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1. Wölfe

Als erstes spürte er eine trockene Kälte. Seine Augen waren die einer Katze. Er sah nichts. Die Dunkelheit um ihn herum war so vollkommen wie das Herz der Hölle. Kein Geräusch war zu hören außer seinem eigenen Atem. Er wollte den Kopf heben, aber etwas an seinem Hals hielt ihn zurück. Vergeblich versuchte er danach zu greifen. Auch seine Hände waren mit Riemen an die Unterlage gefesselt, ebenso wie seine Füße. Sein wütender Schrei ließ die Dunkelheit erzittern.

 

Zähe Nebel eines chemischen Schlafes gaben sie nur langsam frei. Alles tat weh. Sie stöhnte leise. Der Schmerz bündelte ihre flüchtigen Gedanken.

Kalt. Es war so kalt. Sie lag zitternd auf einem harten, kalten Boden. Ihre Augen waren verbunden, die Hände mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt. Nicht schon wieder, dachte sie. Nur mit Mühe und gegen einen Schwindel ankämpfend konnte sie sich zum Sitzen aufrappeln.

„Warum hast du uns beobachtet?“ Die männliche Stimme wäre nicht angespannter gewesen, hätte sie nach der Uhrzeit gefragt.

Trotzdem fuhr Nora zusammen. „Wer sind Sie?“ Oh Gott, was wollten nur alle von ihr?

Leise Schritte kamen auf sie zu. „Hast du gesehen, was du sehen wolltest?“ Jetzt lag eine schneidende Schärfe in der Stimme.

„Ich wollte nichts sehen.“

Der Mann blieb dicht neben ihr stehen, während sie wie ein Häufchen Elend auf dem Boden kauerte. Sie konnte seine Wärme spüren. Instinktiv zog sie den Kopf ein.

„Wenn du nichts sehen wolltest, warum warst du dann da oben und hast uns beobachtet?“

„Wegen Silvan.“

„Silvan?“

Hoffnung kam in ihr hoch. Vielleicht hatten sie ihn nicht erwischt und er holte Hilfe. „Mein Hund.“

„Dein Hund?“

„Er ist einem Hasen hinterhergelaufen.“

„Warum hast du ihn nicht gerufen?“

„Er ist …, er ist taub.“

„Und das soll ich dir glauben?“

„Sie lügt!“

Wieder zuckte Nora zusammen. Die Stimme der Frau, die sie bisher nicht bemerkt hatte, war eiskalt.

„Bitte, ich weiß doch nicht, was das alles hier soll.“ Sie hörte die Absätze der Frau bedrohlich hart auf sich zukommen.

„Also? Die Wahrheit!“, forderte die Frau.

„Ich habe keinen Hund“, flüsterte Nora. Sie war kaum in der Lage zu sprechen. Ihr Herz raste. Diese Frau jagte ihr mehr Angst ein als Silvan und der Mann, der neben ihr stand, zusammen.

„Damit kommen wir der Wahrheit schon mal näher.“ Die Stimme hatte nichts an Kälte verloren.

Warum sagte der Mann nichts mehr. Verglichen mit dieser Frau erschien er Nora so gutmütig wie der Weihnachtsmann. „Aber ich wollte Ihnen nichts tun.“

„Dann sag uns, wer oder was Silvan ist.“

Sie konnte selbst nicht fassen, dass sie nur den Kopf schüttelte. Silvan war über sie hereingebrochen wie eine biblische Plage. Er hatte sie entführt, geschlagen, an die Leine gelegt wie einen Hund und sie missbraucht. Sie konnte jetzt noch die Stellen fühlen, an denen seine Hand sie getroffen oder brutal gefasst hatte. Wegen ihm befand sie sich in dieser Situation. Es gab keinen Grund, sich selbst zu gefährden, indem sie ihn schütze. Und trotzdem wollte sie ihn nicht verraten.

„Wie rührend“, stellte die Frau fest. „Du stirbst fast vor Angst, aber du verrätst deinen Liebhaber nicht.“

„Er ist nicht mein Liebhaber.“

„Du lügst schon wieder. Dein Duft ist noch an seinem Schwanz“, antwortete die Frau brutal.

Noras Hoffnung zerstob ins Nichts. Sie hatten also auch ihn gefangen. „Er …, wir …, er hat mich … ich wollte nicht …“

„Nun?“

Diese Frau war jemand, der Befehle erteilte und Widerstand nicht duldete, ihn nicht mal gewohnt war. Bevor Nora antworten konnte, öffnete sich eine Tür. Noch jemand betrat den Raum. Er blieb in respektvollem Abstand stehen. Die Frau sagte etwas in einer Sprache zu ihm, die Nora gänzlich unbekannt war, und er antwortete in der gleichen.

„Lassen wir sie“, mischte sich der erste Mann ein. Seine Stimme war wieder normal. „Ihr wird sicher noch etwas einfallen, wenn sie lange genug nachdenkt.“

„Ja,“, stimmte die Frau zu. „Mal sehen, ob Silvan, oder wie auch immer dieser Mann sich nennt, gesprächiger ist.“

„Ich denke, du wirst ihn davon überzeugen, uns alles anzuvertrauen, was er weiß.“

Nora hörte, wie sich die drei entfernten. Dann schlug eine Tür zu. Sie lauschte noch einen langen Moment in die Dunkelheit. Außer ihrem eigenen Atem und dem Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren war nichts zu hören. Es gelang ihr die Augenbinde an ihrer Schulter abzustreifen. Um sie war eine undurchdringliche, kalte Nacht. Noch nie hatte sie sich so einsam und verlassen gefühlt wie jetzt. Tränen liefen ihre Wangen herab. Jetzt zitterte sie nicht nur vor Kälte.

 

Die Liara, Michel und der Mann, der sie informiert hatte, bewegten sich durch einen fensterlosen kahlen Korridor. Hier, tief unter der Erde, war außer ihren Schritten nichts zu hören. Der Mann zog sich auf Liaras Befehl hin zurück.

Plötzlich stockte sie. Ihr ganzer Körper verriet ihre Anspannung.

„Was ist?“, fragte Michael.

„Er ist einer von uns.“

„Von uns?“

„Deshalb konnte ich ihn fühlen.“ Sie sah ihn verwirrt an. Dann eilte sie zu der Zelle, in der sich der Gefangene befand.

 

Licht flammte auf, so hell, dass es sogar seine geschlossenen Lider durchdrang. Er öffnete sie blinzelnd. Eine Tür wurde geöffnet. Zwei Schatten hoben sich von der Lichtquelle dahinter ab. Sie kamen näher. Er riss an seinen Fesseln, doch er konnte sie keinen Millimeter lösen.

Jemand trat direkt neben ihn. Er war eine Frau. Sie.

„Pass auf“, warnte der Mann neben ihr sie.

„Keine Angst, Michael. Er ist gefesselt.“

Dann wandte sie sich wieder dem Gefangenen zu. „Wer bist du?“

Ein tiefes Knurren kam aus seiner Kehle.

„Was willst du?“

„Ich wurde geschickt, dich und dein Kind zu beschützen.“

„Warum.“

„Wir sind gleich.“ Wieder riss er an seinen Fesseln.

„Gleich gegeneinander oder gleich miteinander.“

„Traust du dich, mich loszumachen?“

„Das ist nicht nötig. Ich weiß, was du bist. Ein Wolf erkennt den anderen.“

Als Michael Liaras Worte hörte, ergriff er unwillkürlich ihren Arm und zog sie zurück. Sie sah ihn stirnrunzelnd an.

„Er kann dir und unserem Kind gefährlich werden“, erklärte er. Sein Blick fand den des Gefangenen. Er sah die gelbe Glut darin. Sie war stärker als jede, die er jemals in den Augen seiner Frau gesehen hatte.

„Das werde ich nicht“, versprach Silvan. „Lass mich los und ich werde deine Frau und dein Kind mit meinem Leben schützen.“

Die Arroganz, mit der Silvan trotz seiner Lage antwortete, reizte Michael. „Toller Schutz. Wir hatten kein Problem, dich außer Gefecht zu setzen.“„Ich war abgelenkt.“„Von der Frau, die bei dir war?“

Silvans arrogante Selbstsicherheit brach in sich zusammen. „Was ist mit ihr?“

„Das wollen wir von dir wissen.“

„Sie hat mit der ganzen Sache nichts zu tun.“

„Das wollte sie uns auch weismachen.“

„Wo ist sie?“

„Hier.“

„Was habt ihr mit ihr gemacht?“

„Es geht ihr gut“, erklärte Michael. „Noch.“

„Lasst sie gegen.“

„Dafür ist es zu spät.“

Silvan zerrte wütend an seinen Fesseln. „Sie hat keine Ahnung.“

Liara beugte sich über ihn. „ Glaubst du wirklich, dass wir dir das abnehmen?“

„Anscheinend nicht. Aber sie ist keine Gefahr für euch.“

„Sie steckt vielleicht nicht tief drin in der Sache, aber du hast tief in ihr drin gesteckt. Sie riecht nach dir und du nach ihr. Sie wird uns dabei helfen, mit dir fertig zu werden, egal ob sie will oder nicht.“

„Du weißt, was ich bin, Liara. Glaubst du wirklich, du kannst mich mit ihr erpressen?“

„Ich weiß, dass sie dich nicht kaltlässt, obwohl das eigentlich unmöglich ist.“„Woher willst du das wissen?“, spottete er. „Deine Gabe ist durch deine Schwangerschaft geschwächt. Du kannst in mir nicht lesen.“

„Doch. Das kann ich. Aber das brauche ich nicht einmal. Es ist dir anzusehen. Ihr Wohlergehen scheint dich mehr zu interessieren als dein eigenes. Irgendetwas stimmt hier nicht. Was, das werden wir noch herausfinden.“

„Sag uns, warum du uns beobachtet hast?“, verlangte Michael barsch.

„Hättet ihr mich zu euch gelassen, wenn ich euch einen Besuch abgestattet hätte?“

„Wohl kaum“, antwortete Liara. „Deinesgleichen ist hier nicht willkommen.“

„Ich hatte nichts anderes erwartet. Du versuchst, deine Herkunft zu vergessen.“

„Sollte ich etwa stolz darauf sein, der Handlanger des Geistes der Wälder zu sein, eines Dämonen, der in den Menschen nur Vieh sieht, das seinen Blutdurst stillt?“, warf sie ihm vor.

„Du bist sein Abkömmling und er gibt dir die Kraft des Wolfes.“

„Darauf kann ich verzichten.“

„Wohl kaum. Du wirst sie brauchen, wenn du in die Heimat deiner Ahnen zurückkehrst.“

„Die Menschen werden mir auch ohne die Kraft des Wolfes folgen. Der Bürgerkrieg fordert schon seit viel zu langer Zeit Opfer um Opfer von ihnen.“

„Um ihn zu beenden, reicht die Kraft eines einzelnen Menschen nicht aus.“

„Es gibt genug, die mich unterstützen werden. Warum wolltest du überhaupt zu uns?“

„Ihr seid in Gefahr.“

„Ach“, spottete Michael. „Das ist ja was ganz Neues.“

„Die Gefahr, in der ihr steckt, ist größer als jemals zuvor. Ihr habt mächtige Feinde. Sie waren immer untereinander zerstritten, jeder gegen jeden. Jetzt aber haben sich große Teile unter dem Befehl eines einzigen Anführers vereinigt und der will das Geschlecht der Chimäre endgültig auszurotten.“

Anscheinend wusste Silvan von dem Attentäter, der in ihr Haus eingedrungen war, um Liaras Rückkehr zu verhindern. „Du gehörst zu unseren Feinden“, forderte Michael ihn heraus.

„Nein.“

„Woher weißt du sonst von dem Anschlag?“

„Frag deine Frau, Mensch!“

Liara sah, dass Silvans wieder erwachte Überheblichkeit Michael zunehmend verärgerte. „Komm“, sagte sie sanft zu ihm. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um die Männer irgendeinen Zwist austragen zu lassen.

Sie verließ die Zelle und Michael folgte ihr aus dem unterirdischen Teil ihres Hauses in ihr Arbeitszimmer. Nach einen nachdenklichen Blick durch das bodentiefe Fenster über die Stadt setzte sie sich an den Schreibtisch, der schon seit Urzeiten im Besitz ihrer Familie war. Von ihm aus hatten ihre Vorfahren über Generationen einen ganzen Planeten beherrscht, damals als er noch im Regierungspalast gestanden hatte, dem Zentrum einer absoluten Macht. Bald würde es wieder so sein. Sie musste nur noch das Erwachen ihrer Gabe nach der Geburt ihres Kindes abwarten, um die Reise in ihre angestammte Heimat anzutreten.

„Erklär mir, was das alles hier bedeutet“, verlangte Michael und nahm in einem Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz.

„Nun“, begann Liara vorsichtig, „das ist recht kompliziert.“

„Bei dir ist alles kompliziert und ein wenig weiß ich inzwischen auch über deine verrückte Familie.“

Liara sah ihn an und dachte an ihre gemeinsame Vergangenheit. Auch Michael war ihr Gefangener gewesen. Sie war die letzte Überlebende eines uralten Herrschergeschlechtes. Hier im Exil, fern ihres Heimatplaneten, musste sie für den Fortbestand beider Linien ihrer Familie sorgen. Es war ihre vordringlichste Aufgabe, wichtiger als jede andere. Doch ihr genetisches Erbe vertrug sich nur selten mit dem anderer Menschen. Man hatte lange nach einem Mann gesucht, von dem sie ein überlebensfähiges Kind empfangen konnte und Michael gefunden. Ihre Anhänger hatten ihn entführt und zu ihr gebracht. Fehild, ihre Schwester, so schön und so zart wie eine dunkle Fee, hatte gestrotzt vor böswilliger und zerstörerischer Energie. Sie hatte es übernommen, ihn zu erziehen - wie sie es nannten. In Wirklichkeit war es eine Gehirnwäsche gewesen, die seinen Willen brechen sollte. Liara lächelte auch jetzt noch wehmütig, wenn sie daran dachte, wie sehr er um seine Freiheit gekämpft hatte, obwohl sie ihm im Austausch dafür einen unermesslichen Reichtum und Luxus angeboten hatte. Doch statt sich ihr zu unterwerfen, hatte er den Eispanzer durchbrochen, der ihre Gefühle ummauerte. Sie, die zu einer eisernen Selbstbeherrschung erzogen worden war, hatte nicht nur eine glühende Leidenschaft, sondern auch eine tiefe Liebe für ihn entwickelt, unerwartet und unerwünscht. Und dann hatte sie festgestellt, dass sie schwanger war. An dem Tag, an dem sie es ihm hatte sagen wollen, war ihm die Flucht gelungen. In der Zeit danach hatte sie nicht mehr gelebt, sondern nur noch funktioniert.

Er war zu ihr zurückgekehrt. Freiwillig. Inzwischen wusste er um das Erbe ihrer Familie, das des Wolfes und das des Drachen, und um die Gefahr, die daraus erwuchs.

„Auch Silvan ist ein Abkömmling des Wolfes“, erklärte Liara.

„Ein Verwandter von dir?“

Sie legte den Kopf schief und sah durch ihn hindurch. „Ja und nein.“

„Erklär es mir.“

„Ich stamme von Belde ab, wie du weißt. Der Geist der Wälder legte sich in Gestalt eines Wolfes zu ihrer Mutter. Sie war halb Mensch, halb Dämon und wir tragen dieses Erbe immer noch in uns.“

Michael nickte bestätigend. Er kannte diese alte Legende. Nach anfänglichem Unglauben hatte er die Wahrheit darin erkannt. Er wusste um Liaras besondere Gaben. Das, was man als die Kraft des Wolfes bezeichnete, machte sie mental und körperlich stärker als jeden anderen Menschen. Personen, die sie als die Ihren anerkannte, jene in ihrer Nähe und auch jene, die fern von hier zu ihrer Gemeinschaft gehörten, fühlten sich in unter ihrem Schutz sicher und geborgen, auf dass sie ihr bedingungslos folgten. Aber dieses Erbe rief sie auch in die Nacht hinaus, wo sie ihre Menschlichkeit abstreifte und von einem archaischen Instinkt besessen durch die Wälder zog.

Das Vermächtnis des Drachen hingegen erfüllte sie mit einer brennenden Leidenschaft für alles, was sie tat und begehrte, im Guten wie im Schlechten. Liara hatte eine harte Erziehung genossen, um sie in den Griff zu bekommen, denn diese Wesensart hatte viele ihrer Vorfahren in den Tod gerissen. Aber sie konnte auch die verborgenen Gefühle aller Menschen um sie herum erkennen. Aller, außer gerade jenen von Michael. Und auch bei ihrer kleinen Schwester hatte ihre Gabe versagt.

„Der Mann dort unten in der Zelle“, erklärte Liara weiter, „ist ein direkter Ableger des Wolfes.“

„Was heißt das?“

„Dank des Krieges in meiner Heimatwelt ist sehr viel Blut bis hinunter zu den Wurzeln der Bäume geflossen. So viel, dass der Geist der Wälder einen Teil von sich dauerhaft in dieser Welt materialisieren konnte.“

Michael schüttelte skeptisch den Kopf. „Das heißt, der Mann ist der Geist der Wälder und du konntest ihn gefangen nehmen?“

„Nein. Er ist nur sein Ableger. Ein einzelnes Blatt eines riesigen Baumes, das auf den Boden gefallen ist und Wurzeln geschlagen hat. Aber im Gegensatz zu dem Blatt ist er immer noch mit seinem Ursprung in einer andren Welt verbunden.“

„Er ist also nicht menschlich?“

Liara atmete tief ein. „Nein. Keine Frau hat ihn geboren. Er war nie ein Kind. In dieser Welt ist er aber an seinen menschlichen Körper gebunden, braucht Essen, Trinken und Schlaf.“ Sie lächelte. „Und anscheinend auch eine Frau. Aber er ist stärker als jeder Mensch, kann im Dunkeln besser sehen und so weiter.“

„Hat er Schwächen.“

„Seinem Wesen fehlt das Menschliche. Er hat keine Gefühle und er versteht auch nicht wirklich, was Menschen fühlen - eigentlich. Er kann nicht sehr lange existieren, sein Körper vergeht wie eine Blume in einer Vase.“

„Wie lange dauert das?“

„Ein oder zwei Jahre. Vielleicht auch fünf.“

„Was will er?“

„Das weiß ich nicht. Er befolgt den Befehl des Geistes der Wälder, wie auch immer er lautet.“

„Glaubst du, der Geist wendet sich gegen dich?“

Liara überlegte kurz. „Ich glaube nicht.“ Ihre Stimme wurde hart. „Meist hat er von uns bekommen, was er wollte, selbst nach unserer Flucht ins Exil.“

„Blut?“

„Ja. Der Krieg, den meine Vorfahren unterhalten haben, selbst wenn sie es nicht wollten, hat ihn immer reichlich damit versorgt. Einer alten Legende nach würde erst ein gemeinsamer Nachkomme beider Linien meiner Familie den Frieden bringen. Natürlich hat jede Kriegspartei zu verhindern versucht, das so etwas geschieht. Jede hatte Angst, ihre Macht und ihren Einfluss zu verlieren. Ein Volk, das ohne Angst in Frieden und Wohlstand lebt, kommt gerne mal auf dumme Gedanken.

Doch dann wurde tatsächlich die erste Chimäre im Geheimen gezeugt und geboren, ein Mann mit dem Erbe des Wolfes und des Drachen. Seine Tochter trat an die Spitze des Reiches und danach ihre Nachkommen. Für Generationen herrschte Frieden. Aber die Menschen lieben den Krieg zu sehr. Es bildeten sich immer mehr untereinander zerstrittene Gruppen, die sich bis aufs Blut bekämpften. Nachdem meine Großmutter zur Flucht gezwungen worden war, wurde es noch viel schlimmer. Zurzeit fließt sogar so viel Blut, dass der Geist der Wälder das da unten in der Zelle erschaffen konnte. Warum sollte er sich gegen uns wenden?“

„Kannst du mit deiner Gabe erkennen, was der Gefangene vorhat?“

Sie runzelte die Stirn. „Ich spüre, dass er existiert und Gefühle hat. Ich versteh das selbst nicht. Aber seine Pläne kann ich nicht entschüsseln.“

„Was hat die Frau damit zu tun?“

„Ich weiß nicht.“

„Zu dumm, dass du ihre Gefühle nicht lesen kannst.“

„Dazu brauche ich meine Gabe nicht. Sie hat Angst und sie ist verwirrt.“

„Was verständlich ist. Besteht die Möglichkeit, dass sie eine Spionin ist?“

„Eher nicht.“

„Woher weißt du das?“

Liara zuckte mit den Schultern. „Meine Leute haben ihre Hütte, ihre Wohnung und ihr Auto durchsucht.“

„Darin habt ihr ja Übung.“ Michael verzog das Gesicht. Bevor sie ihn entführt hatten, waren sie auch in sein Haus eingedrungen, hatten Mikrofone und Überwachungskameras in allen Räumen, sogar in seinem Schlafzimmer angebracht. Er war vollkommen ahnungslos gewesen.

„Es wurde nichts Verdächtiges gefunden“, fuhr Liara fort, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. „Sie scheint wirklich nur zufällig in diese Sache geraten zu sein.“

„Was machst du mit ihr? Man wird nach ihr suchen.“

„Ich kann sie nicht gehen lassen. Sie weiß zu viel.“

„Niemand würde ihr glauben. Nach meiner Flucht habe ich auch niemandem verraten, was sich hier abgespielt hat.“ Was hätte er auch berichten können? Dass er von einer Außerirdischen mit dämonischen Erbe, die mitten unter ihnen lebte, entführt worden war, um mit ihr ein Kind zu zeugen? Klar. Das hätte ihm auch jeder abgenommen. „Ich hatte kein Bedürfnis in der Geschlossenen zu landen. Wenn wir ihr klarmachen, dass ihr das blüht, wenn sie den Mund aufmacht, wird sie sich still verhalten.“

„Es geht nicht. Nicht so kurz vor dem Ziel. Wenn wir von hier verschwinden, kann sie meinetwegen gehen, wohin sie will, und erzählen, was sie will.“

Michael sah Liara eindringlich an. „Es gibt keinen Grund, sie bis dahin schlecht zu behandeln.“

„Ach“, spottete Liara. „Hat sie dein Herz erweicht?“

„Du hast mich lange genug in der Zelle schmoren lassen“, gab Michael ernst zurück. „Ich weiß, wie das ist, dort unten im Dunkeln zu sitzen und nicht zu wissen warum. Und was kommt. Du musst ihr so etwas nicht antun.“

„Ich hoffe, dass sie uns doch noch etwas über den Gefangenen verrät. Sie hat mit ihm geschlafen, vielleicht weiß sie mehr, als wir denken. Sie scheint seine Schwachstelle zu sein.“

„Du meinst, der Gefangene hat Gefühle für sie?“

„Eigentlich ist das unmöglich. Er ist eine Ausgeburt der Hölle, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft und ohne Seele. Aber er war überraschend besorgt um sie. Wenn er sieht, wie sie leidet, erweicht das vielleicht sein Herz.“

„Wenn er in Gegensatz zu dir eins hat.“

Liara sah ihn schräg an. „Was soll denn das schon wieder heißen?“

„Dein Mitgefühl für sie hält sich arg in Grenzen.“

„Ich möchte ihr das nicht antun. Aber unsere Sicherheit und die unseres Kindes geht vor.“

In seinem Gesicht war der reine Trotz. Seine blauen Augen blitzten sie an. Sie hatte ihm noch nie lange Kontra bieten können, wenn er sie so angesehen hatte. Er gab ihr Stärke, aber er war auch ihre Schwachstelle. Sie ging aus dem Raum, ohne noch etwas zu sagen. Ihren Plan würde Michael niemals billigen.

“Wohin gehst du?“, wollte er wissen.

„Ich hab noch zu tun“, wich sie aus.

„Du gehst noch einmal zu den beiden“, stellte er fest und stand auf. „Ich geh mit.“

„Das ist nicht notwendig.“

„Da bin ich mir nicht so sicher.“ Sie sah das Misstrauen in seinem Gesicht. Mit einem Wink gab sie ihm unwillig ihr Einverständnis. Aber er hätte sich auch ohne wohl kaum davon abhalten lassen, sie zu begleiten.

2. Schmerz

 

Als die Tür der Zelle geöffnet wurde, stand Nora ungelenk auf und blinzelte ins Licht. Vor ihr standen eine Frau und ein Mann. Alles an dieser Frau war kühl, ihre blonden Haare, ihre strenge Frisur, ihr hellblaues Kostüm, ihre Haltung und ganz besonders ihre grünen Augen. Selbst das blasse Rosa ihrer Perlenkette war wie eingefroren. Der Mann neben ihr wirkte trotz seiner strahlend blauen Augen wesentlich freundlicher, aber das konnte eine Täuschung sein. Böse Polizistin, guter Polizist.

„Dreh dich um“, sagte die Frau. Diese Stimme hatte Nora schon einmal gehört, als sie noch die Augenbinde getragen hatte. Auch sie war kalt wie arktisches Wasser. Sie gehorchte. Die Frau löste die Handschellen. Sie fielen mit einen lauten Klirren auf den Boden.

„Komm mit uns!“, befahl die Frau. Sie drehte sich um und ging einfach los. Der Mann folgte ihr kommentarlos. Nora rieb sich die schmerzenden Handgelenke und ging mit vorsichtigen Schritten zur Tür. Hektische Blicke um sich werfend verließ sie die Zelle und durchquerte einen Vorraum.

Auf dem Korridor danach war niemand sonst zu sehen. Einem Reflex gleich wandte sie sich um und rannte los. Sie kam nur ein paar Meter weit, dann lag sie am Boden und die Frau stand über ihr. „Tu was ich dir sage!“ In den Augen der Frau sah sie die gleiche gelbe Glut wie in Silvans. Sie musste von gleicher Art sein wie er, und genauso verrückt.

„Steh auf.“

Nora rappelte sich auf. Ihre schmerzenden Glieder waren weich wie Gummi. Wieder gingen die Frau und der Mann vor. Diesmal folgte sie ihnen durch den Flur.

Die Frau öffnete eine Tür. Dahinter befand sich ein kahler abgedunkelter Raum mit einem gegenüber liegenden großen Fenster. Als das Licht auf der anderen Seite aufflammte, sah sie an der Frau und dem Mann vorbei den Ausschnitt einer weißen Zelle und wusste, dass sie durch einen Einwegspiegel schaute. Sie schnappte nach Luft. So etwas hatte es auch in ihrer Zelle gegeben, aber sie hatte ihn in ihrer Angst und Verzweiflung nicht beachtet. Man hatte also auch sie beobachtet, während sie heulend auf dem Boden gesessen hatte. Trotz ihrer Situation schämte sie sich.

Zögerlich trat sie noch einen Schritt vor und konnte die ganze Zelle einsehen. In der Mitte stand eine Metallliege. Als sie sah, dass Silvan am Hals, an den Handgelenken und an den Knöcheln gefesselt darauf lag, war ihre Scham vergessen. Sie wollte durch eine weitere Tür zu ihm laufen, aber die Frau hielt sie mit eiserner Hand zurück. „Du bleibst hier und gibst keinen Mucks von dir. Verstanden?“

Nora konnte nur nicken.

Liara ging in die Zelle und schloss die Tür hinter sich. Michael blieb neben Nora stehen. Er sah genauso angespannt wie sie durch den Einwegspiegel und musste den Drang unterdrücken, ihr eine Hand auf die Schulter zu legen, um sie zu beruhigen.

Liara trat neben Silvan. Er schaute hoffnungsvoll zu ihr auf. Ohne etwas zu sagen, betätigte sie einen Schalter an der Liege und er bäumte sich auf. Sein Schrei ließ Nora und Michael erstarren. Die Frau betätigte einen Regler und dann erneut den Schalter.

Silvans Schrei war noch lauter als der erste. Er grellte in Michaels Ohren. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, als er sah, und vor allem hörte, was seine Frau tat.

Liara kam zurück in den Vorraum. Nora sah sie fassungslos an. Diese Irre hatte Silvan eiskalt mit Strom gefoltert.

„Du wirst uns jetzt alles sagen, was du weißt, oder ich werde ausprobieren, wie viel dein Freund überlebt“, drohte Liara.

„Tun Sie das nicht“, bettelte Nora mit ausgetrocknetem Mund. „Ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß.“

„Dann los. Und wage es nicht noch einmal, mich anzulügen.“

Und Nora berichtete ihr alles: Dass sie sich im Wald verirrt hatte, wie er sie entführt und in der Waldhütte gefangen gehalten hatte, dass sie sich geliebt hatten und wie er sie auf den Beobachtungsposten mitgenommen hatte. „Er wollte Sie und Ihr Kind vor Ihren Feinden schützen, und jetzt tun Sie ihm das an!“, warf sie der Frau vor.

Zu ihrem Erstaunen schien sie ihr zu glauben. „Ist dir etwas Besonderes an ihm aufgefallen?“

Nora starrte auf den Boden. Die Frau würde ihr niemals glauben und Silvan erneut foltern, wenn sie die Wahrheit sagte. Aber wenn sie es nicht tat, würde genau das auch passieren.

„Nun?“, insistierte die Frau ungeduldig.

„Er …, er …, er ist sehr stark.“

„Wie stark.“

„Stärker als jeder, den ich kenne.“

Die Frau nickte. „Sonst noch etwas?“

„Ich glaube, er kann im Dunkeln sehr gut sehen.“

„Was noch?“

„Manchmal …“

„Sag es!“

„Manchmal werden seine Augen gelb.“

Liara nickte. „Was noch.“

„Ich weiß nicht. Das war nicht noch mehr. Bitte betrafen Sie ihn nicht, nur weil ich sonst nichts weiß.“

„Es ist ok“, sagte die Frau mit unerwartet weicher Stimme und wies auf die Tür der Zelle. „Du hast seit gestern viel durchgemacht. Geh zu ihm.“

Nora sah sie erstaunt an. War das ein hinterhältiges Spiel oder meinte die Frau, was sie sagte? Mit zitternden Händen öffnete sie die Tür und ging in die Zelle. Niemand hielt sie auf. Sie stürmte vor und umarmte Silvans Brust. „Silvan. Oh mein Gott. Was haben sie dir angetan! Es tut mir so leid.“

„Nora“, presste er hervor. „Wie geht es dir?“

„Es geht mir gut.“

„Ich wollte dich da nicht mit reinziehen.“

„Ich hätte ihnen gleich sagen sollen, was sie wissen wollten. Dann wär das nicht passiert.“ Sie richtete sich auf und suchte vergeblich nach einer Möglichkeit, die Fesseln zu lösen.

„Sie hätte das so oder so getan,“ erklärte Silvan.

Nora schüttelte den Kopf. „Sie dürfen dir nichts tun.“

Die Frau und der Mann waren hinter sie getreten. „Wie süß, ihr kennt euch erst ein paar Stunden und benehmt euch schon wie Romeo und Julia“, spottete Liara. Dann sah sie Silvan hart an. „Auch du wirst mir jetzt alles sagen, sonst passiert mit deiner kleinen Freundin das Gleiche wie mit dir. Vielleicht auch Schlimmeres.“

„Dazu bist du nicht fähig“, antwortete Silvan genauso hart.

Liaras Stimme blieb unbewegt. „Willst du das ausprobieren?“

Er warf den Kopf zurück. Sie war nicht grausam, das wusste er. Aber wie jeder aus dem Geschlecht der Wölfe würde sie gnadenlos alles tun, um sich und die Ihren zu schützen. Wenn sie in ihm ihren Feind sah, bedeutete das das Ende seiner Mission und seiner Existenz. Letzteres wäre nicht schlimm. Er trug kein Leben in sich, aber Nora müsste für sein Versagen büßen. „Ich werde dir alles sagen, wenn du sie gehen lässt.“

„Du bist hier nicht in der Position, Forderungen zu stellen.“

„Und wenn ich dich darum bitte.“

„Vielleicht. Alles hängt von deiner Kooperation und Überzeugungskraft ab.“

„Was verlangst du?“

„Du wirst dich mir vollends unterwerfen und mir den Bluteid schwören.“

„Das kannst du nicht von mir verlangen“, brauste Silvan auf. „Du kannst mich foltern oder töten, aber das nicht. Ich bin ein Teil jener Kraft, die auch dich erschuf.“

„Eben drum. Gemeinsam werden wir so stark sein, wie es kein Mensch je zuvor gewesen ist.“

„Damit stellst du dich gegen den Geist der Wälder!“

„Damit befreie ich mich von seinem Fluch.“

„Nur so kann er der mächtigste aller Dämonen sein und auch dich und deine Nachkommen mit einer unvorstellbaren Kraft ausstatten.“

Liaras Augen blitzten vor Wut. „Das ist mir so was von egal.“

„Er hat euch mit seinem Erbe über alle anderen Menschen erhoben. All das wirst du verlieren.“

„Ich will nicht mehr zusehen müssen, wie die Menschen, die ich liebe, und so viele andere den Boden mit ihrem Blut tränken, nur um seinen Hunger und seine Machtgier zu stillen. Entweder du tust, was ich verlange, oder ihr Leben wird genauso enden wie deine Existenz. Du wirst dabei zusehen dürfen. Und glaube mir, der Tod wird nicht leicht zu ihr kommen.“

Nora hörte mit zunehmendem Entsetzen, was die beiden sprachen. Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Sie sah den anderen Mann hilfesuchend an. An dem Ausdruck in seinem Gesicht und den Schweißtropfen auf seiner Stirn erkannte sie, dass ihm nicht passte, was hier geschah, aber er tat nichts dagegen.

„Du bist wahnsinnig“, knurrte Silvan Liara an.

„Wenn du das glaubst, solltest du umso mehr über das nachdenken, was ich dir gesagt habe.“ Sie drehte sich um und ging aus der Zelle. Michael folgte ihr schweigend und mit gerunzelter Stirn.

Nora bekam schon nicht mehr mit, wie sich die Tür hinter ihnen schloss und verriegelt wurde. Sie strich über Silvans Gesicht. „Was sollen wir jetzt tun?“, fragte sie verzweifelt.

„Abwarten. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.“

„Ich habe Angst.“

„Sie wird dir nichts tun. Nicht wirklich. Wenn das alles hier vorüber ist, lässt sie dich gehen.“

Nora biss sich auf die Unterlippe und nickte. Sie musste ihm einfach glauben.

 

Liara und Michael schritten nebeneinander durch die unterirdischen Gänge und fuhren mit dem Aufzug nach oben. Zwischen ihnen herrschte eisiges Schweigen, nur das Klacken von Liaras Absätzen hallte durch die Flure.

„Musste das sein?“, fragte Michael mit nur mühsam unterdrückter Wut, nachdem sie Liaras Arbeitszimmer erreicht hatten.

Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch. Das grobe Holz hatte ihr schon immer ein Gefühl von Sicherheit gegeben und jetzt hatte sie das verdammt nötig. Sie wusste genau, was Michael wissen wollte und dass sie einer Antwort nicht ausweichen konnte. „Was?“ fragte sie trotzdem, um Zeit zu gewinnen.

Michael nahm im Sessel einer Sitzgruppe möglichst weit weg von ihr Platz, um ihr seine Entrüstung zu zeigen. „Du hast ihn gefoltert wie irgend so ein verrückter Diktator einer Bananenrepublik einen oppositionellen Reporter.“

„Das macht nichts.“

„Wie bitte?“ Michaels Stirn warf scharfe Falten.

„Er hat kein Leben, kein Gefühl“, beschwichtigte Liara ihn. „Er spürt nichts.“

„Das hörte sich gerade aber ganz anders an.“

„Das ist wie mit der Tafel und der Kreide.“

„Was?“

„Wenn man mit der Kreide über die Tafel kratzt, gibt das ein unangenehmes Geräusch.“

„Mhm.“

„Er spürt genauso wenig wie die Kreide oder die Tafel. Es ist bloße Physik. Er ist so was wie ein Bio-Android, der mit Programmen gefüttert wurde, die seine Gestik und Reaktionen steuern“

„Du hast selbst gesagt, dass er Gefühle hat.“

„Sie sind nicht real. Er ist sich seiner selbst nicht bewusst. Er wird uns vollkommen gefühllos foltern und töten, wenn der Geist der Wälder es ihm befiehlt. Und darauf werde ich es nicht ankommen lassen.“

„Warum tötest du ihn dann nicht gleich?“

„Ich kann ihn nicht töten.“

„Er ist unsterblich?“

Liara atmete entnervt auf. „Du verstehst immer noch nicht. Ich kann ihn nicht töten, weil er nicht lebt. Ich kann ihn zerstören, mehr nicht.“

„Und warum tust du das nicht?“

„Wir brauchen alles und jeden, wenn wir den Krieg gewinnen wollen“, antwortete Liara eindringlich, „und er wird nach dem Bluteid eine mächtige Waffe in unseren Händen sein.“

„Nur ist deine Art, Kampfgefährten zu finden, alles andere als astrein“, hob Michael die Stimme.

„Bist du sauer?“

„Du glaubst gar nicht wie sauer ich bin.“

„Ich wünschte, du würdest mich verstehen.“

Michael zuckte mit den Schultern „Oh, ja. Ich verstehe dich schon. Alles für das Reich. Der Zweck heiligt die Mittel und wenn jemand dabei auf der Strecken bliebt, ist das sein Problem, nicht deins.“

Seine harten Worte taten ihr weh, auch wenn sie ihn verstand. Aber sie war im Recht, nicht er. Wie konnte sie ihn nur von dem überzeugen, was richtig und notwendig war? Seine Meinung war ihr wichtiger als die von jedem anderen Menschen.

 

„Was ist der Bluteid?“, fragte Nora mit zitternder Stimme.

„Ein uraltes Ritual“, wich Silvan aus.

„Sag es mir.“

Er starrte die Decke an.

„Bitte“, beharrte sie.

Silvan sah weiter die Decke an. „Mein ganzes Blut wird mir genommen. Es fließt in den Waldboden, zurück zu meinem Schöpfer.“

„Wie wird das gemacht?“ Nora ahnte Arges.

„Ich lege mich auf den Waldboden und meine Halsschlagader wird geöffnet. Das Blut fließt heraus. Irgendwann hört mein Herz auf zu schlagen. Dann wartet man, bis auch der letzte Rest aus mir herausgeflossen ist.“

„Du stirbst dabei. Sie opfern dich ihrem Wahn!“

Silvan lächelte leise.“Ich lebe nicht. Ich kann nicht sterben, nur aufhören zu existieren.“

„Ich versteh das nicht.“

„Ich bin kein Mensch, nicht einmal ein Lebewesen. Ich wurde von einem Dämonen geschaffen und bin nur sein Werkzeug.“

„Du bist genauso wahnsinnig wie sie. Sie dürfen dich nicht hinrichten!“

„Nora, ich sterbe nicht“, erklärte Silvan nachdrücklich. Seine Hand streckte sich in ihrer Fessel nach Nora aus, um sie zu berühren. Er bemerkte es nicht. „Wenn ich ausgeblutet bin, bekomme ich Blut von Liara. Ihr Herz wird es direkt aus ihren Gefäßen in meine pumpen und ich werde weiter existieren.“

„Was ist, wenn sie die falsche Blutgruppe hat?“

„Die Blutgruppe spielt keine Rolle.“

„Warum soll das alles gemacht werden.“

„Ich gebe mein Blut dem Geist der Wälder zurück und löse mich so von ihm, so wie ein Gärtner einen Ableger mit einem Spatenstich von der ursprünglichen Pflanze abtrennt. Liaras Blut ist die Erde, in die ich danach eingepflanzt werde.“

„Was bedeutet das?“

„Ich gehöre ihr und, weil sie schwanger ist, nach ihrem Tod auch ihrem Kind. Ich werde ihr untertan sein und sie und ihre Familie mit meiner ganzen Kraft schützen.“

„Das ist doch alles vollkommen verrückt.“

„In deiner Welt schon, in meiner nicht.“

„Wurde so etwas schon mal gemacht?“

„Ja. Ein paar Mal.“

„Und wie ist es ausgegangen.“

„Die, die neuen Blutes waren, haben so lange ihren neuen Herren gedient, bis sie zerstört wurden oder sich in geistiger Umnachtung selbst vernichtet haben.“

„Oh Gott. Wie lange hat das gedauert?“

„Meist so zwei Jahre. Ein paar haben es auch fünf Jahre durchgehalten.“

„Das ist …, ich …, ich kann das nicht glauben.“

„Es ist in Ordnung. So werde ich vielleicht sogar länger existieren, als wenn sie es nicht täte.“

„Sie wollen dir die Kehle aufschneiden, und du findest das auch noch in Ordnung!“ Nora versuchte erneut, seine Fesseln zu lösen, doch sie erreichte nichts. Als sie ihn frustriert ansah, sah sie eine Träne in seinem Gesicht. Sie wischte sie zärtlich weg. „Du weinst“, flüsterte sie erstaunt.

Er schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich.“ Seine Stimme war belegt.

Sie widersprach ihm nicht.

„Hör mir zu Nora.“

Sie nickte.

„Liara hatte eine jüngere Schwester. Fehild. Sie hat sie geliebt und ihr blind vertraut. Das war ihre einzige große Schwäche. Sie hat bitter dafür bezahlt. Fehild hat sie hintergangen und versucht, die Macht an sich zu reißen. Dafür hat sie einen Attentäter auf Liara losgelassen. Fehild lebt nicht mehr. Liara schon. Sie wird sich einen solchen Fehler nicht noch einmal erlauben.“ Er machte eine kurze Pause, damit Nora die Bedeutung seiner Worte verstand. Dass Fehild einen tödlichen Unfall erlitten hatte, an dem sie selbst schuld gewesen war, sagte er ihr nicht. Nora sollte Liara fürchten, denn Furcht war vielleicht das Einzige, das sie am Leben halten würde. „Du wirst alles tun, was sie von dir verlangt“, mahnte er sie eindringlich. „Alles! Und du wirst mich aus deinem Gedächtnis streichen.“

Sie schüttelte energisch den Kopf. „Das kann ich nicht.“

Er brauste auf. „Verdammt. Tu endlich einmal, was ich dir sage. Wenn du kooperierst, bleibst du am Leben. Wenn nicht, wirst du dir vielleicht wünschen, tot zu sein. Es geht hier nicht um mich. Auch nicht um dich. Es geht um die Herrschaft über Abermillionen von Menschen. Liara kann es sich nicht leisten, auch nur den kleinsten Fehler zu machen.“

„Warum verteidigst du dieses mörderische Biest auch noch?“

„In diesem Spiel geht es um eine ungeheure Macht und einen unglaublichen Reichtum und es gibt nur eine Regel. Nämlich, dass es keine gibt. Du hältst sie sicher für kalt und grausam. Aber glaube mir, verglichen mit ihren Gegnern ist sie die Sanftmut und Güte in Person. Wenn die anderen siegen, werden schreckliche Zeiten über ihren Planeten heranbrechen. Diejenigen, die jetzt an der Macht sind, sind Schlächter ohne Gewissen, Ehrgefühl oder Mitleid. Und wenn sie auf ihrem Planeten fertig sind, werden sie hierher kommen.“

„Ich versteh das alles nicht.“ Er hörte die Unsicherheit in ihrer Stimme. Was sie seit gestern erlebt hatte, war so rasend schnell über sie gekommen und widersprach ihrem bisherigen Weltbild so sehr, dass ihr Verstand es noch nicht fassen konnte. Silvan wollte die Arme um sie schlingen und an sich drücken. Es war ein Wunsch, der niemals hätte sein dürfen.

 

Liara erhob sich und trat ans Fenster. Michael saß immer noch mit verkniffenem Gesicht in seinem Sessel. Sein Blick folgte ihr. Sie konnte seinen stummen Vorwurf in ihrem Rücken spüren.

Es war kurz vor Sonnenuntergang. Die Sonne und die warme Luft hatten einen Sommertag vorgegaukelt, aber die kommende Nacht würde sternenklar und kalt werden. Sie atmete tief ein und ließ ihren Blick über die Stadt unter ihr wandern. Hunderttausende lebten dort. Niemand würde ihren Gefangenen vermissen, er existierte nicht, war nie geboren worden. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal eine bleibende Erinnerung in den Köpfen der Menschen hinterlassen, die ihm begegnet waren.

Diese Frau aber war ein Problem, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Man würde sie nicht nur vermissen, sondern auch nach ihr suchen. Sie gehen zu lassen, kam jedoch nicht infrage.

Das Einfachste wäre gewesen, die Frau zu beseitigen, ohne irgendeine Spur von ihr zu hinterlassen. Fehild, ihre Schwester, hätte damit kein Problem gehabt. Sie beide waren in ihrer Kindheit und Jugend durch ein unerbittliches körperliches und mentales Training gegangen. Man hatte sie bis an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht, und auch darüber hinaus. Sie hatten gelernt zu töten und sich selbst zu verteidigen, mit Waffen, aber auch mit bloßen Händen. Mitleid oder Schuldgefühle hatten nicht auf ihrem Stundenplan gestanden. Doch während es für sie eine unangenehme Notwendigkeit gewesen war, war Fehild darin aufgegangen. Allein der Gedanke, Macht über das Leben und den Tod eines Menschen zu haben, hatte ihre Fantasie beflügelt und sie mit Vorfreude erfüllt.

Ein Stein legte sich auf Liaras Brust. Fehild war tot, zugrunde gegangen an ihren ungezügelten Leidenschaften und Begierden. Sie aber war nicht so, wie es ihre jüngere Schwester gewesen war. Dummerweise hatte sie ein Gewissen, auch wenn sie alles, wirklich alles Notwendige tun würde, um die Pläne nicht zu gefährden, die schon ihre Mutter und Großmutter geschmiedet hatten, seitdem dieser Planet ihnen eine Zuflucht geboten hatte. Nicht nur das Wohl ihrer Anhänger und ihrer Familie hing von deren Gelingen ab, sondern auch das von Millionen von Menschen unendlich weit weg von hier.

Fehild hatte sie verraten, ihren Untergang gewollt. Und dennoch war ihr Tod der schlimmste Moment ihres Lebens gewesen. Sie hätte alles gegeben, um sie zurückzubekommen, ihre fordernd funkelnden Augen zu sehen, sich über ihr sprunghaftes und überschäumendes Temperament aufzuregen und ihre respektlosen Kommentare über sich ergehen zu lassen. Nie zuvor hatte sie verstanden, dass Menschen ihre Seele für irgendetwas oder irgendwen verkauften. Jetzt tat sie es.

Liaras zwang ihre Gedanken zurück zu ihrem Gefangenen. Etwas an ihm ließ ihr keine Ruhe. Es war nicht seine Herkunft oder seine Ähnlichkeit mit ihr. Es war die Art, mit der er von dieser Frau gesprochen hatte. Er hatte sie geradezu angefleht, Nora nichts anzutun. Liara konnte immer noch kaum glauben, dass er sich um einen Menschen sorgte, dessen Schutz ihm nicht von seinem Schöpfer aufgetragen worden war.

Seine Schreie hallten noch in ihren Ohren. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf, wenn sie an sein schmerzverzerrtes Gesicht und seinen sich aufbäumenden Körper dachte. Alles hatte so real gewirkt.

Verdammt, er ist ein seelenloses Ding, sagte sie sich, eine Maschine, die nur so aussieht wie ein menschliches Wesen: Er kann nicht so etwas wie Gefühle entwickeln! Und dennoch hatte er es offensichtlich getan.

Etwas, das mehr war als bloße triebhafte Anziehungskraft, verband ihn mit dieser Frau. Sie fragte ich, ob sich dieses Etwas gegen sie und ihre Anhänger richten konnte. Die Antwort war ein dumpfes Gefühl in ihrem Magen.

Diese Frau war die schwache Stelle dieser Kreatur. Der Bluteid würde das bald ändern. Oder auch nichts. Jedenfalls nicht für ihn. Er war dem Untergang geweiht, so oder so.

Bei der Frau aber war es anders. Sie war eine Unbeteiligte. Ein dummer Zufall, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, hatte sie in einen Krieg verstrickt, der seit Generationen andauerte. Sie auszuschalten, würde Blut an Liaras Händen kleben lassen - einen winzigen Tropfen nur in einem Ozean voller Leid und Tod. Es war ein Krieg, den der Geist der Wälder, jener Dämon, auf den die wölfische Linie ihrer Familie zurückging, entfacht hatte, mitten in einer schier unendlichen Reihe von Schlachten, Rebellionen und brutalen Unterwerfungen. Nur ihre Vorfahre hatten es ihrem Erbe zum Trotz manchmal geschafft, für eine kurze Zeit Frieden über den Planeten zu bringen. Aber wie dem auch sei, nach dem Bluteid gäbe es keine Fragen oder Zweifel hinsichtlich Silvans Loyalität mehr. Die beiden dort unten waren in die gleiche Falle getrappt, in der sie seit ihrer Geburt festsaß. Das Reich verlangte seinen Tribut von jedem, der damit in Berührung kam - meist in Form von Blut und Schmerz.

Sie liebte und hasste den Geist der Wälder gleichermaßen. Dieser Dämon hatte ihr und ihren Vorfahren eine unvergleichliche Kraft zuteil werden lassen, als er sich in Gestalt eines Wolfes zu Beldes Mutter gelegt hatte. Aber der Preis dafür war zu hoch. Sein Erbe trieb die Mitglieder ihrer Familie in diesem nicht enden wollenden Krieg dazu, Ströme von Blut fließen zu lassen, unabhängig davon, ob sie es wollten oder nicht. Wenn es im Waldboden versickerte, nährte es ihn, sowohl in dieser Welt als auch in jener anderen, die den Menschen nicht zugänglich ist. Liara wusste, dass auch sie nur sein Werkzeug war. Doch jetzt würde sie den Fluch mit der Hilfe des Gefangenen brechen.

Sie drehte sich nicht um, als Michael nach einer Erklärung zum Bluteid verlangte. Er hörte zu, ohne sie zu unterbrechen, als sie sie ihm gab.

„Du hast also vor, das wirklich durchzuziehen?“, fragte er ungläubig, nachdem Liara ihn aufgeklärt hatte.

„Ja.“

„Wann?“

„Diese Nacht. Je eher es passiert, desto besser.“

„Du willst ihn doch nicht wirklich ausbluten lassen wie ein Tier?“

„Mein Gott, versteh doch endlich: Er ist weniger als ein Tier. Eine Kartoffel hat mehr Bewusstsein als er.“

„Bist du wahnsinnig!“

Jetzt drehte sie sich zu ihm um. „Du hast mir immer vertraut.“ Ihre Stimme war weich, bittend. Sie, die sonst immer so stark und gradlinig war, wirkte schwach und unentschieden. Er wusste, sie glaubte an das, was sie sagte und auch, dass sie ihn nicht verletzen wollte. Und ja, sie hatte ihn nie wirklich angelogen, jedenfalls nicht in wichtigen Dingen. Alles was er über ihre Familie, ihre Vergangenheit und ihre Gabe wusste, hatte er ihr anfangs nicht geglaubt. Doch es hatte sich als wahr herausgestellt, so verrückt es auch war.

„Du musst nicht dabei sein, wenn es passiert“, versprach Liara.

Michael schüttelte unwillig den Kopf. „Das habe ich auch nicht vor. Ich werde keinem Mord zusehen!“

Er fragte sich wie so oft, ob er damals, nachdem er geflohen war, aus Liebe oder weil auch er der Kraft des Wolfes verfallen war, zu Liara zurückgekehrt war. Wie dem auch sei, er hatte ohne sie nicht leben können und diesen Schritt nie bereut. Er erhob sich aus seinem Sessel und trat neben sie ans Fenster. Als sie sich an ihn lehnte, wusste er, dass er es niemals bereuen würde.

Trotzdem ließ er es nur unwillig geschehen, dass sie ihn umarmte.

„Komm, lass uns all das vergessen“, lockte sie ihn, obwohl auch ihr die Angelegenheit mit Silvan und der Frau schwer auf der Seele lag. Ihre Finger tasteten über seinen Körper. Sie wusste genau, wo sie Michael berühren und wie sie ihn reizen musste, um ihn alles andere vergessen zu lassen. Liara presste ihren Mund hart auf seinen, teilte seine Lippen mit meiner Zunge und drang tief in ihn ein. Er stöhnte leise, als ihr Daumen über seine harte Brustwarze rieb. Er stöhnte laut, als ihre Hand ihn zwischen seinen Beinen berührte. Erfreut fühlte sie seine Härte. Und dann vergaß er alles andere.

3. Blut

Sie hatten das Licht gelöscht. Nicht einmal seine Augen konnten die Dunkelheit durchdringen. „Was sollen wir nur tun, Silvan? Sie wird mich ganz bestimmt nicht einfach so gehen lassen, wenn sie dich umgebracht hat.“

„Sie wird dich gehen lassen“, versicherte er ihr. Und mich kann sie nicht umbringen.“

„Wenn das stimmt, was du mir gesagt hast, und du das tatsächlich überlebst oder überstehst oder was auch immer, wirst du nicht mehr derselbe sein.“

„Was macht das schon? Nichts. Es ist, als würde ein Auto in einer anderen Farbe lackiert.“

„Was wird dann mit uns sein?“

Er zögerte. Lange. Zu lange.

„Was?“

„Das bestimmt sie. Liara.“

„Das heißt, wenn sie dir befiehlt, mich zu töten, wirst du es tun?“

Schweigen.

„Wirst du?“, ließ Nora nicht locker.

Er hörte ihren Schmerz und ihre Angst. „Sie wird mir das nicht befehlen“, wich er aus.

„Sie wird es tun, Silvan. Schon um sich zu vergewissern, ob diese ganze verfluchte Scheiße geklappt hat. Jedenfalls wenn das alles stimmt und sie nur ein wenig Grips hat.“

Keine Antwort ist auch eine Antwort.

Sie beugte sich über ihn und legte ihren Kopf auf seine Brust. Eine Träne lief aus ihrem Auge und durchnässte sein T-Shirt bis zu seiner Haut. Sein Herz setzte eine Schlag aus. Dann sprach sein Mund, was er niemals hätte aussprechen dürfen, leise und und für niemanden außer Nora hörbar. „Es gibt noch eine andere Möglichkeit.“

„Welche?“ Wider alle Vernunft war da Hoffnung in ihrer Stimme.

Silvan sprach wieder so leise, dass niemand sonst ihn hören konnte. Er wusste, dass sie belauscht wurden, wahrscheinlich beobachteten sie sie sogar mit Restlichtverstärkern. „Mein Blut kann dich stark machen.“

„Wie meinst du das?“ Auch Nora flüsterte instinktiv nur, sie wusste um die Gefahr.

„Wenn ich dir von meinem Blut gebe, wirst du viel stärker und schneller sein, als du es jetzt bist, solange du es in dir trägst.“

„Ich versteh das nicht.“

„Das musst du auch nicht.“ Seine Stimme floss vibrierend durch ihre Glieder, ihr Herz ihr Hirn. „Aber mit meinem Blut in dir wirst du vielleicht fliehen können, wenn du sie überraschst.“

„Wenn mir das gelingt, werde ich die Polizei holen und dich retten.“

„Das darfst du nicht. Versprich es mir.“

Sie nickte nur, wissend, dass sie ihr Versprechen nicht halten würde, sollte sie irgendwie aus der Gewalt dieser Irren entkommen.

„Küss mich und trink“, verlangte er.

„Was?“

„Küss mich und trink.“

„Ich versteh nicht.“

„Tu einfach, was ich dir sage.“

Dann verstand sie. „Ich bin doch kein Vampir!“

„Tu es. Küss mich und schreck nicht zurück. Es geht um dein Leben.“

Ihr Verstand bäumte sich auf.

„Tu es!“ Etwas in seiner Stimme fand den Weg aus seinem Mund durch die Dunkelheit zu einer Region ihres Daseins, die viel älter war als jeder Verstand. Sie überließ sich ihm. Obwohl sie nichts sehen konnte, schloss die Augen und legte ihren Mund auf seinen. Sie fühlte wie er seine Kiefer zusammenbiss. Seine Lippen öffneten sich und ihre auch. Sofort nahm sie den metallischen Geschmack von Blut wahr. Er hatte sich auf die Zunge gebissen und blutete heftig.

Im ersten Moment wollte sie zurückweichen, würgen, ausspucken. Aber dann brachte etwas sie dazu, sein Blut in sich aufzunehmen. Da war kein Ekel. Sie schluckte. Keine Übelkeit ließ sie würgen. Stattdessen spürte sie eine zunehmende Gier. Immer mehr von seinem Blut floss in sie hinein und wurde von ihr aufgesogen wie Wasser von einem Verdurstenden. Wenn er nicht den Kopf weggedreht hätte, hätte sie ihn leergetrunken. Sie spürte ein Bedauern, als der Strom versiegte.

Noch über ihn gebeugt leckte sie sich das Blut von den Lippen, um auch den letzten verschmierten Tropfen zu ergattern, es war das Delikateste, das sie jemals gekostet hatte. Erst als sie glaubte, alle Spuren beseitigt zu haben, richtete sie sich auf, hoffend, dass niemand bemerkt hatte, was während des Kusses geschehen war. Sie konnte selbst kaum fassen, was sie getan hatte und erst recht nicht mit welcher Gier. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, als wäre sie gerannt.

Allerdings fühlte sie sonst keine Veränderung. Kein Muskel spross, keine übernatürliche Energie floss durch ihren Körper. Es war immer noch stockdunkel.

Bevor die Enttäuschung sie richtig in ihren Klauen hatte, flammte das Licht auf und bewaffnete Männer standen im Raum. Einer blieb in der Tür stehen. Ohne sie zu mit mehr als einem kurzen Blick beachten, schritten die übrigen an ihr vorbei zur Liege. Einer löste die Riemen, die Silvan fixierten, während die anderen ihre Waffen auf ihn richteten.

„Wenn du einen Fluchtversuch auch nur andeutest“, warnte der Anführer ihn, „wirst nicht nur du sterben, sondern auch sie.“ Er nickte in Noras Richtung. „Einmal abgesehen, dass du eh keine Chance hast zu fliehen, Wolf.“

„Ich glaube nicht, dass eure Herrin das billigen würde, wenn ihr mich vernichtet“, spottete Silvan, doch er wehrte sich nicht, als sie ihn erst hochrissen und dann bäuchlings auf den Boden zwangen. Sein Blick fand den von Nora, während sie seine Hände mit Handschellen hinter seinem Rücken fesselten. Sie hatte sich in die Ecke gedrückt und beobachtete fassungslos, was sie mit ihm taten. Er schüttelte den Kopf, um sie von irgendwelchen unbedachten Reaktionen abzuhalten, dann riss einer ihn brutal an den Haaren hoch. Er gab keinen Laut von sich.

Nora sah ihm entsetzt hinterher, als sie ihn aus der Zelle führten. Sie konnten ihm doch unmöglich antun, was Liara angedroht hatte! Noch viel weniger verstand sie, dass Silvan ihnen so widerstandslos folgte wie ein Lamm zur Schlachtbank.

Als sie aus der Zelle rennen wollte, blockierte der Mann, der von dort alles überwacht hatte, die Tür.

Er lehnte lässig am Türpfosten, während seine Augen genüsslich über sie glitten. Sie starrte hilflos zurück. Er sah gut aus und wusste um seine Wirkung auf Frauen. Auf seinen Lippen lag ein herablassendes Lächeln. Er war er sich seines Sieges sicher. „Nicht so hastig, Süße. Du kannst deinem Schatz nicht retten.“ Er schubste sie an der Schulter in die Zelle zurück. Fast wäre sie gefallen. Nach ein paar taumelnden Schritten fing sie sich.

„Geschmack hat diese Kreatur ja.“ Seine Worte klangen nicht wie Kompliment, sondern wie eine Beleidigung. „Mit wie vielen Männern hast du es schon getrieben und sie zu deinen Laufburschen gemacht, so wie dieses Ding?“ Er schaute kurz zurück in den Korridor, dorthin wo die anderen mit Silvan verschwunden waren und starrte sie dann wieder dreist an. „Wie war es, für dieses Ding die Beine breitzumachen. Gut?“ Diesmal lachte er laut auf. „Mit mir wird es besser sein.“

Plötzlich war ihr bewusst, dass außer ihnen beiden weit und breit niemand mehr war. Und er wusste es auch. Mit schnellen Schritten kam er auf sie zu. Sie wich bis in die hinterste Ecke zurück.

„Dein Schatz wird dich gleich vergessen, so als hätte es dich nie gegeben, Süße. Du brauchst einen neuen Beschützer in dieser grausamen Welt.“

„Ich kann auf mich selbst aufpassen“, gab Nora zurück und sah, dass sein Grinsen breiter wurde, als er die Unsicherheit in ihrer Stimme hörte.

„Ich kann auf mich selbst aufpassen“, äffte er sie nach. Seine Stimme wurde hart. „Anscheinend nicht, sonst wärst du nicht hier.“

„Man wird mich vermissen und mich suchen und mir helfen.“

„Vielleicht da oben wo die Sonne scheint. Hier unten aber gibt es keinen, der dir hilft.“

An seinen Worten erkannte Nora, dass sie sich in einem Keller befanden. Sie schaute unwillkürlich nach oben.

„Wir sind hier nicht nur in einem Keller“, erklärte der Mann, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Wir sind hier ganz tief unter der Erde. Du kannst so laut schreien, wie du willst. Niemand wird dich hören. Und selbst wenn, wird keiner kommen, um dir zu helfen.“ Plötzlich wurde sein Gesicht ernst. „Du solltest dir überlegen, wen du dir zum Freund machst.“ Eine Hand schoss vor und packte ihren Arm so fest, dass es ihr wehtat. Sie wollte zurückweichen, aber er zog sie mit hartem Griff nur noch näher an sich heran. Seine zweite Hand ergriff ihre Schulter ebenso grob. „Sei nett zu mir, dann bin ich auch nett zu dir. Ich bin vielleicht der Einzige hier, der zwischen dir und dem Tod steht. Meine Chefin hört auf mich.“

Ihre Hände pressten sich gegen seine seine Brust, um ihn wegzudrücken. Er lachte nur. „Zier dich nicht so! Bei diesem Ding hast du doch auch nicht lange gezögert. Jetzt hast du die Chance auf einen richtigen Mann, leibhaftig und in Farbe.“

Der Geruch von Alkohol und seinem aufdringlichen Aftershave verpestete ihre Atemluft. Übelkeit stieg in ihr hoch - und ein so unbändiger Zorn, dass sie ihn nur noch wie durch einen Tunnel sah.

Er bemerkte die herannahende Gefahr nicht und drückte sie in Richtung Liege. Frauen hatten es ihm bisher immer leichtgemacht. Das Sträuben der Frau vor ihm erregte ihn mehr als die willige Hingabe der anderen. Die Liege war genau in der richtigen Höhe, um zwischen ihre Beine zu gelangen. Dieses verdorbene Miststück zu unterwerfen, würde ihm viel Spaß bereiten. Sollte sie sich doch ruhig ein wenig wehren. Das machte das Ganze nur umso pikanter und seinen Sieg vollkommen. Die anderen waren damit beschäftigt, dieses Ding zu zähmen und er würde das Gleiche mit der Frau machen. Zeit genug hatte er.

Sie spürte das harte Metall der Liege in ihrem Rücken. Als seine Hand ihr Gesicht berührte, zuckte sie zusammen und drehte den Kopf weg. Das nächste, was sie spürte, war eine schallende Ohrfeige. „Das ist aber gar nicht nett von dir, dass du nichts von mir wissen willst“, drang seine Stimme an ihr Ohr. Mehr noch als ihre Wange schmerzten die erlittene Demütigung. Sie wandte ihm vorsichtig das Gesicht zu.

„So ist es besser, Süße“, sagte er. „Du bist gar nicht mal so dumm, wie du aussiehst.“ Die Hand an ihrer Schulter wanderte herab und sein Daumen fuhr über die Haut im Ausschnitt ihres T-Shirts. Sein Atem strich über sie und widerte sie an. Erstarrt sah sie, wie er sich über sie beugte, um sie zu küssen. Als seine Lippen ihre berührten, löste sich ihre Erstarrung schlagartig. Ihre Fingernägel gruben rote Furchen in sein Gesicht. Er zischte vor Schmerz und Überraschung. Seine Hand tastete nach seiner Wange. „Ich bring dich um“, schrie er, als er das Blut daran sah. „Ich bring dich um, du verdammte Hure. Ich werde dir jeden einzelnen Knochen in deinem Gesicht zu Brei schlagen.“

Als er die Faust zu einem Schlag hob, zuckten ihre Hände vor. Sie spürte die Haut an seinem Hals und die Knochen seiner Wirbelsäule darunter. Dann hörte sie sein Genick brechen. Sein lebloser Körper sackte vor ihren Füßen zusammen. Entsetzt sah sie auf ihn runter. Aber nur einen winzigen Moment. Ihr Blick ging hektisch zur Tür, doch niemand stürmte herein.

Sie kniete sich neben den Toten. Sein Körper war so warm, als wäre noch Leben darin. Mit zitternden Händen durchsuchte seine Kleidung und fand eine Pistole. Sie nahm sie an sich und stand auf.

Ihre Knie zitterten nicht weniger, als sie aus der Zelle in den Korridor trat. Sie hob die Nase. Der Geruch der anderen war noch in der Luft. Sie folgte ihm bis zu einem Fahrstuhl. Niemand hielt sie auf, als sie ihn bestieg, obwohl überall Überwachungskameras zu sehen waren. Nora lächelte bitter; sie waren alle zu sehr damit beschäftigt, Silvan umzubringen. In ihr hatte niemand eine Gefahr gesehen. Am wenigsten sie selbst. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Sie hielt den Atem an.

Ihre Angst wich Vorsicht. Der Fahrstuhl blieb stehen und die Tür öffnete sich automatisch. Nora trat mit nach vorne gerichteter Pistole in den Flur, ihr Zeigefinger lag fest auf dem Abzug. Sie war bereit, sie wenn nötig zu benutzen. Es war, als schaute sie sich selbst zu, während ihr Körper instinktiv tat, was getan werden musste.

Der Geruch von Silvan war hier oben schwächer. Trotzdem konnte sie ihm folgen. Er führte sie bis zur Haustür. Nora überlegte kurz, ob es klug war, sie zu öffnen. Dann kam sie zu dem Schluss, keine andere Wahl zu haben. Außerdem war nicht anzunehmen, dass irgendjemand hier mit ihrer Flucht rechnete.

Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie Liaras Besitz aussah. Bisher hatte sie ihn nur von ihrem Beobachtungsposten auf dem Berghang gesehen. Da waren eine hohe Mauer und ein Tor, die ihn vor Eindringlingen schützen sollten und wohl auch geeignet waren, sie daran zu hindern, von hier zu fliehen. Ihre Erinnerung war vage. Sie musste reichen.

Nora griff nach der Klinke und drückte sie herunter. Zu ihrem Erstaunen ließ sich die Tür problemlos einen Spaltbreit öffnen. Draußen war es dunkel. Kein Warnsignal ertönte. Kein Schrei war zu hören.

Mit einen Satz war sie draußen und preschte vor. Licht flammte auf. Ihre Bewegungen waren schnell. Der Mann im Wachhaus riss die Augen auf, als er einen Schatten auf sich zukommen sah. Er hatte keine Chance, jemanden zu warnen. Wieder spürte Nora das Brechen eines Kochens.

Sie schubste den Toten vom Stuhl. Etwas in ihr bedauerte, dass er nicht blutete. Vor sich sah sie mehrere Schalter. Sie hatte keine Ahnung, welche Funktion sie hatten und insbesondere welcher von ihnen das Tor öffnete. Sicher würde einer von ihnen Alarm auslösen. Dann fiel ihr auf, dass die Farbe von zwei Schaltern stumpfer waren als die der anderen. Sie drückte einen. Nichts geschah. Als sie den anderen betätigte, öffnete sich das Tor lautlos.

Nach wenigen Schritten befand sie sich außerhalb der Mauern. Der Geruch der anderen lag nur noch wie ein Hauch in der Luft. Sie folgte ihm. Er wurde stärker und sie wusste, dass sie ihnen näher kam. Das Licht in ihrem Rücken erlosch.

Dann hörte sie Stimmen. Geduckt ging sie darauf zu. Der Mond schien. Fast erschien es ihr, als sei der Wald taghell erleuchtet. Ihre Füße glitten über den Boden, ohne mehr Geräusche zu verursachen als die einer Ameise. Sie wusste, dass sie stark war.

Sie ging so weit um die Stimmen herum, dass sie sich gegen den Wind annähern konnte. Und dann sah sie sie.

Drei bewaffnete Männer bildeten ein großes Dreieck. In der Mitte sah sie einen regungslosen Schatten auf dem Boden liegen. Silvan. Er lag auf dem Rücken und war immer noch gefesselt. Liara kniete neben ihm und hatte eine dicke Hohlnadel in seinen Hals gestochen. Ein kurzer durchsichtiger Schlauch war daran angeschlossen. Blut floss im Takt seines Herzschlages heraus und versickerte im Waldboden.

Noras Schatten vereinte sich mit denen des Waldes. Ihr Herz blieb für einen Moment stehen. Liara wollte ihn wohl wirklich ausbluten lassen. Das hier konnte doch nur ein Alptraum sein!

Aber das fließende Blut zog auch ihre Augen magisch an. Ein Teil von ihr beobachtete mit geradezu perversem Vergnügen, wie es in den Boden sickerte. Ihre Zunge fuhr über ihre Lippen, während sie genießerisch die Luft durch ihre Nase einzog.

Sie musste so heftig geatmet haben, dass Liara es gehört hatte. Sie blickte auf und starrte mit ihren grünen Augen in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Dann gab sie einem der Männer einen Befehl.

Er löste sich aus der Gruppe und kam auf Nora zu. Sie duckte sich instinktiv noch tiefer in die Schatten. Sein Blick glitt suchend über sie, ohne sie wahrzunehmen, obwohl er nur einen Meter entfernt an ihr vorüberschritt.

Als er mit angelegter Waffe weiter in den Wald ging, schlich Nora ihm hinterher. Obwohl sie so etwas zum ersten Mal tat, wusste sie auch jetzt, was zu tun war.

Der Mann hörte sie nicht. Sie starrte auf seinen Nacken. Er hörte sie auch nicht, als sie aufsprang. Als er ihre Hände an seinen Hals spürte, wusste er, dass er sterben musste. Dann brach sein Genick. Sie vermied es, in sein Gesicht zu sehen, während sein erschlaffender Körper zu Boden sank. Ohne jedes Gefühl von Schuld zog sie ihn in den tiefen Schatten eines Felsblocks, während seine toten Augen in den Himmel starrten.

Liara blickte besorgt auf. Wenn irgendetwas da draußen war, würde der Mann, den sie in den Wald befohlen hatte, es finden. Doch er hätte sich schon längst melden müssen.

Alle ihre Sinne waren in die Tiefe des Waldes konzentriert. Mit zusammengebissenem Kiefer stand sie auf. Obwohl ihre Augen die einer Katze waren, konnte sie keinerlei Bewegung erkennen. Kein Geräusch der Nacht drang an ihre Ohren. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Verdammt, dass ihre Gabe so sehr geschwächt war.

Die beiden anderen Männer starrten in den Wald, auch wenn ihre Augen weniger sahen als die von Liara. Alle fühlten den Tod, der sie umschlich. Er war uralt und verlangte nach Blut.

Silvan wusste, wer dort draußen war. Verdammt, warum nur musste sie immer so starrköpfig sein. Gegen die Männer und ganz besonders gegen Liara hatte sie keine Chance. Jetzt würde sie doch sterben.

Und dann verstand auch Liara, wer dort draußen war. „Was hast du getan, du verfluchte Brut eines Dämonen!“, schrie sie Silvan an. „Du hast ihr dein Blut gegeben!“

Er starrte zurück, unfähig zu antworten. Zu viel seiner Kraft war schon in den Boden geflossen.

Als ein morscher Ast weit weg in der Dunkelheit knackte, stürmten die beiden Männer los. Nora sah, wie sie mit angelegten Waffen geradezu blindlings in den Wald eindrangen. Liara schrie ihnen hinterher, um sie aufzuhalten. Doch das Jagdfieber hatte sie fest im Griff.

Als sie einen Moment stehen blieben, nutzte Nora die Schatten, um sich von hinten an sie heranzupirschen. Sie glaubten, sie wären Jäger, doch sie waren Gejagte. Kein sechster Sinn, kein Instinkt warnte sie. Die Waffen in ihren Händen gaben ihnen das Gefühl von Unbesiegbarkeit.

Nora beobachtete jede ihrer Bewegungen. Sie war wie in einem Rausch. Adrenalin floss durch ihre Adern. Ihr Puls raste. Sie näherte sich ihnen im Schutz der Dunkelheit, fast konnte sie sie berühren. Ihr Geruch drang in ihre Nase.

Auf ein Zeichen des einen hin bleib der andere stehen, während er selbst weiter in den Wald vordrang. Es war sein letzter Fehler. Der andere stand nur wenige Zentimeter neben Nora. Sie konnte seinen Atem hören und seinen Schweiß riechen. An seiner Hüfte sah sie ein Messer.

Liara schrie erneut. Sie Männer reagierten zu spät auf ihren Ruf. Als der vordere sich umdrehte, sah er seinen Kameraden mit durchschnittener Kehle zusammenbrechen. Dann bohrte sich das Messer in sein Herz.

Liara fühlte trotz ihrer Schwangerschaft, was dort draußen geschah. Das Sterben ihrer Männer, deren Blut den Waldboden tränkte, ging ihr durch Mark und Bein. Sie wusste um die Gefahr, die dort draußen lauerte und Besitz von einem Menschen ergriffen hatte. Ihre Augen glühten gelb in der Dunkelheit. Auch von ihr ergriff etwas Uraltes Besitz.

Sie hob den Kopf und nahm Witterung auf. Blut war vergossen worden. Sie inhalierte tief. Der Geruch ließ sie vibrieren, rief auch sie in den Wald. Das gelbe Glühen in ihren Augen wuchs sich zu einem Lavastrom aus. Nur mit Mühe konnte sie sich beherrschen. Da waren die Gerüche des Waldes und des Todes, süß und verheißungsvoll. Doch Noras Geruch konnte sie genauso wenig wahrnehmen, wie ihren eigenen.

Sie würde sie jagen und zur Strecke bringen, ihre Männer rächen. Doch jetzt hatte sie noch etwas anderes zu tun. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf wieder Silvan. Mit einem Lächeln kniete sich neben ihn. „Wir haben heute noch etwas vor.“

Silvan wusste, dass sich alles geändert hatte. Liara würde Nora nicht mehr gehen lassen, nicht nachdem sie in einem Rausch, den sein eigenes Blut in ihren Adern entfacht hatte, ihre Männer getötet hatte. Seine Abmachung mit Liara war dahin. Er wollte sich in seinen Fesseln aufbäumen, aber seine Kraft reichte für kaum mehr als ein Zittern. Er war zu schwach, um die Hohlnadel in seiner Halsschlagader abzuschütteln.

Der Rest seines Blutes floss aus ihm heraus. Er fühlte es kaum noch. Eine unerträgliche Kälte breitete sich von seinen Händen und Füßen aus und umschloss sein Herz. Er zitterte. Sein Herz raste. Unsichtbare Fäden wuchsen aus dem Grund der Erde und griffen nach ihm, doch sie konnten ihn nicht halten. Sein Gesichtsfeld wurde immer kleiner, als schließe sich eine Iris. Sein Atem ging schwer. Sein Verstand gab nach. Er schüttelte den Kopf. Nur noch ein dünnes Rinnsal sickerte aus seinem Hals. Dann kam die Angst zu verlöschen, das Leben, das er in Noras Gegenwart gefühlt hatte, zu verlieren. Eine kalte Schwärze nahm ihn in sich auf. Sein Herz stand still.

Nora konnte ihn nicht sehen, nicht einmal hören. Und doch fühlte sie, wie seine Kraft erstarb. Dies verfluchte Irre hatte es also doch getan. Sie schlich in einem wahllosen hektischen Zickzackkurs auf Liara und Silvan zu.

Ihr Vater war Sportschütze gewesen. Er hatte ihr gezeigt, wie man mit Waffen umgeht. Ein paar Mal hatte sie selbst damit geschossen, aber sie hatte keine besondere Freude daran gefunden, obwohl sie erstaunlich zielsicher getroffen hatte. Jetzt erinnerte sie sich an ihre Versuche.

Sie hob die Waffe und trat aus dem Wald. „Du verdammtes Miststück, du hast Silvan umgebracht!“

 

4. Wandlung

 

Liara sah ihr entgegen. Dann wendete sie ihren Blick so gelassen von Nora ab, als befänden sie sich auf einem Ausflugsdampfer, und sah auf Silvan herab. „Ich habe ihn nicht umgebracht. Er hat nie gelebt. Das solltest selbst du inzwischen kapiert haben.“

„Nenn es, wie du willst. Du hast ihn ausbluten lassen wie ein Stück Schlachtvieh.“

„Ich kann ihn zurückholen“, bot Liara ihr an. „Noch.“

„Du bist wirklich wahnsinnig.“

„Seine Zeit läuft ab.“

„Und wie willst du das machen?“

Liara beugte sich vor und ergriff ohne weitere Worte den Schlauch, dessen Hohlnadel noch in Silvans Halsschlagader steckte. An ihren Bewegungen war zu erkennen, wie wütend sie über ihr eigenes Versagen war. Erst jetzt erkannte Nora, dass sich auch an dem freien Ende des Schlauches eine dicke Hohlnadel befand.

Liara streckte den anderen Arm aus und platzierte die Nadelspitze an ihren Handgelenk, um sie in die Arterie dort zu stoßen. Trotz ihrer äußeren Ruhe tobte sie innerlich. Diese Frau erdreistete sich, sie mit einer Waffen zu bedrohen und ihre Männer zu töten. Wenn erst genug von ihrem eigenen Blut in Silvans Adern flösse, würde er sie auf ihren Befehl hin ausschalten. Normalerweise hätte Nora keine Chance gegen sie gehabt, auch nicht mit Silvans Blut in ihr drin. Doch ihre Schwangerschaft machte sie schwach und verletzlich. Dem Kind durfte nichts geschehen. Ein Kampf, selbst wenn sie ihn gewann, könnte ihm Schaden zufügen. Jetzt war nicht die Zeit, selbst gegen diese Frau vorzugehen.

In diesem Augenblick sprang Nora vor und schlug den Kolben der Waffe auf Liaras Kopf. Der Angriff war vollkommen unerwartet und blitzschnell gekommen. Liara sackte zusammen.

Nora zog die Nadel aus ihrer Hand und stach sie in ihr eigenes Handgelenk. Irgendwie wusste sie, wo die Arterie war. Der Schmerz ließ sie aufstöhnen. Dann floss ihr Blut im Rhythmus ihres Pulses durch den Schlauch in Silvans Ader und von dort durch seine Kapillaren und Venen bis zu seinem Herzen. Es rann quälend langsam. Immer wieder sprang ihr Blick zwischen ihm und Liara hin und her. Noch einmal würde sie bestimmt nicht die Gelegenheit haben, diese Irre bewusstlos zu schlagen.

Dann sah sie, dass sich Silvan Brustkorb in einem ersten schwachen Atemzug hob. Ein zweiter, kräftigerer. Sie konnte es kaum fassen, aber sein Atem, der anfangs noch flach und unregelmäßig ging, wurde immer regelmäßiger und tiefer. Seine Lider flackerten. Er öffnete die Augen.

Sein verwirrter Blick traf sie. Dann wanderte er von ihrem Gesicht herunter zu ihrem Arm und Handgelenk. Als er die Nadel dort sah, verstand er. „Du hättest das nicht tun dürfen. Warum bist du nicht einfach weggelaufen?“ Noch war seine Stimme schwach.

„Sie wollten dich umbringen!“, antwortete Nora fassungslos.

Er richtete sich so weit es mit seinen gefesselten Armen und Beinen ging auf. Seine Augen erfassten Liara, die bewegungslos am Boden lag. „Du hast sie getötet. Was hast du nur getan!“

„Sie ist nur bewusstlos“, beruhigte sie ihn.

„Du hast sie nicht umgebracht?“

„Nein.“

„Was ist mit dem Kind?“

„Keine Ahnung.“

Er stöhnte auf.

„Du lebst“, erklärte Nora.

„Aber um welchen Preis!“ Seine Stimme war nur ein Hauch. Dann zerrte an seinen Fesseln. „Sie muss in ein Krankenhaus! Weder ihr noch dem Kind darf etwas passieren.“

Nora gingen die Nerven durch. „Verdammt!“, schrie sie ihn an. „Sie wollte dich umbringen und mich auch, und du spielst hier den fürsorglichen Beschützer.“

Silvan sah sie groß an. „Bitte Nora. Tu was ich dir sage. Wenigstens dieses eine Mal. Sieh nach, ob es ihr gutgeht. Und dann hol Hilfe. Ich flehe dich an.“

Nora sah skeptisch zu Liara rüber. Was würde diese Irre machen, wenn sie aufwachte? Sie schüttelte den Kopf. Dann ging sie zu einem der toten Männer und durchsuchte seine Uniform. Sie war blutverschmiert, trotzdem fand Nora den Schlüssel zu den Hand- und Fußschellen. Sie befreite Silvan.

Sogleich sprang er auf und war bei Liara. Er strich ihr geradezu zärtlich über das Gesicht. „Liara, wach auf. Bitte wach auf.“

Es versetzte Nora einen Stich, als sie sah, wie hingebungsvoll er sich um die Frau kümmerte, die ihn gerade noch hatte töten wollen. Dann wunderte sie sich, dass er mit so wenig von ihrem Blut in seinen Adern nicht nur stark genug gewesen war aufstehen, sondern auch die wenigen Schritte zu Liara herüber zu rennen. Jetzt war er dabei, diese Irre aufzuwecken. Wer weiß, was geschähe, wenn ihm dies gelänge. Sie fühlte, dass die Wirkung von Silvans Blut nachließ. Wenn es hart auf hart käme, wäre Liara stärker als sie. Darüber, was dann mit ihr geschehen würde, brauchte sie nicht lange nachdenken. Sie griff nach den Hand- und Fußschellen und kniete sich neben Liara.

„Was tust du da?“, fragte Silvan überrascht.

„Ich will hier keine böse Überraschung erleben, wenn sie aufwacht.“

„Sie wird weder dir noch mir etwas tun.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Und jetzt hilf mir, ihr die Handschellen anzulegen.“ Zu Noras Überraschung tat er dies widerspruchslos. Als Liaras Hände hinter ihrem Rücken gefesselt waren, fühlte sie sich schon deutlich wohler. Dann legte sie die Fußfesseln um Liaras Knöcheln und ihr Wohlbefinden war noch einmal deutlich gebessert.

Doch mit dem Schwächerwerden von Silvans Blut in ihren Adern, kam das Wissen, was sie getan hatte. „Oh, mein Gott, ich habe sie umgebracht“, keuchte sie. „Ich habe fünf Menschen umgebracht!“

Silvan sah ihr hart in die Augen. „Es war ihre Aufgabe, Liara und ihre Familie zu beschützen. Sie haben versagt.“

„Aber ich bin eine Mörderin.“ Sie blickte sich hektisch um und hob ihre rechte Hand mit abgespreizten Fingern. „Eine fünffache Mörderin.“

Silvan nahm ihre Hand. Nora wollte sie ihm entziehen, aber er hielt sie fest. „Du hast getan, wovon du glaubtest, dass es richtig war.“ Seine Stimme war weich. Trotzdem empfand sie keinen Trost. „Außerdem war es mein Blut, dass dich dazu gebracht hat. Du trägst keine Schuld daran.“ Er ließ ihre Hand los.

„Man wird mich suchen. Die Polizei wird nach dem Mörder fahnden.“

„Sie werden nie darauf kommen, dass jemand wie du so etwas getan haben könnte.“

Er trat zu Liara und hob sie vom Boden hoch.

„Was tust du?“, fragte Nora.

„Wir sollten schnellsten von hier weg.“

„Was willst du mit ihr machen?“

„Ich bringe sie in Sicherheit.“

„Warum? Sie wollte dich töten!“

Silvan schüttelte nur den Kopf. Nora hatte immer noch nichts begriffen. Er wandte sich um und stieg mit Liara in den Armen den Hang herunter.

„Wohin bringst du sie?“

„In ihr Haus, zu ihrem Mann.“

„Du bist ja total bescheuert!“

Silvan ließ sich von ihren Worten nicht aufhalten. Liaras Gewicht schien ihm nichts auszumachen; er trug sie mit leichtfüßigem und zielstrebigen Schritt über das unebene Gelände.

Wieder sah Nora sich hektisch um. Die Leichen lagen immer noch da. Wenigstens konnte sie sie in der Dunkelheit nicht mehr so gut erkennen und roch das vergossene Blut nicht mehr. Sie sah nur noch ihre Schatten.

Doch sie konnte auch den Boden kaum noch erkennen. Trotz seiner Last vergrößerte Silvan den Abstand zu Nora zusehends.

„Warte!“, rief sie ihm hinterher. Zu ihren Erstaunen blieb er tatsächlich stehen und wartete ohne sich zu ihr umzudrehen, bis sie ihn erreicht hatte.

„Du kannst nicht da runter gehen.“

Silvan senkte den Blick zum Boden. „Bitte lass mich gehen.“

Nora konnte es kaum fassen. Er bat sie tatsächlich. „Und wenn ich das nicht tue?“

„Dann wird es so sein.“

Nora schnappte nach Luft. Dieser Machospinner war auf einmal kleinlaut. Dann fiel ihr ein, dass er gesagt hatte, er wäre Liara untertan, wenn sie ihr Blut in seine Adern gegeben hätte. Jetzt floss ihr eigenes Blut in ihm.

„Du wirst tun, was ich dir befehle?“

„Ja.“

„Alles?“

„Alles, was in meiner Macht steht.“

„Und wenn ich dir befehle, Liara zu töten?“

Sie hörte den Schreck in seiner Stimme. „Bitte verlang das nicht von mir. Ich würde mich lieber selbst vernichten, als das zu tun. Du wirst doch kein ungeborenes Kind töten.“

Nora schüttelte den Kopf. „Nein, das werde ich nicht. Vielleicht sollten wir Liara wirklich in ein Krankenhaus bringen.“

„Lass sie mich in ihr Haus tragen.“„Was wird geschehen, wenn du das tust?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Aber das Wichtigste ist, dass ihre Familie fortbestehen wird.“

„Werden sie dich töten?“ Diesmal zuckte er mit den Schultern, ohne ihr eine Antwort zu geben. Als keine neue Anweisung von ihr kam, setzte er sich wieder in Bewegung. Nora folgte ihm mit einem unguten Gefühl.

Als Silvan Liaras Besitz erreichten, stand das Tor noch weit offen. Niemand war zu sehen. Er hob die Nase in den Wind. Aus dem Wachhäuschen kam der Geruch des Todes. Er ging weiter zum Haus, ohne ihm weiter Beachtung zu schenken.

Die Haustür war nur angelehnt und ließ sich mit einem leichtem Druck öffnen. Er wartete einen Moment und lauschte. Alles blieb ruhig. Er setzte sich wieder in Bewegung und betrat den Raum, in dem Michael mit der Tür zugekehrten Rücken wartete. Er saß in einem Sessel und hob den Kopf aus seinem Buch, als er Schritte hinter sich hörte. „Bist du wieder da, Liara?“, fragte er mürrisch. „Du hast diesen Schwachsinn doch nicht wirklich durchgezogen?“

Als keine Antwort kam, drehte er den Kopf sah Silvan mit Liara in den Armen in der Tür stehen und hinter ihm Nora. Er wusste sofort, was das bedeutete: Liara war bewusstlos und in der Hand dieser Kreatur. Der Schreck verschlug ihm die Sprache. Er sprang auf. Das Buch fiel auf den Boden. Er überlegte fieberhaft, was er tun konnte, um Liara zu retten, doch er wusste, dass er Silvan hoffnungslos unterlegen war und eine Waffe konnte er nicht erreichen. „Bitte tu ihr nichts“, flehte er. „Sie hat nur getan, was sie tun musste.“

„Ich habe ihr nichts getan, Michael“, erklärte Silvan mit leiser Stimme. „Solange Nora mir nichts anderes befiehlt, werde ich sie mit meiner ganzen Kraft schützen, auch wenn ich dabei zugrunde gehe.“

„Wieso kann Nora dir das befehlen?“

„Der Bluteid bindet mich an sie.“

Michael sah ihn verwirrt an. „Wieso an Nora?“

„Es ist anders gelaufen als geplant.“

An Michaels Miene war zu erkennen, dass er verstand, was geschehen war und was das bedeutete. Die beiden Männer blickten Nora an. Sie sah die Angst in Michaels Gesicht. „Leg sie aufs Sofa“, wies sie Silvan an.

Er bette Liara auf das kalte Leder und löste ihre Hand- und Fußschellen. Sofort kniete Michael neben ihr. Seine Hand strich über ihr Gesicht. „Liara, wach auf. Bitte, wach auf.“ Seine Stimme zitterte. Er starrte sie an. „Es wird alles gut werden.“

Liara schlug die Augen auf. Ihre Hand fasste nach der Stelle, an der die Waffe sie getroffen hatte. Als sie die Hand vor ihre Augen hob, klebte Blut an ihren Fingern. Sie sah sich um. Ihr Blick traf Nora. Sofort erinnerte sie sich an das, was geschehen war. Sie wollte aufspringen, aber Michael fasste ihren Arm und hielt sie zurück. „Es ist alles gut, Liara.“

„Was tut sie hier?“, fragte sie mit einem bösen Blick in Noras Richtung.

„Sie hat zugelassen, dass Silvan dich hierher gebracht hat.“

„Was soll das heißen?“

„Silvan ist durch den Bluteid an Nora gebunden, nicht an dich.“

„Warum hat sie ihm nicht befohlen, mich zu töten.“

Alle Blicke richteten sich auf Nora. „Du bist schwanger“, antwortete diese. „Und dein Beschützer“, ihr Blick ging kurz zu Silvan, „hat mich geradezu angefleht, sich um dich kümmern zu dürfen.“ Sie hoffte jetzt nur noch, dass sie keinen Fehler gemacht hatte, hierher zu kommen. Es heißt, Geisteskranke können übermenschliche Kräfte entwickeln und dass Liara verrückt war, hatte sie längst schon erkannt. Vielleicht gab es auch noch mehr Wachen hier. Das Einzige, was sie dann schützen konnte, war die Pistole in ihrer Hand. „Ihr solltet einen Krankenwagen holen“, schlug sie vor. Wenn diese Irre ins Krankenhaus gebracht würde, wäre sie wenigstens vor ihr sicher.

Liara schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Dem Kind geht es gut und mir ist nur übel und ich hab Kopfschmerzen.“

Michael warf Nora und Silvan einen misstrauischen Blick zu. Obwohl sie anscheinend nicht vorhatten, etwas gegen Liara oder ihn zu unternehmen, traute er ihnen nicht. Es stand viel zu viel auf dem Spiel und er argwöhnte, dass ihre Feinde doch noch hinter dem Ganzen steckten. Andererseits, wenn dem so war, wären Liara und er längst tot gewesen, und ihr Kind auch.

Er stand auf und wies auf einen Tisch mit mehreren Stühlen. „Ich denke wir sollten miteinander reden“, schlug er vor. Er versuchte Zeit zu schinden, denn der Wachwechsel stand kurz bevor. Es war anzunehmen, dass die neuen Wachen schnell bemerken würden, dass etwas anders lief als sonst. Sicher würde es ihnen gelingen, Nora und Silvan zu überwältigen.

Silvan schüttelte den Kopf. „Gleich ist Wachwechsel. Hoffst du darauf, dass wir überrascht und überwältigt werden?“

Michael verzog keine Miene, obwohl er ertappt worden war. „Wie kommst du darauf?“

„Ich habe euch lange genug beobachtet.“

Jetzt verzog Michael doch das Gesicht. „Ich hoffe auf eine vernünftige Einigung.“ Er ging, ohne sich umzublicken, zu dem großen ovalen Tisch herüber und setzte sich ans Kopfende. Liara ahnte, was er vorhatte. Sie stand auf, obwohl es ihr schwindelig wurde, und setze sich ihm gegenüber hin.

Nora blickte unschlüssig zu Silvan rüber. Er nickte. „Setz dich zu deiner Frau, Michael“, verlangte sie trotzdem.

Er kam ihrer Anweisung widerspruchslos nach, obwohl er innerlich kochte. Als Nora und Silvan sich am gegenüber liegenden Ende des Tisches niederließen, befanden Liara und er sich wie eine lebender Schutzschild zwischen ihnen und der Tür. Wenn das Zimmer gestürmt würde, hätte Nora genug Zeit zu schießen, bevor die Wachen sie erledigen konnten. Dieses Biest hatte einen Instinkt, den man ihrem unbedarften Äußeren nicht zutraute. Die Waffe hielt sie fest in der Hand, den Zeigefinger am Abzug. Sie zitterte nicht einmal.

Nora sah Liara an. „Ich will eine Erklärung für all das hier, eine die wahr ist und keine Hirngespinste.“

„Ich kann die keine geben, die du glauben wirst“, entgegnete Liara spitz. Michael legte seine Hand auf ihre und nickte ihr zu.

„Versuch es, und zwar schnell“, verlangte Nora.

„Ich bin nicht von hier“, begann Liara von Michaels Hand beschwichtigt.

„Ach, und woher kommst du?“

„Von sehr weit her.“

„Bitte genauer.“

Liara entschloss sich in die Offensive zu gehen. „Meine Vorfahren stammen nicht von diesem Planeten.“

Nora zeigte keine Reaktion.

„Sie haben über unseren Heimatplaneten geherrscht, bis meine Familie fliehen musste.“

„Eine Revolution?“

„Es gab dort früher einmal eine mächtige Rebellion. Aber die war nie wirklich das Problem und es ist lange her.“

„Was dann?“

„Das Übliche: Verrat in den eigenen Reihen, Machtgier, Intrigen.“

„Und jetzt seid ihr hier.“

„Nur mein Kind und ich sind von meiner Familie übrig geblieben. Wir werden bald zurückkehren, um wieder die Macht zu übernehmen.“

„Nun gut. Ich hab keine Lust mit dir zu diskutieren, ob das wahr ist oder nicht. Was ist mit Silvan?“

Liara schüttelte den Kopf. Nora würde ihr das nie abnehmen. „Er hat es dir sicher gesagt“, versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen.

„Ich will es aus deinem Mund hören.“

Noras Unverschämtheit reizte Liara bis aufs Blut. Es fehlte nicht viel und sie hätte sie trotz der Pistole in ihrer Hand angegriffen. „Wir haben mächtige Feinde in unserer Welt“, erklärte sie mit zusammengekniffenen Lidern. „Silvan wurde vom Geist der Wälder geschaffen. Er ist eine seelenlose Kreatur ohne Gefühl. Ich hingegen stamme von dem Geist ab. Silvan wurde hierher geschickt, damit mein Kind und ich wohlbehalten zurückkehren.“

Nora beugte sich vor und schlug verärgert mit der flachen Hand auf den Tisch. „Das glaubst du doch selbst nicht. Du hast Silvan gefoltert. Warum hättest du das tun sollen, wenn er keine Gefühle hat, aber auf deiner Seite ist? Also erzähl mir keinen Quatsch!“

Liara warf Silvan einen entnervten Blick zu. „Ich habe ihn für einen unserer Feinde gehalten“, gab sie mit scharfer Stimme zurück. „Inzwischen weiß ich, dass es anders ist. Nur hat dein blödsinniger Rettungsversuch alles vermasselt.“

„Was hier blödsinnig ist, ist Ansichtssache.“ Nora wandte sich Silvan zu. „Wann ist der nächste Wachwechsel?“

„In knapp einer Stunde.“

„Gibt es sonst noch Personal im Haus?“

„Nein. Die kommen auch erst in einer Stunde.“

„Dann besorg noch ein paar Handschellen oder sonst was, das man als Fesseln benutzen kann.“

„Dann muss ich dich hier mit ihnen alleine lassen“, wandte Silvan in der Hoffnung ein, Nora würde nicht auf ihrer Anweisung bestehen.„Ich denke nicht, dass sie etwas gegen mich zu unternehmen, während du noch im Haus bist“, enttäuschte Nora ihn. „Geh!“

Silvan verließ den Raum, auch wenn seine Haltung deutlich verriet, dass er mit Noras Befehl nicht einverstanden war. Sie warf ihm einen gereizten Blick hinterher. Er benahm sich nicht wie ein Werkzeug. Eher führte er sich auf wie ein empfindliches und hochkompliziertes Instrument.

„Du willst uns fesseln?“, fragte Michael wütend.

„Hast du einen besseren Vorschlag?“

„Liara ist schwanger.“

„Das weiß ich zufälligerweise. Aber sie hat selbst gesagt, dass mit dem Kind und ihr alles in Ordnung ist. Wenn eure Leute ins Haus kommen, werden sie euch befreien und wir sind dann lange weg.“

Ohne eine Antwort zu geben, schlug jetzt Michael wütend auf den Tisch. Er hätte Liara und das Kind, sein Kind, schützen müssen, aber er konnte es nicht. Er war sich sicher, dass Nora längst geschossen hätte, bevor er sie erreichen und niederschlagen könnte. Seine blauen Augen starrten sie an, seine Kiefer mahlten. Nora sah seine Angst, seine Wut und seine Verzweiflung darin. Er glaubte nicht, dass sie von hier verschwinden wollte, ohne ihnen etwas anzutun.

„Überleg dir gut, was du tust“, mahnte sie ihn und warf einen kurzen Blick auf Liara. „Ich kann mit einem Schuss gleich zwei töten.“

Michael zwang sich zur Ruhe. Liara trug eine Gleichgültigkeit zur Schau, die an Arroganz grenzte. Trotzdem wurde Nora nervös. Wo blieb Silvan nur? Es musste doch genug Zeugs in diesem Haus geben, um die beiden zu fesseln.

„Wer hat dich geschickt?“, fragte Michael in die gespannte Stille.

„Geschickt?“

„Das hier ist nicht neu für dich. Du hast so etwas schon einmal getan. Vielleicht hast du sogar irgendeine Ausbildung mitgemacht.“

Sie sah ihn erstaunt an. Im Augenblick saß sie wie auf heißen Kohlen. Nie hätte sie gedacht, den Eindruck zu erwecken, professionell vorzugehen.

„Ich habe weder das eine noch das andere getan“, erklärte sie und ärgerte sich sofort über ihr Eingeständnis.

„Wieso bist du dann hier?“

„Weil ich irgend so einem Irren und dann zwei anderen, die noch irrer sind, in die Hände gefallen bin. Bis gestern habe ich ein ganz normales Leben geführt. Das Unnormalste an mir war, dass ich das Häutchen auf heißer Milch mag.“

„Das ist allerding krass“, stellte Michael mit einem plötzlichen Lächeln im Gesicht fest und Nora wusste, dass er sie in ein Gespräch verwickeln und einlullen wollte. Und verdammt, es funktionierte. Sie spürte, dass nicht nur ihre Nervosität, sondern auch ihre Wachsamkeit nachließ.

In diesem Augenblick ging die Tür auf und Silvan trat ein. In seinen Händen trug er mehrere Seile. Michael verzog ärgerlich das Gesicht.

„Bleib ruhig“, sagte Liara und diesmal legte sie ihm die Hand auf den Arm. Sie konnte in Noras Gesicht erkennen, dass sie tatsächlich nichts gegen sie unternehmen wollte, aber auch, dass sie gewillt war, sich zu verteidigen, sollte einer von ihnen sie angreifen. Immer noch war ein Rest von Silvans Blut in ihr.

Michael beruhigte sich sofort und nickte ihr zu.

Nora sah Michael an. „Zuerst ihn.“

„Warum das?“, begehrte er auf. Er wusste, wenn er erst gefesselt wäre, hätte er keine Chance mehr, Liara zu helfen. Wenn er die überhaupt noch hatte.

Silvan sah Nora fragend an.

„Tu es.“

Er trat hinter Michaels Stuhl. „Hände nach hinten“, wies er ihn an. Michaels Herz hämmerte los. Alles in ihm sträubte dagegen, Silvans Anweisung Folge zu leisten, auch noch, als er die Hand dieser Kreatur auf seiner Schulter fühlte. Er warf den Kopf in den Nacken. Immer noch folgte er der Anweisung nicht.

Silvans Finger bohrten sich unerwartet hart in seine Muskeln. Er verzog das Gesicht vor Schmerz. Es war eine Warnung und ein Hinweis darauf, was noch kommen würde, wenn er nicht gehorchte.

„Tu was Nora von dir verlangt“, sagte Silvan ruhig. „Wenn nicht, wirst du sterben.“

„Wage das nicht!“, brauste Liara auf.

Silvan sah auch sie ruhig an. „Ich werde tun, was Nora von mir verlangt. Aber ich nehme an, ihr erstes Anliegen ist es, hier lebend rauszukommen. Solange ihr euch frei bewegen könnt, seid ihr eine Gefahr für sie.“

„Und für Silvan“, mischte sich Nora trotzig ein. Sie sah in Silvan immer noch mehr als bloß ein seelenloses Werkzeug.

Liara verstand sein Argument. Bis zum Erscheinen der Wachen und des Hauspersonals würde es nicht mehr lange dauern. Sie mussten die Zeit bis dahin unbeschadet überstehen. „Bitte“, sagte sie leise zu Michael. Er sah sie kurz an. Dann zuckte er mit den Schultern und kreuzte seine Hände hinter der Rückenlehne.

Er hatte etwas anderes erwartet. Kaltes, totes Fleisch. Aber Silvans Hände fühlten sich ganz normal an, als sie einen Strick um seine Handgelenke legten und mit festen Knoten an die Rückenlehne des Stuhls banden. Während Nora immer noch mit der Waffe auf Liara zielte, musste er zulassen, dass auch seine Beine am Stuhl festgebunden wurden. Er presste die Kiefer fest zusammen und verfluchte seine Ohnmacht.

Silvan überprüfte den Sitz der Fesseln. Michael würde sich so schnell nicht daraus befreien können. Dann wandte er sich Liara zu. Er sah das Gelbe in ihren Augen und wusste, dass sie kurz davor war, die Kontrolle über sich zu verlieren. Wenn das geschah, konnte er nur noch hoffen, dass Nora willens war, die Waffe in ihren Händen zu benutzen und dass sie schnell genug reagierte. Ansonsten wäre es an ihm, Liara zu töten.

Es wäre schlimmer für ihn, als selbst vernichtet zu werden. Seine Zeit lief eh ab. Er hatte es gefühlt von dem Moment an, in dem er in diese Welt gekommen war. Bis zu jenem Augenblick, als er im Wald auf Nora getroffen war. Er warf ihr einen kurzen Blick zu. In ihr war das Leben, während in ihm und um ihm nur der Tod war. Er warf den Kopf zurück. Sie durfte nicht sterben. Nicht wegen ihm. Und genauso wenig Liara. Nicht weil er versagt hatte.

Sein Blick wandte sich wieder Liara zu. „Bitte, Herrin.“

Als sie unwillig die Hände hinter der Stuhllehne kreuzte, sah er die Rundung ihres Bauches. Dort wuchs ein Leben, das er mit all seiner Macht hatte schützen wollen. Jetzt reichte ein Wort von Nora, und er würde beide vernichten.

Noras Blick haftete weiter auf der anderen Frau. Sie wusste, dass die kleinste Unaufmerksamkeit bitter gerächt werden würde. Aus den Augenwinkeln nahm sie Silvans Zögern war. Sie ahnte was in ihm vorging. „Tu es“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Es ist nur vorübergehend. Ihre Leute werden sie befreien.“ Und was danach? Was würde Liara tun. Sich irgendwie rächen? Verhindern, dass sie ausplauderte, was hier geschehen war? Wahrscheinlich, wenn ihr genug Zeit blieb.

Silvan nickte und band auch Liara auf ihrem Stuhl fest. Als er aufblickte und in ihr Gesicht sah, erkannte er eine kaum unterdrückbare Wut darin. Hitze stieg in seinem eigenen auf und er senkte den Blick. Das Gefühl von Scham war nicht eingeplant gewesen, nie hätte er gedacht, dazu fähig zu sein. Jetzt schien es ihn zu erdrücken.

„Bist du fertig?“, hörte er Noras Stimme wie von weit her und war doch froh, aus seinen Gedanken gerissen zu werden.

„Ja.“

„Dann lass uns von hier abhauen.“„Wir können die beiden nicht einfach so zurücklassen.“

„Wir müssen.“

Nora erhob sich und ging aus dem Raum. Die Pistole nahm sie mit sich. „Komm, Silvan.“

Nach einem kurzen Blick auf Liara und Michael folgte er ihr. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Nora stand jetzt bis zu seinem Verlöschen unter seinem Schutz, ob es ihm passte oder nicht.

Nora fand den Weg aus dem Haus auf Anhieb. Vor der Haustür blieb sie kurz stehen und sah sich nach allen Seiten um. Es war noch dunkel. Alles blieb ruhig. Sie rannte im aufflammenden Licht durch das Tor und weiter über die Straße, die von Liaras Besitz wegführte. Die nächsten bewohnten Häuser waren weit weg, und damit auch die Gelegenheit, die Polizei zu alarmieren.

Hinter sich hörte sie Silvans Schritte. Seine Nähe gab ihr ein Gefühl der Sicherheit.

 

5. Überfall

 Plötzlich erstarben die Schritte hinter ihr. Schon verschwitzt blieb sie stehen und drehte sich um.

Auch Silvan war stehen geblieben. Er starrte in die Richtung von Liaras Besitz, der hinter dem hochragenden Schatten eines Fichtenwäldchens verborgen war.

„Was ist los?“, keuchte Nora um Atem ringend.

„Sie braucht Hilfe“, erklärte er nur.

„Blödsinn. Die können sich schon selbst helfen.“

Silvan blickte Nora eindringlich an. „Sie ist in Gefahr!“

„Woher weißt du das?“

„Ich weiß es.“

Er machte einen Schritt von ihr weg. „Wohin willst du?“, fragte sie scharf.

„Ich muss ihr helfen.“

„Nein, du bleibst bei mir.“

„Bitte Nora. Lass mich gehen.“

Sie hörte das Flehen in seiner Stimme. Irgendetwas ließ sie nicken. Sofort drehte er sich um und rannte los.

Nora blieb zurück. Verdammt, warum nur hatte sie ihm die Erlaubnis gegeben, zu diesen Irren zurückzulaufen. Wahrscheinlich war deren Irrsinn ansteckend und hatte auf sie abgefärbt. Jetzt stand sie allein, ohne Geld oder Handy im Dunkeln mitten in der Pampas, hatte einen ausgetrockneten Mund und war erschöpft. Und als ob all das noch nicht reichte, hielt sie eine Pistole in der Hand, deren Träger sie ermordet hatte - und noch ein paar andere.

Zögernd sah sie sich um. Silvan war wohl wirklich so blöde, unbewaffnet in dieses Haus zu gehen. Wenn Liara und Michael sich inzwischen irgendwie befreit hatten, würden sie ihm Gott weiß was antun.

Mit einer Pistole stände er viel besser da, überlegte sie. Aber die hatte nun mal sie selbst. Sie nahm die Hand hoch und starrte dieses Ding an.

Ohne wirklich zu wissen, was sie tat, machte sie ein paar vorsichtige Schritte. Dann ging sie schneller, lief, rannte. Rannte in die Richtung, aus der sie gekommen war. "Du bist ja vollkommen durchgeknallt!“, keuchte sie und wusste nicht, wen sie meinte, ihn, diese Verrückte in ihrem Haus oder sich selbst.

Sie musste auf der Stelle Halt machen und möglichst schnell möglichst viel Abstand zwischen sich und diese Irre bringen, so viel war klar. Aber es trieb sie unwiderstehlich dorthin, auch wenn es sie das Leben kostete. Sie hatte das Gefühl, die Macht über ihren Körper und Willen verloren zu haben und dass jemand anderer ihre Bewegungen steuerte.

Das Tor stand noch offen, und ebenso die Haustür. Sie hörte nichts als die typischen nächtlichen Geräusche der Natur und in der Ferne ein Motorrad. Vorsichtig schlich sie durch das Licht der Außenlampen ins Haus. Ein erster Lichtstreifen zeigte sich am Horizont, als sie sich durch die Haustür ins Innere drückte. Verdammt, was tue ich hier, hörte sie ihre eigenen Gedanken.

Dann vernahm sie eine Stimme. Sie kam aus dem Raum, in dem sie Liara und Michael gefesselt zurückgelassen hatten. Aber es waren nicht deren Stimmen, und auch nicht die von Silvan. Sie hörte sich alles andere als freundlich an.

Nora hielt den Atem an und drückte sich ungesehen an den Türrahmen.

„Nun?“, hörte sie die Stimme wieder. Sie war männlich und eiskalt. Und hatte einen starken Akzent.

„Ganz bestimmt nicht“, antwortete Liara und Nora konnte eine verzweifelte Wut in ihrer Stimme hören.

„Dann werde ich erst deinen Mann töten, dann dein Kind und dann dich. Obwohl, um Letzteres muss ich mich nicht bemühen. Wenn deine Brut stirbt, stirbst du auch, aber langsam.“

Nora hörte den Mann gemächlichen Schrittes durch den Raum gegen. Er war sich seiner Sache sicher und genoss es, Liara und Michael in seiner Gewalt zu haben.

„Das wirst du eh tun“, zischte Liara.

Der Mann schrie etwas in einer Sprache, die Nora nicht verstand. Dann hörte sie das Klatschen von Haut auf Haut. Liara schrie vor Schmerz auf. Er musste sie geschlagen haben.

Hinter Nora donnerten Schritte heran. Viele. Mehrere Personen eilten in ihre Richtung. Es gelang ihr, sich hinter einem Schrank zu verstecken, bevor sie entdeckt wurde.

Männer gingen in den Raum und machten Meldung, wieder in der für Nora unverständlichen Sprache. Die Antwort des Mannes hörte sich zufrieden an. Sie konnte nicht sehen, wie er sich über Michael beugte und ihn mit affektierter Freundlichkeit ansprach. „Bring du deine Frau zu Vernunft.“

„Das kann keiner. Nicht einmal ich. Außerdem hat sie Recht. Du wirst uns töten, so oder so.“

„Ach, und warum lebt ihr noch?“

Michael sah ihm hart ins Gesicht. „Weil es dir Spaß macht, uns zu vorher noch demütigen.“

Der Mann lachte jovial. „Oh ja. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich es genieße, die Brut des Wolfes zu vernichten. Endgültig.“ Er schien kurz zu überlegen. „Aber mir fällt gerade etwas ein, das noch unterhaltsamer wäre.“ Wieder legte er eine kurze Pause ein, bevor er weitersprach. „Wenn du sie tötest“, fuhr er dann mit einschmeichelnder Stimme fort, „lasse ich dich am Leben.“

Michael warf wütend den Kopf zurück. „Niemals!“

Der Mann lachte wieder. „Wie süß. Erst seid ihr so blöde gewesen, uns hier einfach durchs offene Tor reinlaufen zu lassen und jetzt spielst du den Beschützer deiner Familie. Du hättest besser aufpassen sollen. Der Wolf ist schwach, wenn er trächtig ist.“ Er wandte sich Liara zu und strich zärtlich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Oder hattest du ihm das etwas nicht gesagt, meine Liebe?“

Liara schloss unter seiner Berührung die Augen. Sie musste sich beherrschen, um weder den Kopf wegzuziehen noch ihn zu beißen, denn das hätte alles nur noch schlimmer gemacht.

„Weißt du, was du tust?“, stieß Michael hervor. „Du nimmst einem ganzen Planeten die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wenn du sie umbringst, liegt eine unglaubliche Last auf deinem Gewissen.“

Der Man lachte kalt auf. „Wenn es die Sünde gibt, habe ich es zur wahren Meisterschaft darin gebracht. Dich und deine Frau zu töten, wird mir eine Freude sein, an die ich mich den Rest meines Lebens mit Vergnügen erinnern werde. Der einzige Grund, warum ihr überhaupt noch lebt, ist, dass ich mich noch nicht entschieden habe, wer von euch zuerst stirbt und in wessen Augen ich dabei sehen werde.“

Er trat vor das Fenster und schloss in der Pose innerer Einkehr seine Augen. Wie aus tiefer Versenkung erwachend öffnete er sie wieder und drehte sich um. Mit einem seligen Lächeln im Gesicht zog er seine Handschuhe aus. „Aber jetzt weiß ich es.“

Er trat hinter Liara und seine Finger glitten in einer zärtlich anmutenden Berührung über die Perlen an ihrem Hals. „Es heißt, der erste Drache habe diese Kette seiner Frau geschenkt, nachdem er dem Feuer entstiegen ist. Welche Ironie!“ Ein Lächeln verdunkelte sein Gesicht. „Sie begleitet den Anfang und das Ende der Liaden.“

Mit einem Ruck riss er die Kette von Liara Hals. Die Perlen verteilten sich im Zimmer. „Ein Jammer, dass ich mir nicht mehr Zeit für eine solch schöne Frau wie dich nehmen kann. Welch eine Verschwendung.“ Die Luft knisterte vor Erwartung, als er für einen langen Moment verstummte. „Das Schicksal ist mit uns, nicht mit dir“, fuhr er mit weihevoller Stimme fort. „Du bist die Brut des Wolfes. Jetzt wirst du dafür bezahlen, und alle, die mit dir sind auch.“ Seine Hände legten sich um Liaras Hals.

Michael riss an seinen Fesseln, aber Silvan hatte ganze Arbeit geleistet. „Nein, tu das nicht!“, schrie er verzweifelt.

„Weiß du, wie das ist, Michael, wenn man erwürgt wird? Sicher nicht. Es wird nicht lange dauern, bis deine Frau das Bewusstsein verliert, und trotzdem wird es ihr wie eine Ewigkeit vorkommen, wenn sie von Schmerz und Atemnot gequält um Luft ringt und sich in ihren Fesseln windet, als wäre sie von tiefster Leidenschaft erfüllt. Du wirst sehen, wie ihr Gesicht blau anläuft, während ihr Herz in Panik schlägt. Wenn sie das Bewusstsein verliert, ist das noch nicht das Ende. Sterbend wird sie in unkontrollierten Krämpfen um sich schlagen. Wenn ich dann ihren Hals freigebe, wird sie nach Luft schnappen wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber es ist zu spät. Du wirst sehen können, wie auch das letzte Bisschen Leben in ihr verlischt.“

„Du Schwein“, schrie Michael ihm entgegen.

„Ja, du hast recht.“ Der Mann verzog das Gesicht. „Es kann ein wenig ekelig werden, wenn ihr das Blut aus Mund und Nase tritt.“ Er warf einen Blick auf seine Hände und zuckte belanglos mit den Schultern. „Aber ich denke, ihr habt Wasser und Seife im Haus.“

Er spürte das mit Hochdruck in Liaras Adern pulsierende Blut und schloss die Augen. Einen Moment verharrte er, um diesen berauschenden Moment auszukosten, wenn Leben und Tod sich in seinen Händen vereinigten wie ein Liebespaar. Auch seine Männer, die alles beobachteten wie eine Gemeinde ihren Priester, genossen das Schauspiel, das er ihnen bot. Dann drückte er zu.

Liara riss die Augen auf und zerrte in Panik an ihren Fesseln. Die Hände drückten sich immer fester in ihren Hals. Die Angst war stärker als der Schmerz. Ihr Körper kämpfte gegen die Fesseln und die Hände des Mannes an. Sie rang um Luft. Ihr Gesichtsfeld wurde vom Rand her grau und kleiner.

Den Schuss nahm sie kaum wahr, aber die Hände lösten sich von ihrem Hals. Sie schnappte nach Luft. Dann sah sie Nora mit der Pistole in der Hand in der Tür stehen.

Hinter ihr kam Silvan angerannt und stieß sie zur Seite. Seine Haare waren blutverklebt, seine Kleidung zerrissen, aber hinter ihm waren keine Verfolger. Diejenigen, die ihn gestellt hatten, als er in das Haus eingedrungen war, waren tot.

Jene Eindringlinge, die vom Tod ihres Anführers vollkommen überrascht waren, versuchten in kopfloser Panik aus dem Raum zu fliehen. Sie hatten nicht mit Silvans Schnelligkeit gerechnet.

Als ihre Leichen auf dem Boden lagen, rannte er sofort zu Liara. Mit einem Ruck zerriss er ihre Fesseln. Reflexartig fasste sie sich an den Hals, an dem die Male, die die Hände des Mannes hinterlassen hatten, deutlich zu sehen waren. Ihre Kehle brannte. Sie schluckte. Als sie schaumiges Blut hustete, ließ der Schmerz in ihrem Hals sie zusammenfahren.

Silvan kniete sich vor sie und befreite auch ihre Füße. Sie sprang sofort auf und beugte sich über den Mann, der hinter ihr am Boden lag. Er konnte keinen Schaden mehr anrichten konnte. Die Kugel war über dem rechten Auge eingedrungen und hatte einen Teil des hinteren Schädels weggesprengt. Knochensplitter, Blut und Hirnmasse hatten sich hinter ihm verteilt. Er war so tot, wie man es nur sein kann.

Währenddessen löste Silvan Michaels Fesseln. Auch er sprang auf und war sofort bei Liara. „Mir geht es gut, versicherte sie ihm.“

Er warf einen wütenden Blick auf die Toten. „Schade, dass sie schon tot sind.“

Nora stand im Türrahmen und schaute wie aus weiter Ferne zu. Der Schuss klang noch in ihren Ohren, ihr Herz raste. Den Mann, auf den sie geschossen hatte, lag hinter den anderen am Boden. Sie konnte kaum etwas von ihm erkennen. Die Hand, in der sie noch die Pistole hielt, hing schlaff herunter.

„Wir müssen weg“, mahnte Silvan hektisch.

„Warum?“, fragte Liara.

„Es sind noch mehr auf dem Weg hier hin.“

„Woher weißt du das?“

„Die, die mich erwischt haben, als ich in dein Haus gekommen bin, haben darüber geredet, bevor ich sie getötet habe. Die anderen werden inzwischen das Haus umstellt haben und nur noch auf Verstärkung warten.“ Er sah zu Nora. „Sie werden jeden töten, den sie antreffen. Sein Blick wanderte zu Liara. „Es sind zu viele, um sich gegen sie zu verteidigen.“

Liara nickte. „Kommt“, forderte sie die anderen unmissverständlich auf und rannte an Nora vorbei aus dem Zimmer.

Die drei folgten ihr, obwohl nur Michael ahnte, was sie vorhatte. Sie rannten durch einen langen Flur. Liara öffnete eine schwere Tür und verschwand dahinter. Nora hastete als Letzte hindurch und kam in ein kahles Treppenhaus. Das Poltern ihrer eigenen Schritte ging in dem der anderen unter.

Es ging mit halsbrecherischer Geschwindigkeit mehrere Stockwerke tief hinab, bevor Liara das Treppenhaus auf der unterirdischen Ebene verließ, auf der sich auch die Zellen befanden, in denen sie ihre Gefangenen festgehalten hatte. Nora hörte, wie weit über ihnen die Tür aufgerissen wurde. Schritte polterten über den nackten Betonboden. Sie sah sich in Panik um. Die Pistole in ihrer Hand wog schwer, aber sie gab ihr keine Sicherheit.

Silvan riss sie am Arm vorwärts. „Weiter“, herrschte er sie an. Bevor Nora etwas antworten konnte, hatte er auch sie durch die Tür in den nächsten Flur gezogen. Rennend und wissend, dass es auch um ihr Leben ging, folgte sie jetzt den anderen, ohne dass Silvan sie voranzerren musste. Zeit, sich zu fragen, was Liara plante, hatte sie nicht.

Plötzlich stoppte die Gruppe vor einer verschlossenen Tür. Liara hatte eine Karte in den Schlitz daneben gesteckt und gab eine Geheimnummer ein. Die Tür öffnete sich automatisch. Nora konnte kaum glauben, wie dick sie war. Ihr hektischer Atem übertönte das Geräusch der Klimaanlage. Ein Windhauch, der den Geruch von Metall mit sich trug, wehte ihr entgegen. Helles Licht flammte auf. Es schien endlos zu dauern, bis der Spalt weit genug war, um zuerst Liara und dann den anderen den Durchtritt zu ermöglichen.

Mit zitternden Knien betrat Nora den Raum hinter der Tür. Eine trockene Kühle umfing sie. Sie stand auf einem Gitter über einem Abgrund.

Unter ihr öffnete sich ein riesiger, fensterloser Raum. Er musste sich unter dem größten Teil von Liaras Haus erstrecken. Der Raum war mindestens vier Stockwerke hoch und wurde fast völlig von einem silberglänzenden Koloss ausgefüllt. Sie hatte keine Zeit zu staunen oder Höhenangst aufkommen zu lassen. Liara rannte schon die Treppe herunter und sie folgte ihr instinktiv. Sie hielt sich am Geländer fest, um nicht zu stolpern. Hinter sich hörte sie die Schritte von Silvan. Dass sich die Tür hinter ihnen schloss, nachdem Michael einen Mechanismus betätigt hatte, nahm sie schon nicht mehr wahr.

Am Fuß der Treppe angekommen rannte Liara, ohne sich umzusehen, auf den Koloss zu. Nora sah keine blinkenden Lichter und keine Fenster, die die Außenhaut durchbrachen. Auf seiner Oberfläche prangte deutlich sichtbar ein Drache. Aus seinem Maul brach ein Feuerstoß hervor, der jedem, der sich ihm unerlaubt näherte, einen qualvollen Tod in den Flammen androhte.

Von oben drangen dumpfe Geräusche an Noras Ohr. Ihre Verfolger versuchten die Tür zu sprengen.

Als Liara den Koloss erreichte, öffnete sich eine Luke. Sie zwängte sich hindurch, noch bevor sie sich ganz geöffnet hatte, und hetzte nach vorne zur Kanzel. Auf einen Knopfdruck hin erwarte der Koloss zum Leben. Die Außenwände der Kanzel wurden durchsichtig. Lichter blinkten auf, Monitore wurden hell.

In dem Moment, als Nora durch die Luke ins Innere sprang, hörte sie über sich eine Detonation und spürte eine Druckwelle. Es war ihren Angreifern gelungen, die Tür über ihnen zu sprengen. Bevor sie deren Schritte auf der Treppe hörte, hatte sich die Luke geschlossen. Nora fühlte sie sich sicher vor ihren Angreifern, aber plötzlich war da eine bedrohliche Klaustrophobie. Sie war erneut gefangen. Sie wusste nur nicht worin.

Michael hastete nach vorne zur Kanzel. Noch bevor er sich in einen der Sessel hatte werfen können, zuckte eine heller Blitz auf und zerstörte und tötete alles, was sich außerhalb des Kolosses befand. Ein Stoß gleich dem eines Erdbebens riss Nora zu Boden. Die Pistole glitt ihr aus der Hand.

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.03.2015

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