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1. Explosiv

Genau so plötzlich, wie das Beben gekommen war, war alles wieder ruhig. Nora griff nach der Pistole und rappelte sich auf. Silvan, der sich an einem Sitz festgehalten hatte, fasste ihren Arm und half ihr hoch. Verwirrt sah sie ihn an. „Was war das?“

„Liara hat das Haus weggesprengt“, erklärte er gelassen.

„Das Haus?“

„Ja.“

„Das ganze Haus?“

„Hm, vielleicht sind noch ein paar Trümmer übrig geblieben.“

Seine Antwort verwirrte sie noch mehr. „Das ist doch verrückt. Warum sollte sie das tun?“

„Um hier rauszukommen.“ Er warf ihr einen schrägen Blick zu. „Andernfalls wären wir jetzt tot. Es gab kein Garagentor. Sie musste es früher als geplant tun, deshalb war es etwas holprig.“

Nora verstand nur noch Bahnhof. „Sie hatte das geplant?“

„Ja.“

„Warum?“

„Um in ihre Heimat zurückzukehren.“

„Aber wir sind hier doch in einem Bunker oder so was und draußen hat es eine Explosion gegeben.“

Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. „Eine Explosion schon …“

„Was ist los?“

„Wir fliegen.“

„Was?“

Silvan nickte bestätigend. „Geh nach vorne.“

Sein Finger zeigte in Richtung Kanzel. Nora hastete mit noch weichen Knien los. Liara und Michael saßen dort mit ihr zugewandtem Rücken in den beiden Sesseln vor einer Steuerkonsole. Sie blickten nur flüchtig auf. Liara gab hochkonzentriert Befehle ein, während Michael staunend durch Fenster, die bis zum Boden reichten, nach draußen sah.

Vor ihnen öffnete sich eine kristallklare Weite. Am unteren Rand sah Nora etwas, das aussah wie das fußballgroße Modell der Erde. Es wurde so schnell kleiner, als würde es sich mit rasender Geschwindigkeit von ihnen wegbewegen. Anders konnte es nicht sein. Noch wollte sie die Wahrheit, die sich ihr aufdrängte, nicht zulassen. „Was soll das alles?“ Ihre Stimme zitterte.

Liara drehte sich zu ihr um. „Verschwinde von hier!“

Nora ignorierte ihren harschen Rausschmiss. Das Ding, das aussah wie die Erde, war jetzt so winzig wie eine Murmel. Dann verschwand es. „Ich versteh das nicht.“

Silvan trat hinter sie. „Wir werden bald die Grenze des Sonnensystems hinter uns lassen.“

„Das kann nicht sein.“

Niemand sagte etwas.

„Das hier muss ein Alptraum sein“, flüsterte Nora.

Silvan legte eine Hand auf ihre Schulter. „Es ist ein Alptraum. Aber niemand von uns wird je daraus erwachen.“

Liara stand auf und stellte sich vor Nora. „Nun zu dir.“

Nora sah in ihr Gesicht. Es war wie aus Eis gemeißelt, hart, kalt und gefährlich. Nur das gelbe Glühen in den sonst grünen Augen schien sie zu verbrennen. Sie trat einen Schritt zurück.

Auf Liaras Gesicht erschien ein bissiges Lächeln. „Du hast keine Ahnung, was du angerichtet hast.“

Nora nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Wenn du nicht versucht hättest, Silvan wegen irgend so einer bescheuerten Sache umzubringen, wäre das alles nicht passiert.“

Liara trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Sie wich zurück, bis eine Wand aus Metall sie stoppte. Nur wenige Zentimeter trennten die Frauen voneinander. Nora wusste, dass sie Liara nicht nur körperlich unterlegen war. Die Macht, die von dieser Irren ausging, machte ihre Knie weich wie Pudding und auch ihre Hand mit der Pistole hing herab. Angstschweiß brach aus allen ihren Poren.

Als Liara die Hand hob, ergriff Silvan ihren Arm. Sie riss sich sofort los. „Was fällt dir ein, du seelenlose Kreatur“, fauchte sie ihn an.

„Ich habe vielleicht keine Seele, aber ich werde Nora bis zum letzten Tropfen ihres Blutes, das in mir fließt schützen. Vor jedem.“

„Du vergisst, mit wem du redest!“

„Nein, das vergesse ich nicht, Herrin.“ Jede Silbe kam hart und betont aus Silvans Mund. „Ganz bestimmt nicht. Aber du solltest nicht vergessen, gegen wen du dich stellst.“

„Glaubst du etwa, du kannst mir ernsthaft drohen?“, hob Liara die Stimme.

„Ja, das glaube ich. Aber ich bitte dich, zwing mich nicht, etwas zu tun, das keiner von uns will.“ Auch in seinen Augen war das gelbe Glühen. Aus seiner Haltung sprach eine deutliche Warnung.

Liara trat einen Schritt zurück und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Verschwindet. Geht mir aus den Augen!“ Sie drehte sich abrupt um. Mit einer eckigen Bewegung ließ sie sich in den Sessel fallen. Ihr Blick fiel nach draußen ins Nichts.

Silvan nahm Noras Hand. Sie blickte in seine Augen. Das Glühen war daraus verschwunden. „Komm“, sagte er und zog sie mit sanftem Nachdruck aus der Kanzel.

Michael sah Liara betroffen an. Sie hatte ihn im Großen und Ganzen in ihre Pläne eingeweiht. Trotzdem überraschte ihn nicht nur das vollkommen, was in den letzten Stunden geschehen war, sondern auch Liaras Reaktion darauf. Sie, die sonst die Selbstbeherrschung in Person war, schien mit jeder Minute mehr die Kontrolle über sich zu verlieren. Es war, als übernähme der Wolf die Herrschaft über ihr Denken und Tun. Wenn das geschähe, das wusste er inzwischen, würde alles in einer Katastrophe enden. Zwei Wölfe auf so engem Raum waren schon jetzt eine hochexplosive Mischung. Es musste nur noch eine Winzigkeit hinzukommen und die kritische Masse war erreicht.

Er erhob sich. Schweigend trat er hinter Liara und legte seine Hände auf ihre Schultern. Mit in die Unendlichkeit gerichtetem Blick spürte er, wie sich ihr Atem unter seiner Berührung beruhigte.

Seine Wärme durchdrang sie. Sie hob eine Hand und legte sie auf seine. „Ich versteh das nicht“, flüsterte sie kopfschüttelnd. „Ich versteh das einfach nicht.“

Seit sie die Grenze zwischen Kindheit und Jugend überschritten hatte, waren die Gabe des Drachen und die Kraft des Wolfes in ihr gewachsen. Niemand mehr hatte ihr gefährlich werden können.

Außer ihm. Michael. Bevor sie ihn sich genommen hatte, war er alles andere als ein Held oder Kämpfer gewesen. Doch nach seiner Entführung hatte er sie bezwungen. Mit seinem Trotz. Mit seinem wahnwitzigen Mut, freiwillig zu ihr zurückzukehren. Mit seiner Lebenslust und vor allem mit seiner Liebe. Nach den Tod ihres Vaters waren er und Fehild die einzigen Menschen gewesen, die ihr Dasein mit Lachen und Leben erfüllt hatten. Seit auch ihre Schwester bei einem selbstverschuldeten Unfall ums Leben gekommen war, durchbrach nur er die Einsamkeit, die ihre Seele wie ein schwarzes Loch zerriss.

Sie dachte an ihre Mutter und Großmutter. Beide waren so anders gewesen als sie selbst. Herrscherinnen vom Scheitel bis zur Sohle, furchtlos, selbstbewusst und stark. Nie hatten sie an sich gezweifelt. Sie hatten ihre Anhänger mit harter Hand und Weisheit geführt und die Gemeinschaft selbst dann noch zusammengehalten, nachdem sie und ihre Getreuen durch Intrigen und Verrat in ein fernes Exil gezwungen worden waren. Es war ihnen gelungen, den Vertriebenen eine neue Heimat geschaffen, in der sie abgeschottet von den ihnen fremden Einheimischen lebten, und auf ihre Rückkehr in ihre Heimatwelt warteten. Sie hatten ihr eine Erziehung angedeihen lassen, die auch aus ihr eine eherne Herrscherin hatte machen sollen. Alles war darauf ausgerichtet gewesen, mit ihren Anhängern in ihre Heimat zurückzukehren, um dort erneut die Herrschaft über das Reich anzutreten. Es war das angestammte Recht und die Pflicht ihrer Familie, dem sie alles andere hatte unterordnen müssen. Doch sie, Liara, die Letzte aus der Linie sowohl des Drachen als auch des Wolfes, hatte kläglich versagt.

Ihre Anhänger auf der Erde waren tot oder dort in der Fremde verloren. Die Vorbereitungen für ihre Rückkehr waren auch in ihrer fernen und nie gesehenen Heimat lange noch nicht abgeschlossen. Zu viele waren auch dort durch Verrat umgekommen. Die Macht auf ihrem Heimatplaneten zurückzugewinnen erschien aussichtsloser denn je.

Michael schwieg. Was hätte er auch sagen können? Er ahnte, was in Liara vorging. Als sie sprach, hörte er die Verzweiflung in ihrer Stimme. „Dieses kleine Miststück hat alles zunichte gemacht. Jahrzehnte des Wartens und der Hoffnung.“

„Sie trägt keine Schuld.“

Liara senkte den Blick. „Ich hätte besser aufpassen müssen.“

„Es war Schicksal. Eine Verkettung unglücklicher Umstände.“

„Ich war nachlässig. Dabei ist es ihnen schon einmal gelungen, diesen Attentäter in mein Haus einzuschleusen.“

Aus Michaels Erinnerung blitzte die Erinnerung an jenen Abend hervor, als plötzlich ein Mann vor ihm aufgetaucht war, um ihn zu töten. Liara hatte sich dem von Fehild gedungenen Attentäter entgegengestellt. Zum ersten Mal hatte er die ganze dämonische Kraft des Wolfes in ihr erkannt. Ihre Augen waren in gelber Glut entflammt. Geleitet von einem uralten Instinkt waren die Grenzen ihrer Menschlichkeit zersplittert und sie hatte den Mann, der durch den Verrat ihr eigenen Schwester ins Haus gelangt war, mühelos überwältigt. Obwohl sie sein Leben verteidigte, hatte er sie nur mit Schrecken anblicken können, selbst noch, als dieser Wahnsinn vorüber gewesen war. Aber er hatte auch mitangesehen, wie Fehild, die jenes Erbe nicht in sich trug, den Mann eigenhändig getötet hatte, um zu verhindern, dass er ihren Verrat preisgab. In jener Nacht hatten sie von einer abgründigen Leidenschaft getrieben das Kind gezeugt, das jetzt in Liara heranwuchs.

„Ich hätte wissen müssen“, fuhr Liara fort, „dass sie uns immer noch beobachteten und nur auf die Gelegenheit gewartet haben, uns zu überrumpeln. Jetzt ist der eine Teil meiner Leute tot und der andere ist einer Welt ausgeliefert, zu der sie nicht gehören.“

„Es ist Krieg.“

„Ich versteh das nicht. Wie konnte ich nur so versagen! Diese Frau, Nora, sie hat keinerlei Ausbildung, die sie zu einer ernstzunehmenden Gegnerin macht. In Ihrer Wohnung gab es nicht den kleinsten Hinweis auf ein Kampfsporttraining oder dass sie an irgendwelchen Waffen ausgebildet worden ist. Und trotzdem bringt sie mich um den Verstand.“

Michael sah, dass sie immer noch verwundert den Kopf schüttelte und sich dabei bemühte, ihren wachsenden Zorn zu unterdrücken. Für jeden Außenstehenden und selbst in den Augen ihrer Anhänger wirkte sie diszipliniert bis hin zur emotionalen Kälte. Nur er wusste, wie es tief in ihr aussah, welche Leidenschaften sich unter ihrer eiskalten Oberfläche verbargen. Es war ihr archaisches Erbe, die Leidenschaft des Drachen und der Instinkt des Wolfes, das sie beherrschen wollte, und das nicht nur gefährlich für ihre Gegner war, sondern auch für sie selbst. Sie wäre nicht die erste, die davon zur Selbstzerstörung getrieben wurde. Trotzdem konnte er kaum fassen, wie sehr ihre Selbstbeherrschung mit dem Erscheinen von Silvan und Nora in sich zusammengefallen war. „Sie ist zurückgekommen und hat dir das Leben gerettet. Dir, mir und unserem Kind.“

Liara antwortete nicht. Sie hob den Blick und starrte in die Unendlichkeit vor ihr. Ihre Finger schlossen sich fester um Michaels Hand.

„Wir werden das Beste aus dem machen, was kommt“, versprach Michael. Er legte seine Wange auf ihr Haar.

„Es wird hart werden.“

„Kaum härter als das, was deine niedliche kleine Schwester mir angetan hat. Ich habe ihre Gehirnwäsche überstanden, da kann mich irgend so ein Krieg nicht schrecken.“

Liara traten Tränen in die Augen. Fehild. Geliebte Schwester. Geliebtes, mörderisches Biest. „Diese Frau erinnert mich so sehr an Fehild, ihre braunen Haare, ihre Art, sich zu bewegen und zu sprechen, ihr Dickkopf, ihr Mangel an Respekt.“ Sie hatte auch nach dem Attentat den Verrat ihrer kleinen Schwester nicht wahrhaben wollen und den Gedanken daran vehement verdrängt. Fehild war neben ihrem Vater und Michael der einzige Mensch gewesen, der ihre Existenz mit Leben jenseits von Pflichterfüllung und Loyalität erfüllt hatte, mit dem sie unbeschwert hatte lachen und streiten dürfen. Sie hatte ihr vertraut und sie geliebt, selbst nachdem die Indizien für ihren Verrat unübersehbar gewesen waren. Der Attentäter, hatte nur mit ihrer Hilfe ins Haus gelangen können. Wochen später war Fehild, die Michael nicht hatte ausstehen können, betrunken und streitsüchtig in ein Tranchiermesser gefallen, das er in der Hand gehalten hatte. Sie war verblutet, bevor Liara ihr hatte sagen können, dass sie ihr verziehen hatte. Sie hatte ihren Tod immer noch nicht verwunden, auch wenn Michael und sie jetzt tot wären, wäre die Intrige gelungen.

„Ich wollte dir nicht wehtun“, erklärte Michael. „Es tut mit leid.“

Liara schüttelte den Kopf. „Das muss es nicht. Du hast ja Recht.“

„Was wirst du mit ihnen tun?“, fragte Michael vorsichtig.

„Keine Sorge. Gegen Silvan kann ich nichts unternehmen. Noch nicht. Noch ist er zu stark. Und solange er irgendwie kann, wird er Nora schützen.“

„Du würdest ihr sonst tatsächlich etwas antun?“

Liara lächelte traurig. „Ich bin wütend auf sie und auf das, was durch sie in Gang gesetzt worden ist. Aber ich weiß, dass all das nicht ihre Absicht war. Solange sie keine Gefahr für uns darstellt, werde ich ihr nichts tun.“

„Kann sie eine Gefahr für uns werden?“

„Wer weiß das schon.“ Da war eine Ahnung. Sie versuchte ein Lächeln. „Keine Angst, da ist immer noch dieser Wachhund, der sie beschützt.“

„Wohl eher ein Wachwolf.“

„Und mit Leckerchen lässt der sich nicht bestechen.“

2. Wahnsinn

 Die Tür glitt automatisch vor Silvan zur Seite. Nora folgte ihm. Sie betraten einen nüchternen fensterlosen Raum, in dem es mehrere Tische und gepolsterte Sitzecken in gedeckten Farben gab, aber nichts Dekoratives oder Persönliches. Alles war auf das Nützliche und Notwendige beschränkt. An jeder Wand hing ein großer Minitor. Das hier war offensichtlich die Messe von dem Ding, in dem sie sich befanden, und sie war für deutlich mehr als vier Personen ausgelegt.

Silvan setzte sich an einen der Tische und forderte Nora mit einer Handbewegung auf, es ihm gleichzutun. Unwillig tat sie es, aber so, dass sie die Tür im Blick hatte.

Ihre Finger zitterten noch immer, als sie ihre Hände auf die metallisch glänzende Tischplatte legte. Die Erkenntnis, wo sie sich befand und was gerade mit ihr geschah, setzte sich in ihrem Verstand durch.

Silvan beobachtete sie schweigend, als sie den Kopf in den Nacken legte. Eine Träne floss aus ihren geschlossenen Augen über ihre Schläfe und verlor sich in ihren Haaren. „Werde ich sie je wiedersehen?“

„Wen?“

„Die Erde?“

„Keine Ahnung.“

„Was passiert, wenn Liara ihr Ziel erreicht, falls wir dann überhaupt noch leben.“

„Du wirst die Landung miterleben. Sie wird sich nicht trauen, dir bis dahin etwas anzutun.“

„Und danach?“

„Das wissen nur die Götter.“

„Das heißt, ich werde dann sterben.“

„Wieso bist du dir da so sicher?“

„So viele Möglichkeiten gibt es nicht. Wenn Liara an der Macht ist, werden ihre Anhänger erst dich und dann mich töten. Erzähl mir jetzt nicht, dass du stärker bist als sie alle. Und wenn Liaras Gegner uns erwischen, werden sie ganz bestimmt nicht erst fragen, wer von uns auf Liaras Seite ist und wer nicht, bevor sie uns umbringen. Oder siehst du das anders?“

„Die Zukunft ist unbestimmt“, wich Silvan aus.

„Also nicht. Ich hoffe nur, dass es schnell geschieht.“ Nora sah ihn eindringlich an. „Silvan?“

„Ja?“

„Wirst du mich töten, wenn es drauf ankommt?“

Er verstand sofort, was sie von ihm verlangte. „Wenn du es mir befiehlst.“

„Und wenn nicht? Wenn ich nicht mehr in der Lage dazu bin?“

„Dann nicht.“

„Und wenn ich es jetzt befehle?“

Er schwieg.

„Versprich es mir. Versprich mir, dass du mich tötest, bevor ich gefoltert werde.“

„Wenn du es befiehlst.“

„Ein Versprechen kann man nicht befehlen. Du musst es mir versprechen. Bitte.“

„Das kann ich nicht.“

„Aber zusehen, wie ich vergewaltigt werde, wie man mich foltert, verstümmelt und wie ich wahnsinnig vor Angst und Schmerz schreie, das kannst du?“

Er sah in ihr bleiches Gesicht und wusste, wie falsch das alles hier war. Sie hatte nichts von dem, was ihr widerfahren war und was vielleicht noch auf sie zukam, verdient. Er hatte sie in dem Moment in diesen Wahnsinn hineingezogen, als er sie vom Straßenrand aus, verborgen hinter Gebüsch, das erste Mal gesehen hatte.

Die Verbindung zu seinem Schöpfer war durch den Bluteid gekappt worden, doch er hatte sich nicht ins Nichts aufgelöst. Geblieben war eine abgrundtiefe Leere, die schlimmer war, als es das Verlöschen seiner Existenz gewesen wäre. Jetzt war sie tiefer und schwärzer als jemals zuvor. Seine Augen fanden die von Nora. Ihr intensiver vorwurfsvoller und fordernder Blick füllte die Leere aus. Wie nur sollte er sie töten können!

Wütend sprang er auf. „Nein. Das kann ich nicht.“ Er rannte in Richtung Tür.

„Warte“, rief sie ihm hinterher. „Versprich es mir!“

Für einen Moment verharrte er. „Ich verspreche es“, presste er hervor, bevor sich die Tür hinter ihm schloss. Es war, als bohre sich eine glühende Klinge durch seinen Magen.

Nora starrte auf die geschlossene Tür. Es gab keine Rettung für sie. Sie legte ihr Gesicht in ihre Hände und weinte.

 

Liara gab die letzten Steueranweisungen ein. „Jetzt müssen wir nur noch die Zeit bis zu unserer Ankunft überstehen“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Michael.

„Glaubst du, es wird Probleme geben.“

„Mehr als genug.“

„Silvan?“

„Beide.“ Sie stand auf. „Ich muss nachdenken. Alleine.“

Michael sah ihr hinterher, als sie die Kanzel verließ. Ihr Gang war nicht nur wegen ihrer Schwangerschaft schwerfällig. Die Last der Verantwortung ruhte schwer auf ihr.

Nora hatte seit Stunden weder etwas gegessen noch getrunken. Hier in der Messe sah sie nichts. Mit vom Weinen noch verquollenem Gesicht stand sie auf und ging auf die Tür zu. Sie glitt zu ihrer Erleichterung zur Seite. Man hatte sie nicht eingesperrt.

Im Korridor sah sie sich nach beiden Seiten um. Er schien durch den ganzen Flieger zu laufen. Rechts und links gingen Türen ab. Sie waren geschlossen. Niemand war zu sehen.

Sie fragte sich, wo Silvan war. Seine Nähe gab ihr wenigstens einen Anflug von Sicherheit. Sie erinnerte sich, in welcher Richtung die Kanzel lag. Dorthin wollte sie nicht. Wahrscheinlich war diese Irre noch dort und ihr wollte sie ganz bestimmt nicht begegnen.

Sie wendete sich in die andere Richtung und ging in die Stille lauschend an den Türen vorbei, bis sie die letzte erreichte. Einen Moment blieb sie davor stehen. Als sie sich ihr noch mehr näherte, öffnete sie sich automatisch.

Ihr Herz schlug hart gegen ihren Brustkorb, als sie sich in den Raum vorwagte. Liara saß in ein Buch vertieft, und ohne den Kopf zu heben oder ein Wort zu sagen, in einem Sessel. Sie musste Nora bemerkt haben, aber sie blätterte nur mit einer langsamen und gesetzten Bewegung eine Seite um. Ihre fehlende Reaktion war bedrohlicher, als wenn ihre Augen Nora gelb, grün oder in welcher Farbe auch immer angestarrt hätten. Sie wusste, diese Frau dort war noch nicht fertig mit ihr und das, was zwischen ihnen war, war mehr sein als bloß ein Zickenkrieg. Wahrscheinlich schützte nur Silvan Anwesenheit sie vor ihrem Wahnsinn und ihrer Rache.

„Was willst du“, durchbrach Liaras Stimme die Stille.

„Ich muss etwas essen und trinken“, gab Nora verärgert zurück.

Selbst an einem heißen Tag Sommertag würde Liara eine Kälte abstrahlen, die andere frösteln ließ. Jetzt machte sie nur eine herablassende Handbewegung in Noras Richtung. „Frag deinen Beschützer.“

„Ich weiß nicht, wo er ist.“

„Dann ruf ihn zu dir.“

„Soll ich hier etwa quer durch das Raumschiff brüllen?“

Endlich sah Liara auf. Nora sah Unglauben in ihrem Gesicht. „Du hast wohl überhaupt keine Ahnung?“

„Was soll das heißen?“

Liara seufzte gereizt. „Du musst konzentriert an ihn denken, dann kommt er zu dir wie ein gut abgerichteter Hund.“

„Verarschen kann ich mich selbst!“

„Tu das, wenn du möchtest. Aber gewöhn dir in meiner Gegenwart eine weniger ordinäre Sprache an. Sie ist unangemessen.“

Für wen, zum Teufel, hielt sich dieses selbstgefällige Miststück eigentlich? Es gelang Nora kaum ihren Ärger zu unterdrücken. Allerdings erschien ihr eine Auseinandersetzung mit Liara nicht gerade erstrebenswert. Sie konnte gegen diesen blasierten Eisblock nur verlieren, solange Silvan sie nicht vor ihr beschützte.

Obwohl Liara ihre Aufmerksamkeit anscheinend wieder ihrem Buch zuwandte, konzentrierte sie sich voll auf das, was Nora tat. Sie musste wissen, wozu sie fähig war und ob tatsächlich eine mentale Verbindung zwischen ihr und dieser Kreatur bestand.

Nora schloss die Augen und ließ Silvans Bild vor ihrem inneren Auge erscheinen. Es gelang ihr besser, als sie erwartet hatte. Trotzdem glaubte sie nicht, dass er tatsächlich auf ihren Ruf reagieren würde.

Zu ihrem Erstaunen öffnete sich wenige Sekunden später die Tür. Er betrat den Raum und sah sie fragend an.

Es muss ein Zufall sein, sagte sie sich, nur ein Zufall. Trotzdem teilte sie ihm mit, dass sie Hunger und Durst hatte. Sie hatte kaum ausgesprochen, als auch Michael den Raum betrat. Er war Silvan, der plötzlich durch das Raumschiff geeilt war, gefolgt. Fragend blickte er von einem zum anderen.

Silvan stand dicht neben Liara. Er berührte sie fast. Über seine Unverschämtheit verärgert, sah sie zu ihm auf. Seine Nähe machte sie reizbar. Wieder war da dieses gelbe, Gefahr verkündende Glühen in ihren Augen. „Geh weg von mir“, herrschte sie ihn an.

Noras Blick wanderte hektisch zwischen den beiden hin und her. Sie befürchtete eine Auseinandersetzung zwischen den beiden. Doch Silvan trat nur respektvoll zur zu Seite, ohne Liara aus den Augen zu lassen. Nora spürte ein unangenehmes Stechen in ihrem Magen.

„Liara, bitte“, sagte Michael sanft. Auch er befürchtete eine Kollision der beiden und dass seine Frau unterliegen würde. Liara sah ihn nicht an, aber etwas änderte sich in ihrer Haltung und Miene. Sie wollte nicht, was hier geschah, aber sie fühlte, dass sie die Kontrolle verlor. Zwei erwachsene Wölfe auf so engem Raum waren nicht miteinander verträglich. Ein Ausbruch stand kurz bevor.

Nora bewegte sich keinen Millimeter. Im Raum haftete eine zähe Stille, selbst ihr Atem dröhnte viel zu laut in ihren Ohren.

„Niemand hier hat gewollt, was geschehen ist, Liara“, setzte Michael mit immer noch sanfter Stimme nach. „Das hier ist einfach aus dem Ruder gelaufen.“

Das gelbe Glühen in Liara Augen wurde stärker. „Du glaubst gar nicht wie sehr. Jedenfalls für uns.“ Sie wies mit dem Finger wie mit einer Speerspitze auf Silvan. “Aber nicht für ihn!“

„Was soll das heißen?“

„Sie trägt seine Brut in sich.“

„Was?“

„Der Geist der Wälder hat seinen Samen in sie eingepflanzt.“

Nora traute ihren Ohren genauso wenig wie Michael. „Sie kennen sich kaum zwei Tage.“

„Dieser verfluchte Dämon verbindet sich immer nur mit Frauen, die bereit für ihn sind, und Silvan ist ein Teil von ihm. Er ist kein bisschen anders.“ Liara lachte bitter auf. „Wahrscheinlich waren die Belden nicht mehr gut genug für ihn. Jetzt erschafft er ein neues Geschlecht, das ihn mit noch mehr Blut versorgt.“

Michael starrte Silvan an. „Stimmt das?“

Dessen Augen hafteten weiter auf Liara. „Ja. Nora ist schwanger von mir.“

Alle starrten Nora an. Instinktiv legte sie ihre Hände auf ihren Bauch. „Das kann nicht sein.“ Sie sah Silvan flehentlich an. „Das kann einfach nicht sein. Bitte.“

Seine Umrisse verschwammen vor ihren Augen. Neue Konturen bildeten sich, zottig, schwarz, als wüchsen seine Haare wie ein Fell über seinen ganzen Körper. Aus seiner Kehle kam ein Grollen, dass ihre Knie noch weicher werden ließ, als sie es eh schon waren. Sie schüttelte den Kopf, um wieder klar zu sehen. Doch die Erscheinung verdichtete sich.

Auch Liara sah es. Ihre Gesichtszüge entgleisten, als sie aufsprang. „Er wird uns alle töten, Michael“, verkündete sie mit schneidender Stimme. „Dich. Mich. Unser Kind. Jeden, der seiner Brut gefährlich werden könnte.“

„Stimmt das?“, fragte Michael mit dünner Stimme.

„Ich werde euch nicht töten, solange Nora es mir nicht befiehlt“, antwortete Silvan und seine Erscheinung war wieder menschlich.

In diesem Moment sprang Liara auf Nora zu. Trotz ihrer Schwangerschaft war ihr Angriff der einer Kobra, präzise und tödlich. Nora sah nur einen Schatten auf sich zuschnellen.

Gekrümmte Hände berührten schon ihren Hals, als sie von ihr weggerissen wurden. Scharfe Fingernägel kratzten eine rote Spur in ihre Haut. Mit aufgerissenen Augen sah Nora Silvan an, der Liaras Haare gefasst hatte und ihren Kopf zurückbog. Seine andere Hand lag auf ihrer Schulter und presste sie fest an sich. Michael stürzte vor, um seiner Frau zu helfen. Silvan schubste ihn mit einer Hand weg wie einen lästigen Schoßhund.

Michaels taumelte zurück und fiel. Sein Kopf knallte mit einem lauten Knall gegen eine Tischplatte. Bewusstlos sank er zu Boden.

Nora starrte Silvan an. In seinen Augen detonierte eine gelbe Glut. Mit verzerrtem Gesicht senkte er seinen Mund auf Liaras Kehle, die vor Entsetzen nahezu erstarrt war. Nur ihre Hände schlugen verzweifelt gegen seine Brust. Ihre Gegenwehr erreichte nichts. Immer noch drückte seine Hand ihren Kopf zurück und legte ihre Kehle frei. Er fühlte das Vibrieren des heiß durch die Halsschlagader seiner Beute rasenden Blutes. Alles um ihn herum versank in der Gier, es auf seiner Zunge zu schmecken, zu spüren wie es pulsierend in seinen Rachen schoss. Seine Zähne waren schon an ihrem Hals, als er einen Schrei hörte.

„Nein Silvan, tu das nicht!“

Er verharrte mitten in der Bewegung, Sekundenbruchteile, bevor er Liara die Kehle aufgerissen hätte. Nora war hinter ihn getreten. Er spürte ihre Wärme genauso sehr wie die des Blutes, das in Liaras Halsschlagader direkt unter seinem Mund pulsierte.

„Töte sie nicht“, verlangte Nora mit zitternder Stimme, obwohl sie wusste, dass sie vielleicht den größten Fehler ihres Lebens machte.

Silvan hob seinen Mund langsam von Liaras Kehle, ohne sie loszulassen. Die Abdrücke seiner Zähne waren dort zu sehen und Verletzungen so winzig wie Nadelstiche. Von seinen Lippen verschmierte Blutstropfen färbten ihre Haut. Rot auf Weiß. Er leckte sich sie Lippen. Der Geschmack ihres Blutes lag auf seiner Zunge. Er war nicht so, wie er hätte sein sollen, sondern krank und verdorben. Er verspürte den Drang, es auszuspucken. Nie hätte er gedacht, dass Blut so widerlich schmecken könnte. Es war wie sein eigenes.

Das Zittern von Liara in seinen Händen erschien ihm falsch. Für ihn hatte es immer nur Ja und Nein gegeben, keine Zweifel, keine Bedenken. Jetzt war alles anders. Seine Wut auf Liara, der Zwang Nora zu gehorchen und sein Drang, beide Frauen zu schützen, waren unvereinbar. Es zerriss ihn.

Sein Blick traf Nora. Er sah, dass sie nicht weniger zitterte als Liara. Michael rührte sich, aber er beachtete ihn nicht. Von ihm ging keine Gefahr aus, obwohl er wusste, wie nahe dieser Mann der Frau stand, die er gerade fast getötet hätte.

Nora sah den Zwiespalt, der in ihm tobte. Und plötzlich war da der bohrende Wunsch, Liaras Leben und damit die tödliche Gefahr, die von ihr ausging, zu beenden. Ein einziger kurzer Befehl von ihr und das Blut dieser Frau würde fließen. Es war verlockend.

Wie von fern hörte sie Michaels Stimme. „Bitte, Nora, du darfst nicht zulassen, dass er sie tötet.“

Sie blickte ihn an, als sei sie gerade aus einem wirren Traum erwacht. In seinem Gesicht stand blanke Verzweiflung.

„Die Kinder, die ihr in euch tragt, sind von gleicher Art“, beschwor er sie immer noch auf den Boden hockend. „Wenn du Liara tötest, ist das ein Mord innerhalb einer Familie.“

Sie sah ihn hart an. „Seine Freunde kann man sich aussuchen, seine Familie nicht. Und sie hat gerade versucht, mich umzubringen.“

„Sie wusste nicht, was sie tat. Sie wollte nur ihr Kind schützen. Würdest du nicht das Gleiche tun?“

Sie gab keine Antwort.

„Nur Liara kann das Raumschiff fliegen“, erklärte Michael. „Wenn du sie tötest, werden wir alle sterben.“

Nora spürte die Augen aller drei auf sich gerichtet. Keiner von ihnen bewegte sich.

„Gibt es hier so etwas wie eine Zelle?“, fragte sie.

In Michaels Stimme hörte sie einen Anflug von Hoffnung. „Wir haben hier mehrere Räume, die nur von außen geöffnet werden können.“

„Bring die beiden dorthin“, befahl sie Silvan. „Wenn sie sich wehren, wenn sie auch nur den kleinsten Mucks machen, tötest du sie alle beide.“

Silvan nickte. „Wo sind sie?“, fragte er an Liara gerichtet.

Sie kniff nur die Lippen zusammen.

Er riss hart an ihren Haaren. „Wo?“

„Sie sind auf dem untersten Deck“, mischte Michael sich ein.

„Du gehst vor“, wies Silvan ihn an.

„Tu das nicht“, zischte Liara.

Michael warf ihr einen kurzen, entschuldigenden Blick zu. Dann verließ er mit eingesunkenen Schultern den Raum. Silvan, der immer noch Laras Haare gefasst hielt, zwang sie, ihm zu folgen, obwohl sie sich trotz Noras Warnung widersetzte. Ihre Gegenwehr verpuffte an ihm, ohne dass seine Schritte auch nur aus dem Takt kamen.

Nora ging hinter ihnen her. Jeden Augenblick erwartete sie, dass irgendetwas Unerwartetes geschehen würde, aber sie erreichten einen der Räume ohne Zwischenfälle.

Michael blieb vor der Tür stehen und starrte sie an.

„Mach sie auf“, forderte Silvan ihn auf.

„Tu das nicht“, schrie Liara. Silvan bemühte sich, sie nicht zu verletzen, während sie wie wahnsinnig nach ihm trat und schlug.

Michael sah erst sie, dann Nora mit einem verzweifelten Blick an. Dann betätigte er einen Schalter neben der Tür. Sie glitt zur Seite. Dahinter war ein leerer, matt erleuchteter Raum.

„Geh rein“, verlangte Silvan barsch.

„Was ist mit Liara?“

„Sie auch.“

„Lass sie los.“

Silvan antwortete mit einem knappen Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. „Geh rein und sie kommt dir bestimmt nach.“

Michael blickte sich hektisch um. Eine Gelegenheit zu fliehen gab es genauso wenig wie die Möglichkeit, Silvan zu überwältigen.

„Geh endlich“, hörte er Noras ungeduldige Stimme.

Michael betrat resignierend den Raum. Sofort drehte er sich um.

„Ganz rein“, wies Silvan ihn an. „Stell dich hinten an die Wand.“

Michael gehorchte nur widerwillig, ohne die anderen aus den Augen zu lassen. Als er den Raum durchquert hatte, ließ Silvan Liara los und gab ihr gleichzeitig einen leichten Schubs. Sie stolperte in den Raum, ohne zu stürzen. Hinter ihr schloss sich die Tür.

Sie rannte zu ihr, schlug und trat schreiend dagegen. Niemand öffnete sie.

 

3. Geständnisse

 Nora lehnte sich erleichtert mit dem Rücken gegen die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wich die Anspannung von ihr, jedenfalls ein Teil davon. Diese Irre und ihr Mann konnten ihr vorerst nichts mehr anhaben.

Sie öffnete sie Augen. „Und was jetzt?“

„Wir sollten zuerst einmal was essen und trinken“, schlug Silvan vor.

Nora nickte schwach. Eben noch hatte sie Liara danach gefragt, jetzt aber war ihr Appetit wie weggeblasen. Doch sie wusste, dass sie etwas zu sich nehmen musste. „Woher kriegen wir was?“

„Es gibt bestimmt Vorräte an Bord. Geh zurück in die Messe und ich mache mich auf die Suche danach.“

Wieder nickte Nora. Mit müden Schritten suchte sie sich den Weg. In der Messe ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und kreuzte die Arme auf der Tischplatte. Sie starrte die Wand an, ohne sie wirklich zu sehen. Ihr Herz zog sich zusammen. Wenn wirklich stimmte, was ihre Sinne erfasst hatten, befand sie sich, begleitet und beschützt von einem widernatürlichen Geschöpf, in einem Ding, das sie durch eine Unendlichkeit in eine fremde Welt brachte, während sie eine Irre und deren Gefährten gefangen hielt. Sie selbst musste bekloppt sein. Vielleicht war Michael der einzig Normale hier.

Die Tür öffnete sich. Sie sah gespannt auf. Silvan trug ein Tablett mit Essen und Trinken in seinen Händen. Nora fühlte jetzt wieder ihren Hunger und Durst. Sie warf einen misstrauischen Blick auf das, was Silvan vor sie hinstellte. Es sah genießbar aus und sie machte sich darüber her.

Auch Silvan hatte sich ihr gegenüber hingesetzt. Sie warf ihm einen überraschten Blick zu. Obwohl nun mal er das Monster hier war, aß und trank er wesentlich zivilisierter als sie.

Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. „Du isst wie ein hungriger Wolf.“

„Pass auf, sonst beiße ich dich“, antwortete sie mit vollem Mund.

Er hielt ihr seinen Arm hin. „Aber nicht zu fest, sonst trinkst du dein eigenes Blut.“

Sie schluckte und zog die Nase kraus. „Bäh.“

Silvan blickte auf den Tisch. „Was ist mit den anderen? Sie brauchen auch was.“

„Verdient haben sie das nicht.“

Silvan hob eine Augenbraue. „Nicht?“

Noras Miene wurde hart. „Sie wären tot, wenn ich den Typen, der Liara erwürgen wollte, nicht erschossen hätte, und zum Dank hat sie versucht mich umzubringen. Mein Mitleid hält sich in Grenzen.“

„Was ist mit dem Kind.“

„Mm“, gab Nora ärgerlich von sich. Silvan wusste, wie er sie breitschlagen konnte.

„Und was ist mit Michael?“, setzte er nach. „Er hat nie etwas gegen dich unternommen. Im Gegenteil.“

„Er ist der Lakai seiner Frau.“

„Ganz so einfach ist das nicht.“

„Wie dann?“

„Er ist der Einzige, der sie im Zaum hält. Sie hört auf ihn.“

„Er billigt, was sie tut.“„Nicht alles. Du hast doch gehört, was er gesagt hat, als wir nach dem Bluteid in Liaras Haus zurückgekommen sind, und er dachte, sie wäre es. Er war alles andere als einverstanden damit.“

„Er hat es zugelassen.“

„Er hatte keine andere Wahl. Außerdem ist es ja wohl verständlich, dass er versucht, seine schwangere Frau zu beschützen.“

„Du würdest ihr wohl alles durchgehen lassen.“

„Nicht alles. Wenn sie versucht, dir zu schaden, werde ich sie aufhalten.“

„Würdest du sie auch töten.“

„Wenn du mich nicht aufgehalten hättest, hätte ich sie eben getötet. Ja, notfalls oder auf deinen Befehl hin werde ich sie töten. Aber dazu wird es nicht kommen, wenn du sie verdursten lässt.“

„Bring ihnen etwas“, lenkte Nora ein.

 

Michael löste sich von der Wand. Liara sah ihm direkt ins Gesicht. „Es ist alles aus“, erklärte sie erstaunlich gefasst.

Michael war es nicht. Er umfing Liara mit seinen Armen und spürte ein leises Zittern, das ihre Gelassenheit Lügen strafte. Dass sie, die sonst immer so stark und überlegen gewesen war, verzweifelte, bestürzte ihn mehr, als er ihr zeigen durfte. Er drückte sie fest an sich. „Es wird alles gut werden“, sagte er. „Es wird alles gut.“ Seine Hand strich über ihr Haar.

Sie antwortete mit keiner Geste und keinem Wort.

„Keiner von den beiden hat vor, uns etwas zu tun,“ beteuerte er.

„Wieso bist du dir da so sicher?“ In ihrer Stimme war nichts Weiches, aber auch keine Panik.

Er legte eine Hand unter ihr Kinn und zwang sie mit sanftem Druck, ihn anzusehen. „Wenn sie es gewollt hätten, wenn Nora es gewollt hätte, wären wir schon längst tot.“

Sie legte jetzt doch ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Die Berührung gab ihr Kraft und neue Zuversicht. Er konnte spüren, wie sich ihr Körper aufrichtete.

Sie veränderte sich. Das, was in ihr vorging, machte ihm Angst. Wenn Liara losließ, was in ihr war, konnte es sie alle ins Verderben reißen. „Wir müssen hier raus“, sagte sie.

„Sei vorsichtig.“

„Das bin ich.“„Das bist du nicht.“ Jetzt war auch seine Stimme hart. „Du drehst in Noras Gegenwart ab. Du kriegst keinen klaren Gedanken mehr zusammen. So kenne ich dich gar nicht. Du zwingst sie fast schon dazu, dich unschädlich zu machen.“

Liara lehnte ihre Stirn an Michaels Brust. „Das werden sie nicht. Noch nicht. Sie brauchen mich, um zu überleben. Aber sie wissen, dass sie am Ziel sterben werden.“

„Muss das sein.“

„Wenn ich oder meine Leute es nicht tun, werden unsere Gegner sie umbringen. Es ist zu gefährlich, sie am Leben zu lassen. Sie oder wir.“

 

Silvan stand mit dem Tablett in den Händen neben Nora. Sie hielt die entsicherte Pistole in der Hand. Für alle Fälle. Die Tür glitt zur Seite.

Liara und Michael saßen gegenüber an der Wand. Sie schnellten hoch. Zu spät, um ungesehen zu bleiben, lösten sich ihre ineinander verschlungenen Hände. Liara blickte ihnen mit ihrer üblichen Kälte entgegen, trotzdem konnte Nora ihre rotunterlaufenen Augen sehen. Der Anblick gab ihr ein Gefühl der Genugtuung. Anscheinend war dieses arrogante Biest doch nicht so hart und kalt, wie sie alle glauben machen wollte.

„Bleibt dort stehen“, wies Silvan die beiden an. Liara ruckte nach vorne, um zu protestieren. Michael umfing sie blitzschnell und hielt sie zurück.

Sie versuchte sich von seinem Griff zu befreien. „Lass mich! Ich will hier raus.“

Michael drehte sich so, dass er sich zwischen ihr und der Tür befand. „Bleib ruhig, Liara, um Gottes Willen, bleib ruhig.“

Ihr Widerstand ließ nach.

„Ihr solltet euch gut überlegen, was ihr tut“, warnte Silvan sie. Dann stellte er das Tablett auf den Boden und trat rückwärts aus dem Raum, ohne die beiden aus den Augen zu lassen.

Als sich die Tür wieder schloss, atmete Nora erleichtert auf. „So viel zur Fütterung der Raubtiere.“

Silvan sah sie missbilligend an. „Sie sind keine Raubtiere.“

„Ach“, gab Nora sarkastisch zurück. „Ich dachte, Liara ist so was wie eine Chimäre aus einem Drachen und einem Wolf. Na, wenn das mal kein Raubtier ist.“

„Sprich nicht so von ihr. Sie steht weit über jedem Tier und auch weit über jedem Menschen.“

Nora zog eine Augenbraue hoch. „Auch über mir?“

„Das ist etwas anderes.“

„Du liebst sie immer noch“, warf Nora ihm vor, „obwohl sie versucht hat, uns umzubringen.“

„Ich bin nicht fähig zu lieben.“

„Okay. Dann schmachtest du sie halt weiter an.“

Ihre Hartnäckigkeit verzog seine Lippen zu einem Lächeln. „Nicht einmal das. Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein.“

„Eifersüchtig?“, zischte Nora ihn an. „Ich bin nicht eifersüchtig. Du spinnst wohl! Mir ist das so was von egal, was du für sie empfindest.“

Sein Lächeln wurde breiter. „Aber sicher doch.“

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Glaub doch, was du willst. Hauptsache, du machst mir keine Schwierigkeiten.“

„Keine Sorge. Ich erfülle nur meine Aufgabe.“

„Und wie sieht die jetzt aus?“

Er sah sie schräg an. „Ich tue, was du mir befiehlst, und ich werde dich gegen alles und jeden zu beschützen, auch gegen Liara. Aber so lange es irgendwie geht, werde ich versuchen, auch sie zu beschützen.“ Sein Gesicht wurde ernst. „Auch gegen dich. Wenn es aber zwischen euch hart auf hart kommt, werde ich an deiner Seite stehen, nicht an ihrer.“

Schweigend gingen sie zurück zur Messe.

„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte Nora, als sie dort ankamen.

Er zuckte mit den Schultern. „Je nachdem.“

„Was heißt das?“

„Der Geist der Wälder existiert seit Menschengedenken und darüber hinaus. Ich wurde erst vor einigen Monaten erschaffen.“

„Er hat Unglück über so viele Menschen gebracht“, überlegte Nora. Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass du auch so bist wie er, dass du das willst.“

„Ich bin wie er.“

„Ich versteh das nicht. Warum tut er das alles?“

„Das Blut der Menschen, dass im Boden des Waldes versickert, stärkt seine Macht in eurer Welt und in der anderen. Er giert danach wie ein Verdurstender.“

„Er braucht so viel davon.“

„Er ist unersättlich. Wenn nur ein paar Tropfen auf den ausgetrockneten Boden fallen, verlieren sie sich. Wenn es aber in Massen fließt, werden daraus Bäche und Ströme, die alles ändern können.“

„Und wie ist es jetzt?“

Silvan schaute ins Nichts. „Überschwemmung.“

„Und was bist du?“

„Ich bin der Schlamm, der sich ablagert.“

„Daraus kann fruchtbare Erde entstehen.“

„Nicht wenn er verseucht ist. Aber jetzt sind wir nicht mehr eins.“

„Und wann wurdest von ihm getrennt?“

„In dem Moment, als dein Blut in meine Adern geflossen ist.“ Er stand auf und verließ die Messe.

„Wohin gehst du?“, fragte Nora.

„Ich seh mich mal hier um.“

„Geh nicht zu ihnen.“

„Ich kann dich nicht hintergehen“, gab er missmutig zurück. Ihre letzte Anweisung hatte ihn getroffen. Auch das war etwas, das eigentlich nicht hätte sein können.

Als erstes ging er in die Kanzel. Dort war alles noch genau so, wie sie sie verlassen hatten. Vor ihm breitete sich eine Leere aus, die so unendlich und dunkel war, wie die in ihm drin. Er ließ sich in einen der Sessel fallen. Sein Blick fand die fernen Sterne und Galaxien. Sie funkelten wie Noras Augen, wenn sie wütend war. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Die Leere vor ihm war nicht vollkommen. Er schloss die Augen. Noras Gesicht tauchte vor ihm auf wie eine Insel, zu der er wollte wie ein Schiffbrüchiger in den Weiten des Ozeans.

Nora wartete in der Messe auf Silvans Rückkehr. Das untätige Warten zehrte an ihren Nerven. Sie stand auf. Das Adrenalin in ihrem Blut ließ sie wie ein Tiger im Käfig auf und ab laufen. Es brauchte lange, bis sie sich beruhigte. Mit dem Absinken des Adrenalins machte sich ihre Erschöpfung bemerkbar.

Endlich trat er durch die Tür. Sein bloßer Anblick raubte ihr schon den Atem. Als Mann entsprach er wohl doch genau ihrem Beuteschema. Das machte es ihr nicht leichter, einen kühlen Kopf zu bewahren. „Hast du alles kontrolliert?“

„Ja.“

„Hast du irgendwas gefunden“?

„Nichts Beunruhigendes.“

„Kann ich mich irgendwo hinlegen? Ich bin todmüde.“

„Es gibt unten Quartiere mit Betten.“

„Was ist mit dir?“

„Ich bleib wach. Leg du dich hin.“

Sie ging nach unten und fand ein Zimmer mit einer Liege. Mit einem Seufzer legte sie sich hin.

Die Pistole lag am Kopfende. Neben ihr fehlte etwas. Sie schloss die Augen und sah Silvan vor sich. Dann schlief sie ein.

 

Diesmal blieben sie auf dem Boden sitzen, als Silvan den Raum betrat. Er sah, dass das Tablett leer war. Michaels Hand lag auf Liaras Oberschenkel.

Silvans Blick fiel auf ihren Bauch. „Wann ist es so weit?“

„Bald.“

„Wie bald.“

„Vor dem Ende unserer Reise.“ Sie starrte ihn herausfordernd an.

Er dachte kurz nach. „Kannst du uns zurück zur Erde bringen?“

„Ja.“

Er trat einen Schritt zur Seite, um die Tür freizumachen. „Dann tu es.“

„Nein!“, wies sie seine Forderung kategorisch zurück.

„Was?“

„Ich werde uns nicht zurückbringen.“

Silvan runzelte erstaunt die Stirn. „Warum nicht.“

„Ich werde vollenden, was ich begonnen habe.“„Du wirst dabei sterben.“

Liara stand auf und kam langsam auf ihn zu. „Vielleicht, vielleicht auch nicht.“

„Alle hier werden sterben.“

„Das wissen nur die Götter.“

„Auch dein Mann und dein Kind.“

„Dann sei es so. Es gibt kein Zurück mehr. Sag das deiner neuen Herrin. Auch du wirst mich nicht daran hindern, mein Schicksal zu erfüllen. Sag ihr auch das.“

„Wir werden sehen“, sagte Silvan ruhig. Er wusste, dass Liara jetzt nicht bereit war, auch nur einen Millimeter von ihrem Standpunkt abzurücken. Schulterzuckend verließ er den Raum und suchte Nora. Die Zeit war auf seiner Seite. Spätestens wenn Liara ihr Kind in den Armen hielt, würde sie sich eines Besseren besinnen.

Er fand Nora schlafend in einem der Quartiere. Sie trug nur noch ihre Unterwäsche. Ihre übrige Kleidung hatte sie trotz ihrer Müdigkeit ordentlich auf einem Stuhl abgelegt. Der Anblick ließ ihn lächeln. Lautlos trat er neben sie. Das Öffnen der Tür hatte sie nicht aufgeweckt. Bis auf ihren Atem bewegungslos lag sie vor ihm. Die Bettdecke hatte sie weggestrampelt. Ein Fuß zuckte, als träume sie. Er beugte sich vor und strich so sanft eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht, dass sie auch jetzt nicht aufwachte.

Eigentlich hatte er ihr gleich von seinem Gespräch mit Liara berichten wollen. Doch sie brauchte ihren Schlaf. Er setzte sich am Fußende der Liege auf den Boden. Von dort aus bewachte er ihre Träume, bis er selbst einschlief.

Es war kalt. Nora schlug die Augen auf. Sie wusste sofort, wo sie war. Ihr Blick fiel auf Silvan, der mit dem Rücken an das Fußende des Bettes gelehnt schlief. Sie betrachtete ihn einen Moment. Seine langen Beine waren ausgestreckt. Eine Hand lag auf dem Boden neben ihm, die andere ruhte geöffnet in seinem Schoß. Sie glaubte die Wärme, die daraus emporstieg zu fühlen. Sein Kopf war zur Seite gedreht und seine Wange war in die Matratze gedrückt. Bartstoppeln gaben seinem Gesicht einen düsteren Anstrich, trotzdem deutete nichts an ihm darauf hin, was er war.

Sie richtete sich auf. Ihre ausgestreckte Hand berührte sein Haar leichter als eine Feder. Sie ahnte die Berührung in ihren Fingern mehr, als dass sie sie spürte, und trotzdem fühlte es sich gut an. Zu ihrem Erstaunen erwachte er nicht. Vielleicht fühlte er, dass ihm von ihr keine Gefahr drohte. Erst als sie ihre Beine über die Kante der Liege schwang, öffnete er die Augen. Ihr Herz machte einen Satz, als hätte er sie bei etwas Verbotenem entdeckt.

Ein Lächeln eroberte seine Züge, als er zu ihr aufsah. Sie beantwortete es zaghaft. Er hob die Hand und legte sie auf ihre.

Hatte es sich gut angefühlt, als ihre Finger sein Haar berührt hatten, so ging ihr diese Berührung durch Mark und Bein. Seine Augen nahmen ihre gefangen.

Das Lächeln in seinem Gesicht wich. Er wandte die Augen von ihr ab, noch bevor er aufsprang und zur Tür eilte.

„Wohin gehst du?“, fragte sie von seiner abweisenden Reaktion enttäuscht.

„Raus“, antwortete er, ohne sie anzusehen.

„Warum?“

„Lass mich gehen“, bat er.

Sie stand auf und trat neben ihn. Er blickte sie immer noch nicht an, auch nicht, als sie ihre Hand auf seinen Arm legte. „Was ist los, Silvan?“

„Es ist besser, wenn ich gehe.“

„Warum? Ich versteh das nicht.“

Er wandte ihr ruckartig den Kopf zu. „Ich bin nicht so, wie du mich haben willst.“

Er sah, dass sie die Stirn runzelte. „Verdammt, sag mir endlich, was mit dir los ist.“

„Wenn ich bleibe, weiß ich nicht, was ich tue. Was ich dir antue.“

„Kannst du dich auch mal klar ausdrücken?“ Ihre Stimme zeigte ihm ihre wachsende Ungeduld.

„Ich weiß, wie es ist, zu jagen und gejagt zu werden. Es ist wie ein Rausch.“ Er warf den Kopf in den Nacken. „Jetzt ist es wieder so. Nur verfolge ich keinen Feind. Ich werde auch nicht verfolgt. Jedenfalls nicht von einem Feind.“

„Wovon dann?“

Silvan starrte sie an. In seinen Augen sah sie Wut und Verzweiflung. „Von dir!“

„Von mir?“

„Ja. Verdammt.“ Seine Stimme wurde lauter. „Von dir. Dein Bild verfolgt mich wie ein Gespenst, das sich nicht abschütteln lässt. Keine wache Minute werde ich davon verschont.“

Sie nahm die Hand von seinem Arm und starrte ihn überrascht an. „Du hast dich in mich verknallt.“

„Das ist unmöglich.“

„Und was wenn nicht.“

„Es ist unmöglich!“, beharrte er.

„Anscheinend nicht.“

„Du bist schlimmer als die Pest.“

„Das sagtest du bereits.“

Er sah sie wütend an. „Hör mir zu!“ donnerte er los. „Hör mir endlich einmal richtig zu!“

Bei jedem anderen wäre sie vor Angst gestorben. Aber er würde ihr nichts tun. „Und.“

„Ich bin kein lebendes Wesen. Ich habe keine Seele. Ich bin nur das Abbild eines Menschen. Ich habe keine Gefühle. Ich spule nur ab, was mir mitgegeben wurde, um mich unauffällig unter Menschen zu bewegen und sie zu manipulieren. Ich kann mich nicht verlieben und erst recht nicht lieben. Ich bin nur so etwas wie eine kugelsichere Weste für dich.“

Sie sah ihn ernst an. „Du bist viel mehr für mich.“

„Du hast keine Ahnung, was du dir und mir antust, wenn du so etwas sagst.“

Nora legte wieder die Hand auf seinen Arm. „Es ist mir so was von egal, was diese Irre da unten und irgend so ein beschissener blutgieriger Waldschrat aus einer anderen Welt wollen.“

Ihre Hand strich über seinen Arm nach unten. Jetzt ging ihm die Berührung durch Mark und Bein. Seine Hand hob sich unwillkürlich. Er fasste ihren Arm und riss sie an sich. Als sich seine Lippen wie eine Naturgewalt auf ihre pressten, wusste er, dass das, was er gerade tat, selbst für eine Kreatur wie ihn unnatürlich war. Der Geist der Wälder benutzt Frauen nur, um seine Abkömmlinge in diese Welt zu bringen. Sich mit einer zu vereinigen, die schon sein Kind trug, war Energieverschwendung.

Ihre Lippen antworteten seinen. Jede Müdigkeit war vergessen. Sie riss sein T-Shirt hoch und ihre Hände kneteten die Haut darunter mehr, als dass sie darüber strich. Noch nie hatte er zugelassen, dass eine Frau ihm Schmerz zufügte. Jetzt wollte er mehr davon. Er war seinem Verlangen, war ihr völlig ausgeliefert. Selbst wenn er es gewollt hätte, wäre ihm ein Zurück nicht mehr möglich gewesen.

Ihre Lippen lösten sich voneinander. Sie drückte ihn zum Bett. Als seine Kniekehlen die Kante berührten, ließ er sich rücklings auf die Matratze fallen und zog sie im Fall mit sich.

Sie spürte seinen warmen, harten Körper unter sich. Mit einer Gier, die sie selbst bisher noch nicht kannte, öffnete sie seinen Gürtel und dann seine Hose. Staunend ließ er geschehen, was sie mit ihm tat. Er sah in ihr Gesicht. Es war ernst und konzentriert.

Plötzlich erhellte ein Lachen ihre Züge. „Hintern hoch!“

Gehorsam hob er sein Becken und sie streifte seine Hose samt Unterhose bis zu seinen Knien herunter. Er hatte kaum Zeit, sich über ihre Kraft und Zielstrebigkeit zu wundern, da zog sie sie schon über seine Füße und warf sie auf den Boden.

Sie setzte sich neben ihn auf die Bettkante. Sein Glied reckte sich ihr entgegen. Sie nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger und strich über die weiche Haut dort.

„Ganz so unangenehm ist es dir nicht“, grinste sie.

„Du hast halt den grünen Daumen, der alles zum Wachsen bringt.“

Sie legte die ganze Hand um sein Glied. Es lag heiß und prall in ihrer Hand. Ihr Streicheln wurde eindringlicher.

Er stöhnte. „Und den grünen Zeigefinger, und Mittelfinger, und … und alle Finger.“

Sie stieg aus ihrer Unterhose und ließ sie sich auf sein Glied nieder. „Wenn du jetzt sagst, dass ich da auch grün bin, schlag ich dich“, drohte sie naserümpfend.

„Du hast eine grüne Möse.“

Sie hob die Hand, um spielerisch auf seinen Brustkorb zu schlagen. Er fing sie ab und zog sie an seine Lippen. Sie spürte seine Zähne an ihrer Haut und zuckte zurück.

„Du hast vergessen, was ich bin“, neckte Silvan sie und knurrte mit gefletschten Zähnen. Es waren keine Reißzähne in seinem Mund zu sehen, trotzdem erschrak sie. Mit einer plötzlichen Bewegung drehte er sie auf den Rücken und lag über ihr. Er fasste auch ihre andere Hand und presste beide neben ihrem Kopf in das Kissen. Trotz seiner Grobheit war ihr Schreck wie weggeblasen. Sein Glied war aus ihr herausgerutscht und drückte gegen ihre Oberschenkel. Er stützte sich ab, um sie nicht mit seinem Gewicht zu erdrücken. „Jetzt frisst dich der böse Wolf.“ Wieder knurrte er.

Sie machte mehr der Form halber einen halbherzigen Befreiungsversuch. „Ach, darum hast du einen so großen Mund.“

„Genau.“ Knurren.

„Und warum hast du so einen großen Schwanz?“

„Damit ich dich besser ficken kann.“ Kein Knurren.

„Warum tust du es dann nicht?“

„Weil du mich noch nicht darum gebeten hast.“

Sie bäumte sich unter ihm auf. „Das tu ich ganz bestimmt nicht.“

Er lächelte. „Du kannst es mir auch befehlen.“

Sie ließ sich bewegungslos auf das Bett zurückfallen. „Und was wenn nicht?“, fragte sie kühl.

Sein Gesicht wurde ernst. Sie spielte nur mit ihm. „Sag mir, dass du es nicht willst,“ forderte er sie auf.

„Ich will es“, gab sie zu seinem Erstaunen nach. Er hatte nicht gedacht, dass sie sich so schnell geschlagen geben würde.

Sie öffnete ihre Beine und genoss das Gefühl, als sein Glied in sie eindrang. Es füllte sie vollkommen aus. Und es fühlte sich unerhört gut an. Jetzt war sie überrascht. Ihr Verstand schmolz dahin wie Eiscreme unter der Äquatorsonne. Als er begann, sich in ihr zu bewegen, stöhnte sie. Sie zog ihn an sich, hob ihm ihr Becken entgegen. Die Worte, die aus ihrem Mund brachen und ihm sagten, dass sie ihn wollte, waren leise, die Sprache ihres Körpers schrie ihr Verlangen heraus.

Er sah die wachsende Erregung in ihrem Gesicht, roch sie, fühlte sie. Das, was er dabei empfand, war mehr als bloßer Instinkt. Der Wunsch, das Verlangen einer Frau, Noras Verlangen, zu stillen, und nicht nur einem egoistischen Trieb zu folgen, war neu für ihn und überwältigend.

Sie presste sich an ihn. Ekstase verzerrte ihr Gesicht. Niemals zuvor hatte er ein schöneres gesehen. Er hielt sie, wie er noch nie etwas gehalten hatte. Als sie mit seinem Namen auf ihren Lippen kam, war es, als träte er aus einem dunklen und eisigen Nichts in ein hell strahlendes Universum. Das Licht konzentrierte sich in seinen Lenden und schoss heiß in ihren Schoß.

Noch heftig atmend lag sie unter ihm. Auch sein Atem ging schnell. Er schloss die Augen um den Moment festzuhalten.

Ihre Hände stießen ihn weg. „Du bist so schwer“, beschwerte Nora sich. Er ließ sich neben sie auf das Bett fallen und sah unsicher, ob er sie verärgert hatte, zu ihr herüber. Doch sie antwortete seinem Blick mit einem verträumten Lächeln und kuschelte sich an ihn. Ihre Beine schlangen sich um seine. Ihrer beider Atem beruhigte sich und auch das Schlagen ihrer Herzen. Noras Hand strich über seinen Oberschenkel. „Wenn alle Wölfe so sind wie du, weiß ich jetzt, warum Michael zu Liara zurückgekehrt ist.“

„Sie gehören zusammen.“

„Und was ist mit uns.“

„Ich gehöre dir. Der Bluteid bindet mich an dich.“„Das ist nicht das, was ich hören wollte“, schmollte Nora.

„Willst du, dass ich dich anlüge?“

„Nein.“

„Was willst du dann?“

„Was ich will, ist hier doch vollkommen egal.“

„Mir nicht.“

„Das zählt nicht. Du gehörst mir.“ Sie sprang auf. „Immerhin bist du besser als jeder Vibrator, den ich bisher benutzt habe.“ Sie verschwand ins Bad.

Er war allein im Raum. Ihre letzten Worte hallten noch in seinen Ohren. Sein Magen schmerzte plötzlich, als habe jemand eine Nadel hineingestochen. Verdammt, zu allem Übel hatte er sich jetzt wohl auch noch die erste Magenverstimmung seiner Existenz zugezogen. Er hörte dem Rauschen des Wasser zu. Wenig später kam sie aus dem Bad, schlüpfte in ihre Kleidung und verließ den Raum, ohne ihn anzusehen.

Er wartete. Wartete darauf, dass sie zurückkam oder ihn zu sich rief. Sie kam nicht und sie rief ihn nicht. Als er sich mit geballten Fäusten erhob, unterdrückte er das Wissen, dass sein Magen vollkommen gesund war.

Er fand sie in der Kanzel. Sie saß in einem der Sessel und starrte in das Nichts vor ihr. Obwohl er sich nicht bemühte, leise zu sein, drehte sie sich nicht zu ihm um. Als er neben sie trat, wandte sie sich ab. Trotzdem hatte er die Tränen in ihrem Gesicht gesehen.

„Hast du eben etwas mit ihnen besprochen?“, fragte sie, bemüht ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.

„Liara könnte uns zurückfliegen, aber sie will nicht.“

„Dann müssen wir sie zwingen.“

„Sie hat klargemacht, dass sie sich nicht zwingen lässt.“

„Wir haben Michael. Sie wird nicht wollen, dass ihm und ihrem Kind etwas geschieht.“

Silvan ließ sich in den Sessel neben ihr fallen. „Würdest du ihnen wirklich etwas antun?“

Nora sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Es geht um unser Leben!“

„Es geht um die Herrschaft über ihren Heimatplaneten.“

„Sie hat sich vielleicht in diesem schwachsinnigen Traum verloren, aber ich nicht.“

„Es ist ihre Pflicht, und diese wird sie erfüllen.“

Nora überlegte kurz. „Wir müssen sie trennen!“

„Warum?“, fragte Silvan, obwohl er den Grund kannte. Nora wollte die Gegenwehr beider, und insbesondere die von Liara schwächen.„Ich will mit Michael sprechen, allein.“

„Warum?“

Sie sah Silvan entnervt an. „Ich will aus seinem Mund hören, was das alles soll. Von euch dreien ist er der einzig Normale hier. Jetzt geh.“

Silvan stand auf. „Wie du befiehlst, Herrin.“ Seine Stimme und seine Wortwahl verrieten seinen Protest. Trotzdem ging er los, um Noras Auftrag auszuführen.

4. Legenden

Als sich die Tür öffnete, sah Michael ihm erwartungsvoll, aber auch angespannt entgegen. Liara starrte durch ihn hindurch, als interessiere sie das alles nicht, doch Silvan wusste, welch gefährlicher Zündstoff sich hinter ihrer Kälte verbarg.

Er deutete mit dem Kinn auf Michael. „Komm mit.“

Michael trat einen Schritt zurück. „Warum?“

„Nora will dich sprechen.“

Liara trat zwischen die beiden Männer. „Er wird nicht mitkommen“, fauchte sie Silvan an.

Dieser blickte gelassen zurück. „Du wirst das nicht verhindern können, Herrin.“

„Sei dir da nicht so sicher.“

Silvans Lippen deuteten ein Lächeln an. „Ich bin mir sicher. Und du bist es auch. Willst du es darauf ankommen lassen?“ Er hoffte trotz seiner Worte, dass sie es nicht auf eine Konfrontation ankommen lassen wollte, auch wenn selbst die beiden zusammen ihm nichts anhaben konnten.

Michael schob sich zwischen die Kontrahenten. „Ich komme mit“, versuchte er beide mit leiser Sprache zu besänftigen.

„Michael!“, wies Lara ihn zurecht. Sie war nicht bereit nachzugeben.

Er drehte sich zu ihr um und nahm sie in die Arme. Sie ließ es unwillig geschehen, wandte aber den Kopf ab. Liara wusste, dass Silvan recht hatte, ihre Chance, ihn zu überwältigen, ging gegen null.

Michael legte sein Gesicht an ihren Hals. „Es wird alles gut“, versprach er und hoffte, dass es wahr war.

Liara fühlte, wie ihr Widerstand einknickte. Sie nickte kaum merklich mit immer noch abgewandtem Kopf. Michael löste sich vorsichtig und trat auf Silvan zu.

In dem Moment, als sich die Tür hinter ihnen schloss, bedauerte Liara ihr abweisendes Verhalten. Sie wusste nicht, wann sie Michael wiedersehen würde – und ob.

 

Schweigend gingen sie durch die kahlen, metallisch glänzenden Gänge. Michaels Finger zitterten vor Anspannung. Die Luft in dem Schiff war gefiltert und geruchlos, trotzdem lag ein Wispern darin, das nicht nur ihm, sondern viel mehr noch Liara und ihrem ungeborenen Kind Unheil verhieß.

Silvan war deutlich größer als er selbst. Die Kleidung dieser widernatürlichen Kreatur war so schwarz wie seine Haare und die Bartstoppeln in seinem Gesicht. Harte Muskeln wölbten sich unter einem hautengen T-Shirt. Michael wusste, dass sie nicht von künstlichen Hormonen oder Besuchen im Fitness-Studio herrührten. Dafür sprachen auch die Narben an seinen Armen und die in seinem Gesicht.

Mit weichen Knien betrat Michael die Kanzel. Die beiden gepolsterten Sessel vor der Steuerkonsole waren zum Gang hin gedreht. Nora saß aufrecht mit auf den Armlehnen abgelegten Armen in dem einem und blickte ihnen entgegen. Er musste unwillkürlich an einen Thron denken. Dazu passend zeigte ihr Gesicht nicht die geringste Regung; es war so kalt wie das All, dessen tödliche Kälte sich hinter ihrem Rücken jenseits des Fensters endlos ausdehnte.

Silvan stellte sich zwischen Nora und den leeren Sessel. „Setz dich!“, wies er Michael an.

Seine Stimme und seine Haltung ließen keinen Widerspruch zu. Trotzdem zögerte Michael einen Moment, bevor er sich mit verkniffenem Gesicht in den Sessel fallen ließ. Silvan trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen die Steuerkonsole. Nur noch aus den Augenwinkeln nahm Michael einen dunklen Schatten wahr, der ihn drohend überragte. Angst bohrte sich in seine Magengrube und sickerte von dort in jede Faser seines Körpers. Alles in ihm schrie danach, aufzuspringen und von hier wegzurennen. Er riss sich zusammen und wendete Nora sein Gesicht zu, bemüht ihr seine Angst nicht zu zeigen.

Mit nervenaufreibender Langsamkeit drehte sie ihren Sessel zu ihm hin. Ihre Augen trafen seine. Immer noch konnte er nichts in ihrem Gesicht deuten. Er war versucht wegzusehen, aber er zwang sich, ihrem taxierenden Blick standzuhalten.

Mit ihren großen haselnussbraunen Augen und ihrem braunen Pferdeschwanz hätte sie neben Silvan geradezu zart und harmlos wirken können, wäre da nicht ihr eisiger Gesichtsausdruck gewesen. Auch er hatte sich von ihrem Äußeren einlullen lassen, als er sie mit verbundenen Augen und an den Händen gefesselt in der Zelle unter Liaras Haus gesehen hatte. Sie hatte so verängstigt und hilflos auf ihn gewirkt wie ein Kaninchen in der Falle. Er hatte sich sogar bei Liara für sie eingesetzt, nicht ahnend, als welch gefährlicher Gegner sie sich erweisen würde.

Nur zu gut hatte er sich noch daran erinnern können, wie es ist, selbst in dem fensterlosen Raum eingesperrt zu sein, ohne zu wissen wo und warum, und welches Schicksal einen erwartet. Seine Entführung hatte ihn damals vollkommen unerwartet getroffen. Die Liebe zwischen Liara und ihm, ihrem Gefangenen, die wider jede Vernunft gewachsen war, hatte alle Hindernisse überwunden und auch sein bis dahin leichtlebiges Leben mit einem tiefen Sinn erfüllt. Er hatte ohne sie nicht mehr leben können und war, nachdem ihm die Flucht gelungen war, zu ihr zurückgekehrt.

Die mitleidlose Kälte, mit der sie Nora nach deren Gefangennahme behandelt hatte, hatte ihn getroffen, obwohl er wusste, dass ihre Härte nur dem Ziel diente, die Gemeinschaft und ihre Familie vor ihren Feinden zu beschützen. Als Liara dann auch noch Silvan gefoltert hatte, um Informationen aus Nora herauszupressen, war er entsetzt gewesen.

Inzwischen hatte sich das Blatt zugunsten von Nora und ihrem Dämon gewendet und er hatte erfahren müssen, dass sie alles andere als harmlos war. Er fragte sich, ob es nur das Blut dieser Kreatur in ihrem Körper gewesen war, das sie sechs Männer hatte kaltblütig und mit zielsicherem Instinkt töten lassen, oder ob es nur etwas geweckt hatte, das immer schon da gewesen war. Jetzt jedenfalls hatte dieses Miststück ihn in der Hand, und das nicht nur, weil sie mit ihm machen konnte, was sie wollte, sondern auch, weil Liara ihr ausgeliefert war. Und er hatte keine Ahnung, warum sie ihn aus der Arrestzelle hierher beordert hatte.

Der Blick, mit dem sie ihn jetzt bedachte, war so eisig, wie er ihn sonst nur bei Liara gesehen hatte, damals, während er selbst noch ihr Gefangener gewesen war. Ein Damals, das vor nur wenig mehr als einem Jahr seinen Anfang genommen hatte und in dem sein bisheriges geordnetes Leben aus den Fugen geraten war.

Trotz der lässigen Haltung, mit der Silvan sich an die Steuerkonsole hinter ihm lehnte, fühlte Michael dessen raubtierhafte Wachsamkeit in seinem Nacken. Diese Kreatur war bereit jede auch nur Andeutung eines Angriffs zu unterbinden. Aber er hatte nicht vor, sich derart aufzulehnen. Einen der beiden anzugreifen, wäre der reine Selbstmord gewesen.

Als er sich mit einer fahrigen Bewegung eine dunkelblonde Haarsträhne aus dem Gesicht strich, durchbohrte Silvans Blick ihn warnend, obwohl es nur eine Geste der Verzweiflung gewesen war.

Michaels Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. An diesem Höllenhund gab es kein Vorbeikommen. „Was wollt ihr von mir?“, fragte er argwöhnisch.

„Erzähl Nora, was du weißt“, verlangte Silvan. „Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.“

Michael drehte das Gesicht zu ihm hin. „Warum ich? Du kennst das alles mindestens so gut wie ich.“

Silvan lächelte. „Von Mensch zu Mensch klingt es besser.“

Michaels blickte zu Nora. „Die ganze Geschichte ist langatmig und verworren.“

„Komm einfach zur Sache!“

„Ganz wie du willst.“ Michaels Mund zuckte. Dann zitierte er das, was jeder von Liaras Anhängern auswendig kannte und inzwischen auch er. „Das Geschlecht der Chimäre wurde geboren aus Feuer und Blut. Gesegnet mit der Gabe des Drachen, zu erkennen, was in den Herzen der Menschen verborgen ist, und gestärkt durch die Kraft des Wolfs herrschte es für Generationen über den gesamten Planeten. Intrigen und Verrat zwangen die Herrschenden zur Flucht. Zusammen mit ihren treusten und tapfersten Anhängern errichteten sie eine Zuflucht in einem fernen Exil. Doch die Zeit der Rückkehr wird kommen.“

„So weit, so gut“, kommentierte Nora seine Worte. „Und was ist jetzt?“

„Jetzt ist die Zeit der Rückkehr gekommen.“

„Sag mir, was hinter dieser Geschichte steckt.“

„Dahinter steckt nur eine uralte Legende“, wiegelte Michael mit einer hektischen Handbewegung ab. „Es sind keine historischen Fakten.“ Sein Blick irrte an Nora vorbei ins Nichts. Sie hatte in den letzten Tagen Unglaubliches erfahren, trotzdem zweifelte er daran, dass sie ihm die ganze Geschichte abnehmen würde. Er selbst hatte sie anfangs auch nicht glauben wollen und dann doch die Wahrheit darin erkennen müssen. Noch lebten Liara und er und anscheinend hatte Nora nicht vor, das zu ändern. Jedenfalls im Augenblick. Er durfte sie auf keinen Fall provozieren, ihre Meinung zu revidieren. Silvan würde jeden ihrer Befehle ausführen, auch den, ihn und sogar Liara zu töten.

„Erzähl mir diese Legende!“, verlangte Nora. „Etwas davon kenne ich schon. Jetzt will ich die ganze Geschichte wissen.“ Sie las in seinem Gesicht und erkannte seine Befürchtungen. „Du hast Angst, dass ich sie dir nicht glaube, nicht wahr? Keine Sorge, ich habe in den letzten Tagen so viel Verrücktes gehört und erlebt, dass ich bereit bin, auch Unglaubliches zu glauben.“

Ihre Worte hatten ihn nicht wirklich beruhigt. Er überlegte fieberhaft, was und wie viel er erzählen sollte. Als Silvan die Arme vor der Brust kreuzte und einen Zentimeter näher an ihn heranrückte, verstand er die eindeutige Warnung sofort und nahm sich zusammen. Vielleicht war jetzt auch der Moment gekommen, Nora die ganze Geschichte zu erzählen, um sie auf das vorzubereiten, was in der nächsten Zeit auf sie zukommen würde. Er kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht zu irgendwelchen übersteigerten Reaktionen hinreißen ließ, solange sie nicht provoziert wurde.

„Die Familie der Liaden herrschte vor ewigen Zeiten über einen ganzen Planeten“, begann er trotzdem vorsichtig. „Sie waren besessen von ihren Leidenschaften und dem Willen zu herrschen. An ihrer Spitze regierte der Reichsherr oder die Reichsherrin mit absoluter Macht. Sie erschienen unangreifbar. Doch dann zeugte ein Reichsherr einen legitimen Sohn mit seiner Ehefrau und einen illegitimen mit seiner Geliebten.“

„So etwas ist nicht unüblich“, warf Nora ein.

„Aber diese Geliebte, Belde, sie war es schon. Sie war halb menschlich und halb dämonisch, denn der Geist der Wälder hatte sich in der Gestalt eines Wolfes zu ihrer Mutter gelegt.

Nach dem Tod des Reichsherren stritten die Halbbrüder mit dem Schwert in der Hand um sein Erbe. Dabei brach eine brennende Goldschmiede über dem Liaden zusammen. Doch seine Leidenschaft brannte heißer als das Feuer. Er kam in der Glut nicht um, sondern entstieg ihr mit der Gabe gesegnet, auch die verborgenen Gefühle der Menschen zu erkennen. Seit jener Zeit bezeichnet man die Liaden als die Drachen. Das Feuer ist ihr Element. Ihre Feinde verbrennen in der Glut ihrer Leidenschaft und oft auch sie selbst. Viele unter den Liaden haben die Gabe der Erkenntnis geerbt, auch Liara. Bei ihr ist sie sogar besonders ausgeprägt.“

Michael warf einen abschätzenden Blick in Noras Gesicht. Nichts darin verriet ihm, ob sie ihm glaubte oder nicht. „Beldes Sohn gelang die Flucht“, fuhr er fort. „Man nannte ihn nach seiner Herkunft den Wolf. Er, seine Nachkommen und deren Anhänger widersetzten sich über Generationen dem Reich. Die Kraft des Wolfes macht die Belden weise und körperlich und mental stärker als jeden anderen Menschen, ganz besonders, wenn sie selbst oder die Ihren bedroht werden. Niemand kann sie in einem direkten Kampf besiegen, selbst dann nicht, wenn der Gegner zahlenmäßig weit überlegen ist. Ihre Anhänger folgen ihnen bedingungslos. Aber diese Kraft erfüllt die Belden auch mit dem Drang, ihre Menschlichkeit abzulegen. Wenn ihre dämonische Seite in ihnen erwacht, streifen sie mit dem Nachtwind durch die Wälder und werden eins mit deren Natur.

Der Geist der Wälder brachte seine Abkömmlinge in endlosen Kriegen dazu, den Waldboden mit Blut zu tränken, egal, ob sie es wollten oder nicht, als Kriegsherren oder aber nur, um sich und die Ihren zu verteidigen. Auch jene, die sie lieben, sterben viel zu oft vor ihren eigenen Augen oder sogar durch ihre eigene Hand. Es ist der Fluch der Belden. Der Dämon braucht das Blut, um seine Macht in dieser Welt und in der anderen, der er entstammt, zu stärken. Der Krieg zwischen den Liaden und den Belden forderte viele Opfer und nährte ihn. Erst ein gemeinsamer Nachkomme, eine Chimäre aus Drache und Wolf, konnte den Fluch des Blutes überwinden und brachte Frieden und Wohlstand über das Reich. Doch dieser Fluch ist wieder erwacht und er ist stärker als jemals zuvor. Auch Liara kämpft gegen ihren inneren Dämonen - im wahrsten Sinne des Wortes.“

„Warum ist sie hier und nicht auf ihrem Planeten?“

„Es kam unter den mächtigsten Familien des Reiches zu Intrigen und Verrat. Die letzte regierende Reichsherrin, Liaras Großmutter, wurde mit ihren Anhängern ins Exil gezwungen. Sie versteckten sich auf der Erde und bauten eine neue Heimstatt für die Gemeinschaft auf.“

„Wann war das?“

„Vor einigen Jahrzehnten, kurz nachdem sie als junge Frau den Thron bestiegen hatte.“

„Das heißt Liara wurde hier geboren.“

„Ja.“

Zum erstem Mal sah er die Andeutung eines Lächelns in Noras Gesicht. „Sie ist also ein Mensch wie du und ich.“

„Nein, das ist sie nicht. Sie ist besessen von Gedanken, ihre Pflicht gegenüber ihrer Familie und dem Reich zu erfüllen. Sie wird dafür bis zu ihrem letzten Atemzug kämpfen.“

„Was ist ihre Pflicht?“

„Ein neuer Krieg lässt das Blut auf dem Planeten wieder in Strömen fließen. Der Geist der Wälder ist inzwischen so stark, dass er Silvan auf Dauer in dieser Welt materialisieren konnte. Nicht mehr lange und er wird der Erste unter den Dämonen sein.

Liara ist die Letzte sowohl der Liaden als auch der Belden. Sie ist die rechtmäßige Reichsherrin. Ihre ganze Erziehung, ihr Denken und ihr Handeln waren und sind darauf ausgerichtet, die Herrschaft über den Planeten für das Geschlecht der Chimäre zurückzuerobern und den Planeten zu befrieden. Alles war genau geplant. Jetzt bist du gekommen und hast sie vor der Zeit zum Aufbruch gezwungen.“ Seine Stimme brach. „Sie und ihre Anhänger auf dem Planeten werden sterben, genauso wie die, die du schon getötet hast. Ich weiß nicht, welcher von Liaras Feinden dich geschickt hat, aber seine Wahl war ausgezeichnet. Du hast alles zunichte gemacht!“

„Ich wurde nicht geschickt. Ihr habt mich da mit reingezogen. Das weißt du so gut wie ich.“

Michaels vernahm eine kaum unterdrückbare Wut in ihren Worten. Plötzlich erschien sie ihm nicht weniger gefährlich als Silvan. Er sah, dass sich Noras Finger in die Armlehnen bohrten, als sie versuchte, sich zu beherrschen. Es gelang ihr nur mühsam. Er atmete tief durch und schluckte krampfhaft. Mit zu Fäusten geballten Händen starrte er sie an. Eine tödliche Bedrohung ging von ihr aus und lähmte seinen Körper und seinen Verstand.

Nora sah seine Angst. Er war wie eine in die Ecke gedrängte Ratte. Wenn er sie angriff, würde Silvan ihn töten, bevor sie es verhindern konnte. Aber trotz all dem, was Michael und Liara ihr angetan hatten, war es nicht das, was sie wollte. Schon jetzt war viel zu viel Blut vergossen worden, und Michael war vielleicht der einzig Normale in diesem Schiff. „Verrate mir, welche Rolle du in dieser Geschichte spielst“, fuhr sie etwas ruhiger fort, bemüht ihn nicht weiter zu in Bedrängnis zu bringen. Er war hier nicht das Problem.

Michael nickte erleichtert in dem Gefühl, dass Nora es nicht darauf anlegte, hier und jetzt sein Schicksal zu besiegeln. „In der Familie der Liaden wird seit einigen Generationen eine Krankheit vererbt. Männliche Nachkommen wurden nicht mehr geboren und auch Töchter konnten nur noch von wenigen Männern gezeugt werden.“

„Liara ist schwanger“, überlegte Nora. „Du bist also einer von diesen Männern?“

„Ja. Ich wurde dazu auserwählt, der Vater von Liaras Kindern zu sein.“

Nora konnte sich eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen. „So schön wie Liara ist, dürfte dir das nicht allzu schwerfallen.“

Michael hatte sich vorgenommen, sich nicht provozieren zu lassen, aber ihre anzüglichen Worte ließen seinen Vorsatz zerplatzen. „Was zwischen uns ist, geht dich nichts an“, brauste er auf.

Er spürte Silvans Hand auf seiner Schulter. Sie drückte ihn hart in den Sessel herunter, aber er wagte es nicht, sie abzuschütteln.

Nora hob beschwichtigend die Hand und warf Silvan einen kurzen Blick zu. Die Hand verschwand von Michaels Schulter.

„Was hat sie dir dafür geboten?“, hakte Nora nach. „Geld?“

Michael schaute sie herausfordernd an. „Sie hat mich entführen lassen.“

„Du warst auch ihr Gefangener?“, fragte Nora ungläubig.

„Anfangs. Und sogar in der gleichen Zelle wie du.“

„Wie bist du da rausgekommen?“

„Liara hat mich rausgelassen.“

„Sie hat dich befreit?“

„Nicht so ganz.“

Nora runzelte die Stirn. „Was heißt das schon wieder?“

„Ich durfte ihren Besitz nicht verlassen.“

„Du warst also doch ihr Gefangener.“

„Wie bereits gesagt, nur anfangs. Dann konnte ich fliehen.“

„Und wieso warst du jetzt in ihrem Haus?“

Michael lächelte schief. „Weil ich zu ihr zurückgekehrt bin.“

„Sie hat dich entführt und du bist freiwillig zu ihr zurückgekehrt?“

„Ja.“

„Warum?“

„Ich liebe sie.“

Nora schüttelte verständnislos den Kopf. „Wo die Liebe hinfällt.“ Dann sah sie Michael scharf an. „Wenn das alles stimmt und Liara und ihr Kind, also die Chimären, auf den Planeten zurückkehren, wird es dort ein Blutbad geben. Willst du das mitverantworten?“

Michael schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Nein. Sie haben sich mit jeder Generation weiter von ihrem blutigen Erbe entfernt. Liara und unser Kind werden wieder Frieden über den Planeten bringen. Sie sind die einzigen, die dazu in der Lage sind. Wenn du sie umbringst, wird dieser Krieg noch viel grausamer, als er es jetzt schon ist. Sie sind die einzige Hoffnung für das Volk auf diesem Planeten.“ Michael sah Nora eindringlich an. „Du hast das Schicksal eines ganzen Planeten in deiner Hand. Du darfst sie nicht töten. Bitte, Nora, tu es nicht.“

Die Angst und Verzweiflung in seiner Stimme trafen Nora schmerzhaft, aber sie konnte sich keine Schwäche erlauben. Es ging hier auch um ihr Leben und um die Existenz von Silvan. „Der Geist der Wälder will Blut sehen. Liara und euer Kind sollen das verhindern, obwohl sie von ihm abstammen. Wurde Silvan geschickt, um die beiden zu beschützen, oder um den Krieg weiter anzufachen.“

„Wer weiß das schon. Vielleicht sind die Chimären ihm in letzter Zeit nicht mehr blutrünstig genug gewesen.“ Er warf einen resignierenden Blick auf Noras Bauch. „Aber du sorgst ja jetzt für Nachschub.“

Ihr Gesicht verdunkelte sich. „Und all das soll ich dir abnehmen?“

„Erinnere dich an deine eigenen Worte. Du hast gesagt, dass du in den letzten Tagen so viel Verrücktes gehört und erlebt hast, dass du bereit bin, auch Unglaubliches zu glauben.“

„Ich fasse zusammen“, sagte Nora mit einer Stimme, die ihn wie ein Reibeisen durchfuhr. „Liara ist eine Mischung aus einem Menschen, einem blutgierigen Dämon, der als Wolf in Erscheinung tritt, und einem dem Feuer entstiegenen Drachen. Trotzdem ist sie ein Friedensengel, der das Blutvergießen in ihrer Heimatwelt beenden will. Nur wenn sie angegriffen wird, flippt sie aus und bringt jeden um, der sich ihr in den Weg stellt.“

„Man darf das nicht wörtlich nehmen.“

„Wie dann?“

„Es sind Umschreibungen, die Liaras besondere Fähigkeiten erklären sollen.“

„Ok“, versuchte Nora es erneut. „Liara hat also besondere Fähigkeiten. Sie ist viel stärker und leidenschaftlicher als andere Menschen und sie kann Gedanken lesen. Und wenn sie oder ihre Leute angegriffen werden, flippt sie aus.“„Nein. Sie kann keine Gedanken lesen. Sie weiß nur, was andere fühlen, selbst wenn sie es vor ihr verbergen wollen oder durch Mauern von ihr getrennt sind.“ Er biss sich auf die Lippen. Verdammt, warum nur hatte er ihr so viel über Liara verraten? Wahrscheinlich glaubte Nora ihm sowieso nicht. Wenn doch, wusste sie spätestens jetzt, wie gefährlich Liara war.

„Kann sie die Gefühle aller Menschen lesen?“

„Die der meisten.“

„Auch meine?“

Michael zuckte unsicher mit den Achseln. „Während einer Schwangerschaft ist diese Fähigkeit geschwächt. Du musst dir keine Sorgen machen.“

„Wie hältst du das mit einer Frau aus, vor der du deine Gefühle nicht verbergen kannst?“

Michael sah sie nur schweigend und schmallippig an. Nora verstand. „Deine Gefühle kann sie nicht lesen?“

Michael sah wieder an ihr vorbei. Das reichte ihr als Antwort. Er war ein schlechter Lügner. Wahrscheinlich brauchte man nicht Liaras Gabe, um ihn zu durchschauen. Das Dumme war, dass sie ihm diese verrückte Geschichte wider alle Vernunft abnahm.

„Du bist noch nicht fertig“, mischte sich Silvan ein, während Noras Blick ins Nichts wanderte und ihre Gedanken zurück zu dem, was in den letzten Tagen über sie hereingebrochen war.

„Was willst du noch hören?“, fragte Michael ärgerlich.

„Erzähl ihr vom Wesen der Liaden und der Belden.“

„Das sind alles nur Gerüchte.“

„Dann erzähl ihr die Gerüchte!“

„Ganz wie du willst.“ Michael verzog das Gesicht. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren, dieser Kreatur Rede und Antwort stehen zu müssen wie ein Schuljunge. „Die Belden sind bereit zu sterben, wenn es darauf ankommt. Aber sie sterben nicht allein.“

„Was ist mit Silvan?“, wollte Nora wissen. „Ist er auch so?“

„Nein. Er hat nichts Menschliches an sich. Er ist nur ein Splitter des Dämons, der sich eine menschliche Hülle zugelegt hat. Er wird vergehen wie ein Zweig, den man vom Baum abgetrennt hat.“

„Was ist mit den Liaden? Sind sie auch so?“

„Nein. Die Liaden sind rein menschlicher Herkunft. Sie sind besessen von Macht. Ihre Leidenschaften sprengen den Rahmen normaler menschlicher Gefühle.“

„Aber sie sind nicht unbesiegbar.

Michael lächelte. „Dank ihrer Gabe hielten sie sich schon immer für unbesiegbar. Kaum ein Mensch kann ihnen gefährlich werden. Ihr größtes Problem sind sie selbst. Die wenigsten von Liaras Vorfahren sind eines natürlichen Todes gestorben, viele jedoch durch Selbstüberschätzung und Unfälle. Wer sich ihnen in den Weg stellt, wird niedergewalzt wie von einer Feuerwalze, selbst wenn es ihren eigenen Untergang bedeutet. Auch mit ihnen sollte man sich nicht anlegen. Aber diese Warnung kommt wohl zu spät.“

„Liara ist beides?“

„Ja. Daran solltest du immer denken. Aber es gibt eine Lösung für all das hier.“

„Ich weiß.“ Nora warf einen vielsagenden Seitenblick auf Silvan. „Aber ich glaube nicht, dass sie dir gefallen würde.“

„Du musst uns nicht umbringen lassen. Das willst du auch gar nicht.“

„Du kennst mich anscheinend gut“, spottete Nora. „Welche Art der Lösung schwebt dir vor?“

„Vertrau dich Liaras Führung an. Wenn du dich ihr ergibst, wird sie dir alles verzeihen.“

„SIE wird MIR verzeihen? SIE hat MIR nichts zu verzeihen! Ich bin es, der von ihr gefangen genommen und verschleppt worden ist!“

„Sie wird dich als eine der Ihren annehmen.“

„Du bist wohl vollkommen durchgeknallt. Ich werde niemals freiwillig eine ihrer Sklaven werden.“

Michael schüttelte den Kopf. „Das wirst du auch nicht. Sie wird dir Stärke und Zuversicht geben.“

„Vergiss es. Woher weißt du das alles eigentlich?“

„Manches weiß ich schon lange, das mit Silvan hat Liara mir erklärt.“

„Ich bin jetzt angeblich schwanger von Silvan. Wenn das stimmt, werden bald zwei halb- und ein rein dämonischer Wolf existieren. Was passiert dann?“

Michael schwieg. Nora wusste trotzdem, was das bedeutete. Nur eins der Kinder durfte leben. Sie würde Silvan befehlen zu müssen, die beiden und ihr ungeborenes Kind zu töten. Michaels Gesicht verriet, dass durch er es wusste.

„Bitte“, flehte er, als er ihre versteinerte Miene sah. „Das darfst du nicht tun. Ich werde Liara überreden, dich zur Erde zurückzubringen. Sie wird aus deinem Leben verschwinden. Du wirst nie wieder etwas von ihr zu hören oder zu sehen bekommen.“

Nora schüttelte den Kopf. „Sie und ihre Anhänger und auch ihre Feinde sind zur Erde gekommen. Wenn sie überhaupt darauf eingeht, wird sie es wieder tun, um mich und mein Kind zu vernichten.“

„Sie wird dir versprechen, es nicht zu tun. Niemand auf ihrem Planeten außer uns beiden wird wissen, dass ihr existiert. Wir werden unser Wissen mit ins Grab nehmen. Liara hält ihre Versprechen.“

Nora schüttelte ihren Kopf. „Bring ihn in eins der anderen abschließbaren Quartiere“, wies sie Silvan an.

„Lass uns wenigstens zusammen“, bat Michael sie mit Panik in der Stimme.

Ihr Magen verkrampfte sich. Dennoch schüttelte sie erneut den Kopf, stemmte die Hände in die Sessellehnen und und stand auf. Erst ging sie, dann rannte sie. Sie wollte nur noch weg von hier, weg von alldem. Aber es gab kein Entkommen vor dem Lärm und Michaels verzweifelten Schreien, als Silvan ihn zwang, mit ihm zu kommen. Das Raumschiff erschien ihr plötzlich winzig. In der Messe ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und schlug so hart auf die Tischplatte ein, dass ihre Hand schmerzte. Sie war verloren in einem Alptraum und egal, was sie tat, es war falsch.

 

 

5. Versuchung

 Nora hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Es mussten Tage sein, vielleicht zwei Wochen. Ihr Zeitgefühl war dahin. Zwar lief ihre Uhr noch, aber wenn sie aufwachte, wusste sie nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Das Schiff regelte in der Nacht die Beleuchtung und Temperatur herab, aber die Zeitmessung erfolgte hier nach der Zeit von Liaras verfluchtem Heimatplaneten und Silvan hatte ihr nicht erklärt, wie man sie umrechnen musste.

Wenigstens gab es hier Kleidung in ihrer Größe und ausreichend Hygieneartikel. Die Lagerräume waren voll mit Nahrungsmitteln und Getränken. Zu viert konnten sie es hier monatelang aushalten, vorausgesetzt sie hatten genug Energie und Sauerstoff und ihr Kohlendioxid konnte lange genug aus der Luft gefiltert werden. Sie fragte Silvan nicht danach.

Immer häufiger machte sie sich Gedanken über Liara. Das Kind musste bald kommen. Sie selbst hatte das Gefühl, in einer Vorhölle zu sein. Für eine Hochschwangere, die davon ausging, dass sie und ihr Mann in Todeszellen saßen, musste es der innerste Zirkel der Hölle sein.

Silvan verfiel in ein düsteres Schweigen. Auch Dämonen haben ihre Tage, dachte Nora. Er durchbrach es nur, wenn Nora ihn zu sich rief, damit er ihr die Sprache von Liaras Planeten beibrachte. Sie lernte schnell. Viel mehr Beschäftigung gab es hier nicht.

Silvan versorgte Liara und Michael mit allem was sie brauchten. Nora bekam oft mit, dass er viel länger in deren Zellen blieb als nötig. Sie fragte sich, ob er zu einem Verrat fähig war. Wenn ja, würde es fatal für sie enden.

Plötzlich stand er vor ihr. Sie hatte ihn nicht kommen gehört. „Liara will mit dir sprechen“, teilte er er ihr mit.

Warum?“

Das hat sie nicht gesagt.“

Sie sah ihn misstrauisch an, folgte ihm aber zu der Zelle. Verborgen unter ihrem T-Shirt steckte die Pistole in ihrem Hosenbund. Das Metall gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Es war trügerisch, das wusste sie, aber besser als nichts.

Silvan hatte die Zelle mit einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl ausgestattet. In einer Ecke standen ein Sessel und ein Hocker. Auf dem Tisch lagen sogar Bücher.

Nora atmete tief durch. Sie wusste nicht, ob sie verärgert sein sollte oder nicht. Seine augenscheinliche Fürsorge für Liara jedenfalls war beunruhigend.

Liara stand trotz ihrer weit fortgeschrittenen Schwangerschaft mitten im Raum und schaute sie mit großen, leeren Augen an. Sie machte ein paar Schritte auf Nora zu. Jede einzelne Bewegung war schwerfällig. Nora konnte ein unwillkommenes Gefühl von Mitleid nicht unterdrücken. Sie fragte sich, ob das Berechnung war. Liara würde alle Register ziehen, um ihr Vorhaben durchzusetzen.

Mit einem Mal erwachten die Augen zum Leben. Ihr Blick schien Nora zu sezieren. Sie spürte ein Ziehen zwischen ihren Schulterblättern. Selbst die Schwangerschaft nahm Liara nichts von ihrer Bedrohlichkeit. Nora ahnte nur zu gut, welche Gefahr sich hinter ihrer eiskalten Fassade verbarg. Eine Gänsehaut lief ihren Rücken herab: Liara spionierte ihre Gefühle aus.

Sie hätte wütend sein sollen. Aber alles andere um sie herum verschwamm. Geräusche verstummten. Es gab nur noch dieses bleiche Gesicht vor ihr, und Augen so grün und geheimnisvoll wie ein tropischer Urwald. Plötzlich wusste Nora um das Schicksal, das der anderen auferlegt worden war. „Du wolltest mit mir sprechen?“, fragte sie und bemerkte, dass ihre Stimme zitterte.

„Wir müssen miteinander reden.“

„Ich wüsste nichts, was wir miteinander zu besprechen hätten.“

Liara Miene war ernst. „Unser aller Zukunft.“

„Welche Zukunft? Ich habe keine Zukunft, und Silvan wohl auch nicht. Wenn es nach dir geht, werden wir sterben.“

„Das ist nicht mein Wunsch. Durchaus nicht. Dein Schicksal ist nicht unabänderlich. Du kannst es mitbestimmen.“

„Und wie sollte ich das hier in dieser Konservenbüchse?“

Meist regelt sich alles irgendwie - oft zum Besseren.“ Liara wies auf den Stuhl. „Setzt dich.“ Es war ein Befehl, der keine Widerrede duldete. Zu ihrem eigenen Erstaunen setzte Nora sich kommentarlos auf den Stuhl.

Liaras Augen fixierten sie. „Du willst uns umbringen.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.

Von wollen kann keine Rede sein“, verteidigte Nora sich.

Liara machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du wirst es tun.“

Nora schluckte. Sie hatte den Gedanken jedes Mal zurückgedrängt. Unzählige Male. Aber er war hartnäckig wiedergekommen. „Habe ich eine Alternative?“

Es gibt immer eine.“

Und die wäre?“

Du kooperierst.“

Mit dir?“

Ja.“

Wohl kaum.“

Liaras Züge waren wie in Stein gemeißelt. „Du hast uns schon einmal das Leben gerettet.“

Jede gute Tat rächt sich.“ Noras Stimme hatte wieder an Härte gewonnen. Die andere warf ihr einen mörderischer Blick zu. Nora konnte ein zufriedenes Lächeln kaum unterdrücken, aber es war zu früh, um in ein Siegesgeheul auszubrechen.

Wenn wir zusammen kämpfen, Nora, werden wir unbesiegbar sein.“

Aber sicher doch.“

Dein Kind wird auch dir eine große Macht und Stärke geben.“

Nora warf den Kopf abwehrend in den Nacken. „Ich weiß ja nicht einmal, ob ich wirklich schwanger bin. Und diesen ganzen Hokuspokus glaube ich euch nicht.“

Ich weiß, dass du schwanger bist, und Silvan weiß es auch.“

Ach, und woher?“

Wir und dein Kind sind von gleichem Blut. Wir wissen so etwas voneinander. Sieh in dich hinein. Du weißt es auch.“ Liara sprach langsam und betont wie zu einem Kind.

Noch nie hatte Nora es ausstehen können, wenn jemand so mit ihr gesprochen hatte. „Also, was genau willst du, Liara?“

Ich bin die einzige hier, die das Schiff landen kann. Das solltest du bedenken. Ohne mich seid ihr schon jetzt so gut wie tot. “

Nora kreuzte die Arme vor der Brust. „Sind wir das nicht sowieso? Was passiert, wenn wir gelandet sind? Deine Anhänger kommen aus ihren Löchern gekrochen und du wirst genüsslich dabei zusehen, wie sie uns massakrieren.“

Nicht, wenn du dich auf meine Seite stellst.“

Du erwartest doch wohl hoffentlich nicht, dass ich dir das glaube.“

Liara zuckte beiläufig mit den Schultern. „Eine andere Wahl hast du nicht.“

Wir haben Michael und bald auch dein Kind in unsrer Hand. Ich denke, das sind Argumente, die auch dich umstimmen werden. Du wirst uns zur Erde zurückbringen.“

Ganz bestimmt nicht.“

Wir werden sehen.“

Unsere Energiereserven sind fast leer.“

Woher willst du das wissen?“

Frag Silvan.“

Nora drehte sich ihm zu. „Stimmt das?“

Wenn wir umkehren“, antwortete er, „stellt sich nur die Frage, ob wir ersticken oder erfrieren werden. Lebendig werden wir die Erde nie erreichen.“

Verdammt!“ Noras Hand fegte über den Tisch. Bücher fielen mit einem lauten Knall auf den Boden. Keiner hob sie auf.

„Wenn ihr an meiner Seite steht und ich die Macht auf unserem Planeten zurückgewonnen habe, wirst du unermesslich reich sein. Du wirst unter meinem Schutz ein Leben führen, von dem du dir keine Vorstellung machen kannst.“

„Klar doch. Reich an schlechten Erfahrungen und unvorstellbares Leid. Das hab ich mir immer schon gewünscht.“

Die Kälte in Liaras Gesicht wich einem entnervten Augenrollen. „Du willst einfach nicht verstehen, worum es hier geht!“

„Doch. Es geht um unser aller Leben.“

Liara trat einen Schritt auf sie zu. Ihre Bewegung hatte jede Schwerfälligkeit verloren. Unter ihrem messerscharfen Blick konnte Nora sich nur mühsam beherrschen, nicht einfach wegzurennen.

„Es geht nicht nur um unser Leben“, erklärte Liara mit leiser und eindringlicher Stimme. „Es geht um das Leben und die Zukunft unzähliger Menschen. Jetzt existieren sie in einer Welt, in der ihr Leben keinen Pfifferling wert ist. Die Mächtigen bekämpfen sich ohne Ehre und Gewissen und das Volk wird von ihnen gnadenlos ausgeblutet. Wenn ich nicht zurückkehre, wir alles nur noch schlimmer werden. Komm zu uns.“

Noras Knie wurden weich. Wenn sie nicht gesessen hätte, wären sie unter ihr weggeknickt. Ihr gerade noch angespannter Atem und der hektische Schlag ihres Herzens beruhigten sich. Liaras hypnotisierenden Worte und Augen nahmen Besitz von ihr. Ihre Feindseligkeit erlahmte. Sie fühlte es, konnte dem aber nichts entgegensetzen, wollte es nicht einmal. Es war wie eine Droge, deren Wirkung sie sich bereitwillig hingab. Liara wirkte mit einem Mal weniger bedrohlich auf sie. Der Gedanke, dass der Wolf sich mit an Bord befand, gab ihr das Gefühl, vor allen Gefahren sicher zu sein. Ihr Körper richtete sich voller Vertrauen auf.

Silvan wusste um das, was vor seinen Augen geschah. Liara versuchte Nora als eine der Ihren anzunehmen. Normalerweise geschah es in beiderseitigem Einvernehmen. Der andere unterwarf sich der Kraft des Wolfes und diese erfüllte ihn mit Stärke und Zuversicht.

Jetzt wollte Liara Nora gegen deren Willen zu ihrer Verbündeten machen. Sie musste es, um sicher zu sein, dass sie, ihr Mann und ihr Kind, und damit das Geschlecht der Chimäre, überlebten. Wenn es ihr gelänge, würde Noras Widerstand zusammenbrechen, aber der Wolf nähme sie unter seinen Schutz. Es war auch zu Noras Bestem. Er schritt nicht ein.

Eine warnende Stimme meldete sich in Noras Hinterkopf. Zuerst war es nur ein fast unhörbares Raunen. Doch es schwoll immer mehr an, bis es den Damm ihres Bewusstseins durchbrach. „Du verdammte Hexe!“, stieß sie hervor. Fassungslos sprang sie auf und flüchtete aus dem Raum, weg von dem, was sich in ihrem Hirn breitmachte.

Im ihrem Quartier kauerte sie sich mit dicht an den Körper gepressten Knien in eine Ecke. Gerade noch früh genug hatte sie Liaras Manipulation bemerkt. Sie kochte vor Wut. Wie konnte sie es wagen! Aber unter ihrem Zorn fühlte sie ein leises Bedauern. Es wäre so leicht gewesen, sich Liaras Macht zu unterwerfen. Sie hatte keine Angst mehr gespürt. Es war, als wäre sie auf einer rosaroten Wolke geschwebt. Fast wäre sie der Versuchung erlegen. Dann fiel ihr Silvan ein. Er hatte sich nicht eingemischt, sie nicht vor Liara geschützt, obwohl er gewusst haben musste, was geschah. Ihre Wut schäumte auf auf wie überkochende Milch. Sein Verrat traf sie mehr als die Hinterlist dieser verfluchten Hexe.

 

Liara sah Silvan hinterher, als er den Raum verließ. Die Tür schloss sich hinter ihm und ließ sie alleine in ihrem Kerker zurück. Ihr Versuch, ihre Gegnerin zu einem ihrer Anhänger zu machen, war fehlgeschlagen. Schlimmer noch, Nora hatte es bemerkt. Liara konnte ihre Wut nur zu gut verstehen. Die Verzweiflung, die sie bisher immer noch hatte zurückdrängen können, breitete sich wie ein tödliches Gift in ihr aus.

Sie kannte dieses lähmende Gefühl, seit sie sich ihrer Verantwortung für ihre Anhänger und das Schicksal eines ganzen Planeten bewusst geworden war: die Angst zu versagen. Nie war sie von ihr gewichen, nicht einmal im Schlaf. Sie hatte sie immer gut verbergen können, hinter ihrer abweisenden Kälte, ihrem überkorrekten Auftreten und sogar hinter ihren Affären mit Männern, die nicht gewusst hatten, wer sie war und vor allem nicht, was sie war.

Ihre Anhänger hatten sie gleichermaßen bewundert und gefürchtet. Sie hatten in ihr ihre vom Schicksal auserkorene Herrscherin gesehen, die sie bar jeder Selbstzweifel ihrer Bestimmung zuführte. Für Außenstehende war sie eine reiche, junge und schöne, aber auch professionell handelnde und geschäftstüchtige Frau gewesen, die höchst erfolgreich eine weitverzweigte Firma leitete. Niemand hatte hinter die Fassade geschaut, die sie um sich herum errichtet und perfektioniert hatte. Außer Michael.

Er hatte ihr die Maske heruntergerissen. Er wusste um ihre Ängste. Er kannte ihre dunkle Seite voller rasender Leidenschaften und archaischer Instinkte, die sie und alle, die ihr nahe waren, zu zerstören drohten. Er war ihre Schwäche und gab ihr mehr Kraft als alles andere.

Seit er nach seiner Flucht freiwillig zu ihr zurückgekehrt war, hatte er ihre Bestimmung und ihr Tun nie wirklich infrage gestellt. Nur manchmal hatte er sie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, ohne sie jedoch zu bevormunden oder zu verurteilen. Er hatte die Einsamkeit vertrieben, die ihr ganzes Leben lang ihr treuer Begleiter gewesen war. Jetzt hatte Nora ihn nicht nur räumlich von ihr getrennt, sondern auch Zweifel in seinen Gedanken ausgesät und sie in einen Abgrund gestürzt, aus dem es kein Entkommen gab. Sie fühlte, wie ihre dunkle Seite sich immer mehr Bahn brach. Der Gedanke, sich dem Ansturm ihrer nur mühsam unterdrückten Natur zu überlassen, war verlockend. Nichts würde mehr sein wie zuvor. Fast erlag sie der Versuchung.

6. Leben

 Ohne jede Ankündigung lief eine warme Flüssigkeit an ihren Beinen herab. Obwohl sie keinen Schmerz spürte, wusste sie, dass es kein Urin war. Ihre Blase war gesprungen. Panik schnürte ihr die Kehle zu. Es war ihre erste Geburt und kein Mensch war hier, der ihr helfen konnte. Niemand hatte sie auf solch eine Situation vorbereitet. In ihrem Haus hatten ihr in den letzten Wochen ständig eine Hebamme und ein Arzt zur Verfügung gestanden, obwohl ihre Schwangerschaft unkompliziert verlaufen war.

Sie ging die wenigen Meter der Zelle nervös auf und ab. Ihr Unterleib zog sich schmerzhaft zusammen. Sie stützte sich an der Wand ab. Noch war der Schmerz erträglich, doch sie wusste, dass das nicht so bleiben würde.

Sie warf einen Blick auf das Bett und stieg vorsichtig hinein. Man hatte ihr gesagt, sie solle sich auf die Seite legen und sie tat es. Ihre Hände krallten sich voller Furcht in die Bettdecke.

Sie brauchte nicht lange zu warten. Obwohl sie wusste, dass die Geburt der Wölfe schneller verläuft als die normaler Menschen, überraschte sie die Kraft, mit der die nächste Wehe kam, vollkommen. Kaum war diese vorüber, nahm die folgende ihr für einen Moment den Atem. Ihr Geist schrie um Hilfe.

Silvan saß in der Kanzel und starrte düster in die Schwärze vor ihm. Dann hob er den Kopf. Er wusste, was gerade begann. Mit einem Satz sprang er auf und rannte los.

Nora hörte seine harten und schnellen Schritte, als er an der offenen Tür vorbeistürmte. Sie sah kaum mehr als einen dunklen Schatten. Zu fragen, was los war, blieb ihr keine Zeit. Sie rannte ihm hinterher. Schon nach wenigen Schritten ahnte sie, welches Ziel er hatte und warum er so hetzte.

Noch bevor sie Liaras Zelle erreichte, hörte sie einen Schrei. Durch die offene Tür sah sie Silvan vor dem Bett knien. Liara lag mit weit gespreizten Beinen darauf. Ihre Hand hielt die von Silvan, als wolle sie sie zerbrechen. Eine weitere Wehe ließ sie erneut aufschreien.

Als Nora nähertrat, sah sie, dass Liaras Kleid hochgerutscht war. Zwischen ihren Beinen lugte der Haarschopf eines Babys hervor. Sie warf einen Blick in Liaras Gesicht. Es war verzerrt und schweißüberströmt. Nora sah die nackte Angst darin, aber sie wusste nicht, ob sie ihr galt oder dem, was Liara in ihrer Körpermitte auseinanderriss.

Mit der nächsten Wehe trat der Kopf des Kindes hervor. Silvan nahm ihn wie einen kostbaren, zerbrechlichen Gegenstand in seine Hände. Liara lehnte sich erschöpft zurück. „Hilf uns“, flehte sie ihn an. „Du darfst ihn nicht töten.“

Ihr Körper presste das Kind mit einer letzten Anstrengungen aus sich heraus. Silvan nahm es entgegen, als hätte er so etwas schon oft getan. Nach einem kurzen Blick auf Nora legte er das Kind auf Liaras Bauch. Sie nahm es in ihre Arme. In ihrem Gesicht mischten sich Glück und Verzweiflung.

Silvan stand auf. „Hol eine Schere und irgendetwas zum Abbinden der Nabelschnur“, befahl er Nora. Sie lief zu ihrem Bad und nahm die Schere aus einem der Schränke. Hektisch sah sie sich um. Hier gab es nichts, dass man als Faden benutzen konnte. Sie ging zu ihrem Bett und schnitt kurzerhand zwei Streifen aus dem Betttuch. Dann rannte sie zurück.

Silvan nahm die Schere und die Baumwollstreifen entgegen, band die Nabelschnur ab und schnitt sie durch. Das Kind lag auf Liaras Brust. Kurz darauf kam die Nachgeburt. Silvan nahm sie entgegen und verließ damit den Raum.

Die Frauen blieben alleine zurück. Sie starrten sich an. Nora sah die Verzweiflung in Liaras Gesicht. Sie legte die Arme um ihr Kind, wissend, dass sie es nicht beschützen konnte, wenn Silvan den Befehl erhielt, es ihr wegzunehmen.

Nora sag das Kind an. Es war ein Junge. Sie runzelte die Stirn. Angeblich konnten die Liaden nur Töchter gebären. Die Männer hatten sie belogen.

Ihr Blick haftete auf dem Kind. Sie hatte seine Geburt miterlebt. Es war so klein. Seine Haut war von der Geburt noch bläulich verfärbt und schrumpelig. Winzige Finger griffen suchend nach Liara. Sein Mund bewegte sich und stieß kaum hörbare Laute aus.

Sie hörte Silvan hinter sich. „Bring das Kind raus!“, befahl sie ihm und sah das Entsetzen in Liaras Gesicht.

Nein, bitte nimm ihn mir nicht weg“, drang Liaras Stimme an ihr Ohr. „Ich werde alles tun, was du willst. Nur tu ihm nichts.“

Ihre Worte zerrissen Nora das Herz. „Bring ihn hier weg“, wies sie Silvan trotzdem an. Dieses Kind war ihre und seine Lebensversicherung.

Silvan trat neben Liara und streckte die Hände nach dem Kind aus. Sie drückte es fest an sich und wich zurück.

Ich werde ihn mit mir nehmen“, sagte Silvan leise. „So oder so. Wenn ich Gewalt anwenden muss, wird er vielleicht zu Schaden kommen. Das will keiner von uns beiden. Bitte gib ihn mir.“

Er beugte sich vor. Liara ließ es zu, dass er seine Hände um das Kind legte. Als er es hochhob, war es, als reiße er ihr das Herz aus der Brust. Silvan sah die Tränen in ihrem Gesicht und auch seine Kehle war wie zugeschnürt. Er floh mit dem Kind aus dem Raum. Nora folgte ihm langsamer.

Liara rollte sich auf dem noch blutigen und nassen Bett zusammen wie ein Embryo. Der Zweifel, ob es richtig gewesen war, Silvan das Kind zu überlassen, oder ob sie besser bis zum Letzten darum gekämpft hätte, durchbohrte sie. Noch nie hatte sie einen solchen Schmerz gespürt, nicht einmal, als ihre Schwester gestorben war. Ein qualvoller Ton kam aus ihrer Brust.

Silvan starrte auf das nackte Kind in seinen Armen. Zum ersten Mal gab es eine laute Äußerung von sich. „Ganz ruhig Kleiner“, sagte er und wiegte es ungelenk. „Es wird alles gut.“ Er drückte es an sich und spürte das Leben in dem kleinen Körper.

Fieberhaft überlegte er, was zu tun war. Er erinnerte sich an den entsetzten Blick, mit dem Nora das Kind angesehen hatte. Sie wollte es nicht töten, aber sie glaubte, es tun zu müssen. Er musste sie davon abhalten, ihm diesen Befehl zu geben.

Noch hatte sie ihn nicht zu sich gerufen. Er fasste einen Plan. Vielleicht blieb ihm nicht mehr Zeit. Er ging ins Bad und badete das Kind. Es war eine ungewohnte und für ihn bisher geradezu undenkbare Tätigkeit. Trotzdem schrie das Kind nicht. Es war, als wüsste es um die Gefahr und dass sie Verbündete waren.

Nachdem Silvan das Kind abgetrocknet hatte, betrachtete er sein Werk. Er war recht zufrieden damit.

Dann schlich er sich eher Noras Quartier an, als dass er ging. Die Tür öffnete sich lautlos. Nora sah ihm entgegen. Ihr verheultes Gesicht sagte ihm, dass er sie richtig eingeschätzt hatte.

Was tust du hier?“, fragte sie von seinem Erscheinen überrascht. Statt zu antworten, legte er das Kind aufs Bett und verschwand sofort wieder aus dem Raum.

Nora war von seinem Verhalten vollkommen verdutzt. Sie wollte ihm hinterherrennen, als das Kind laut schrie. Instinktiv drehte sie sich um und trat neben das Bett.

Vor ihr lag ein Neugeborenes, dessen Geburt sie miterlebt hatte. Es war nackt und hilflos. Und es schrie. Ihre Kiefermuskulatur verkrampfte sich. Sie kniete sich neben das Bett. „Sei still, kleiner Mann“, sagte sie mit besänftigender Stimme und legte vorsichtig einen Finger auf den Mund des Kindes. Es saugte an der Fingerspitze. Sie nahm eine kleine Hand mit winzigen Fingern daran in ihre. Sie war eiskalt.

Ihr Blick schweifte suchend durch den Raum, aber sie fand nichts, dass sich als Kleidung für ein Neugeborenes eignete. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf Silvan. Sofort trat er in den Raum. Er musste vor der Tür gewartet haben.

Herrin?“, fragte er für seine Verhältnisse geradezu devot. Fast hätte Nora gelächelt.

Haben wir hier irgendwo Babysachen und -nahrung?“

Bestimmt. Ich seh nach, wenn du es wünschst.“

Tu das.“

Während Silvan sich auf die Suche machte, legte sie die Bettdecke über das Kind. Verdammt, was mache ich hier bloß, dachte sie. Dieser Junge ist vielleicht mein schlimmster Feind und ich pass auf, dass er nicht friert.

Silvan kehrte mit einem Bündel in der Hand zurück. „Ich habe Kleidung und Windeln gefunden.“

Was ist mit Babynahrung.“

Er zuckte mit den Schultern. „Liara.“

Haben wir Traubenzucker oder so was, das wir ihm geben können?“

Das reicht nur als Überbrückung. Es braucht Milch.“

Als hätte es ihn verstanden, fing das Kind zu weinen an. Bei dem Geräusch zog sich alles in Nora zusammen. „Zieh ihn an. Dann bring ihn zu Liara. Wenn er getrunken hat, bringst du ihn wieder hierher.“

Unter ihren Augen zog Silvan dem Kind Windeln und Strampler an. Sie wunderte sich, wie zartfühlend er war. Dann nahm er es auf und ging zu Liaras Zelle. Er hatte einen kleinen Sieg errungen. Es würde noch viele brauchen.

Als die Tür aufging, rechnete Liara mit dem Schlimmsten. Dann sah sie Silvan mit dem Kind in den Armen und sprang auf. Mit wenigen Sätzen war sie bei ihnen. Fast riss sie ihm das Kind aus den Armen. Sie wich bis an die Wand zurück und drückte es an sich.

Was willst du?“, fragte sie argwöhnisch.

Er hat Hunger.“

Nora erlaubt, dass ich ihn stille?“, fragte sie ungläubig.

Ja.“

Mit vorsichtigen Schritten und ohne Silvan aus den Augen zu lassen, ging Liara zum Bett. Sie ließ sich darauf nieder und legte das Kind an ihre Brust.

Als es die ersten Schlucke trank, drückte sie ihre Lippen auf seinen Kopf. Ein nie gekanntes Glücksgefühl durchströmte sie. Alles andere war unwichtig. „Ich werde alles für dich tun“, versprach sie so leise, dass kein Mensch es hätte hören können.

Doch Silvan verstand ihre Worte. „Ich werde dich an dein Versprechen erinnern, wenn es an der Zeit ist, Herrin“, kündigte er an und ging.

 

Michaels Kopf schmerzte noch von dem Aufprall auf dem Tisch. Er war nichts gegen den Schmerz, der in ihm drin tobte. Er hatte seine schwangere Frau nicht schützen können und alles verloren. Der Anblick der sich öffnenden Tür ließ ihn das Schlimmste befürchten.

Als Silvan ihm gegenüberstand, erkannte er an dessen Verhalten und Gesicht, dass Nora ihm nicht erlaubt hatte, was er tat. Aber sie hatte es ihm auch nicht ausdrücklich verboten und Silvan hatte nicht gefragt. Es würde ihr nicht gefallen, wenn sie es erführe.

Was willst du?“, fragte Michael misstrauisch.

Komm mit.“

Wohin?“

Zu deiner Frau und deinem Kind.“

Jedes Misstrauen war für den Moment dahin. Michael stürmte aus dem Raum. Er drückte sich durch die Tür von Liara Quartier, bevor sie sich richtig geöffnet hatte.

Sie sah erschreckt auf. Dann erkannte sie ihn. „Michael!“

Liara!“ Er kniete sofort neben ihr. „Wie geht es dir?“

Gut, und deinem Sohn auch.“

Michael betrachtete das Kind. Sein Kind. Vorsichtig, als könne er es zerbrechen, berührte er sein Gesicht. Liara sah Tränen in seinen Augen. Er wischte sie verlegen weg.

Während das Kind noch ein paar Schlucke trank, hielt Michael Liaras Hand. Er war erleichtert, dass die beiden wohlauf waren, aber er wagte es nicht, ein Gefühl von Glück aufkommen zu lassen. Keine Sekunde vergaß er Silvan, der hinter ihm stand.

Das Kind schlief gesättigt und zufrieden ein. „Komm mit!“, forderte Silvan Michael auf. Dieser zuckte zusammen. Seine Hand schloss sich fester um Liaras. „Ich werde dich immer lieben, dich und unser Kind.“ Er beugte sich vor und drückte einen Kuss auf ihre Lippen. Als er den Kopf hob, sah er Tränen in ihren Augen. Sie schluckte, unfähig zu antworten.

Er fühlte Silvans Hand auf seiner Schulter. Zuerst wollte er sie abschütteln. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er einen tödlichen Hass, aber er wusste, dass er nicht den Hauch einer Chance gegen diese Kreatur hatte. Außerdem war es Silvan gewesen, der ihn einen kurzen Moment bei seiner Familie hatte sein lassen.

Komm“, wiederholte Silvan. Michael erhob sich wie um Jahrzehnte gealtert. Als er zurücktrat, wollte Liara seine Hand nicht loslassen. „Bitte“, sagte er leise. Er musste stark sein, seinen Hass unterdrücken, alles ertragen, damit seine Familie überlebte. Silvan roch seine Angst, seine Verzweiflung, seine Wut, und er verstand sie. Es war reine Vernunft, versicherte er sich selbst, die mich dazu bewogen hat, Michael zu seiner Familie zu bringen. Sie werden Noras Wünschen jetzt eher entgegenkommen.

Liaras Finger lösten sich widerwillig und strichen über Michaels Hand. Es gelang ihm kaum, sich von ihr abzuwenden. Nachdem Silvan ihn in sein Quartier zurückgebracht hatte, sank er schluchzend auf den Boden. Sein Mund sprach einen unhörbaren Fluch aus.

Silvan machte sich auf den Weg zu Nora. Vor ihrem Quartier blieb er stehen und starrte die Tür an. Seine Fäuste waren geballt, als wolle er auf jemanden einschlagen. Dann wendete er sich um. Eine quälende Unruhe ergriff ihn. Wie getrieben wanderte er durch das Schiff, vom obersten bis zum untersten Deck, aber selbst nachdem er jeden Winkel durchschritten hatte, wich sie nicht von ihm. Er stöhnte leise auf und schlug hart mit der Hand gegen die Wand. Der Schmerz brachte ihm keine Erleichterung.

Er machte erst Halt in der Kanzel. Seine Hände schlossen und öffneten sich nervös. Eine Hand hob sich und legte sich auf das Fenster, als wolle sie den freien Raum dahinter ertasten.

Die meiste Zeit seiner Existenz hatte er unter freiem Himmel verbracht. Nur selten hatten Gebäude ihm die Sicht genommen. Noch nie war er eingesperrt gewesen. Seine Kehle war so trocken, als wäre er durch eine Wüste gerannt. Er schlug mit der flachen Hand gegen das Fenster, wissend, dass auch er es nicht zerbrechen konnte. Und selbst wenn, hätte es ihm keinen Weg hinaus geboten.

Es zog ihn zu Noras Quartier. Er wollte dem Sog widerstehen, aber er wuchs mit jedem Atemzug. Alles hier stimmte nicht, und auch er funktionierte verkehrt.

Er ging los. Seine Füße nahmen einen anderen Weg als sein Wille. Noch bevor die Tür zur Seite glitt, wusste er, dass er verloren hatte. Die ganze Zeit hatten sich seinen Gedanken, gefangen in einem Hamsterrad, nur um sie gedreht. Er trat in den Raum. Einen Schritt. Dann noch einen.

Nora.

Sie saß nur mit einem Unterhemd und einer Unterhose bekleidet auf dem Bett. Er sah den Schreck in ihren Augen, als sie den Kopf hob. Silvans plötzliches Erscheinen konnte nur Schlimmes bedeuten.

Sein Gehirn setzte aus. Worte und Gedanken fehlten. Er hatte vergessen, warum er gekommen war. Ohne einen Ton hervorbringen zu können, starrte er sie an.

Silvan?“

Er trat weiter vor. „Ich …, ich ...“, kam es zum ersten Mal in seiner Existenz stockend aus seinem Mund. Sein Kopf zuckte, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen.

Was ist los?“

Es ist alles in Ordnung, Nora.“

Wo ist das Kind?“

Bei Liara.“

Sie sprang auf. „Verdammt. Ich hatte gesagt, du sollst es wieder mit hierher bringen.“

Es kann uns nicht schaden.“

Das Kind noch nicht. Seine Mutter aber schon.“

Je mehr sie sich an ihren Sohn bindet, desto eher kannst du sie erpressen.“

Nora nickte resignierend. Silvan hatte Recht, auch wenn es ihr gegen den Strich ging, ein Kind derart zu gebrauchen. Aber zu sterben ging ihr noch viel mehr gegen den Strich.

Silvan rührte sich nicht. Sein Mund war trocken, seine Füße schwer wie Blei.

Nora sah in fragend an. „Ist noch was?“ Doch auch ohne eine Antwort zu erhalten, verstand sie. Er schluckte.

Sie streckte die Hand aus. „Komm zu mir.“ Ihre Worte drangen heiser und verlockend an sein Ohr. Er schloss die Augen. Etwas sagte ihm, es wäre besser, sich umzudrehen und so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, aber mit jedem Atemzug zog er auch ihren Duft in sich hinein. Als er die Augen wieder öffnete, versank sein Blick in ihrem. Seine Hand hob sich und berührte ihre. Sie konnte sein Zittern fühlen. Ihr Daumen strich über seine Finger. Jeder spürte die Hitze des anderen.

Er riss sich los. Seine Hände umfingen ihren Kopf. Mit einem Stöhnen presste er er seine Lippen auf ihre, als hinge sein Leben davon ab. Feuer schoss durch ihre Adern.

Er fiel über sie auf das Bett. Sie rollten wie im Zweikampf über die Matratze. Seine Berührungen waren grob. Sie hörte das Reißen von Stoff.

Nora lag unter ihm, die Lippen halb geöffnet, die Augen verschleiert. Das Unterhemd war eingerissen. Ihre braunen Haare schlängelten sich über das Kissen wie ein dunkler Heiligenschein. Das Gesicht, dass sie umrahmten, war das eines Engels und eines Teufels zugleich. Er fuhr mit der Hand durch die seidigen Strähnen, fasste sie und drückte sie so fest auf die Bettdecke, dass Nora ihren Kopf nicht mehr bewegen konnte. Seine andere Hand packte ihr Kinn und strich mit einer harten Bewegung ihren Hals herab. Ihre Adern pochten unter seinen Fingern.

Genauso grob fasste er ihre Brust. Sie stöhnte. Ihr Schmerz erschien ihm richtig. Er fasste fester zu. Sie versuchte ihn wegzudrücken, aber sein Körper senkte sich auf sie herab, presste sie auf das Bett.

Du tust mir weh“, beschwerte sie sich.

Soll ich aufhören?“

Nein.“

Sein Mund folgte der Spur, die seine Hand auf ihren Hals gezeichnet hatte. Sie spürte seine Zähne auf ihrer Haut, scharf und tödlich. Als sie über ihrer Schlagader waren, setzte ihr Atem aus. Eine winzige Bewegung von ihm, ein kurzer, scharfer Schmerz, und alles wäre vorbei. Adrenalin schoss in ihre Adern. Ihr Herz raste und mit ihm ihr ganzer Körper. Er fühlte es und verharrte einen langen Moment. Der Duft ihrer Angst berauschte ihn. Sie hörte einen unerwartet genussvollen Seufzer, bevor sein Mund seinen Weg nach unten fortsetzte und die Brust erreichte, die seine Hand immer noch so fest umspannte, als wäre sie der Zügel eines scheuenden Pferdes. Seine Zunge reizte sie. Ihre Brustwarze drängte hart in seinen Mund.

Er hob den Kopf. „Du bist noch schöner, wenn du Angst hast.“

Ich habe keine Angst.“

Sein Lächeln war hochmütig. Noch nie hatte sie einen so begehrenswerten Mund gesehen. Sie hob den Kopf, um ihn zu berühren. Er zog ihn weg.

Sie warf ihren Kopf zurück aufs Kissen. „Ich denke, du musst tun, was ich will.“

Sie hörte ein leises Lachen. „Das tu ich doch.“

Ach. Was will ich denn?“

Du willst von einem Mann gefickt werden, den du fühlst, keine Marionette. Von einem, der stärker ist als du, und der dir verfällt.“

Und du glaubst, das bist du?“

Ja.“

Das heißt, du passt dich meinen Wünschen an?“

Nein. Ich tu, was wir beide wollen.“

Sie fühlte seine Hand an ihrer Hüfte. Dann riss auch der Stoff ihrer Unterhose. Ihre Beine umfingen sein Becken, drückten ihn an sich. Seine Hose rieb sich an ihrem Unterleib.

Zieh dich aus“, verlangte sie mit rauchiger Stimme.

Er sprang auf und sie lachte, als sie sah, mit welcher Eile er ihrem Wunsch nachkam. Der Anblick seines perfekten Körpers verschlug ihr den Atem. Sie streckte ihre Arme aus und er stürzte sich hinein. Wo er vorher grob gewesen war, war er jetzt stürmisch. Seine Hände waren überall und wo sie nicht waren, fühlte sie seinen Mund auf ihrer Haut.

Dann war er in ihr drin und alles andere war unwichtig. Ihre Finger strichen über seinen Rücken, folgten der Linie seiner Wirbelsäule, gruben sich in seine Muskulatur, während er kraftvoll in sie stieß. Sie spürte seine steigende Erregung. „Komm“, sagte sie und sein sich in sie ergießender Samen versetzte sie in einen Glückstaumel.

Sie lagen atemlos nebeneinander. Ihre verschwitzen Körper berührten sich. Wieder wunderte er sich über sein Herz, das fast schon schmerzhaft in seiner Brust schlug. Als sie aufstand, fehlte etwas an seiner Seite. Er hörte das Wasser der Dusche laufen. Sie wusch seinen Duft von ihrer Haut. Es fühlte sich falsch an. Warum wusste er nicht. Er folgte ihr.

Noch nackt stand sie im Bad und legte gerade das Handtuch beiseite. Sie sah sein Stirnrunzeln. „Was ist?“

Nichts.“ Seine Stimme klang beleidigt.

Jetzt runzelte sie die Stirn. Dämon hin oder her, Mann bleibt Mann, dachte sie.

Sie trat vor ihn und legte ihre Arme um seinen Hals. „Du hast doch was.“

Er wendete den Kopf zur Seite, um sie nicht anzusehen. „Du bist nicht die erste, die vor mir flieht, nachdem sie bekommen hat, was sie wollte“, erklärte er.

Sie hörte die Enttäuschung in seiner Stimme. Dabei war er ihr immer so selbstbewusst und eigenwillig, geradezu störrisch bis hin zur Aufsässigkeit erschienen, trotz des Bluteides. „Sieh in den Spiegel und sag mir, was du siehst,“ verlangte sie und nahm ihre Arme von seinem Hals.

Er sah sie erstaunt an.

Tu es.“

Sein Blick fiel in den Spiegel. Nichts Unerwartetes war dort.

Ich sehe mich“, sagte er mit einem belanglosen Achselzucken.

Und was noch?“

Dich.“

Und was noch?“

Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu. „Wände, die Decke, ein Stück der Tür ...“

Sie in dein Gesicht“, insistierte sie. „Was siehst du?“

Mich“, wiederholte er. Sein Gesicht kannte er so gut, dass er es aus dem Gedächtnis hätte zeichnen können. „Schwarze Haare, eine Narbe“, er grinste Nora an, „und einen Typen, der gar nicht mal so übel aussieht.“

Sie konnte ihr Grinsen nicht unterdrücken. „Stimmt.“ Dann wurde sie wieder ernst. Er spürte ihre Hand auf seinem Rücken. „Sieh dich an. Dich, nicht ein paar Lichtreflexionen auf Glas und Metall.“

Seine Augen maßen jeden Quadratzentimeter des Spiegels, doch da war nichts anderes zu sehen, als das, was er gerade aufgezählt hatte.

Mach die Augen zu, Silvan.“

Er tat es.

Was sieht du?“

Nichts. Es ist dunkel.“ Sie hörte die aufsteigende Ungeduld in seiner Stimme.

Er wartete.

Sieh in dich hinein“, hörte er ihre Stimme, so leise, dass er sie kaum verstand. „Die Dunkelheit ist nicht tot. Sieh sie, fühle sie.“

Die Dunkelheit war kalt und klar wie ein grundloser See. Doch ihre Worte klangen in ihm nach wie Wellen auf der Oberfläche, wenn ein Stein in ihm versunken ist. Dann war da noch etwas anderes. Er war immer eine Hülle gewesen, unter der ein Mechanismus reibungslos und unauffällig lief. Nie hatte er ihm mehr Bedeutung beigemessen, als ihn in Betrieb zu halten, indem er Stoffe ein- und ausführte und ihm Ruhepausen gewährte, wenn dies erforderlich gewesen war. Alles war ihm vertraut gewesen.

Seine Sinne schienen rückwärts zu fließen. Es war, als taste er sich von innen ab. Er fand mehr als bloße Materie oder Dunkelheit. Da war ein Erkennen wie eine flüchtige Erinnerung, überlebenswichtig und doch nicht greifbar. Etwas wollte aus ihm heraus und gleichzeitig hinein. Eine Flamme hüllte ihn von innen her ein, erst warm, dann leuchtend und heiß, doch sie verbrannte ihn nicht. Überrascht riss er die Augen auf und starrte Nora im Spiegel an. Ihr intensiver Blick traf ihn wie eine Pistolenkugel. Die Luft war dickflüssig. Er atmete tief ein.

Nora lenkte seinen Blick wieder auf sein Gesicht. „Was siehst du?“

Mich.“ Diesmal drückte dieses einzige Wort sein Erstaunen aus. Nur mühsam konnte er seine Hand davon abhalten, über das kalte Glas zu streichen. Er wandte sich abrupt um. „Ich sehe mehr als genug!“ Mit schnellen Schritten verließ er das Bad.

 

7. Feuermal

 Nora sah ihm hinterher. Sie hatte in sein Gesicht gesehen und wusste, wie aufgewühlt er war. Er brauchte Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Es musste für ihn sein, als sei er aus einem lebenslangen Koma erwacht. Wobei der Begriff lebenslang relativ war. Sie rief ihn nicht zurück.

Auch sie musste irgendwie runterkommen. Sie hatte irgendwo Bücher gesehen und ging durch das Schiff, um eines zu suchen. Als sie die Bibliothek fand und das erste Buch in die Hand nahm, fiel ihr ein, dass das Kind immer noch bei Liara war. „Oh, Scheiße!“, schoss es aus ihrem Mund. Silvan zu sich zu rufen und ihn zu zwingen, es seiner Mutter wegzunehmen, wollte sie jetzt nicht. Es selbst zu tun, wäre Wahnsinn gewesen. Liara würde ihr ihren Sohn niemals aushändigen.

Ihre Schritte führten sie durch das Schiff. Vor der Tür zu Michaels Quartier blieb sie stehen, die Zähne fest zusammengebissen. Sie wusste nicht, ob sie das Richtige tat. Die Finger der einen Hand gruben sich nervös in das Buch, die andere legte sich auf den Türöffner. Die Tür glitt zur Seite.

Der Raum war bis auf Michael und ein Bett leer. Er sah sie verwundert an. Niemand war hinter ihr, kein Schatten, der sie gegen alles und jeden schützen würde. Sie hielt nichts in der Hand, das sie als Waffe gebrauchen konnte, nur ein Buch.

Sicher hatte sie inzwischen von Silvans Eigenmächtigkeit, ihn zu seiner Frau und seinem Kind zu bringen, erfahren. Er hatte nichts Falsches getan. Trotzdem erwartete er, dass Nora wütend auf ihn sein würde. Die Muskeln in seinem Nacken spannten sich an.

Aber ihr Gesicht war nur ernst und nachdenklich, fast abwesend. Er sah eine tiefe Müdigkeit darin. Sie war aus ihrem Leben gerissen worden, um, wie sie glaubte, ihrem Tod entgegenzugehen.

In einer anderen Situation hätte er vielleicht Mitleid mit ihr gehabt. Aber das war hier fehl am Platze. Sein Leben und das seiner Familie hing von ihr ab, und er war sich inzwischen sicher, dass sie ihrer aller Tod befehlen würde, wenn sie glaubte, es gäbe keine andere Möglichkeit für sie, selbst zu überleben.

Sie trat vor ihn.

Was willst du?“, fragte er und sie hörte die Sorge in seiner Stimme.

Nora zuckte unbehaglich mit den Schultern. Das Buch glitt aus ihrer Hand und fiel auf den Boden. Reflexartig beuget sie sich vor, um es aufzuheben. Ihr Pulli rutsche nach oben, der Hosenbund nach unten.

Michael riss die Augen auf, als er dass Muttermal auf ihrer Haut sah. In diesem Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Nora war eher klein und zart. Braune Haare umrahmten ihr Gesicht. Sie war energiegeladen. Und dann der Fleck, der ihre Haut zeichnete. „Du hast ein Muttermal!“, platzte es aus ihm heraus.

Liara hatte zu ihm gesagt, Nora ähnele ihrer Schwester, ohne eine Ahnung zu haben, wie recht sie gehabt hatte. Ein Schauder lief seinen Rücken herunter. Was durch sein Gehirn hämmerte, war unmöglich. Es durfte nicht wahr sein, denn sonst wäre der Wahnsinn hier noch viel bedrohlicher, als er bisher befürchtet hatte.

Nora hatte war bei seinen Worten hochgefahren. Sie fasste unwillkürlich nach dem Muttermal. „So was hat jeder.“

Ja, sie hatte eins, und sie hatte es immer schon gehasst. Wenn sie nackt war, war es unübersehbar, leuchtete geradezu auf der Haut über ihrem Hintern. Rot und unübersehbar. Jeder, der es sah, starrte es an und machte blöde Witze darüber. Sich früher im Schwimmunterricht vor den anderen Mädchen in der Gemeinschaftsumkleide umziehen zu müssen, war eine Tortur gewesen.

Stimmt, so was kommt oft vor“, versuchte Michael seinen Fehler auszubügeln.

Sag mir, was es bedeutet“, verlangte Nora trotzdem.

Nichts.“ Michael presste seine Kiefer aufeinander. Er durfte ihr auf keinen Fall verraten, was er dachte. Aber sie konnte ihn zwingen zu reden, wenn nicht jetzt, dann später.

Du lügst!“, brauste sie auf. Er wich vor ihr zurück. Sie setzte ihm nach. „Sag es mir! Du hast mich schon belogen, als du gesagt hast, die Liaden bekämen nur Töchter. Tu das nicht noch einmal.“

Michael schüttete den Kopf. „Ich habe dich nicht belogen. Unser Sohn ist der erste Junge seit Generationen.“ Er setzte sich aufs Bett und starrte die Wand an wie ein trotziges Kind. Nina baute sich vor ihm auf. Sein Trotz reizte sie fast noch mehr als ihre Neugier. „Ich rate dir, es mir zu sagen.“

Er wendete ihr den Blick zu. „Und was wenn nicht?“

Obwohl sie über ihm stand und sie die Furcht in seinem Gesicht sah, war ihr klar, dass er stärker war als sie und kurz davor stand, zu explodieren. Er war vor ihr nicht wegen seiner Angst zurückgewichen, sondern um seine Wut zu zügeln. Dass sie ihn, der immer bemüht gewesen war, alle zu beschwichtigen, fast zum Ausrasten brachte, ließ sie vor sich selbst erschrecken. Sie atmetet tief durch, um sich zu beruhigen. „Dann wird Silvan es mir sagen.“ l

Michael erkannte, dass sie versuchte, wieder die Kontrolle über sich zu bekommen. „Was wolltest du von mir?“

Obwohl sie wusste, dass er vorhatte, sie abzulenken, ging sie darauf ein. „Ich muss mit dir reden.“

Über Liara?“

Ja. Du musst dafür sorgen, dass sie keine Dummheiten macht.“

Du überschätzt meinen Einfluss auf sie.“

Was glaubst du, wird mit uns passieren, wenn wir landen?“

Michael zuckte mit den Achseln, ohne zu antworten.

Das weißt du genauso gut wie ich. Sie hasst mich und sie wird mich zwingen, Silvan zu befehlen, sie unschädlich zu machen. Du weißt was das bedeutet. Rede mit ihr!“

Und wie stellst du dir das vor? Kein Mensch ist in der Lage, ihr Befehle zu erteilen.“

Sie hört auf dich. Ich nehme an, Liara hat Vorbereitungen für ihre Ankunft getroffen. Sie hat mir die Kooperation angeboten, aber so, wie sie sich das vorstellt, geht das nicht. Ich will nicht zu einem ihrer Zombie werden und erst recht nicht, dass sie meinem Kind etwas antut, wenn ich wirklich schwanger bin. Ich will leben und ich will zurück zur Erde. Sie wird wissen, wie das geht.“

Du verstehst immer noch nicht, worum es ihr geht.“

Doch das tu ich. Sie wollte mich eiskalt umbringen! Ich bin ihr warum auch immer im Weg.“

Sie ist nicht so kaltblütig und brutal, wie du denkst. Auch wenn ich mich wiederhole: In ihr toben kaum bezähmbare Leidenschaften und Emotionen. Ihre Kälte, die sie der Außenwelt zeigt, ist nur ihr Schutzschild.“

Du meinst so eine Art Gummizelle, die andere und sie selbst vor ihrem Wahnsinn schützt.“

Michael verzog ärgerlich den Mund. „Sie ist nicht verrückt!“

Klar“, gab Nora ironisch zurück. „Sie ist nur etwas anders als andere.“

Jedenfalls wollte sie nie jemanden umbringen.“

Sie hat es also schon getan?“

Michael dachte an den Attentäter. Fehild hatte ihm mit bloßen Händen getötet, während sie beide daneben gestanden hatten. Er konnte sich immer noch an das Geräusch des brechenden Genicks erinnern. Wozu wäre Liara fähig gewesen, wenn ihre kleine Schwester es nicht getan hätte? Er wusste es nicht, aber er ahnte es. Sie hätte aus dem Mann herausgepresst, wer seine Komplizen gewesen waren – mit allen Mittel. Im Gegensatz zu Fehild aber nicht aus einem wollüstigen Gefühl der Macht heraus, sondern den Notwendigkeiten folgend.

Sie hat nichts gegen dich persönlich, Nora“, versicherte er. „Sie tut nur das, was sie für ihre Pflicht hält.“

Ihre Pflicht interessiert mich so viel, wie wenn auf ihrem Scheißplaneten ein Esel einen Furz macht.“

Du bist diejenige, die hier durchdreht“, warf Michael ihr vor. „Du kannst sie nicht ausstehen. Aber du musst sie nicht mögen, um mit ihr zu kooperieren.“

Mit mögen oder nicht mögen hat das nichts zu tun.“

Womit dann?“

Wenn Silvan mich nicht beschützen würde, hätte sie mich schon längst kaltgemacht. Das reicht wohl als Grund.“

Du bist nicht nur gezeichnet wie sie, sondern auch genauso dickköpfig!“, entfuhr es Michael.

An dem Schreck in seinem Gesicht erkannte Nora, dass sich hinter seinen Worten viel mehr verbarg, als sie hätte hören sollen. Eine noch unbestimmte Ahnung blitze in ihrem Hirn auf. „Das Muttermal! Deshalb hast du mich danach gefragt. Was bedeutet es.“

Frag doch deine Kreatur!“

Nora sah Michael einen Augenblick lang nachdenklich an. „Liara hat auch so ein Muttermal, nicht wahr? Und es hat irgendeine Bedeutung.“

Frag deine Kreatur“, wiederholte Michael mit geballten Fäusten. Er hatte schon viel zu viel verraten.

Ich frage dich!“, fauchte Nora am Ende ihrer Geduld. „Und es ist besser, wenn du es mir endlich sagst. Wir haben deine Frau und deinen Sohn in unserer Hand. Euer verdammter Starrsinn geht mir so was auf den Senkel. Ich hatte gedacht, dass wenigstens du vernünftig bist.“

Michael richtete sich fast wie in Zeitlupe auf. Nichts kaschierte die Wut in seinem Gesicht. „Sei vorsichtig was du tust, Nora! Noch ist Liaras Selbsterhaltungstrieb stärker als ihre Fähigkeit zur Selbstaufopferung und ihr Hang zur Selbstzerstörung. Wenn du es zu weit treibst, wird nichts und niemand mehr sie aufhalten können, nicht einmal deine Kreatur. Sie wird dich vernichten, und wenn es uns alle das Leben kostet.“

Nora wusste, wenn sie auf seine Provokation einging, würde es schon jetzt in einer Katastrophe enden. Mit zusammengebissenen Zähnen und Tränen der unterdrückten Wut in den Augen flüchtete sie aus dem Raum.

Als sich die Tür hinter ihr schloss, sank Michael auf das Bett. Er hatte nicht nur seine Familie nicht schützen können, sondern jetzt auch ausgeplaudert, was ihnen zum Verhängnis werden konnte. Seine einzige Hoffnung war, dass Silvan, der Nora nichts verraten hatte, obwohl auch er von den Muttermalen und deren Bedeutung wissen musste, auf Liaras Seite stand.

Als sich die Tür öffnete, sah Silvan gleich die Wut in Noras Gesicht. Er glaubte den Grund zu kennen, doch er täuschte sich.

Das Muttermal?“, fuhr sie ihn an.

Du weißt davon?“

Wieso hast du mir nichts gesagt! Ich dachte, du tust, was ich will.“

Ich führe deine Befehle aus und ich beschütze dich. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.“

Seine Gelassenheit brachte sie restlos auf die Palme. „Ich will alles wissen.“

Ich glaube nicht, dass irgendjemand alles weiß.“

Dann sag mir, was du weißt.“

Seit der Drache dem Feuer der brennenden Goldschmiede entstiegen ist, tragen die Liaden sein Zeichen: ein feuerrotes Muttermal. Ich nehme an, Liara hat eins, und du hast auch eins.“

Zufall!“

Silvan sah sie nachdenklich an. „Liaras jüngere Schwester war dir sehr ähnlich, äußerlich und vom Charakter.“

Ich kann ja wohl kaum eine von diesen Bekloppten sein!“

Nein, das ist unmöglich“, stimmte er ihr zu. Und doch war der Zufall zu groß, um nicht Zweifel aufkommen zu lassen.

Komm mit“, verlangte Nora unmissverständlich. „Ich will mit Liara reden, sofort.“

Silvan nickte und folgte ihr durch die Korridore.

Als sich die Tür öffnete, lag Liara auf dem Bett neben ihrem schlafenden Sohn. Nora vermied es, das Kind anzusehen. Sie wusste nicht, was sie ihm noch antun musste.

Liara erhob sich vorsichtig, um ihren Sohn nicht aufzuwecken. Sie stellte sich schützend vor ihn. Schweigend sah sie die beiden an, bereit ihr Kind bis zum letzten Atemzug zu verteidigen.

Du hast ein Muttermal?“, fragte Nora.

Liara blickte überrascht erst Silvan, dann sie an. „Ja.“

Zeig es mir“, verlangte Nora.

Warum?“

Ich will es sehen.“

Liara schüttelte abwehrend den Kopf. „Vergiss es!“

Zeig es ihr“, verlangte nun auch Silvan mit harter Stimme.

Was nimmst du dir heraus, Kreatur!“

Silvans Stimme wurde wieder weicher. „Es ist wichtig für Nora. Bitte, Herrin.“

Warum sollte mein Muttermal wichtig für sie sein?“

Sie hat auch eins.“

Ja und? Wer nicht.“

Es ist das Feuermal der Liaden.“

Liara glaubte nicht richtig zu hören. „Das ist unmöglich!“

Ich habe es selbst gesehen. Zeig ihr deins.“

Zögerlich hob Lara ihr Kleid so weit, dass es ihren Bauch freigab.

Nora stockte der Atem. Das Muttermal war größer als ihres, aber von gleicher Form und Farbe. Sie streckte eine Hand vor, um es zu berühren.

Liara zuckte zurück, als habe Nora eine hochansteckende Krankheit, und ließ ihr Kleid fallen. „Und? Weißt du jetzt mehr?“

Nicht wirklich.“

Von Bett her kam ein leises Weinen. Sofort war Liara bei ihrem Kind und nahm es hoch.

Nora trat neben sie. „Hat er auch eins?“

Wage es nicht ihn anzufassen!“, drohte Liara.

Krieg dich wieder ein. Ich hatte nicht vor, ihm was zu tun. Hat er nun eins oder nicht?“

Du hast ihn doch nackt gesehen.“

Nicht ganz. Und ich habe auch nicht darauf geachtet. Also?“

Liara warf Silvan einen hilfesuchenden Blick zu. „Ja“, sagte dieser an Nora gewandt.

Dann erklärt mir endlich, was es damit auf sich hat.“

Gibt es noch weitere Liaden als dich auf der Erde, Liara?“, wollte Silvan wissen.

Nicht dass ich wüsste. Außer meiner Familie hat kein Liade je seinen Fuß auf die Erde gesetzt.“

Und außer dir sind alle tot?“

Ja.“

Sicher?“

Meine Großmutter ist als einzige Liade zu Erde geflohen. Sie hatte nur eine Tochter, meine Mutter. Beide sind gestorben.“

Und Fehild und du, ihr ward die einzigen Kinder eurer Mutter?“

Die einzigen, die überlebt haben.“

Was heißt das?“

Liara machte eine abwehrende Handbewegung. „Es ist lange her.“

Was.“

Liara schluckte und sah ins Leere. „Meine Mutter hatte eine dritte Tochter.“

Erzähl uns von ihr.“

Da gibt es nichts zu erzählen. Sie starb kurz nach der Geburt.“

Wie?“

Ein Unfall.“

Was für ein Unfall?“

Liara drückte ihr Kind an sich. „Sie war fast drei Jahre jünger als ich. Es war Winter und sie hatte plötzlich hohes Fieber bekommen. Meine Mutter ließ sich mit ihr zum Krankenhaus fahren. Auf dem Weg fuhr ihnen ein anderes Auto in die Seite. Ihres überschlug sich mehrmals.“

Liara stockte und sah Silvan an.

Was war weiter?“

Meine Mutter war nicht angeschnallt. Es hat ihr das Leben gerettet.“ Bitterkeit lag in Liaras Stimme.

Warum das?“

Sie wurde aus dem Auto geschleudert. Man fand sie schwer verletzt und bewusstlos auf dem Feld neben der Straße. Später fand man die verbrannten Leichen meiner Schwester und des Fahrers im Auto.“ Sie schlug mit der Hand auf den Tisch. „Niemand wurde jemals zur Rechenschaft gezogen. Das andere Auto war wie vom Erdboden verschwunden.“

Fahrerflucht?“

Liara sah Silvan mit verkniffenem Gesicht an. „Es war Mord!“

Wieso kommst du darauf.“

Das Auto meiner Mutter fuhr auf einer geraden Landstraße. Das andere kam von oben aus einer Seitenstraße. Das Wetter war kalt, aber klar, die Straße trocken. Nichts hat die Sicht eingeschränkt. Da war kein Baum, kein Strauch, nur eine Wiese. Der Fahrer musste das Auto meiner Mutter von weither gesehen haben. Er hat es bewusst gerammt. Es gab keinerlei Bremsspuren.“

Wann wurde deine Schwester geboren?“, fragte Nora.

Vor 23 Jahren.“

An welchem Datum?“

Am 15. Januar.“

Der Unfall war am 21. März?“

Woher weißt du das?“

Vor 23 Jahren, kurz nach Mitternacht, wurde am 22. März ein etwa zwei Monate altes Baby auf einem Autobahnparkplatz zwischen parkenden LKW gefunden. Es war vollkommen nackt und fast erfroren. Auf seinem Rücken war ein rotes Muttermal.“

Liara verstand. „Du warst das Baby?“

Ja. Man hat denjenigen, der mich da abgelegt hat, nie gefunden. Niemand hat mich vermisst. Später wurde ich von meinen Eltern adoptiert.“

Alle schwiegen betreten.

Du bist meine Schwester“, durchbrach Liara flüsternd die Stille.

Das kann nicht sein“, antwortete Nora genauso leise. „Das kann einfach nicht sein!“

Doch“, erklärte Silvan gelassen. „Irgendjemand hat ein anderes Kind in das Auto gelegt und sich Nora geschnappt. Sie wurde sicher deponiert. Man hat damit gerechnet, dass auch eure Mutter bei dem Unfall ums Leben kommen würde. Liara und Fehild auszuschalten, wäre nicht schwer gewesen. Wer das dritte Kind gehabt hätte, dem würde die Zukunft gehören. Irgendetwas muss dazwischengekommen sein.“

Aber niemand wusste, dass meine Mutter mit meiner Schwester unterwegs war“, hielt Liara dagegen. „Niemand von ihren Anhängern hätte sie jemals verraten!“

Anscheinend wurde euer Haus beobachtet und als sich die Gelegenheit bot, haben sie zugeschlagen.“

Beide Frauen sahen ihn fassungslos an.

Silvan legte eine Hand auf Noras Schulter. Sie sah ihn mit großen Augen an. „Selbst wenn das stimmt, ich habe nicht diese komische Gabe.“

Nicht jeder Liade hat sie.“

Aber jeder mit einem Feuermal hatte sie“, erklärte Liara. „Wenn Nora eine Liade wäre, hätte sie sie auch. Das ist aber nicht der Fall. Sie ist nicht meine Schwester.“

Silvan schüttelte den Kopf. „Sie ist eine Liade und sie hat die Gabe. Nur wusste bisher niemand davon.“

Die Gabe zeigt sich von alleine.“

Bei Nora nicht. Warum weiß ich nicht. Du wirst sie lehren, sie zu benutzen.“

Für wie bescheuert hältst du mich?“, entrüstete sich Liara. „Ich werde doch nicht meiner Feindin beibringen, eine Waffe gegen mich zu benutzen.“

Du wirst“, sagte Silvan hart. „Und zwar als Verbündete, nicht als Feindin.“

Liara sah Nora verächtlich an. „Das kannst du mir nicht befehlen, und Nora erst recht nicht.“

Ich glaube kaum, dass Nora was dagegen hat.“ Er warf einen eindringlichen Blick auf das Baby. „Und ich denke, du wirst tun, was ich von dir verlange.“

Niemals!“

Habe ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden?“, meldete Nora sich zu Wort.

Silvan zuckte mit den Schultern. „Nein. Auch du wirst tun, was die Situation erfordert. Ich lasse euch kurz allein. Rauft euch zusammen oder schweigt euch meinetwegen an.“ Er wendete sich Liara zu. „Und dir rate ich, halte dich zurück.“

Was fällt dir ein!“, schimpften beide gleichzeitig.

Silvan grinste breit. „Dieses Duett ist schon mal ein Anfang. Macht weiter so.“ Er drehte sich um und ging zur Tür. „Zickenkrieg im Weltall - was für ein schöner Titel für ein B-Movie.“

Die Frauen standen auch noch wie erstarrt im Raum, als sich die Tür hinter ihm schloss. Als Nora aufging, dass er sie zusammen eingesperrt hatte, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Liara konnte sie töten. An dem Ausdruck in ihren Augen erkannte sie, dass sie das Gleiche dachte.

In diesem Augenblick begann das Kind zu weinen.

Er braucht eine neue Windel“, erklärte Liara.

Nora nickte. „Wie heißt er?“

Er hat noch keinen Namen.“

Warum nicht?“

Es bringt Unglück, einem Kind schon vor der Geburt einen Namen zu geben. Ich wollte es mit Michael tun.“ Ihre Stimme wurde brüchig. „Aber dazu kommt es ja nicht mehr.“

Sie drehte ihr Gesicht weg, damit Nora ihre Tränen nicht sehen konnte und ging ins Bad. Ihr Kind würde namenlos sterben, hier irgendwo in einem eiskalten Nichts oder nach der Landung. Niemand würde sich seiner erinnern.

Nora folgte ihr. An die Wand gelehnt sah sie zu, wie Liara die Windel öffnete. Als sie die zähe, grünlich-schwarze Masse darin sah, erschrak sie. „Was ist das?“

Kindspech.“

Kindspech?“

Der erste Stuhl eines Kindes.“

Ist der immer so?“

Ja.“

Woher weißt du das?“

Ich hab meine Lektion gelernt.“ Nora hörte die Bitterkeit in Liaras Stimme.

Sie sah zu, wie das Kind gesäubert und gewickelt wurde. Es machte einen zufriedenen Eindruck. Bei dem Gedanken, Silvan vielleicht – sicher – befehlen zu müssen, es zu töten, spürte sie einen Kloß in ihrer Kehle. Sie streckte die Hand aus, um es zu berühren.

Liaras erster Impuls war, die Hand wegzuschlagen. Im letzten Moment hielt sie sich zurück. Wenn Nora eine Bindung zu ihrem Sohn aufbaute, würde sie ihn nicht umbringen lassen. Ihre Hand krallte sich in die Unterlage.

Nora fühlte die weiche warme Haut unter ihren Fingern. Das Kind sah sie an und lächelte, glaubte sie. Ihr Herz tat einen Satz. Sie lächelte zurück. „Na, Kleiner.“ Sie erschrak über ihre eigenen, leise gesprochenen Worte.

Als sie aufsah, blickte sie direkt in Liaras Augen. Sie las eine Frage darin. „Ja“, sagte sie mit betont fester Stimme. „Ich kann es, wenn du mich dazu zwingst.“

Sie blickte wieder in das Gesicht des Kindes. Würde sie wirklich den Befehl aussprechen können, es zu töten?

Silvans Bild stand vor ihren Augen. Sie hätte wütend auf ihn sein müssen, aber nicht einmal das gelang ihr richtig. Stattdessen wollte sie ihn neben sich haben, seine Wärme und Stärke spüren, und ja, auch seine Hände und Lippen auf ihrer Haut und seine Hitze hart und fordernd in ihr.

Silvan glaubte Noras Ruf zu hören. Er ging zurück zum Bad und blieb im Türrahmen stehen. Sein Blick haftete auf ihrem Rücken. Er wollte, dass sie ihn ansah. Aber sie drehte sich nicht zu ihm um, so als existiere er nicht. Verdammt, das tat er auch nicht. Nur Liara bedachte ihn mit einem mehr als flüchtigen Seitenblick, der ihm ihre ganze Verachtung zeigte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Wenigsten Nora musste glauben, dass er existierte, er wollte es wie sonst nichts. Es war ihm in diesem Moment wichtiger noch als Liaras Achtung, selbst als ihr Leben.

Was ist los?“, fragte er in die drückende Stille.

Jetzt drehte Nora sich überrascht zu ihm um. „Nichts.“

Warum hast du mich gerufen und verhältst du dich jetzt so?“, stellte er sie zur Rede.

Ich habe dich nicht gerufen.“

Ich habe es deutlich gespürt.“

Sie antwortete ihm nicht. Auch ihre abweisende Haltung blieb unverändert, sie ließ ihn nicht an sich heran.

Er wurde unsicher. Angriff oder Verteidigung. Etwas anders kannte er in einer solch bedrohlichen Situation nicht. Beides erschien ihm jetzt falsch. Seine Programmierung hatte ihn nicht auf so eine Situation vorbereitet. Er wusste nicht einmal, ob sie ihn angriff oder vor ihm zurückwich. Seine Hand ballte sich zur Faust. Er wollte etwas zerstören. Egal was. „Habe ich dir etwas getan?“ Seine Stimme schnitt durch die Distanz zwischen ihnen.

Sie drehte den Kopf. Ihr Gesicht, ihre Worte und ihre Haltung verrieten ihre Wut. „Ob du mir was getan hast? Ohne dich wäre ich nicht in diesem verdammten Schlamassel. Du bist die reinste Naturkatastrophe. Mir langt´s!“

Er nahm ihre überschäumende Wut mit Erleichterung wahr. Im Gegensatz zu ihrem Schmollen war sie für ihn verständlich. Ihm stand nur der Platz in ihrem Leben zu, den sie ihm zustand. Er hätte damit zufrieden sein müssen. Aber er wollte mehr, als nur geduldet zu werden. Seine Augen folgten ihrer Hand, als sie mit ihren Fingern durch ihre Haare strich. Sie war schöner und begehrenswerter als alles, was er während seiner Existenz gesehen hatte. Schon jetzt fehlte ihm ihre Nähe und Wärme. Er musste nicht nur jeden ihrer Befehle befolgen, er wollte es. Aber er sah auch die Drohung in ihrem Blick, sich gegen ihn zu stellen, ihn auf immer zurückzuweisen. Mit einem frustriertem Schnauben drehte er sich um und rannte aus dem Bad. Und dann bemerkte er auch noch die Enge in seiner Hose. Sein Mund war trocken vor Verlangen. Verdammt, diese Frau machte ihn fertig.

Nora blieb wie vom Donner gerührt zurück, ohne zu verstehen, was gerade geschehen war. Was war los mit ihm? Dann verzog sich ihr Gesicht zu einem bärbeißigen Lächeln. Sie hatten wohl gerade ihre erste Ehekrise und es würde nicht mehr lange dauern, bis der Tod sie schied.

Liara hatte die beiden bewegungslos beobachtet. Zum ersten Mal seit Langem spürte sie einen Hoffnungsschimmer. Ein Zwist zwischen den beiden konnte ihr nur zum Vorteil gereichen.

8. Alpträume

 Mitten in der Nacht riss es Silvan aus dem Schlaf. Sein Herz raste und presste sein Blut mit Hochdruck durch seine Adern. Er hatte Bilder gesehen, an die er sich kaum erinnern konnte. In wilder Flucht war er vor etwas weggerannt, mit Füßen, die so schwer gewesen waren, dass er sie kaum vom Boden hatte abheben können. Dann war er gefallen, tief gefallen, und in seinem Bett aufgewacht. Seine Hände krallten sich noch in die Bettdecke, als wolle er sich daran festhalten. Die Haare in seinem Nacken waren gesträubt. Er wollte sich auf seinen Verfolger zu stürzen und sprang aus dem Bett. Heftig atmend sah er sich im matten Licht seines Quartiers um. Kein Feind war zu sehen, zu hören oder zu riechen. Alles war ruhig. Er war alleine.

Angst hatte immer seine Sinne geschärft, ihn aufgeputscht. Jetzt lähmten ihre Nachwehen seine Gedanken. Er warf ein Kissen durch den Raum. Diese Kissenschlacht war idiotisch, sinnlos. Er trat nach dem Kissen.

Mit immer noch rasendem Herzen legte er sich wieder ins Bett. Seine Augen starrten in die Luft. Noch nie hatte er geträumt oder länger als ein paar Minuten gebraucht, um einzuschlafen. Jetzt lag er lange wach, wälzte sich von einer Seite auf die andere. Als er am Morgen aufwachte, fühlte er etwas Feuchtes in seiner Hose. Er griff danach. Er wusste, was es war, und doch sah er es verständnislos an. Sein Samen klebte an seinen Fingern, verschwendet in einem Traum, an den er sich nicht erinnern konnte.

Der Raum erdrückte ihn. Die Luft war zäh. Er musste raus hier. Wie getrieben hetzte er durch das Schiff. Schweiß brach aus allen seinen Poren. „Nora“, kam es leise über seine Lippen.

Als er ihr Quartier betrat, schlief sie fest. Er stieß mit dem Ellenbogen gegen den Lichtschalter. Lampen tauchten sein unerlaubtes Eindringen in ein mattes Licht. Er löschte es nicht.

Sie hatte sich in die Bettdecke gewickelt, als suche sie Schutz darin. Nur ihr Kopf ragte hervor. Seine Kleidung hüllte ihn ein wie Stacheldraht. Er riss sie sich vom Leib und warf sie zu Boden. Mit gerunzelter Stirn sah er auf sie herab. Er war der Abkömmling eines Dämons. Menschen glaubten, Wesen wie er könnten Besitz von ihnen ergreifen. Doch er war besessen von ihr. Und er wusste, es war nicht nur der Bluteid, der ihn ihr untertan machte.

Auch als er sich neben sie legte und sich an ihren nackten Körper drückte, wachte sie nicht auf. Er konnte ihr Herz schlagen hören. Laut und stark. Der gleichmäßige Rhythmus ließ seinen Atem ruhiger werden. Seine angespannte Muskulatur erschlaffte. Der Schlaf kam endlich auch zu ihm.

Bevor sie ins Bett gegangen war, hatte sie das Licht gedimmt, bis nur noch Schatten zu erahnen gewesen waren. Jetzt war es heller.

Sie lag auf der Seite und sah eine Wand aus Bettzeug vor sich aufragen. Mit zusammengekniffenen Lidern tastete sie nach einem Kissen und zog es sich über den Kopf. Ihr Fuß stieß gegen etwas, das härter war als das Bettzeug, aber weicher als die Wand. Sie zog das Kissen wieder von ihrem Kopf und hob den Oberkörper an.

Silvan lag neben ihr und schlief wie ein Toter, was er seiner Meinung nach ja auch irgendwie war.

Jetzt war es noch viel zu früh, um aufzustehen oder darüber nachzudenken, wann und warum er gekommen war. In der Hoffnung noch etwas schlafen zu können, legte sie wieder das Kissen auf ihr Gesicht. Es wurde sofort weggerissen und landete auf der anderen Seite des Raumes auf dem Boden.

Was soll das?“, beschwerte sie sich.

Silvan kniete neben ihr auf der Matratze. Er war so nackt, wie dieses Dämonending ihn geschaffen hatte – und so schön wie ein Gott. „Ich muss mit dir sprechen.“

Jetzt?“ Noras Hand angelte nach einem anderen Kissen. Auch dieses zog er mit einem Ruck weg. „Hör mir zu“, verlangte er barsch und betätigte den Lichtschalter neben dem Bett.

Sie hob die Hand vor ihre Augen, um sie vor dem grellen Licht abzuschirmen. Er glaubte, sie wolle ihn schlagen und packte ihr Handgelenk.

Du tust mir weh“, maulte sie.

Sofort ließ er sie los. „Wir sind bald da.“

Wo?“

Liaras Planet.“

Nora fuhr hoch. „Ich dachte, wir hätten noch ein paar Wochen Zeit.“

Leider nein.“ In seiner Stimme war kein Bedauern.

Verdammt! Verdammt! Verdammt!“

Du fluchst zu viel, um eine wahre Dame zu sein. Aber es hört sich verdammt gut an.“ Er beugte sich vor und seine Lippen berührten sanft und fragend ihre. Als sie ihn nicht zurückwies, vergrub er seine Hand in ihrem Haar. Sein Mund presste sich so hart auf ihren, dass sie seine Zähne spürte. Ein Schauder lief trotz der schlechten Nachricht, die er ihr gerade gebracht hatte, durch ihren Körper. Sie drängte sich an ihn. Als sich sein Mund von ihrem löste, schnappte sie nach Luft. Er riss die Bettdecke weg. Sie war so nackt wie er. Seine Augen glitten verlangend über ihren Körper. Ihre Haut war gerötet und feucht, die Brustwarzen kamen ihm verführerisch entgegen. Ein selbstsicheres Lächeln trat auf seine Lippen. Er legte sich auf den Rücken. „Komm!“

Sein Glied reckte sich ihr entgegen. Mit viel zu hastigen Bewegungen setze sie sich auf ihn und nahm es in ihrem brennenden Unterleib auf. Das übermütige Lächeln in seinem Gesicht wich dem Ausdruck der Erregung. Er schloss die Augen, um sich ganz ihrem Rhythmus hinzugeben. Schon nach kurzer Zeit öffnete er sie wieder.

Ihre Brüste schwangen über ihm. Er griff danach. Sie schlug seine Hände weg. Gehorsam nahm er sie zurück und legte sie auf ihre Oberschenkel. Er konnte ihre Muskeln unter ihrer Haut spüren, während sie ihn ritt.

Sie konzentrierte sich ganz auf ihr Verlangen und benutzte ihn, um es zu stillen. Ihre Erregung wuchs, während er sie fasziniert beobachtete.

Direkt nachdem sie gekommen war, stieg sie mit einem sadistischen Lächeln von ihm runter und legte sich neben ihn. Ihr noch erhitzter Körper schmiegte sich an seinen.

Er sah sie überrascht an. Sie roch nach Sex. Sein Glied war noch aufgerichtet und und seine Hoden schmerzten.

Du darfst es gerne zu Ende bringen“, schlug sie immer noch lächelnd vor. Es war das Lächeln einer Katze, die eine Maus gefangen hat.

Hitze stieg in seinem Gesicht auf. „Verfluchte Hexe!“, keuchte er.„Ist es dir peinlich?“ Ihr Lächeln wurde breiter.

Seine Hand griff nach seinem Glied, an dem noch ihre Feuchtigkeit und ihr Duft hafteten. Das Wissen, dass sie ihm zusah, während er es rieb, ließ seine Erregung nach oben schnellen.

Nachdem er gekommen war, sank sein Körper in die Kissen zurück. „Verfluchte Hexe!“

 

Sie musste mit Liara reden, es war unvermeidlich. Die Korridore, durch die sie mit der Pistole in der Hand schritt, waren abgedunkelt. Nicht nur sie selbst, sondern auch das Schiff wusste, dass es noch Nacht war.

Als sie sich Liaras Quartier näherte, hörte sie Stimmen und verharrte einen Moment. Sie konnte nicht verstehen, was Liara und Silvan miteinander besprachen. Auf leisen Sohlen schlich sie dicht an der Wand entlang zu der offen stehenden Tür.

Sie beugte sich gerade so weit vor, dass sie einen Blick in den Raum erhaschen konnte. Liara wandte ihr die Seite zu.

Als sie Silvan sah, hätte sie sich vor Überraschung fast verraten. Er lag ausgestreckt vor Liara auf dem Boden, den Blick starr auf ihre Füße gerichtet. Seine Arme waren zur Seite ausgestreckt. Es war eine Geste absoluter Unterwerfung. „Ja, Herrin, ich werde dir in allem gehorchen, so wie es mir möglich ist.“

Stehst du zu mir oder zu Nora.“

Silvan schwieg.

Gib mir eine Antwort!“, verlangte Liara hart.

Ich bin durch den Bluteid an Nora gebunden, Herrin.“

Was ist, wenn sie tot ist?“

Dann werde ich dir in allem gehorchen.“

Wirst du sie töten?“

Nein!“

Und wenn ich es dir befehle?“

Ich werde sie gegen jeden, der ihr Schaden zufügen will, beschützen und jeden, der sie ermordet, töten.“

Auch mich?“

Auch dich Herrin. Du weißt das.“

Ja.“ Liara überlegte einen Moment. „Bring Michael zu mir.“

Ja, Herrin.“

Während Silvan sich erhob, wich Nora zurück. Sie hatte genug gehört. Liara plante ihren Tod, und Silvan war ihr Komplize. Dafür nahm sie sogar Michaels Tod in Kauf.

 

Silvans Erscheinen ohne Nora verblüffte Michael erneut. Dann erkannte er in seiner Miene etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Nora hatte seinen Tod befohlen und Silvan war gekommen, um ihren Befehl auszuführen. „Was hast du mit Liara gemacht?“, stieß er hervor.

Es geht ihr gut, und eurem Kind auch.“

Immer noch misstrauisch sah Michael Silvan an. „Was willst du?“

Liara will dich sehen.“

Und Nora hat nichts dagegen?“

Silvan zuckte mit den Schultern und ging aus dem Raum. „Sie hat es nicht verboten.“

Michael löste sich aus seiner Erstarrung und folgte ihm. Als sich die Tür zu Liaras Quartier öffnete, drückte er Silvan beiseite und stürmte hinein. Seine Arme schlossen sich so fest um sie, dass sie kaum atmen konnte. „Du lebst“, keuchte er erleichtert. Sein Blick fiel auf das Bett. Sein Sohn lag ruhig schlafend dort.

Du lebst“, wiederholte er, als könne er es kaum glauben.

Er bemerkte, dass Liara seine Umarmung nicht erwiderte, sondern nur über sich ergehen ließ. Er löste sich von ihr. „Was ist los.“

Liara konnte die Angst in seiner Stimme hören. „Lass uns allein!“, befahl sie Silvan. Er kam ihrer Aufforderung sofort nach.

Das Eis in ihren Augen traf Michael wie Pfeilspitzen. „Ich muss mit dir reden.“

Ja?“

Wir haben unser Ziel fast erreicht.“

Jetzt schon?“

Wir waren schneller als erwartet.“

Ich versteh nicht.“

Wie dem auch sei. Nora muss jetzt eine Entscheidung treffen.“ Sie sah Michael hart an. „Du weißt, was das bedeutet.“

Wieder schlang er seine Arme um Liara. „Ich werde nicht zulassen, dass sie euch etwas antut“, versprach er.

Diesmal erwiderte Liara seine Umarmung. Michael war ihr einziger Halt in diesem Alptraum. Sie presste ihr Gesicht fest auf seine Schulter, um ein Schluchzen zu unterdrücken, aber er konnte ihre Tränen durch den Stoff seiner Kleidung spüren. „Du wirst das nicht verhindern können. Wenn sie es Silvan befiehlt, wird er uns alle töten.“ Ein verzweifeltes Lachen erschütterte ihren Körper. „Ich werde es ihm nicht einfach machen, aber selbst ich habe keine Chance gegen ihn.“

Sie wird kein unschuldiges Kind töten“, versuchte Michael sie zu trösten.

Wenn ich tot bin, wird auch er sterben. Sie kann ihn nicht ernähren.“

Du hast gesagt, wir sind bald da. Sicher wird sie erst die Landung abwarten, bevor sie ihm den Befehl gibt, wenn überhaupt. Sie wird dort eine Möglichkeit finden, damit wenigstens er überlebt.“

Wie? Sie kann zwar inzwischen unsere Sprache gut genug, um sich zu verständigen, aber es wird nicht ausreichen, sich zu verteidigen, wenn man Silvans widernatürlichen Natur erkennt. Man wird alle drei erschlagen wie tollwütige Hunde.“

Sie ist eine Liade und ein Wolf. Sie wird es schaffen. Silvan wird alles tun, damit ihr das gelingt“, versicherte Michael.

Liara schüttelte den Kopf. „Es gibt nur eine Möglichkeit.“

Welche?“

Liara atmete tief ein. Sie musste Worte sagen, was sie niemals aussprechen wollte, um das Fortbestehen ihres Geschlechts zu sichern. „Du musst …“

Ja?“

Du musst … Du musst …“ Sie sah in Michaels Gesicht und erkannte Hoffnung und seine bedingungslose Liebe darin. Er würde alles tun, was sie von ihm verlangte, selbst wenn es bedeutete, sein Leben für sie und ihr Kind zu opfern. „Du musst Nora …“

Ja?“

Ihre Kehle schmerzte. „Du musst alles tun, was Nora von dir verlangt, oder Silvan.“

Er legte seine Arme um sie und drückte sie fest an sich. „Ich werde alles tun, damit wir überleben.“ Er lächelte bitter. „Und wenn es auch bedeutet, sich mit dem Teufel persönlich zu verbünden.“

Liara schloss die Augen und presste die Kiefer aufeinander. Sie hatte versagt. Schon wieder! Sie hatte ihre Gefühle über ihre Pflicht gestellt.

 

Nora saß auf dem Bett, die Beine angezogen, den Kopf an die Wand gelehnt. Zurück zur Natur. Von wegen! Wäre sie in ihrer Wohnung in der Stadt geblieben, wäre ihr diese ganze Scheiße nicht passiert. Die Zeit, die ihr noch blieb, bis sie den Auftrag zum Mord aussprechen musste oder selber sterben würde, ging zur Neige. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie knallte den Hinterkopf gegen die Wand. „Ich will nach Hause“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.

Du hast bald ein neues Zuhause“, hörte sie plötzlich Silvan. Sie hatte ihn nicht kommen gehört und zuckte zusammen.

Ihr eisiger Blick traf ihn. Er blickte über ihren Missmut verwundert fragend zurück. Ihre ganze Haltung war abweisend. Sie schwieg. Ihre Augen waren gerötet.

Er trat neben sie. „Geh nicht mehr alleine zu Michael.“

Warum nicht?“

Tu es einfach nicht.“ Er drehte er sich ruckartig weg und verließ den Raum.

Offensichtlich wollte er ihr keine Erklärung zu geben. Dabei ahnte er nicht, dass Nora den Grund für seine Warnung schon kannte. Sie sah ihm nachdenklich hinterher: Wem galt seine Loyalität?

9. Schwüre

 Silvan stand mit hinter dem Rücken gekreuzten Händen vor Liara. „Herrin, bitte folge mir.“

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. „Wohin?“

In die Kanzel.“ Er trat mit einer angedeuteten Verbeugung zur Seite, um ihr den Weg freizumachen. Seine Augen waren auf den Boden gerichtet. Sie wusste, was er plante, und wollte ihr Kind hochheben.

Er bleibt hier!“, verlangte er trotz seiner respektvollen Haltung hart.

Ohne ihn gehe ich nicht.“

Er hob den Blick zu ihr. „Ihm wird nichts geschehen. Komm.“

Nein!“

Dann eben nicht.“ Silvan wandte sich der Tür. Von seiner respektvollen Haltung war nichts mehr übrig geblieben. „Er wird wie wir alle in der Atmosphäre verglühen. Ein schmerzvoller, aber wenigsten passender Tod für einen Drachen. Es ist deine Entscheidung, Herrin.“ Er hob die Hand, um die Tür zu schließen.

Liaras Blick wechselte hektisch zwischen ihm und ihrem Kind hin und her. Sie wusste, dass Silvan recht hatte. Wenn sie das Schiff nicht sicher zu Boden brachte, war alles aus. Wenn sie es tat, bestand vielleicht noch ein Funke der Hoffnung. Wenn sie ihren Sohn hier alleine zurückließ, könnte Nora die Situation ausnutzen und ihm etwas antun, ohne die Gefahr einzugehen, dass Silvan es vielleicht doch zu verhindern versuchte. Wenn, wenn, wenn, … Ihre Gedanken rasten. „Warte!“, rief sie dann, ohne wirklich eine Entscheidung getroffen zu haben. Nach einem letzten, schmerzvollen Blick auf ihr Kind folgte sie Silvan. Das leise Geräusch der sich schließenden Tür sägte sich durch ihre Lungen.

Die Kanzel war bis auf sie beide leer. Liara konnte ihr Ziel noch nicht ausmachen, aber sie fühlte deutlich, dass sie sich ihm näherten.

Silvan wies stumm auf die Sessel vor der Konsole. In diesem Augenblick waren alle Zweifel beseitigt. Sie setzte sich hin und ihre Augen glitten über die Monitore, ihre Hände über die Steuerelemente.

Silvan stand hinter ihr und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Ihr war vieles zuzutrauen, auch dass sie noch irgendwelche Tricks auf Lager hatte, die Nora und ihm gefährlich werden konnten. „Wenn du auch nur die Andeutung irgendeiner Dummheit machst, wirst du sterben“, drohte er.

Und dann Nora.“ Sie warf ihm einen bissigen Blick zu. „Du jedenfalls nicht, Kreatur.“

Aber deine Familie und damit das Geschlecht der Liaden wird mit mir vergehen. Du bist vielleicht bereit zu sterben, aber bist du das auch in dem Wissen, dass dein Mann und dein Sohn dir folgen werden?“

Liara biss die Kiefer zusammen und starrte geradeaus. Die bunten Lichter der Monitore verschwammen in ihren Tränen. Nein, sie war nicht bereit, ihrer Familie den Tod zu bringen. Verdammt, warum hatte die Schwangerschaft sie so schwach werden lassen! Und warum war ihre Kraft nach der Geburt noch nicht wieder so stark wie zuvor? Früher hätte sie es auf einen Kampf mit dieser widernatürlichen Kreatur ankommen lassen. Die Kraft des Wolfes in ihm war stärker als in ihr, aber sie war auch eine Liade. Die Leidenschaft des Drachen hätte aus ihr eine unberechenbare und mächtige Gegnerin gemacht. Sie hätte eine kleine Chance gehabt, ihn niederzuringen. Aber jetzt gab es noch zwei, für die sie die Verantwortung trug. Ihr Versagen würde unweigerlich den Tod der beiden nach sich ziehen.

Silvan wusste um den Kampf, der in ihr tobte, und immer noch ihrer aller Leben bedrohte. „Ich bin nicht gegen dich, Herrin“, beschwichtigte er sie mit leiser, aber eindringlicher Stimme. „Und Nora ist es auch nicht.“

Bei meiner Schwester bin ich mir nicht so sicher wie du.“

Was tut sie hier?“

Noras scharfe Stimme ließ Liara herumfahren. Sie sah ihren Sohn in den Armen der anderen und wollte sich auf sie stürzen. Ihre Augen glühten gelb. Silvan legte blitzschnell seine Hände auf ihre Schultern und drückte sie in den Sessel. „Bleib ruhig!“, herrschte er sie an. Sie versuchte ihn abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht. Das Wissen, diese Nora hörige Kreatur auf keinen Fall verletzen zu dürfen, zwang sie, sich zu zurückzuhalten.

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Der Drang, Nora auf der Stelle zu töten, schwoll in ihr an wie der Druck in der Magmakammer eines Vulkans kurz vor der Eruption. „Lass mich los du verfluchtes Ding. Sie bringt mein Kind um.“

Silvan Hände auf ihren Schultern wurden noch schwerer. Nur wenig mehr und ihre Knochen würden brechen. Das Glühen seiner Augen antworte ihrem. „Wenn sie das wollte, hätte sie es schon längst getan.“

Sie will, dass ich dabei zusehe!“

Verdammt, Liara, sie ist nicht so grausam. Sie ist nicht Fehild.“

Trotz seiner Worte gelang es Liara kaum noch, sich zusammenzunehmen. Ihr Blick haftete auf Nora und ihrem Kind. Eine falsche Bewegung und nichts und niemand mehr würde sie aufhalten können.

Noch nie hatte Nora eine solche Verzweiflung und gleichzeitig Drohung in einem Gesicht gesehen wie jetzt in Liaras. Es würde nur eines winzigen Funkens bedürfen, um eine Explosion auszulösen. „Er hat geschrien“, sagte sie leise. „Deshalb habe ich nachgesehen, was mit ihm ist. Ich habe nicht vor, ihm etwas zu tun.“ Sie trat langsam vor. Silvan fühlte Liaras Zittern. Seine Finger bohrten sich warnend in ihre Schulter.

Unter Liaras starrenden Augen legte Nora das Kind in den zweiten Sessel und trat einen Schritt zurück. Jetzt hielt auch Silvans Hand Liara nicht mehr auf. Sie stürzte vor und riss ihr Kind an sich.

Silvan warf Nora einen wütenden Blick zu. „Warum hast du ihn hierher gebracht.“

Er hat geschrien“, wiederholte sie.

Silvan betrachtete Liara. Sie drückte ihr Kind an sich. Ihre Augen glühten immer noch gelb. Es würde nahezu möglich sein, das Kind wieder von seiner Mutter zu trennen, ohne dass es zu einem Kampf auf Leben und Tod käme. Obwohl er sich sicher war, als Sieger daraus hervorzugehen, gab er nach. „Sieh zu, dass wir heil hier runter kommen, Herrin.“

Geht zurück!“, verlangte Liara. „Alle beide.“

Warum?“, fragte Nora misstrauisch. „Was hast du vor?“

Um das Schiff zu steuern brauche ich beide Hände. Geht zurück!“ Sie würde ihr Kind nicht ablegen, während die anderen so nahe neben ihr standen.

Nora beantwortete ihren herausfordernden Blick mit einer wütenden Grimasse. „Du hast hier keine Forderungen zu stellen!“ Auch ihre Nerven waren kurz davor durchzubrennen.

Bevor Liara antworten konnte, fasste Silvan Nora am Arm und zog sie fort. „Komm, lass sie! Sie wird ihre Familie nicht gefährden, wenn du sie nicht dazu zwingst.“

Nora schüttelte seine Hand ab. „Sie wird das ausnutzen, wenn sie unbeobachtet ist.“

Er sah von einer zur anderen. Das Glühen war aus seinen Augen verschwunden. Trotzdem zuckten beide unter seinem warnenden Blick zusammen. „Jetzt hört mir zu – beide! Das hier ist keine Sandkastenschlacht. Wir sind hier in einem Krieg, einem richtigen, blutigen und grausamen Krieg. Und es ist mir so was von egal, ob ihr euch liebt oder hasst, aber ihr werdet ab jetzt alles tun, damit wir diesen Krieg gewinnen. Beide!“

Er starrte Liara an. „Du wirst uns in die Umlaufbahn und runter bringen. Ich denke, du bist klug genug, keinen Dummheiten zu machen.“ Sein Starren brach nicht ab. „Verstanden?“

Du hast mir nichts zu befehlen, Kreatur!“

Doch, das habe ich. Zurzeit ist die Macht auf Noras Seite. Akzeptier das. Anscheinend bist du durch deinen Hass zu verblendet, um zu sehen, was wirklich wichtig ist. Wenn nötig, werde ich dich zwingen zu tun, was zu tun ist.“

Er wandte sich an Nora, bevor Liara, die schon wütend ihren Mund geöffnet hatte, ihre Erwiderung anbringen konnte. „Und für dich gilt das Gleiche. Du wirst Liara machen lassen, was notwendig ist.“

Mir hast du nichts zu befehlen“, begehrte nun auch Nora auf.

Silvan lachte böse. „Willst du es etwa auf einen Versuch ankommen lassen? Notfalls werde ich auch dich zwingen, das Richtige zu tun.“

Das tust du nicht!“

Lass es auf einen Versuch ankommen.“

Nora spürte, dass sie die Kontrolle über sich verlor und kurz davor war, mit bloßen Fäusten auf Liara loszugehen. Trotz ihres vor Jahren mitgemachten Selbstverteidigungskurses wäre das nicht gut für sie ausgegangen, so viel wusste sie. Dass Silvan sie tatsächlich verteidigen würde, dessen war sie sich nicht mehr sicher. Sie stampfte mit dem Fuß auf und drehte sich um. Unter Liaras erstauntem Blick verließ sie wutschnaubend die Kanzel.

Nora“, hörte sie Silvans Stimme schon nach wenigen Metern hinter sich. Sie ging weiter, ohne sich umzudrehen. Er holte rasch auf. „Nora!“ Seine Stimme war rau. Jetzt drehte sie sich um.

Er kam die letzten Schritte auf sie zu und ragte vor ihr auf.

Was ist“, fragt sie grollend, obwohl sie in seinem Gesicht erkannte, was er von ihr wollte.

Seine Finger berührten ihre Lippen. „Nora.“ Seine Stimme war belegt.

Ihre Wut schmolz dahin. „Silvan“, hauchte sie. Ihre Arme legten sich um seinen Hals und zogen ihn zu sich herab. „Ich bin so froh, dass du mir nachgekommen bist.“ Oh Gott, er gehörte ihr, aber er hatte ihren Körper in seiner Gewalt. Sie war zu keinem Widerstand fähig. Und das wusste er, und das nutze er aus.

Seine Hand fuhr wild durch ihre Haare und presste sie an die Wand. „Ich konnte nicht anders.“

Liara?“

Sie ist beschäftigt.“

Er küsst sie mit einer nie gekannten Heftigkeit. Seine Zunge drückte sich verhungernd in ihren Mund. Sie nahm sie genauso gierig in sich auf. Die Nähe des Todes erweckte jeden ihrer Sinne wie aus einem Tiefschlaf. Durch den Stoff ihrer Hosen fühlt sie seine harte Erektion. Ihre Wangen glühten, aber dennoch fühlte sie die Hitze seiner Finger, als sie darüber strichen.

Da war keine Zeit mehr für Spielereien. Seine Hand griff fordernd in ihren Schritt. Er stöhnte ärgerlich auf, als ihre Hose ihm Widerstand leistete. Ihre Hände lösten sich von seinem Hals, um ihre Hose zu öffnen. Sie zog sie über ihren Po, während er immer noch ihren Kopf mit ihren Haaren an die Wand heftete.

Ihre Beine wurden durch den Hosenbund zusammengepresst. Trotzdem bohrte sich seine Hand dazwischen. Für einen Moment dachte sie, wie verrückt das war, was sie hier taten. Der Moment war sofort vorüber.

Ich will dich jetzt.“ Seine Stimme war heiser vor Verlangen.

Hier?“

Wieder stöhnte er ärgerlich.

Seine eine Hand verschwand zwischen ihren Beinen, die andere löste sich auf ihren Haaren und fasste ihren Oberarm so fest, dass es ihr weh tat. Er zog sie zu einer Tür. Die Hose behinderte sie so, dass sie ihm nur mit trippelnden Schritten folgen konnte und gestürzt wäre, wenn er sie nicht gehalten hätte. Für einen Moment dachte sie, wie komisch das aussehen musste, im Pinguingang durch den Korridor gezerrt zu werden.

Als sich die Tür öffnete, sah Nora in einen großen Raum mit einem Schreibtisch und einer Sitzgruppe. Er war wohl ursprünglich als ein Teil von Liaras Quartier geplant gewesen. Auch dieser Plan war wie so viele andere durch ein unberechenbares Schicksal vereitelt worden.

Silvan schob Nora zu einem Sessel bis ihr Bauch die Rücklehne berührt. Sie fühlte seine Hand in ihrem Rücken. Er drückte ihren Oberkörper herab. Sie stützte sich mit den Händen auf der Sitzfläche ab. Sie war so kalt und glatt wie die ganze Oberfläche des Sessels.

Silvan riss ungeduldig ihre Hose herab. Seine Hände drücken ihre Pobacken auseinander. Er drang ohne weitere Umstände in sie ein. Sie erwartete, dass es wehtun würde, aber sie war schon bereit für ihn. Er stieß mit einer Kraft in sie hinein, als wolle er sie durchbohren. Seine Hoden prallten bei jedem Stoß gegen ihren Hintern. Sie reckte sich ihm entgegen, getrieben von dem unbändigen Willen zu leben. Er packte ihre Haare mit einer Hand. Ihr Kopf wurde unnachgiebig zurückgebogen. Bei jedem Stoß zog er sie kraftvoll an sich heran. Seine rohe Behandlung fachte ihr Verlangen an. Ihr Atem ging heftig. Die Luft war erfüllt von ihrem abgehackten Stöhnen und dem Klatschen von Haut auf Haut.

Er fühlte das Zucken ihres Unterleibes, als der Höhepunkt über sie kam. Die rhythmischen Zuckungen ihrer Scheide ließen auch ihn kommen. Sie fühlte seinen Samen in sich und sah ihn ungläubig an. „Warum hast du das getan?“

Weil ich es wollte.“

Nur deshalb?“

Weil du es gebraucht hast.“

Das ist so ein blöder Machospruch!“, schimpfte Nora. Trotzdem sah er das Lächeln in ihren Augen. Sie nahm ein Tempo aus ihrer Hosentasche und wischte sich sauber. Immer noch außer Atem zog sie ihre Hose an. „Dann mal los. Wir müssen jetzt einen Planeten erobern.“

Von ihrem plötzlichen Stimmungsumschwung überrascht, sah Silvan ihr hinterher, als sie über den Korridor davoneilte.

 

Liara drehte sich zu ihr um, ohne sich zu erheben. „Wo ist denn dein Wachhund?“ Ihr Gesicht war so eisig wie der Weltraum jenseits des Fensters.

Nicht weit weg. Mach dir keine falschen Hoffnungen.“

Im Sessel neben Liara begann das Kind zu weinen. Sie nahm es sofort in die Arme. „Keine Sorge, ich werde meiner kleinen Schwester doch nichts tun“, entgegnete Liara sarkastisch. „So verrückt bin nicht mal ich.“

Jetzt noch nicht.“

Liara wandte Nora den Blick zu. „Du scheinst zu glauben, dass ich nichts lieber täte, als dich umzubringen.“

Etwa nicht, Schwesterherz.“

Liara verzog das Gesicht. „Wenn du nicht gleich die Beine für diese Kreatur breitgemacht hättest, ohne einen Gedanken an Verhütung zu verschwenden, wäre alles anders gekommen.“

Wovor hast du Angst?“

Du kennst inzwischen die Geschichte unserer Familie?“

In groben Zügen.“

Der Wolf und der Drache haben sich von Anfang an bekämpft“, rekapitulierte Liara. „Der Krieg hat über Generationen gewütet, bis es einen gemeinsamen Nachkommen gegeben hat. Wenn dein Kind geboren wird, wird es wieder so sein wie damals. Es wird nichts unversucht lassen, meines zu töten.“

Ich weiß nicht mal, ob ich wirklich schwanger bin.“

Du bist es.“

Warum sollten unsere Kinder sich gegenseitig umbringen?“

Das ist einfach so.“

Lasst es darauf ankommen.“ Silvan war zu ihnen getreten. „Solange ihr euch bekämpft, spielt ihr nur euren Feinden in die Hände.“

Das sind nicht meine Feinde!“, warf Nora ein.

Silvan trat so dicht vor sie, dass sie sich fast berührten. Seine Miene war steinhart. „Doch. Das sind sie. Und sie werden keine Skrupel haben, dich zu töten.“

Nora hielt seinem Blick nicht stand und blickte zur Seite.

Sieh mich an, Nora!“, verlangte er.

Sie stand starr und presste ihre Kiefer aufeinander, ohne zu antworten.

Sieh mich an, Nora!“

Sie wandte ihm widerwillig den Kopf zu.

Was sie dir vorher antun werden, hast du selbst schon angesprochen.“ Silvan drehte sich zu Liara. „Das Gleiche gilt für dich, wenn du euren Feinden in die Hände fällst. Wahrscheinlich wirst du vorher noch ansehen dürfen, was sie deinem Mann und deinem Kind antun. Es sei denn, Nora gibt mir vorher den Befehl euch zu töten, was vielleicht die bessere Alternative für euch alle wäre.“

Sein Blick ging nach draußen. Vor sich konnte er den Planeten sehen. Er war noch winzig, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis das Überwachungssystem dort ihr Schiff ausmachen würde. Dann bliebe ihnen kaum noch Zeit, Liaras Anhänger lebend zu erreichen. Ein Streit zwischen den beiden Schwestern verringerte ihre ohnehin geringen Chancen zu überleben und ihr Ziel zu erreichen noch mehr. „Ich will, dass ihr einander Frieden schwört.“

Wohl kaum“, wandte Liara herablassend ein. „Der kann ich doch keinen Millimeter über den Weg trauen!“

Das gilt umgekehrt auch für mich“, pflichtete Nora ihr bei und kreuzte die Arme vor der Brust. „Warum sollten wir das tun?“

Weil ich jede, die sich nicht an ihren Schwur hält, übers Knie legen werde, solange, bis ihr euch vertragt.“

Du nimmst dir zu viel heraus, Kreatur“, schimpfte Liara.

Allerdings“, pflichtete Nora ihr erneut bei.

Wenigstens seit ihr euch in dieser Sache einig.“ Silvan blickte Liara an. „Schwöre es.“

Liara warf den Kopf in den Nacken. „Sie zuerst.“

Nora schloss die Augen und atmete tief durch. Auch wenn es ihr gegen den Strich ging: Silvan hatte Recht. Als sie ihre Augen wieder öffnete, starrte sie Liara ins Gesicht. „Ich werde dir, deinem Mann und deinem Kind nichts antun oder von Silvan antun lassen, solange ihr das Gleiche tut. Wenn aber einer von euch direkt oder indirekt versucht, Silvan, mir oder, falls ich wirklich schwanger bin, meinem Kind oder sonst irgendjemandem, der mir nahesteht, Schaden zuzufügen, werde ich dafür sorgen, dass keiner von euch noch einmal die Gelegenheit dazu hat.“

Liara funkelte sie verbissen an. „Ist das ein Versprechen oder eine Drohung?“

Beides.“

Liara zeigte wütend mit dem Finger auf Nora. „Da hörst du es, Silvan. Sie will nicht.“

Liara!“, mahnte Silvan. „Mäßige dich!“

Sie kann meinetwegen versprechen, was sie will, ich traue ihr einfach nicht.“

Warum nicht?“

Sie wird ihr Wort bei allererster Gelegenheit brechen.“

Das kannst du doch gar nicht wissen!“, fauchte Nora.

Doch“, antwortete Liara ebenso. „Dort, wo du herkommst, haben die Menschen keine Ehre.“

Dafür schlachten sie sich bei euch gegenseitig ab. Tolle Ehre.“

Die Liaden sind nicht so. Wir haben Ehre und Gewissen.“

Das hab ich bereits bemerkt, als du mich hinterrücks umbringen wolltest.“

Ich musste mein Kind gegen dich verteidigen.“

Und? Hat sich jetzt an der Situation irgendwas geändert? Erzähl mir nicht, du würdest es nicht wieder versuchen. Du spuckst Gift und Galle, wenn du mich nur siehst.“

Hört auf!“, ging Silvan verärgert zwischen die beiden. „Ihr benehmt euch wie zwei kleine Kinder. Liara, tu endlich was notwendig ist.“ Er sah in ihr verkniffenes Gesicht. „Du hattest deinem Sohn versprochen, alles für ihn zu tun“, erinnerte er sie. „Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dein Versprechen einzulösen. Tu es auch für ihn. Bitte.“

Also gut“, lenkte sie missmutig ein. „Ich werde euch und eurem Kind nichts tun, auch nicht indirekt, solange ihr uns und unsern Anhängern nichts antut oder antun lasst.“

Gut“, sagte Silvan sichtlich erleichtert. Er wusste, Liara würde ihr Wort halten. „Jetzt bring uns nach Hause.“

Sie nickte und legte ihr Kind wieder in den Sessel. „Hol Michael“, sagte sie in Noras Richtung.

Nein!“, hielt Silvan sie zurück. „Du gehst nicht alleine zu ihm.“

Das siehst du es, Silvan“, tobte Nora. Ihr Zeigefinger stach wie ein Dolch in die Luft. „Sie hat ihn angewiesen, mich zu töten! Sie hat schon wieder versucht, mich umzubringen! Und du hast es gewusst, Silvan! Wem von euch kann ich überhaupt noch trauen?“

Das geht in Ordnung“, beruhigte Liara sie. „Er wird dir nichts tun.“

Wieso bist du so sicher, dass er deine Anweisung nicht ausführt?“

Liara sah ihr Kind an. „Weil ich sie ihm nicht gegeben habe.“

Silvan zuckte mit den Schultern. „Reg dich ab, Nora. Jetzt geh und hol Michael.“

Warum sollte ich das tun?“

Silvan zog die Augenbrauen ärgerlich zusammen. „Wir werden bald landen und wissen nicht, was auf uns zukommt“, erklärte er, als spräche er zu einem unartigen und vorlauten Kind. „Je mehr wir sind, desto besser.“

Noch schmollend ging Nora los. Sie machte einen Umweg über ihr Quartier, in dem sich die Pistole befand. Ganz wehrlos wollte sie Michael nicht entgegentreten. Trotzdem schoss ihr Blutdruck in die Höhe, noch bevor sie seine Zelle betrat.

Was willst du?“, fragte Michael mit einem Blick auf die gezückte Pistole in ihrer Hand.

Wir werden bald landen.“ Trotz der Waffe deutete sie verkrampft mit der freien Hand zur Tür. „Geh zur Kanzel.“

Wo ist Liara?“

Sie ist dort.“

Michael rannte fast zur Tür. Nora trat hastig zur Seite, um Abstand von ihm zu halten und hinter ihm zu bleiben. Sie wollte ihm keine Gelegenheit geben, sie zu überwältigen. Und die Pistole gegen ihn benutzen wollte sie auch nicht.

Aber an so etwas dachte er im Augenblick nicht. In der Kanzel angekommen, war er sofort bei Liara. Sie sprang auf und sie umarmten sich. „Wie geht es euch?“, fragte er.

Gut. Wir werden bald laden.“

Ich weiß.“ Er warf einen fragenden Blick auf Nora und Silvan.

Sie sind auf unserer Seite“, erklärte Liara.

Er hielt sie auf Armlänge von sich. „Bist du sicher?“

Was bleibt mir anderes übrig?“

Nora und Liara haben einander Frieden geschworen“, erklärte Silvan.

Michael nickte. Er löste sich von Liara und nahm sein Kind hoch. Als Silvan ihn nicht aufhielt, setzte er sich in den freien Sessel neben ihr und hielt es auf dem Schoß. Seine Wange legte sich auf seinen Scheitel. Sein Herz tat einen Satz. „Hast du ihm schon einen Namen gegeben?“

Nein. Ich wollte auf dich warten.“

Wir hatten uns auf Liavand geeinigt und der Name passt zu ihm.“

Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch ließ Liara ein Gefühl von Glück zu. „Ja, das tut er.“

Michael schaute in das Gesicht seines Sohnes. „Er wird ihn mit Stolz tragen.“ Seine Stimme brach bei seinen Worten.

Liaras Hand fand die von Michael. Sie bemühte sich, unbewegt zu erscheinen, sich keine Blöße vor den anderen zu geben, aber vor ihm konnte sie ihre Angst und ihren Schmerz nicht verbergen.

Bring uns hier runter, Liara“, flüsterte er mit erstickter Stimme.

Ja, das werde ich“, versprach sie mit einem Seitenblick auf die beiden hinter sich und sah, dass Nora hart schluckte.

Sie näherten sich dem Planeten in einem so rasanten Tempo, dass er schon nach einer Stunde ihr gesamtes Gesichtsfeld ausfüllte.

Silvans Augen lösten sich von dem Anblick und richteten sich auf Liara. „Wissen deine Anhänger, dass du jetzt schon kommst?“

Nicht nur die.“

Wie stark ist das Schiff bewaffnet?“

Nicht ausreichend. Außerdem fehlen Leute, die die Waffen bedienen können.“

Hast du einen Plan?“

Runter, raus, weg.“

Gibt es einen Treffpunkt?“

Ja.“

Ist er sicher?“

Zur Antwort zuckte Liara nur mit den Schultern.

Das heißt, wir sind gleich tot?“, fragte Nora.

Wieder zuckte Liara mit den Schultern. „Michael, gib Liavand Silvan.“

Nein!“

Tu es!“

Warum?“

Weil er so die beste Überlebenschance hat.“

Michael blickte von Liavand zu Silvan. Um nichts in der Welt wollte er dieser Kreatur seinen Sohn aushändigen, aber er wusste, dass Liara Recht hatte. Es zerriss ihm das Herz, als Silvan sein Kind entgegennahm.

Ich versteh das nicht“, wunderte Liara sich, als sie in die Atmosphäre eingetaucht waren und sich den ersten Gipfeln hoch aufragender Berge näherten.

Silvan stand hinter ihr und blickte auf die Monitore und die Landschaft vor ihm. „Niemand schießt auf uns, niemand verfolgt uns.“

Sie nickte nur.

Was bedeutet das?“, wollte Nora wissen.

Dass sie uns nicht bemerkt haben, ist nicht anzunehmen“, erklärte Silvan. „Entweder sie haben uns eine Falle gestellt und sind sich sicher, dass wir reingehen, oder sie sind mit etwas anderem beschäftigt.“

Womit sollten sie so beschäftigt sein, dass sie uns nicht beachten.“

Mit sich selbst.“

Nora sah ihn ratlos an. „Wieso das?“

Es herrscht ein Krieg, in dem trotz aller Einigungsversuche fast jeder gegen jeden kämpft. Nichts ist so veränderlich wie die Lage.“ Er wandte sich an Michael. „Hol das Gepäck. Es ist in dem Lagerraum neben deinen Zimmer.“

Die Stimmung hatte sich mit Erreichen ihres Ziels geändert. Alle Streitigkeiten waren von untergeordneter Bedeutung. Michael begab sich widerspruchslos in den Lagerraum und holte das Gepäck, das Silvan zusammengestellt hatte. Die Rucksäcke enthielten neben Lebensmittel auch Waffen, Windeln und Kleidung, so viel sie tragen konnten. Nacheinander stiegen sie in wetterfeste Kleidung in Tarnfarben.

Liara Stellte die Gravitationskontrollen ab, um schneller landen zu können. Noras Magen schlug einen Salto, als sie sich in rasanter Geschwindigkeit dem Boden näherten. Sie hielt sich an der Rücklehne eines Sessels fest und machte sich auf eine harte Landung gefasst, aber Liara brachte des Schiff auf einer Lichtung in einem tiefen Tal erstaunlich sanft zu Boden. Niemand griff sie an.

Sofort schulterten sie die Rucksäcke und verließen geduckt und im Laufschritt das Schiff. Eine feuchte Hitze schlug ihnen entgegen. Liavand schrie unwillig in Silvans Armen. Sie hatten keine Zeit, ihn zu beruhigen und tauchten ein in die Schatten eines dichten Urwaldes.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.04.2015

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