt setzte sich auch Hauser an den Schreibtisch gegenüber und holte tief Luft. »Tut mir leid, Manfred«, begann er leise und geknickt, »meine Stimmung ist nicht die beste, sorry. Ich hab Streit mit Jens und dann diese ständigen Anrufe in der Nacht ... der fehlende Schlaf, alles eben.«
»Dann lass das nicht an Rex und mir aus! Oder glaubst du vielleicht, dass ich es genieße, seit drei Tagen auf diesem dreckigen Scheißhaus nebenan kacken zu gehen?«
»Wir reißen uns beide zusammen. Ich möchte keine neue Stelle, dafür mag ich deine gewählte Ausdrucksweise viel zu sehr.« Jetzt stand Hauser auf, ging um den Schreibtisch herum und streckte Wegner die Hand entgegen.
»Ist gut, Stefan. Ich will auch nicht auf die Tucken-Witze und dein aufdringliches Parfum verzichten. Sag mir lieber, was wir über diesen Rübezahl wissen.«
Ohne auf die letzte Beleidigung einzugehen, begann Hauser damit, die ersten Ergebnisse bedeutungsvoll zu präsentieren: »Der Mann ist Rumäne, das hat ein anderer aus der Arrestzelle daneben gleich festgestellt. Der Typ konnte den Fleischberg sogar ein wenig beruhigen, indem er ihm Schlaflieder in seiner Muttersprache gesungen hat.«
»Manchmal komm ich mir hier wie im Irrenhaus vor«, kommentierte Wegner gefühlvoll.
»Die Beamten haben geschätzt, dass der Typ über zwei Meter groß ist und etwa hundertachtzig Kilo wiegt. Das ist nicht ein Mann, das sind zwei Männer, die sich eine Hose teilen.«
»Habt ihr außer seiner Konfektionsgröße auch irgendwas Brauchbares herausgefunden? Ich möchte mit diesem Ungeheuer keinen Einkaufsbummel machen, sondern ihm fünf Morde nachweisen!«
»Du bist ein Arschloch, Manfred.«
»Wie war das eben noch mit der gewählten Ausdrucksweise?«
Hauser schüttelte träge den Kopf und fuhr danach nur noch lustlos fort. »Nach der Beruhigungsspritze habe ich diesem Gorilla ein paar Haare ausgerissen und sie dem Doc zur Analyse überreicht.«
»Und?«
»Der hat gesagt, dass er sich selbst ohne DNA-Test sicher sei.«
»Sicher worüber?«
»Dass wir den Richtigen haben, was sonst?«
Am nächsten Morgen wachte Wegner auf und fühlte sich zum ersten Mal seit
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Texte: Thomas Herzberg
Bildmaterialien: Bildmaterialien: Titelbild: © neal joup / photocase.de Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de
Korrektorat: Michael Lohmann – worttaten.de
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2014
ISBN: 978-3-7309-7872-6
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