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1. Prolog

Blut floss. Mehr als jemals zuvor. Aus einzelnen Tropfen wurden Rinnsale, aus Rinnsalen Bäche, aus Bächen Ströme. Es fand seinen Weg durch Ritzen, Spalten und Gräben bis tief unter das verrottende Laub der Wälder. Finsternis wurde geboren, aus dem Willen des Dämons und dem Blut, das er zu sich gerufen hatte. Sie ballte sich zusammen, atmete, öffnete die Augen, sah und war doch seelenlos und blind. 

 

2. Schwestern

Das dunkle und abgewetzte Holz des uralten Schreibtischs passte so gar nicht zu der übrigen, aus hochglänzenden Materialien, Glas, Stahl und Leder bestehenden Einrichtung des Hauses. Liara stand vor dem bodentiefen Fenster ihres Arbeitszimmer und schaute hinunter auf die Stadt, ohne sie wirklich zu sehen. Ihre Haltung, ihre hellgrünen Augen unter den hochgesteckten blonden Haare, ihr elegantes Kostüm, alles an ihr zeugte von einer kühlen, geradezu arroganten Selbstbeherrschung und Standfestigkeit, doch ihre Hand suchte Halt an der roh gezimmerten Schreibtischplatte.

Hier hatte alles vor kaum mehr als einem Jahr seinen Anfang genommen: eine Liebe, die allen Widerständen zum Trotz gewachsen war, und ein unheilbarer Schmerz. Hier hatte Fehild, zart und schön wie eine dunkle Fee, gefährlicher als eine Kobra, unwirsch ihre braunen Haare geschüttelte und sie mit ihrem übersprudelnden Temperament an ihre Pflicht gegenüber der Gemeinschaft und dem Reich erinnert. Bar jeden angemessenen Respektes hatte sie Liara, die rechtmäßige Reichsherrin, gemahnt, für eine Erbin zu sorgen. Fehild war an jenem Tag wie immer voller Leben und Energie gewesen. Die Erinnerung nahm Liara fast die Luft zum Atmen.

Sie hatte weniger ihrer jüngeren Schwester, als vielmehr ihrem Pflichtgefühl Folge geleistet und Michael, der vielleicht der einzige Mann auf diesem Planeten war, von dem sie ein Kind empfangen konnte, in ihr Haus bringen lassen. Seine Entführung war unabdingbar gewesen, um die beiden Blutlinien ihrer Familie, die des Drachens und die des Wolfes, fortzuführen. Hier hatte er ihr so oft Widerstand geleistet und sie bis an den Rand ihrer von Kindheit an eingeprägten eisernen Selbstbeherrschung gebracht – und auch darüber hinaus. Kein Mensch außer Fehild hatte es jemals zuvor geschafft, sie derart aus der Fassung zu bringen.

Aus den Schatten des Raumes hinter ihr löste sich eine Gestalt. Sie näherte sich ihr, ohne dass sie sie wahrnahm. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen. Die Hand verschwand sofort wieder.

„Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte Michael sanft.

Liara schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen. „Ich war in Gedanken.“

Michael wusste um Liaras Scherz. Er nagte unablässig wie eine tiefe, eiternde Verletzung an ihrer Seele und warf seinen Schatten auch auf ihn. Fehild hatte das Schicksal herausgefordert und damit ihr eigenes Verhängnis angebahnt.

Er stellte sich neben Liara, ohne sie zu berühren. „Du vermisst Fehild immer noch so sehr wie am ersten Tag“, stellte er fest.

„Sie fehlt mir jeden Tag mehr.“

Michaels Augen wanderten durch den riesigen Park, der das Haus umgab. Hier war der Hauptsitz der Gemeinschaft, über die Liara herrschte. Innerhalb der hohen Mauer, die ihn von der Außenwelt abschottete, galten andere Gesetzte und Regeln als außerhalb. Er hatte das schmerzhaft zu spüren bekommen. Die Mauer war die Grenze seines Gefängnisses gewesen und Fehild, Liaras jüngere Schwester, sein Kerkermeister. Sie hatte ihren Sadismus an ihm ausgelebt. Fast wäre er an ihrem Versuch einer Hirnwäsche gestorben. Obwohl Liara geglaubt hatte, das dulden zu müssen, hatte sie ihre Hand schützend über ihn gehalten, und er hatte überlebt. Mit ihrer Erlaubnis hatte er sich später auf ihrem ummauerten und bewachten Besitz mehr oder weniger frei bewegen können. Dann hatte Fehild, die Michael nicht hatte ausstehen können, von Missgunst und Machtgier getrieben einen Attentäter beauftragt, Liara und ihn umzubringen. Der Plan war gescheitert. Doch Liara, die sonst so beherrscht und rational war, hatte ihre jüngere Schwester nicht zur Rechenschaft gezogen und ignoriert, was geschehen war. Daraufhin hatte Fehild einen Streit mit ihm vom Zaun gebrochen und war in ein Tranchiermesser gefallen, das er in der Hand gehalten hatte. Michael hatte fliehen können, während sie verblutet war.

Er hatte diesem intriganten Biest keine Träne nachgeweint, doch der Preis für seinen Sieg über sie war hoch. Jeden Tag, seit er zu Liara zurückgekehrt war, sah er sie unter dem Verlust ihrer geliebten Schwester leiden. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er den Unfall ungeschehen gemacht, trotz allem, was Fehild ihm angetan hatte.

„Wir werden all das bald hinter uns lassen“, sagte Liara mehr zu sich selbst als zu Michael. Sie strich zärtlich über ihren Bauch. „Unser Sohn wird in seiner angestammten Heimat aufwachsen und das Erbe, das ihm gebührt, antreten.“

Trotz Fehilds Verrat war Liaras Wunsch, sie bei ihrer Rückkehr an ihrer Seite zu haben, übermächtig. Ein stechender Schmerz bohrte sich durch ihren Leib. „Komm zurück“, flüsterte sie so leise, dass nicht einmal Michael es hören konnte. „Bitte, Fehild, komm zurück.“

3. Verirrt

 Ein Herbst wie warmer Honig. Das Laub der Bäume stand in Flammen. Kurze, noch sommerlich warme Tage und sternenklare, kalte Nächte lösten einander ab. Er hob die Nase in den Wind. Der Duft von frisch gemähtem Gras lag in der Luft.

Die Straße durchschnitt den Wald wie ein dunkles Band. Sie hatten ihn mit Drohungen und falschen Versprechungen aus seiner Deckung gelockt. Er hatte die Lüge in ihren Worten gehört. Dennoch war er hierher gekommen, um sich jenen entgegenzustellen, die die Rückkehr der Chimäre verhindern wollten.

Alle seine Sinne waren geschärft. Er nahm die Frau wahr, bevor er das Auto hörte. Dann sah er sie. Er trat er einen Schritt zurück, als sie sich langsam über die schmale Straße näherte. Die Schatten nahmen ihn als einen der ihren auf.

Seine ganze Aufmerksamkeit fokussierte sich auf sie, während sie dicht an ihm vorbeifuhr und eine braune Haarsträhne hinter ihr Ohr schob. Er hob die Hand, als wolle er sie berühren. Sie bemerkte ihn nicht. Nur wenige Meter weiter bog sie in eine unasphaltierte Zufahrt ein. Kies knirschte unter ihren Reifen. Er folgte ihr, ohne die Schatten zu verlassen.

Die wild gewachsene Allee beschattete den Weg. Als sie sich öffnete, gab sie den Blick auf eine Hütte aus dunklem Holz frei. Ein unbepflanzter Blumenkübel stand neben der Haustür, die grünen Schlagläden waren geschlossen.

Bremslichter leuchteten auf, dann erstarb der Motor. Die Frau stieg aus dem Auto und ging mit der Tasche, in der sie ihren Laptop trug, zur Haustür. Ihr kurzer Rock wippte bei jedem ihrer energischen Schritte. Sie wusste nicht, dass er hier war. Ein Windhauch wehte ihren Duft in seine Richtung. Er nahm ihn tief in sich auf. Bekanntes war darin, uralt und stark. Es hätte nicht sein dürfen, nicht hier und nicht jetzt.

Etwas hatte sich geändert. Er zog sich weiter in die Schatten zurück, ohne den Blick von ihr lösen zu können. Erst als sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte, drehte er sich um, wissend, dass er sie wiedersehen würde. Bald schon.

Nora sah sich um. Die Einrichtung der Hütte war einfach und altbacken, aber sauber. Sie öffnete die Fenster und Schlagläden. Frische Luft verdrängte den abgestandenen Mief. Schnell hatte sie Koffer und Taschen ausgepackt und den Inhalt ordentlich in den Schränken und im Bad verstaut.

Der Computer stand auf dem Tisch. Sie band ihre braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, stapelte Bücher aufeinander und setzte sich schwungvoll vor den Monitor. Ihre Finger glitten behände über die Tastatur.

Schon in der Schule hatte sie immer Klassenbeste sein wollen und das meistens sogar geschafft. Daran hatte sich auch nichts geändert, seit sie sich an der Universität eingeschrieben hatte. Während die anderen Studenten bis tief in die Nacht gefeiert hatten, war sie früh ins Bett gegangen. Selten Alkohol und noch seltener ein Joint waren die einzigen Drogen, die sie ausprobiert hatte. Sie wollte ihr Studium möglichst schnell und mit einem guten Abschluss hinter sich bringen.

Bisher war alles wie geplant verlaufen. Auch ein paar lockere Affären ohne wirkliche Bedeutung hatten sie nicht von ihrem Weg abbringen können. Kein Mann hatte ihr Interesse lange auf sich ziehen können, dabei hatte es genug gegeben, die das versucht hatten.

Jetzt musste sie ihrer Diplomarbeit nur noch den letzten Schliff verleihen. Eigentlich hatte sie das in ihrer Wohnung tun wollen, aber der Bekannte vom Bekannten eines Bekannten hatte ihr diese Hütte empfohlen. Hier würde nichts und niemand sie ablenken, hatte er versprochen.

Trotz dieses Versprechens fand sie keine Ruhe. Der Wald schien sie hinauszurufen. Sie wollte dem Ruf nicht folgen. Immer schon hatte der Wald sie angezogen wie ein Moor, von dem sie wusste, dass sie darin versinken würde. Sie hatte ihn gemieden und deshalb als Kind oft alleine im Garten gespielt, während die anderen losgezogen waren, um kindliche Abenteuer zu erleben.

Jetzt jedoch fiel es ihr mit jeder Minute schwerer, sich zu konzentrieren. Ihr Fuß wippte ungeduldig auf und ab. Immer wieder fiel ihr Blick durch eins der kleinen Fenster nach draußen. Schließlich gab sie auf. Sie fuhr den Computer entnervt herunter und stand auf.

Wenig später trat sie nur mit einem kurzen Jeansrock, einem weit ausgeschnittenen weißen T-Shirt und bunten Sandalen bekleidet vor die Haustür. Alles war friedlich und still. Sie ahnte nichts von dem, was sich in den Schatten verbarg. Sorglos atmete sie tief ein und ging los.

Sonnenstrahlen malten vergängliche Muster auf den Boden. Ein warmer Hauch liebkoste ihre Haut. Mitten in der Woche und weit abgelegen von den nächsten Häusern war der Wald hier trotz des guten Wetters menschenleer.

Ihre Schritte führten sie immer tiefer in den nach feuchter Erde und Pilzen duftenden Herbstwald. Sie hatte es nicht eilig, aber schon nach kurzer Zeit hatte sie die Hütte weit hinter sich gelassen.

Der Wind frischte auf und mit ihm kamen Wolken, die sich dunkel und schwer über ihr auftürmten. Nach einem skeptischen Blick in den Himmel machte sie sich auf den Rückweg. Er war lang. Der Sonnenuntergang kam viel früher, als sie erwartet hatte, und tauchte alles in eine orangefarbene Glut. Ihre Schritte wurden schneller. An einer Wegkreuzung sah sie sich mit gerunzelter Stirn um und wählte die falsche Richtung. Dann fiel die Dämmerung herab.

Nur noch mattes Licht gelangte von einem fahlen Himmel bis unter das Laub. Eben noch leuchtende Farben verblassten zu undefinierbaren Konturen. Sie wusste, dass sie sich verlaufen hatte. Dann wurde es dunkel.

Der Weg war in den Berg geschnitten. Links von ihr stieg der bewaldete Hanges wie eine bis in den Himmel ragende Mauer auf, rechts fiel der Boden so steil herab, dass sie fast auf Höhe der Baumkronen war. Wenn sie die Nacht nicht alleine und frierend im Freien verbringen wollte, musste sie Hilfe rufen. Sie fasste nach ihrem Handy. Ihre Hand griff ins Leere. Sie fluchte. Hektisch suchte sie alle Taschen ihres Rockes ab. Noch einmal. Es war nicht da. Verdammt, sie hatte es aufs Bett gelegt, als sie sich umgezogen hatte, und dort vergessen. Aber da war noch die Lampe an ihren Schlüsselbund. Sie schaltete sie an. Der Lichtkegel war winzig und schwach, sie konnte nur so weit sehen, wie ihre Füße reichten.

Furcht kletterte ihre Wirbelsäule hinauf bis zu ihrem Nacken. Die Stadt war ihr angestammtes Biotop, nicht der Wald. Ihre Ohren waren gespitzt. Unbekannte Geräusche erschreckten sie. Ihre Unruhe wuchs mit jeder Minute. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass ihr im Wald keine Gefahr außer der Kälte drohte. Sie war wütend auf sich selbst: Warum nur war sie so blöde gewesen, sich von irgendeinem Typen, den sie nicht einmal eine Stunde gekannt hatte, überreden zu lassen, diese gottverlassene Hütte zu mieten und dann auch noch alleine in einen ihr unbekannten Wald zu rennen!

Aber sie spürte noch etwas. Zuerst war es nur ein dumpfes Unbehagen jenseits von Kälte und Angst, doch dann bohrte es sich schmerzhaft in ihren Bauch. Umrisse lösten sich aus der Dunkelheit wie Gestalten aus einem Alptraum. Obwohl es noch kälter geworden war, oder sich so anfühlte, bildeten sich Schweißtropfen auf ihrer Stirn. Sie unterdrückte den Drang, sich umzudrehen, um nicht zu sehen, was sie nicht sehen wollte.

Da ist nichts, sagte sie sich, höchstens ein Tier, das mehr Angst vor mir hat, als ich vor ihm. Meine Fantasie geht mit mir durch.

Doch dann wuchs sich das ungute Gefühl zu einem Kribbeln in ihrem Nacken aus. Es war, als ruhten fremde Augen auf ihr.

Die Dunkelheit um sie herum verdichtete sich. Unter ihrem Fuß zerbrach ein dürrer Zweig. Das leise Krachen ließ sie zusammenfahren. Ihre Schritte wurden schneller. Viel schneller. Nahm dieser Wald denn überhaupt kein Ende!

Ein pelziger Schatten huschte über den Weg. Sie zuckte zurück. Das Tier musste mehr Angst vor dem haben, was der Wald verbarg, als vor ihr. Ein Windhauch zog wie ein kalter Atem über ihr Gesicht. Etwas pirschte sich an sie heran.

Dann meldete sich auch noch ihre Blase. Zuerst ignorierte sie sie. Der Wald war ihr unheimlich, sie wollte keine Zeit vertrödeln und nur noch raus. Doch bald hatte sie bei jedem Schritt Schmerzen.

Neben ihr ragte nackter Fels auf. Auf der anderen Seite wuchsen dornige, von Brennnesseln durchsetzte Ranken. Angesichts ihrer nackten Beine war dieses wild wuchernde Gestrüpp eine undurchdringlich Barriere für sie. Im diffusen Schein der Lampe suchte sie den Wegrand ab, bis sie eine Lücke fand, die groß genug war, um sich beim Hindurchsteigen nicht zu verbrennen oder sich die Haut zu zerkratzen. Dahinter fiel der Waldboden steil und feucht herab.

Normalerweise wäre sie keinesfalls in Dunkeln dorthin gegangen, aber das Gefühl, beobachtet zu werden, war immer noch da. Sie fasste sich in den Nacken. Ihre feinen Haare dort hatten sich aufgestellt.

Sie schaltete die Lampe aus und deponierte den Schlüsselbund auf einem flachen Stein. Auf dem weichen Untergrund balancierend hob sie ihren Rock, zog die Unterhose herunter und hockte sich hin. Ein Zweig strich über die nackte Haut ihres Pos. Sie zuckte zusammen, als habe jemand sie dort berührt; fast hätte sie geschrien.

Nur mit Mühe konnte sie ihre verkrampfte Blase entspannen. Sie lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Da war nichts außer dem Plätschern ihres Urins.

Oder?

Nein, da war nichts! Trotzdem war das Kribbeln in ihrem Nacken stärker geworden. Sie stand auf und sah sich nervös um. Ihr Fuß rutschte weg und stieß gegen etwas. Klirrend rollte der Schlüsselbund den Abhang herunter. Ihr Fluch blieb ihr im Halse stecken.

Um sie herum war es still. Viel zu still. Irgendetwas stimmte mit diesem Wald nicht. Ihr Herz raste. Das Kribbeln lief über ihren ganzen Körper und hinterließ eine Gänsehaut auf ihren Armen.

Sie zog ihre Unterhose hoch. Ihre Finger zitterten.

Der Mond war wolkenverhangen. Mit dem Schlüsselbund war auch ihre einzige Lichtquelle in der Finsternis unter ihr verschwunden. Die Gegend war ihr unbekannt und der Wald nur noch ein ein dunkles Labyrinth. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Richtung die Hütte oder wenigstens eine Straße lag. Es würde noch viel kälter werden und ihre sommerliche Kleidung konnte sie kaum schützen.

Das Gefühl, beobachtet zu werden, wuchs, bis ihre Kehle wie zugeschnürt war. Jetzt hatte sie es eilig. Schneller, als es die Vorsicht gebot, tastete sie sich mit kleinen Schritten den abschüssigen Boden herab. Ihre Hände erhaschten Zweige, an denen sie sich kaum festhalten konnte. Sie erreichte den mit Ilex bewachsenen Fuß des Abhangs. Den Schlüsselbund fand sie nicht.

Der abgestorbene Ast, an dem sie sich festhielt, brach. Ihre Füße rutschten auf dem glitschige Untergrund weg. Sie schaffte es gerade noch, nicht zu fallen. Nichts gab ihr mehr Halt, um in der Dunkelheit nach oben zu klettern, ohne sich Schrammen oder auch Schlimmeres zuzuziehen. Dieser verdammte Wald hatte sich gegen sie verschworen. Jetzt fluchte sie lauthals.

Wieder tastete sie sich in der Hoffnung, auf einen Weg zu stoßen, durch die Nacht. Sie versank bis zu den Knöcheln im feuchten Laub. Mit jedem Schritt wurde der Wald unwegsamer. Etwas lauerte in der Dunkelheit und atmete in dem Takt, in dem ihre Angst wuchs. Es beobachtete sie.

Mit vor Angst und Kälte klappernden Zähnen sah sie sich um. Schatten erwachten zum Leben und verdichteten sich zu bruchstückhaften Schemen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Irgendwo in der Dunkelheit bewegte sich etwas auf sie zu. Sie konnte es nicht sehen und nicht hören, sie fühlte es.

Kurz bevor sie vor Verzweiflung losheulte, war etwas vor ihr. Sie hörte ein Geräusch, dass nicht hierher passte. Der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder. Dann sah sie ein mattes Licht und erkannte das Klingeln eines Handys. Erleichtert ging sie darauf zu. Sie hörte eine dunkle Stimme. Ihre Schritte wurden schneller, obwohl sie die Baumstämme selbst im schwachen Gegenlicht eher erahnte, als sie zu sehen.

Die Wolken gaben ein Stück der Mondsichel frei. Endlich konnte sie etwas mehr als nur die undeutlichen Umrisse der Bäume erkennen.

Kurz bevor sie ihr Ziel erreichte, verstummte die Stimme. Das Licht erlosch. Der Umriss eines Menschen verschmolz mit der Dunkelheit, bevor ihre Augen ihn fixieren konnten.

„Hallo?“, rief sie.

Keine Antwort.

„Hallo?“ Sie rief lauter.

Keine Antwort.

„Hallo?“ Sie schrie. „Ist da jemand?“

Keine Antwort.

„Hallo?“ Ihre Stimme klang verzweifelt. „Ich habe mich verirrt.“

„Ach wirklich?“, hörte sie die dunkle Stimme hinter sich. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, dann drehte sie sich um.

 

4. Entführt

Vor ihr stand jemand. Sie sah nur einen Schatten, der sie überragte und den Mond verdeckte. „Gott sei Dank“, sagte sie erleichtert. „Ich habe schon gedacht, ich müsste die Nacht alleine im Wald verbringen.“

„Mit Gott hat das nichts zu tun“, sagte der Mann und der Tonfall, in dem er sprach, erschreckte sie mehr als seine Worte. „Hat dir etwa keiner verraten, was ich bin!“ Da war keine Frage, sondern eine Drohung in seiner Stimme.

Sie wich zurück. Der Mann kam ihr blitzartig nach und fasste ihren Hals. In Todesangst griff sie nach seinen Händen und versuchte seine Finger zu lösen. Sie waren hart wie Stahlklammer und gaben keinen Millimeter nach. „Wer hat dich geschickt?“

„Niemand“, keuchte sie

„Was hast du gesehen?“

Sie versuchte den Kopf zu schütteln, aber seine Hände ließen kaum eine Bewegung zu. „Nichts“, flüsterte sie mit erstickter Stimme.

Der Griff seiner Hände wurde noch enger. In ihrer Panik hatte sie alles vergessen, was man ihr über Selbstverteidigung beigebracht hatte. Der Gedanke, ihr Knie in seine Weichteile zu stoßen oder ihre Finger in seine Augen zu bohren, kam ihr nicht mal ansatzweise. Sie schnappte nur nach Luft und ihre Hände rissen vergeblich an seinen Fingern.

„Wenn du lügst, wird das deine letzte Lüge sein“, drohte er.

Ihr Herz raste. „Nein. Bitte tun Sie mir nichts.“

Er sah auf sie herab. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Obwohl seine Hände fest um ihren Hals lagen, machte sie keinerlei Anstalten, sich zu verteidigen oder ihn anzugreifen. Ihr Körper war war zierlich und wirkte so bedrohlich auf ihn wie der eines Kanarienvogels, und doch ging etwas von ihr aus, das alle seine Instinkte in Alarmbereitschaft versetzte.

Sie hatten schon viele geschickt, um ihn zu vernichten, Männer und Frauen. Obwohl sie zum Töten ausgebildet und oft bis an die Zähne bewaffnet gewesen waren, hatte er alle ausgeschaltet, schnell und ohne jeden Skrupel. Diese hier war anders.

„Wir werden sehen, was mit dir zu tun ist“, überlegte er. „Es wäre ihnen zuzutrauen, dass sie diesmal jemanden wie dich schicken. Du wirst mir alles sagen, was du weißt.“

Sie zuckte zusammen, als sich seine Fingernägel in ihren Hals gruben. „Ich weiß nichts.“ Ihre Stimme klang weinerlich.

„Versuch nicht wegzulaufen“, drohte der Mann. „Du hast keine Chance, mir zu entkommen.“ Er ließ sie los und stieß sie gleichzeitig von sich weg.

Trotz seiner Worte drehte sie sich auf der Stelle um und rannte in wilder Panik los. Inzwischen hatten die Wolken die ganze Mondsichel freigegeben und sie konnte genug erkennen, um den Baumstämmen auszuweichen. Sie rannte um ihr Leben.

Es war einfach, ihr zu folgen. Ihr weißes T-Shirt und ihre helle Haut leuchteten vor seinen Augen wie eine Fackel. Und selbst wenn er nichts gesehen hätte, wären ihr Duft und der Lärm, den sie auf ihrer kopflosen Flucht veranstaltete, eine unverkennbare Fährte gewesen, der er blind hätte folgen können. Mit federnden Schritten lief er ihr hinterher. Seine Füße hinterließen kein Geräusch. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln. Er war ein Jäger seit dem Beginn seiner Existenz.

Morsche Äste krachten unter ihren Füßen. Zweige schlugen in ihr Gesicht und verfingen sich in ihren Haaren. Als sie stolperte, rappelte sie sich hastig auf und rannte weiter, ohne auf den Schmerz in ihrem Knöchel zu achten. Dürre Zweige bohrten sich in ihre Haut und in den dünnen Stoff ihrer Kleidung. Sie hörte ihn nicht, aber sie wagte es nicht, sich umzudrehen. Er war dicht hinter ihr. Sie wusste es mit dem Instinkt der Beute.

Nach kaum mehr als dreihundert Metern stand er urplötzlich vor ihr. Sie schlug einen Haken, doch sie kam auch jetzt nicht viel weiter, bevor sein Schatten wie ein Geist vor ihr auftauchte.

Die Angst gab ihr eine unerwartete Schnelligkeit und Ausdauer. Trotzdem ließ er sich nicht abschütteln. Sie keuchte vor Anstrengung.

Er spielte sein Spiel noch ein paar Mal, bis sie um Atem ringend und mit vor Erschöpfung zitternden Knien stehen blieb. Sie war schon nicht mehr überrascht, als der Mann wenige Meter vor ihr aus dem Boden wuchs. Ihre Hand suchte an einem Baumstamm Halt.

„Ich hatte dich gewarnt.“ Sie glaubte eine grausame Härte in seiner Stimme zu hören, während er die letzten Schritte langsam auf sie zukam.

Seine Augen durchdrangen die Nacht wie die einer Katze. Sie maßen jeden Quadratzentimeter ihres Körpers. Unter ihrer knappen und eng anliegenden Kleidung zeichneten sich nicht die Umrisse von Waffen ab. Sie sah nicht aus wie jemand, der ihm gefährlich werden konnte. Aber er hatte schon zu viel überstanden, um sich von ihrem so harmlos wirkenden Anblick einwickeln zu lassen. Es gab Waffen, die klein genug waren, um sie unter ihrer Kleidung zu verbergen, Gift, das, selbst wenn es nur in winzigsten Mengen auf die Haut kam, in Sekunden tötete.

Sie starrte ihn an. Selbst in dem wenigen Licht hypnotisierte sein Blick sie wie die Schlange das Kaninchen. In ihren Adern rauschte das Blut. Sie sah nur noch ihn. Ihre Knie knickten weg. Bevor sie auf den Waldboden fiel, umfingen seine Arme ihren Oberkörper. Seine Lippen waren dicht neben ihrem Ohr. „Es ist besser für dich, wenn du tust, was ich dir sage“, verlangte er hart.

Doch nicht nur seine Lippen waren dicht bei ihr. Er spürte den hektischen Schlag ihres Herzens, hörte das Pulsieren ihres warmen Blutes in ihren Adern. Ihr Duft drang in seine Nase und seine Härte bekam Sprünge. Sie in seinen Armen zu halten, war richtig. Unerhört richtig. Es war neu für ihn.

Er war unvorsichtig gewesen, hatte sie viel zu nah an sich herangelassen. Auch solch eine Nachlässigkeit war neu für ihn. Sie hätte ihn vernichten können, wenn das ihr Plan gewesen wäre. Diese Frau brachte etwas in ihm durcheinander.

Er hielt sie fest an sich gedrückt. Für einen Moment war ihr umklammerter Körper vor Angst wie gelähmt. Doch dann versuchte sie sich loszureißen. Er hielt sie mit Leichtigkeit, nicht einmal seine Arme umschlossen sie fester.

Nora hörte sich keuchen. Er hingegen war kein bisschen außer Atem. Dieser Mann musste eine bessere Kondition haben als ein Marathonläufer und Muskeln aus Stahl. Trotzdem wand sie sich in seinen Armen. Sie umschlangen sie wie ein Python. Erst als ihre schon geschwächten Kräfte gänzlich am Ende waren, wurde sie ruhiger.

Sie rang um Atem. Schweiß, gemischt aus Überanstrengung und Angst, lief ihre Stirn herab und glänzte zwischen ihren Brüsten. Er sah, roch und fühlte ihre Panik und fragte sich, ob sie ihm so etwas vorspielen konnte.

„Lassen Sie mich gehen“, bat sie mit zitternder Stimme.

„Dazu ist es zu spät.“

„Ich werde niemandem etwas sagen.“

„Du hast also doch etwas gesehen?“

Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, nein. Ich habe nichts gesehen, nur Sie.“

„Mich zu sehen, war schon zu viel, um dich gehen zu lassen.“

„Ich habe Sie doch gar nicht richtig gesehen. Es ist dunkel. Ich könnte nicht mal Ihr Gesicht beschreiben.“

„Wir verhandeln hier nicht. Du wirst mit mir kommen.“

Seine Worte verstärkten ihre Panik und mobilisierten ihre Kräfte. Wieder versuchte sie sich von ihm loszureißen. Es war, als hielten Stahlseile sie fest.

Wieder stieg ihm ihr verführerischer Duft in die Nase. Ihr T-Shirt war verrutscht und der weite Ausschnitt gab ihr Dekolletee frei. Durch die zarte Spitze ihres BH´s schimmerte ihre Haut. Seine Augen wurden von dem Anblick gebannt. Eine Hand löste sich, um sie zu berühren. Er ballte sie zu Faust. Sie hatten einen Köder ausgelegt und er war kurz davor, ihnen in die Falle zu gehen. Es wäre besser, sie gleich hier zu töten. Er durfte kein Risiko eingehen. Aber er wollte sie mitnehmen, warm und lebendig, um sie vor allen Gefahren zu schützen. Welcher Irrwitz!

„Ganz ruhig, Wildfang“, kam es leise aus seinem Mund, bevor er die Worte zurückhalten konnte. Ehe er wusste, was er tat, strich seine Hand besänftigend über ihren Scheitel.

Sie trat nach ihm. „Du gibst wohl nie auf“, stellte er fest.

Sie wurde tatsächlich ruhiger. „Würden Sie aufgeben, wenn es um Ihr Leben ginge?“, fragte sie und setzte mit dünner Stimme nach, „oder Schlimmeres?“

„Es geht um meine Existenz“, antwortete er, „und um Wichtigeres, wie du weißt.“

„Ich weiß nichts“, beteuerte sie.

„Ach wirklich nicht? Haben sie dir etwa nicht gesagt, warum sie dich auf mich angesetzt haben? Aber das ist egal. Wenn sie erfahren, dass du mich hier getroffen hast, bekomme ich mehr als nur ein paar Probleme. Ich habe mächtige Feinde. Wenigstens das wirst du wissen oder dir denken können.“ Sie wussten, dass er hier war, kannten durch den Verrat einer Frau sogar die Nummer seines Handys. Aber sie hatten keine Ahnung, wie er aussah. Die Frau hatte keine Zeit mehr gehabt, ihnen sein Foto zukommen zu lassen. Bisher hatte auch keiner ihrer anderen Häscher lange genug gelebt, um das zu schaffen. Ein Blick in sein Gesicht war das Letzte gewesen, das sie gesehen hatten, wenn überhaupt.

„Ich werde niemandem etwas verraten“, versprach Nora hastig. „Ganz bestimmt nicht. Ich gehöre nicht zu Ihren Feinden.“

„Du würdest mich verraten, egal, ob du zu ihnen gehörst oder nicht.“

„Ich hätte viel zu viel Angst, dass Sie sich rächen. Ich weiß ja nicht einmal, wer die sind.“

„Sie haben Methoden, die jeden zum Reden bringen. Glaub mir. Wenn du wirklich nicht zu ihnen gehörst, ist es auch besser für dich, wenn ich dich nicht gehen lasse.“

Seine Stimme hatte viel von ihrer Härte verloren. Sie blickte zu ihm auf. Er war deutlich größer und breiter als sie und schaute auf sie herab, ohne sich zu bewegen. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Trotzdem hoffte sie für einen Moment, dass er sich eines Besseren besann und sie gehen ließ.

Tatsächlich lösten sich seine Arme. Doch anstatt sie gehen zu lassen, schnappte er sich ihre Hand und zog sie kommentarlos mit sich. Sie wehrte sich, versuchte ihre Füße in den Waldboden zu stemmen und sich an allem, das ihre Hände erreichten, festzuhalten. Er war so stark, dass er sie hinter sich her zerrte, wie einen trotzigen Dackel. Ihre Hände glitten an der Rinde von Baumstämmen ab, Fingernägel brachen. Sie stolperte über Stock und Stein. Dornen zerkratzten ihre Haut. Ihre Angst ließ sie den Schmerz nicht spüren.

Für einen Moment verlor er die Orientierung. So etwas war ihm noch nie passiert. Sie hatte ihn verwirrt. Er blieb stehen und sah sich um. Seine Augen berührten ihr Gesicht. Er sah, dass sie tief Luft holte und wusste, was sie vorhatte. Bevor er es verhindern konnte, grellte ihre Stimme durch den Wald. „Hilfe.“

Als sie den Mund öffnete, um ein zweites Mal zu schreien, traf seine Hand ihr Gesicht. Für einen Moment sah sie Sternchen. Sie schmeckte Blut.

„Wenn du dass noch einmal machst, kriegst du einen Knebel“, drohte er und roch das Blut in ihrem Atem. Scheiße, er hatte nicht vorgehabt, sie zu schlagen, und auch nicht, sie zu verletzen, aber sie hatte ihn in Gefahr gebracht, und sich damit auch. Ihr Blut roch verlockend. Metallisch und süß. Etwas drängte ihn, seinen Mund auf den ihren zu legen und es zu schmecken.

Nora sah seine Augen über sich. Sie schienen in der Dunkelheit zu leuchten wie glühender Bernstein. Ungeachtet seiner Worte und seines erschreckenden Anblicks drehte sie den Kopf blitzschnell zu Seite und schrie erneut.

Er packte ihre Haare mit der einen Hand und presste die andere auf ihren Mund und ihre Nase. Sie bekam keine Luft mehr. Wieder spürte sie Todesangst. Mit weit aufgerissenen Augen krallte sie ihre Finger in seine, doch sie saßen so fest wie angeschweißt.

„Ich kann dich langsam ersticken oder dir schnell das Genick brechen, wenn du das noch einmal versuchst“, zischte er. Seine Hand ließ von ihrem Mund ab. Sie schnappte nach Luft. Die andere Hand hielt weiter ihre Haare gefasst und zwang sie, ihn anzusehen. „Sag mir, was dir lieber ist!“, befahl er mit Augen, die glühten wie die eines angestrahlten Tieres. Seine Hand schwebte bedrohlich über ihrem Gesicht.

„Ich werde nicht mehr schreien“, versprach sie kleinlaut. Etwas sagte ihr, dass sie schon längst tot wäre, wenn er das gewollt hätte. Trotz ihrer prekären Lage und seiner beängstigenden Augen beruhigte sie der Gedanke.

„Und?“

Sie war verwirrt. „Was?“

„Du wirst nicht mehr schreien. Und was noch?“

Fast zur Bewegungslosigkeit erstarrt sah sie zu ihm auf. „Ich … ich … ich weiß nicht.“

„Du wirst mit mir mitkommen, ohne weiter so rumzuzappeln.“

„Du erwartest zu viel von mir“, begehrte sie auf.

Kein Parfüm überdeckte den Geruch ihrer Angst. Seine Augen konnten die Dunkelheit durchdringen. Die Frau vor ihm sah alles andere als kriegerisch aus. Nichts an ihr ließ erkennen, dass sie eine Ausbildung genossen hatte, mit der sie ihm gefährlich werden konnte. Ihrer Muskulatur nach war Kraftsport nicht gerade ihr beliebtestes Hobby. Sie war zart und doch zeichneten sich eindeutig die Formen einer Frau unter ihrer Kleidung ab. Dieser Anblick und sogar ihr unerwarteter und angesichts ihrer Lage geradezu wahnwitziger Trotz ließen einen unpassenden Instinkt in ihm wachsen und auch etwas in seiner Körpermitte.

Die Hand, mit der er sie geschlagen hatte, brannte. Er hatte Frauen berührt. Die einen waren gekommen, um sich das Geld, das auf seinen Kopf ausgesetzt war, zu verdienen. Bedenkenlos hatten sie ihre Reize eingesetzt, um ihn zu betören. Sein Instinkt, sich mit einer Frau zu vereinigen, war stark. Mehr als einmal wäre er ihnen fast auf den Leim gegangen. Es wäre das Ende seiner Existenz und damit seiner Bestimmung gewesen. Er hatte keine Schuld und kein Bedauern gespürt, als er sie tötete. Diese Fähigkeit war ihm nicht gegeben. Er war nur eine Hülle, angefüllt mit Verstand und basalen Instinkten, um ihn in menschlicher Umgebung funktionieren zu lassen. Innen drin war er wie ein eiskalter Bergsee, dem es gleichgültig ist, ob der Wind seine Oberfläche kräuselt oder ob jemand in ihm ertrinkt.

Die anderen Frauen, die, die eine Begegnung mit ihm überlebt hatten, waren von der gleichen körperlichen Gier getrieben gewesen wie er. Wenn sie miteinander fertig gewesen waren, waren sie, ohne zurückzublicken oder leere Versprechungen auszutauschen, auseinandergegangen.

Er ballte seine Hand zur Faust, um das Gesicht der Frau vor ihm nicht noch einmal damit zu berühren. Für einem Moment dachte er daran, sie gehen zu lassen. Vielleicht würde sie ihn tatsächlich nicht verraten. Es wäre die einfachste Lösung gewesen.

Er schüttelte den Kopf und riss sich zusammen. Es wäre die unwahrscheinlichste Lösung gewesen. Seine Feinde hatten gewusst, dass er auf diese Frau anders reagieren würde, als auf jede andere. Sie hatten es wie auch immer geschafft, dass sich ihrer beiden Wege kreuzte und sie würden Informationen aus ihr herausholen, von denen sie selbst noch nicht wusste, dass sie sie hatte. Diese Frau brachte seine Pläne durcheinander und auch seine Körpermitte. Beides durfte nicht sein.

Immer noch drang der Duft ihre Blutes verführerisch in seine Nase. Er wollte es schmecken und dabei mit seinen Händen ihren Körper erkunden. Abrupt drehte er den Kopf von ihr weg, um sich zu nichts Unüberlegtem hinreißen zu lassen. Hier und jetzt waren weder Ort noch Zeit dazu.

Wieder packte er ihre Hand und zog sie einfach mit sich. Es kam ihr vor wie viele Kilometer. Ihre Beine waren schwer wie Blei. Als sie glaubte, kaum noch einen Schritt gehen zu können, blieb er stehen und hob die Nase in den Wind wie ein Tier, das Witterung aufnimmt. Im Mondlicht erkannte sie einen Geländewagen am Rand einer Lichtung. Im ersten Moment war sie erleichtert, als er geradewegs darauf zu ging. Doch dann begriff sie, dass sie ihm dort völlig ausgeliefert wäre.

Sie war zu erschöpft, um sich noch einmal zur Wehr zu setzen. Als er einen Moment langsamer wurde und sich vorsichtig sichernd umblickte, ließ sie sich einfach fallen. Immer noch ihre Hand festhaltend blieb er stehen und schaute auf sie herab. „Steh auf!“, befahl er barsch.

Sie schüttelte nur den Kopf. „Ich kann nicht mehr.“

„Du kannst“, setzte er dagegen. „Es sind nur noch ein paar Meter bis zu meinem Auto, da kannst du dich ausruhen.“

„Ich will nicht.“

„Du willst was nicht?“

„Ich steig nicht in dein Auto, und wenn du mich umbringst.“

Er sah Tränen in ihren Augen. Die Sprünge, die sie eben schon seiner Härte versetzt hatte, wurden größer. Er hockte sich neben sie. „Du kommst mit mir. Je mehr du dich wehrst, desto schwerer machst du es dir.“

Seine Stimme war erstaunlich weich. Trotzdem schüttelte sie wieder den Kopf und sah von ihm weg, wissend, dass er ihre Weigerung nicht akzeptieren würde. Sie war nicht einmal überrascht, als er sie einfach wie ein schlafendes Kind vom Boden hochhob und losstapfte. Durch den Stoff seiner Kleidung spürte sie seine Muskeln. Sie waren tatsächlich hart wie Stahl.

Ihr war vorher schon klar gewesen, dass er viel stärker war als sie selbst. Wie viel stärker erkannte sie erst jetzt, als er sie mit Leichtigkeit über den Waldboden trug. Er musste mehr Kraft in einem seiner kleinen Finger haben als sie in beiden Armen zusammen. Trotzdem erwachte eine nie gekannte Wut in ihr und war sogar stärker als ihre Angst und Erschöpfung. „Lass mich runter, du verdammter Idiot!“, tobte sie. „Willst du, dass ich mir den Kopf stoße oder mir was breche?“ Sie schlug mit ihren Fäusten gegen seine Brust und strampelte mit den Beinen. Er reagierte nicht darauf, obwohl sie in ihrer Wut kräftiger war, als er erwartet hatte. Erst als sie versuchte, mit ihren Fingernägeln eine Spur durch sein Gesicht zu ziehen, stellte er sie wieder auf die Füße und hielt ihre Hände fest. „Verletz mich nicht!“, warnte er sie mit unbewegter Stimme. „Niemals!“

„Und was wenn doch?“ Ihre Stimme verriet ihren Ärger.

Er ließ ihre eine Hand los und packte ihr Kinn. Sie umfasste sein Handgelenk und versuchte seine Finger aus ihrem Gesicht zu ziehen. Es gelang ihr nicht. Stattdessen zwang der Mann sie, ihn anzusehen, während seine Augen direkt vor ihr waren. „Wenn du dich nicht benimmst, muss ich dir eine andere Seite von mir zeigen. Und glaube mir, die willst du ganz bestimmt nicht kennenlernen.“ Er ließ ihr Kinn los.

Seine Worte und die Drohung darin ließen sie verstummen und jagten einen Schauder über ihren Rücken. Es fühlte sich an, als hätten seine Finger sie dort verbrannt, wo sie sich in die Haut ihres Kinns gedrückt hatten. Er war mehr als nur ein Verbrecher oder Psychopath. Wobei das Wort 'nur' relativ war.

„Geh!“, sagte er.

„Nein!“

Er starrte in ihre Augen. „Geh!“. Seine Stimme hatte einen eigenartigen Klang angenommen. Ihre Angst war nur noch eine dumpfe Erinnerung. Die Erde schien unter ihren Füßen zu vibrieren. Zu ihrer eigenen Überraschung ging sie zu seinem Auto, als hätte er die Kontrolle über ihre verräterischen Beine übernommen. Sie spürte ihn dicht hinter sich.

Als er die Hintertür öffnete, ging kein Licht an. Die hinteren Fenster des Autos waren verdunkelt. Schwärze blickte ihr entgegen. „Steig ein“, befahl er. Seine Stimme war wieder normal und ließ nicht erahnen, dass ihn für einen Moment eine nie gekannte Schwächen überfallen hatte. Ihren Widerstand zu betäuben, hatte ihn unerwartet viel Kraft gekostet, mehr als bei jedem anderen Menschen bisher.

Nein! Sie würde nicht einsteigen. Ihre Angst war wieder da.

Eine Hand legte sich in ihren Nacken und drückte sie vor. Sie stemmte ihre Hände gegen den Türrahmen und versuchte sich seinem Griff zu entwinden, doch er schob sie ohne Anstrengung vor, bis sie auf dem Sitz kniete.

Ihr Rock war hochgerutscht. Ihre Unterhose und ihre seidig schimmernden Oberschenkel lagen frei. Dort, wo der Rücken endete und sich ihre rechte Pobacken vorwölbte, zierte ein dunkler Klecks ihre Haut, als habe ein Maler ihn dort hinterlassen. Der Anblick nahm ihn gefangen und mehr noch das Wissen, das er preisgab.

Und dann stieg ihm auch noch ein Duft in die Nase, der so verlockend war, wie der ihres Blutes. Er war versucht, sein Gesicht in die feuchte, warme Dunkelheit zwischen ihren Beinen zu legen und ihren Geschmack in sich aufzunehmen. Auch sein Unterleib drängte ihn zu ihr hin. Nur mühsam konnte er sich zurückhalten und ihren Nacken freigeben, ohne auch nur den Klecks mit seinen Fingerspitzen zu berühren.

In dem Moment, als sich seine Hände lösten, spurtete Nora los und floh durch die andere Tür aus dem Auto.

Ein lauter Fluch löste sich aus seinem Mund. Wie hatte er nur so blöde sein können zu glauben, diese Frau würde brav tun, was er von ihr verlangte und sich einfach hinsetzen. In ihrer Nähe funktionierte weder sein Instinkt noch sein Gehirn richtig. Dafür funktionierte sein Unterleib anscheinend um so besser.

Aber er hatte es nicht eilig, ihr hinterherzulaufen. Ein paar Schritte Vorsprung würden seinen Jagdtrieb noch mehr anregen. Dann verschwammen ihre Umrisse mit den Schatten der Bäume. Er hatte sich verrechnet. Nur noch einen Moment und er würde sie aus den Augen verlieren. Sie war schneller und geschickter, als er nach der Verfolgungsjagd eben erwartet hatte, auch wenn er inzwischen wusste, was in ihr war. Jetzt rannte er los.

Sie wusste, dass er hinter ihr war, auch wenn sie ihn nicht hörte. Ihre Angst und mehr noch eine plötzliche, brandheiße Wut steigerten ihre Kräfte. Mit einem Mal wurde sie so schnell, dass er Mühe hatte, sie einzuholen. Doch er hörte ihren keuchenden Atem und wusste, dass sie nicht mehr lange durchhielt. Mit jedem Schritt kam er ihr näher.

Eine Hand packte ihre Haare und riss sie zurück. Sie stöhnte vor Schmerz und Enttäuschung. Fast wäre sie gefallen.

Er zerrte sie an den Haaren zurück zum Auto, obwohl sie sich nach Kräften wehrte. „Du verdammter Neandertaler, ich bring dich um“, fauchte sie. „Fahr zur Hölle!“

Er reagierte nicht auf ihren Fluch.

Am Auto angekommen hielt er ihre Haare weiter mit eiserner Hand. Sie schlug und trat nach ihm, aber selbst als ihre Faust sein Gesicht traf, verpuffte ihre Gegenwehr wie ein Schlag gegen die Wand einer Gummizelle. Jetzt versuchte sie doch, ihr Knie in seine Weichteile zu rammen. Er wehrte ihren Angriff mit beiden Händen ab und sie fiel auf den Boden.

Der Aufprall presste ihr trotz des weichen Waldbodens die Lungen zusammen. Sie japste nach Luft. Als er sich über sie beugte, rollte sie sich reflexartig zusammen und hob abwehrend die Hände vor ihr Gesicht. Sie war am Ende. Ihr Atem ging immer noch keuchend. Sie wollte nicht sterben und noch weniger vorher Unerträgliches erleiden, doch nichts konnte ihn mehr davon abhalten, ihr anzutun, was er wollte.

Er schlug sie nicht. Kein Fuß trat nach ihr. Kein Messer blitzte über ihr auf.

Er starrte nur auf sie herab. Nachdem sie wie eine Löwin gekämpft hatte, lag sie plötzlich hilflos und verschreckt vor ihm auf dem Boden, nur noch ein Bündel Angst. Ihr Körper hob sich hell von den dunklen Schatten um sie herum ab. Kein Muskel zuckte, um sich zu wehren oder ihn anzugreifen. Sie war trotz all ihres Widerstandes und ihrer Zickerei verletzlich. Seine Grobheit erschien ihm plötzlich falsch.

Noch nie zuvor hatte er geflucht. Sie hatte ihn eben dazu gebracht. Niemals war es ihm wichtig gewesen, was Menschen über ihn dachten. Jetzt wollte er nicht, dass sie glaubte, er wäre fähig, sie zu misshandeln. Dabei war er es. Er hatte bedenkenlos jeden ausgeschaltet, der sich ihm in den Weg gestellt hatte. Nur wuchs jetzt in ihm der Zweifel, dass sie so etwas vorgehabt hatte.

Irgendetwas hatte sich geändert. Es war in ihm drin, fremd und bedrohlich, und es breitete sich in seinem Innern aus. Als er danach griff, verflüchtigte es sich wie eine Windböe. Die einzige Erklärung war, dass seine Zeit ablief. Er wusste um die Endlichkeit seiner Existenz, aber er hatte weder mit einem so frühen Beginn des Zerfalls gerechnet noch damit, dass er auf diese Weise kommen würde.

„Du hast keine Ahnung, mit was du dich hier anlegst“, hörte sie ihn über sich. Selbst in ihrer Panik nahm sie wahr, dass in seiner Stimme keine Drohung war, sondern nur eine abgrundtiefe Leere. Sie war sofort wieder weg. „Steh auf und steig ins Auto“, befahl er barsch. „Du fährst.“

Sie blieb noch einen langen Moment bewegungslos liegen. Als er nichts gegen sie unternahm, entfaltete sich langsam. Sie wagte es, nach oben zu blicken.

Er stand über ihr und sah auf sie herab. Trotz der Dunkelheit spürte sie seinen Blick wie den Flügel eines arktischen Vogels ihren Körper streifen. „Steh auf“, verlangte er erneut. Sie glaubte einen Anflug von Unsicherheit in seiner Stimme zu hören. Er trat einen Schritt zurück. „Steh auf, Frau!“ Wenn da eine Unsicherheit gewesen war, war sie verflogen.

Mit zitternden Knien erhob sie sich und ging um das Auto herum. Ihre Wirbelsäule und Rippen schmerzten. Er folgte ihr auf dem Fuß und öffnete die Fahrertür. Mit reichlich Waldboden auf ihrer Haut und ihrer Kleidung kletterte sie auf den Fahrersitz.

„Schmall dich an!“

„Oh, wie besorgt du um mich bist,“ kommentierte sie seine Anweisung, legte aber den Gurt an.

Er ignorierte ihre bissige Antwort. Als er einen Knopf in der Tür betätigte, fuhr der Sitz so weit nach vorne, dass sie hinter dem Lenkrad geradezu eingeklemmt wurde.

„He, was soll das?“

„Damit du nicht wieder auf dumme Gedanken kommst.“ Er knallte die Tür zu und ging hastig auf die Beifahrerseite. Sofort startete sie einen Befreiungsversuch. Als er einstieg, hatte sie den Gurt schon gelöst und ihre Hand suchte nach dem Knopf der Sitzverstellung in der Tür.

Er ließ zu, dass sie den Sitz ein wenig zurückfuhr. Dann packte er ihren Arm. „Stopp.“

Der Sitz fuhr weiter zurück bis zum Anschlag. Seine Finger gruben sich in ihre Haut. „Au!“, beschwerte sie sich.

„Verdammt noch mal, tu endlich was ich dir sage.“

„Lass mich los, du Grobian! Du tust mir weh.“

„Daran bist du selbst schuld“. Trotz seiner Bemerkung lockerte er seinen Griff. „Schnall dich wieder an und fahr den Sitz vor.“

Sie gehorchte widerwillig. Als sie eine bequeme Sitzposition eingenommen hatte, hielt er ihr den Schlüssel vors Gesicht. „Du fährst.“

„Ich kann nicht Autofahren.“

„Du lügst.“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich weiß es. Und jetzt fahr los. Falls du wieder irgendeine Dummheit machst, werde ich dich fesseln und du verbringst die Fahrt zu einem hübschen kleinen Paket verschnürt auf dem Rücksitz.“

„Das würde dir so passen.“

„Ja.“

„Du bist so …, so …“ Wütend nahm sie den Schlüssel und startete den Motor. Als die Lampen aufflammten, warf sie ihm einen Blick zu. Außer der nackten Haut seiner Arme und des Bereichs um seine Augen war alles an ihm dunkel: seine Kleidung, seine Haare, sein Bart. Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? In dem Spiel rufen die Kinder: „Niemand!“ Doch sie war kein Kind und das hier war kein Spiel. Sie hatte Angst, und wie!

Er deutete mit dem Finger nach vorne und sie fuhr langsam los. Ihre Knie schlotterten, ihre Finger krallten sich in das Lenkrad. Nach etwa 100 Metern leitete er sie auf einen Waldweg und wenig später auf eine schmale asphaltierte Straße. Ihre Knie schlotterten noch mehr.

Sie starrte in den Lichtstrahl vor dem Auto, um nicht vom Weg abzukommen. Niemand, den sie auf ihre Lage aufmerksam machen konnte, begegnete ihnen. Wenn sie mit dem Fernlicht SOS ins Nirgendwo geleuchtet hätte, wäre ihm das aufgefallen – sicher mit unangenehmen Folgen für sie.

Er betrachtete sie von der Seite. Selbst in dem spärlichen Licht konnte er sehen, dass sie ihre vollen Lippen fest zusammenpresste. Ihre Finger verkrampften sich um das Lenkrad und ihre Knie schlotterten. Er konnte ihre Angst riechen. Sie war ihr ausgeliefert. Nichts und niemand hatte sie darauf vorbereitet. Hier lief etwas in falschen Gleisen.

Sie fühlte seinen Blick mehr, als dass sie ihn sah. Sein Stirnrunzeln bemerkte sie nicht, und auch nicht, dass es ihm selbst galt und nicht ihr. Wenigstens machte er wider Erwarten keine Anstalten, sich ihr ungebührlich zu nähern.

Er leitete sie kreuz und quer durch die Pampas. Schon nach kurzer Zeit hatte sie jegliche Orientierung verloren, einmal abgesehen davon, dass sie schon zu Beginn der Fahrt nicht gewusst hatte, wo sie war.

Als er auf einen von der Straße abbiegenden unasphaltierten Weg zeigte, donnerte ihr Herz mit nie gekannter Geschwindigkeit los. Was hatte er vor? Sie hatte gehofft, er würde ihr nichts antun, aber jetzt kam ihr erneut Panik hoch. Sie trat so hart auf die Bremse, dass er trotz der schon geringen Geschwindigkeit im Sicherheitsgurt hing.

„Verdammt, was soll das jetzt schon wieder?“

„Ich fahr da nicht rein.“

„Du wirst!“

„Nein!“

Er legte seine Hand in ihren Nacken. „Du hast einen schönen, schlanken Hals. Es wird mir ein Leichtes sein, dein Genick zu brechen.“

Nora nickte zaghaft. Die Hand lag weiter in ihrem Nacken, als sie in den Weg einbog. Trotzdem trat sie nach wenigen Metern wieder hart auf die Bremse. „Tu es. Besser so als …“ Ihre Stimme versagte, obwohl etwas ihr sagte, dass er seine Drohung nicht wahrmachen würde.

Sie hörte ein entnervtes Stöhnen neben sich. Die Hand verschwand aus ihrem Nacken. Er griff zum Schlüssel, stellte den Motor aus und zog ihn ab. Sofort war es dunkel. Während er nicht nur seinen Sicherheitsgurt löste, sondern auch ihren, wendete sie ihm ihren Kopf zu, sah im spärlichen Mondlicht aber nur seinen Umriss. Als er ausstieg und um das Auto herumkam, wagte sie keinen Fluchtversuch mehr. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, zu entkommen und wollte ihn zu keiner brutalen Reaktion reizen.

Er öffnete die Fahrertür. „Steig aus!“

Sie umklammerte das Lenkrad. „Nein.“

„Du bist schlimmer als die Pest!“

„Ich steig nicht aus!“

Resignierend mit der Schulter zuckend beugte er sich vor und schob eine Hand hinter ihren Rücken durch. Mit dem anderen Arm umfing er ihren Bauch. Dann zog er sie einfach aus dem Auto.

Sie klammerte sich immer noch am Lenkrad fest, doch ihre Finger glitten ab. Er stellte sie auf den Boden, ohne seine Umarmung zu lockern oder auf ihren Protest zu achten.

Es war, als hielte er seine Geliebte umschlungen. Ihr sich windender Körper und ihr angestrengtes Keuchen erregten ihn, obwohl er wusste, dass nicht Leidenschaft, sondern nackte Angst sie dies tun ließ. Das Ding in seiner Brust, das sonst immer so gleichmäßig schlug, pochte plötzlich in einem nie gekannten Rhythmus.

Er wartete, bis sie sich verausgabt hatte. Dann nahm er eine Hand hoch und strich durch ihre Haare. „Ganz ruhig. Und jetzt hör mir zu. Tust du das?“

Er wartete einen Moment. „Tust du das?“, fragte er, als keine Antwort kam.

Sie nickte vorsichtig. Wie zur Belohnung lockerte er seine Umarmung. „Gut. Also. Ich hatte nicht vor, dich zu entführen. Und ich habe auch nicht vor, dir etwas zu tun. Ich muss hier nur etwas erledigen und dabei darf mir nichts in die Quere kommen. Wenn ich fertig bin, verschwinde ich von hier und du kannst gehen.“ Plötzlich war da die Eingebung, dass Letzteres nicht richtig war. Aber letztendlich war es egal. Mit der Erfüllung seiner Aufgabe würde auch seine Existenz enden. Und das war bald.

„Wie lange wird das sein?“ Ihre Stimme zitterte.

„Ein paar Wochen, vielleicht zwei Monate.“

„Man wird mich vermissen und suchen.“

„Dieses Risiko muss ich eingehen.“

Ihr Kopf drehte sich blitzschnell. Doch bevor ihre Zähne seine Hand schnappen konnten, zog er sie weg. Er stieß sie mit einem harten Schlag gegen die Schulter zurück. Sie stolperte und wäre gefallen, wenn er sie nicht am Arm hochgerissen hätte. Mit der anderen Hand umfasste er ihre Kehle. Wieder spürte sie Todesangst. Er hatte schon damit gedroht, sie zu töten. Bei all seiner Kraft wäre es kaum eine Anstrengung für ihn, ihr die Luft abzudrücken.

„Versuch das nie wieder, es sei denn, du willst sterben“, warnte er sie. „Ich habe keine Skrupel, dich zu töten, wenn du mich verletzt. Und wage es nie wieder, vor mir zu fliehen. Ich erwische dich schneller, als du denkst, und egal, wo du dich versteckst.“

Ihr Gesicht war totenblass. Seine Augen nahmen den Anblick gierig auf. Der Geruch ihrer Panik ließ seine Knie weich werden. In seiner Körpermitte dagegen wurde er hart. Seine Lippen drängten dorthin, wo er die Ader in ihrem Hals schlagen sah, um ihr Leben zu spüren. Sie würde es nicht behalten, wenn er seinem Drang folgte.

Sie war ihm ausgeliefert. Er wusste es. Und sie wusste es auch, als sie seine Härte an ihrer Hüfte spürte. Nur ein Rest Verstand brachte ihn dazu, sie loszulassen. Seine Hände zitterten vor Verlangen.

Sie blieb tatsächlich stehen. Fast bedauerte er es. Sie zu jagen wäre eine Erleichterung gewesen, obwohl er sich das Ende der Jagd nicht ausmalen wollte. Er hätte sie zur Strecke gebracht, aber viel zu viel verloren.

Ihr Geruch und ihre Haltung verrieten ihm ihre Angst. Sie wagte es nicht, ihn anzublicken. Ihre Zähne klapperten aufeinander. Seine Anspannung wich augenblicklich von ihm. „Komm jetzt“, forderte er sie mit ausdrucksloser Stimme auf.

Sein rasanter Stimmungsumschwung verblüffte sie. Wie eine Ampel, die von Rot auf Grün umschaltete, nur ohne Gelb dazwischen – wenn man von seinen Augen absah.

Im schwachen Mondlicht konnte sie erkennen, dass er ein paar Schritte über den Kies ging, stehen blieb und sie anblickte. Unschlüssig sah sie ihm nach. Immer noch zitterten ihre Knie nicht nur vor Angst, sondern auch vor Schwäche, während ihm keinerlei Erschöpfung anzumerken war. Sie sah sich um. Er würde jeden Fluchtversuch zu verhindern wissen. Ihn erneut herauszufordern, war nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich.

Er streckte die Hand aus. Sie schlang ihre zitternden Arme um ihren Oberkörper. Zögernd tat sie die ersten Schritte auf ihn zu.

Bevor seine Finger sie berühren konnten, blieb sie stehen. Sie spürte sein Lächeln mehr, als dass sie es sah, und es gab ihr das Gefühl, das Richtige getan zu haben.

Verdammt, was war nur los mit ihr! Das durfte nicht wahr sein. Sie war wütend. Wütend auf ihn und auf sich selbst. Gerade noch hatte dieses brutale Etwas damit gedroht, sie zu töten, und jetzt trottete sie zu ihm hin wie ein neugieriges Kätzchen. Ihr Gehirn brauchte eine Generalüberholung.

Er drehte sich wieder von ihr weg und schritt so sicher in die Dunkelheit hinein, als wäre ihm der Weg schon lange vertraut, während sie kaum etwas erkennen konnte. Sie sah ihm misstrauisch hinterher. Dann setzte sie sich gegen jede Vernunft auch in Bewegung und folgte ihm. Der Kies knirschte unter ihren Füßen.

Was zum Teufel hatte er vor? Sein Verlangen war unverkennbar gewesen und selbst in der Dunkelheit hatte sie gespürt, wie schwer es ihm gefallen war, sich zu beherrschen. Solange sie sich in seiner Nähe befand, war sie in Gefahr. Aber wenn sie jetzt weglief wohl noch viel mehr.

Ein Bewegungsmelder ließ Licht aufflammen. Es kam nur von einer einzelnen matten Birne, trotzdem zuckte sie zusammen. Dann sah sie trotz des spärlichen Lichtes, dass sie vor der Hütte stand, die sie selbst gemietet hatte, und auch ihr Auto war dort. Überrascht sah sie ihn an. Aber auch jetzt war es zu dunkel, um irgendwelche Einzelheiten in seinem Gesicht erkennen zu können. „Was tust du hier?“

„Ich bringe dich nach Hause, so wie es sich gehört.“ Noch nie hatte eine Frau den Mut gehabt, ihn mit zu sich nach Hause zu nehmen.

„Woher weißt du, dass ich hier wohne?“

„Ich habe gesehen, wie du deinen Kofferraum ausgeladen hast. Ein Auto in dieser Einsamkeit fällt auf.“

„Du hast mich beobachtet?“

„Ich hatte Langeweile.“

„Das erklärt alles.“

„Geh rein.“

Achselzuckend hob sie den Blumenkübel an, griff nach dem Schlüssel und ging mit dem Reserveschlüssel in der Hand zur Haustür.

„Ein wirklich einfallsreiches Versteck“, stellte er fest.

Mit zitternder Hand versuchte sie den Schlüssel ins Schloss zu stecken. „Bisher hat es noch keiner entdeckt.“

Er stand so dicht hinter ihr, dass sie seinen Atem in ihrem Nacken spürte. „Wahrscheinlich, weil bisher keiner danach gesucht hat. Du bist viel zu leichtsinnig.“

„Ein besseres Versteck hätte mir heute auch nicht geholfen.“

Er sah, wie sich ihre zitternde Hand mit dem Schlüssel abmühte. „Brauchst du Hilfe?“

Sie hob den Kopf und drehte sich ärgerlich zu ihm um. „Allerdings! Aber nicht beim Aufschließen der Tür.“

Beim nächsten Versuch glitt der Schlüssel ins Schloss. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren. Nora wollte sich durch den sich öffnenden Spalt drücken. Seine Hand schoss vor und drückte die Tür so heftig auf, dass sie gegen die Wand knallte und zurückprallte.

 

5. Fieber

Nora betrat die Hütte und stand gleich im Wohnraum. Ihre fahrige Hand fand den Schalter. Mit dem Licht flammte auch ihre Angst wieder auf. Sie blieb mit weichen Knien stehen und wagte es nicht, sich umzudrehen.

Er sah sich unverhohlen über ihre Schulter um. „Nett hier.“ Die Ironie seiner Worte war unverkennbar, er hatte meist in weit weniger komfortablen Unterschlüpfen hausen müssen.

„Du kannst jederzeit von hier verschwinden,“ bot sie ihm an.

Er schob sie nur weiter in den Raum. Sein Fuß trat nach hinten gegen die Tür. Sie fiel krachend ins Schloss.

Nora drehte sie sich um und sah ihn zum ersten Mal im Hellen. Er war wirklich so groß, dass er sie um weit mehr als einen Kopf überragte. Schwarze, struppige Haare standen von seinem Kopf ab, als hätte er sie seit Tagen nicht mehr gekämmt. Sein Dreitagebart wurde auf der linken Wange von einer Narbe durchpflügt. Braune Augen antworteten ihrer Musterung ohne Anzeichen irgendeines Gefühls. Unter seinem schwarzen T-Shirt und seinen eng anliegenden verwaschenen Jeans konnte sie seine ausgeprägte Muskulatur erkennen und an seinen nackten Armen weitere Narben.

„Und? Bist du zufrieden mit dem, was du siehst?“

Oh, ja. Aber das würde sie ihm nie verraten. „Du siehst aus wie Räuber Hotzenplotz.“

„Verzeih, aber ich war heute Abend nicht auf ein Rendezvous mit einer liebreizenden und eleganten Dame eingestellt.“ Er ließ seinen Blick demonstrativ an ihr herabgleiten. In ihren Haaren hatten sich Äste und Laub verfangen. Von ihren Sandalen war kaum noch die Farbe zu erkennen. Ihre Haut war mit Kratzern, Blutergüssen und Abschürfungen überzogen und strotzte ebenso wie ihre Kleidung vor Dreck. Sie hatte keine Ahnung, wie sehr ihr Anblick ihn reizte.

Nora hob arrogant ihre Nase. „Natürliche Eleganz vergeht nicht, egal was man trägt, und bei einem Ekelpaket ist es nicht anders.“

„Du kannst allerdings ganz schön ekelig sein.“

Seine Antwort und ein trotz seiner Worte weicher Klang darin brachten sie aus der Fassung. „So hatte ich das nicht gemeint.“

„Wie dann?“

Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht zu ihren Haaren, glitt über die verschwitze Haut ihres Halses nach unten zu ihrem Ausschnitt. Dann musterte er ihre Taille und ihren Rock. Für einen Moment verharrten seine Augen auf der nackten Haut ihrer Oberschenkel. Es war wie eine Inbesitznahme. Die Haut in ihrem Gesicht lief heiß an. Aber es war keine Scham. Es war Wut, die ihr das Blut ins Gesicht trieb.

Er hob den Blick, bis er ihren traf. Mit langsamen Schritten trat er auf sie zu. Sie wich zurück, bis die Wand in ihrem Rücken sie stoppte. Keine Handbreit Luft war mehr zwischen ihnen. Sie drückte sich gegen die Mauer, als wolle sie sie durchbrechen. Ihre eben noch vorhandene wütende Röte war einer angstvollen Blässe gewichen.

Er sah die Furcht ihrem Gesicht und die Verletzungen auf ihrer zarten Haut. Als er die Hand hob, schreckte sie zusammen und drehte ihr Gesicht weg, doch er zog nur ein Blatt aus ihren Haaren. Sie ahnte nicht, welches Gewitter seine Berührung in seinen eigenen Neuronen auslöste.

Sein Verhalten verwirrte sie. Er sah aus wie ein Krieger aus einem Computerspiel, und er benahm sich auch so, hart, roh und rücksichtslos. Gefühle waren nicht sein Ding; wenn er welche hatte, verbarg er sie gut. Aber er schien ihr nicht wirklich etwas anhaben zu wollen. „Ich muss mal“, sagte sie, um irgendetwas zu tun, das ihre Verwirrung durchbrach.

„Schon wieder? Du hast doch eben erst.“

„Woher weißt du das?“

„Du hattest dich dabei nicht sehr gut versteckt.“

„Du hast mich auch dabei beobachtet?“

„Ich war zufälligerweise in der Gegend.“

„Es war dunkel.“

„Es war ausreichend hell.“

Er trat einen Schritt zurück und griff in seine Hosentasche. Als er die Hand wieder hervorzog, war dort ein Schlüsselbund. Es war ihrer.

„Perversling!“, empörte sie sich.

„Ganz wie du meinst.“

„Du bist unausstehlich!“

„Ganz wie du meinst.“

Seine Gelassenheit heizte ihre Empörung nur noch mehr an. „Ich geh jetzt ins Bad, ob du willst oder nicht, Scheißkerl.“

„Ok. Aber die Tür bleibt offen.“

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Doch. Das ist mein voller Ernst. Ich habe dich dabei schon gesehen. Für deine kleinmädchenhafte Scham ist es zu spät. Außerdem hast du mir oft genug gezeigt, dass du jede Gelegenheit nutzt, abzuhauen oder um irgendetwas anzustellen. “

„Wundert dich das?“

Er dachte kurz nach. „Eigentlich nicht. Ich würde das Gleiche tun. Ganz besonders wenn ich eine Frau wäre. Viele Männer dagegen würden gerne von einer Frau wie dir entführt werden.“

„Was meinst du mit 'einer Frau wie mir'?“

„Du hast das Aussehen eines Engels und das Temperament eines Teufels.“

„Engel sind blond“, entgegnete sie spitz. „Ich hab braune Haare.“

„Es gibt blonde Frauen, die sind alles andere als Engel.“

„Da spricht ein wahrer Frauenversteher“.

„Kein Mann kann euch Frauen verstehen und ich noch viel weniger.“

„Bist du etwa kein Mann?“

Er sah sie ernst an. „Sei froh, dass du nicht weißt, was ich bin. Reiz mich nicht, es dir zu zeigen.“

Was für einen Blödsinn faselte er da! Er musste komplett neben der Spur sein. „Ich müsste jetzt mal für kleine Teufel“, erinnerte sie ihn trotzdem. „Alleine!“

Er wandte den Kopf zur Seite. Sie sah sein hartes und markantes Profil, während er mit ins Nichts gerichteten Augen nachdachte. Ihr Blick fiel auf seinen Schritt und blieb dort haften. Unter seiner Jeans wölbte sich eine Beule vor, deren Größe sie erstaunte. War sie immer schon da gewesen oder regte diesen Irren das Wortgefecht mit ihr auf irgendeine perverse Weise an? Das Bild, wie er wohl nackt und erregt aussehen würde, blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Sie drängte es sofort wieder zurück.

Er blickte auf. Ihre Augen zuckten von seinem Schritt herauf zu seinem Gesicht. Hoffentlich hatte er sie nicht ertappt.

Sie musterte seine Miene. Wenn er ihren Blick bemerkt hätte, wäre das sicher ein willkommener Anlass für ihn gewesen, sie mit seinem Spott zu überziehen. „Lass die Tür auf und mach keine Mätzchen“, sagte er aber nur mit stoischen Gesicht. „Falls du daran denkst abzuhauen, vergiss es. Ich erwische dich.“

Ohne zu antworten und erleichtert, dass ihm ihr intensiver Blick in seine Körpermitte anscheinend entgangen war, ging sie ins Bad. Sie ließ die Tür tatsächlich einen Spaltbreit offen, aber nur so, dass er nichts erkennen konnte.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er ihren auf seine Körpermitte gerichteten Blick gesehen. Als sie ihre Augen zu ihm gehoben hatte, war der Anflug einer Röte in ihrem Gesicht aufstiegen. Er hatte eine spöttische Bemerkung kaum zurückhalten können. Sicher wäre ihre dezente Röte sonst zu einem leuchtenden Rot aufgeflammt. Ihre Scham hätte ihren aufmüpfigen Starrsinn gebremst. Er fragte ich, warum er darauf verzichtet hatte. Eine Antwort fand er nicht.

Aber eine neue Frage. Er war unfähig, mehr zu fühlen als basale Trieb. Und dennoch war es gut gewesen, sie zu jagen, ihre Angst zu riechen, sie zu berühren und jetzt auch die Röte in ihrem Gesicht zu sehen, obwohl sowohl sein Verstand als auch sein Instinkt ihm sagten, wie unsinnig das war. Was stimmte nicht mit ihm? Er schüttelte den Kopf, als wolle er eine Fliege verjagen.

Zwar konnte er nicht sehen, was sie im Bad tat, aber seine Ohren registrierten jede ihrer Bewegungen, und auch ihren leisen Fluch, mit dem sie ihn bedachte, und der für jeden anderen unhörbar gewesen wäre. Sein Mund verzog sich. Er registrierte es und wieder war da diese Frage. Zu lächeln, ohne eine Reaktion in einem Menschen hervorrufen zu wollen, war Verschwendung und entsprach nicht seinem Wesen.

Nachdem sie fertig war, stellte Nora das Wasser an und wusch sich die Hände. Neben den Waschbecken befand sich ein Fenster. Es war nicht besonders groß, aber unvergittert. Sie biss sich nervös auf die Unterlippe, während sie sich die Hände abtrocknete. Dann traf sie eine Entscheidung. Sie musst weg von hier, so schnell wie möglich. Bisher hatte dieser Irre ihr noch nichts wirklich Schlimmes angetan. Aber jetzt hatte sie vielleicht ihre letzte Chance zu fliehen, bevor er durchdrehte und weiß Gott was mit ihr machte. Sie ließ erneut das Wasser laufen. Das Plätschern übertönte das Geräusch, als sie mit zitternden Händen das Fenster öffnete. Glaubte sie. Doch er hörte es.

Er hatte gewusst, dass es dort ein Fenster gab und wie renitent sie war. Trotzdem hatte er damit gerechnet, dass seine Warnung sie davon abhielt, sich davonzumachen. Mit einem Fluch rannte er nach draußen und um das Haus herum.

Sie ließ sich gerade bäuchlings am Fenster herabgleiten. Noch bevor ihre Füße den Boden berührten, stand er hinter ihr, ohne dass sie ihn bemerkte. Ihr Po reckte sich ihm entgegen. Der Rock war hochgerutscht. Er konnte ihre Unterhose sehen. Sie enthüllte mehr, als sie verbarg. Wie ein Seil spannte sie sich durch die Rinne zwischen ihren Pobacken. Wieder erfüllte ihr intimer Duft seine Nase. In seiner Körpermitte pulsierte heißes Blut. Seine Hand hob sich, um über die entblößten Rundungen zu streichen. Er musste seinen ganzen Willen aufbringen, um sich davon abzuhalten, sie so zu berühren. Sie hätte es nicht geduldet und auch nicht alles andere, das ihm durch den Kopf blitzte. Er war kurz davor, sich zu nehmen, wonach sein Instinkt verlangte. Aber er war nicht in diese Welt gekommen, um einer Frau Gewalt anzutun, sondern um ein ungeborenes Kind, den Günstling auch seines Schöpfers, und dessen Mutter zu beschützen.

„Du bist echt lästig, Wildfang“, stellte er fest, als ihre Füße festen Grund fanden. „Was soll ich nur mit dir machen?“

Erschreckt drehte sie sich um. Sie hätte wissen müssen, dass er ihr nicht so einfach die Gelegenheit zur Flucht geben würde. „Lass mich gehen, und du bist mich los“, schlug sie vor.

„Du hast es immer noch nicht verstanden: Das kann ich nicht.“

„Wenn du wolltest ganz bestimmt.“

Nein, er konnte es nicht nur nicht, er wollte es auch nicht. „Geh ins Haus.“

Er stand zwischen ihr und dem von der Außenlampe matt erleuchteten Weg. Weglaufen war unmöglich. „Scheißkerl!“

„Aus deinem Mund klingt das wie ein Kompliment.“

Sie zeigte ihm den Stinkefinger und ging zurück ins Haus.

„Du hast eine Gänsehaut“, stellte er fest.

„Mir ist kalt.“ Ihr Blick fiel auf den Herd. „Ich brauche jetzt was Heißes.“ Sofort fiel ihr die Doppeldeutigkeit ihrer Worte auf. Es war zu spät, sie zurückzunehmen.

„Das kann ich dir bieten“, antwortete er auch gleich.

Sie brachte sich mit angezogenen Beinen auf einem alten und durchgesessenen Sessel mit zerkratzen Holzlehnen in Sicherheit. Wobei auch der Begriff Sicherheit relativ war. „Untersteh dich!“, warnte sie ihn.

Er folgte ihr und blieb vor dem Sessel stehen. Das gab ihr erneut die Gelegenheit, ihn von oben bis unten zu betrachten. Was sie sah, hätte ihren Augen unter anderen Bedingungen ausnehmend gut gefallen. Eigentlich tat es das jetzt auch, trotz seiner struppigen Haare und dem Wildwuchs in seinem Gesicht.

Als sein Handy klingelte und er in seiner Hosentasche danach angelte, nutzte sie den kurzen Moment seiner Unachtsamkeit und sprang auf. Mit einer schnellen Bewegung drückte sie sich an ihm vorbei, doch bevor sie die noch offen stehende Tür erreicht hatte, packte er ihren Arm und riss sie brutal zurück. Sie versuchte seine Hand wegzureißen. Ihre Fingernägel kratzten über seine Haut.

„Verdammt“, herrschte er sie an, als er das Blut auf seinem Handrücken sah. Er schleuderte sie in Richtung Sessel. „Setz dich sofort hin!“ Sie hatte keine Ahnung, in welche Gefahr sie sich brachte, indem sie ihn verletzte. Keiner, der das bisher auch nur versucht hatte, und erst recht keiner, dem es gelungen war, hatte das überlebt. Der Anblick und der Geruch von menschlichem Blut ließen ihn nach mehr verlangen. Der seines eigenen versetzte ihn in Raserei.

Auch sie hatte das Blut gesehen und den Ausdruck in seinen Augen. Sein Blick und seine Haltung waren die eines wilden Tieres kurz vor dem Angriff. Mit zitternden Knien ließ sie sich in den Sessel fallen. Ihre Hände krallten sich in das Holz der Armlehnen. Er kam ihr mit raubtierhaften Bewegungen nach. Sie war wie versteinert.

Er sah die Angst in ihrem Gesicht und wusste, dass sie ihn nicht mit Absicht verletzt hatte. Trotzdem gierte er nach ihrem Blut wie ein Junkie nach der Nadel. Die Muskeln an seinem Kiefer traten hervor. Seine Finger krümmten sich wie Krallen um das Handy, bis es fast barst. Ein gelbes Glühen war in seinen Augen. Nur mit äußerster Mühe gelang es ihm, sich zu beherrschen, und nicht im Blutrausch über sie herzufallen. Er warf den Kopf in den Nacken und stieß einen Schrei aus, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dann drehte er sich von ihr weg. Er fiel auf die Knie und stöhnte laut. Das Handy glitt zu Boden.

Nora beobachtete ihn fassungslos. Seine Stirn schlug gegen den Boden, dann kratzten seine zu Krallen geformten Hände tiefe Scharten im Holz. Er kauerte sich wie von einem unerträglichen Schmerz gequält zusammen. Die Laute, die er von sich gab, waren nicht die eines Menschen, nicht einmal die eines Tieres. Es war ein Grollen, das aus dem Grund der Erde zu kommen schien. Tief und vibrierend durchdrang es jede Muskelfaser in ihrem Körper und ließ sie erschlaffen. Dann erlosch es. Zurück blieb eine bedrohliche Stille, die nur von ihrer beidem abgehackten Atem durchbrochen wurde.

Als er den Kopf hob und sie ansah, war da noch der Wahnsinn in seinem Gesicht. Er sprang auf starrte einen langen Moment an ihr vorbei ins Nichts, nur sein Brustkorb hob und senkte sich. Nora verharrte ebenso bewegungslos.

Mit einem wütenden Schrei kam das Leben in ihn zurück. Seine Faust knallte auf die Tischplatte. Nora hörte das massive Holz knacken. Nach einem langen Moment wandte er sich ihr zu. Sein Gesicht war wieder das eines Menschen, genau wie seine Augen, auch wenn sie immer noch eine kaum beherrschte Wut darin erkannte.

Was gerade geschehen war, hatte ihn in zwei gegensätzliche Richtungen gezerrt und fast zerrissen: das Verlangen nach ihrem Blut und Schmerz einerseits und andererseits das Wissen, dass es falsch war, ihr etwas anzuhaben. 

Er schob eine Hand in die Tasche seiner Jeans. Als er sie wieder hervorholte, baumelten Handschellen an seinem Zeigefinger.

„Was hast du vor?“, fragte sie ängstlich.

Ihre Angst beschwichtigte ihn. „Du brauchst Nachhilfe in gutem Benehmen.“

Seine emotionslose Stimme beruhigte und beunruhigte sie gleichzeitig, aber seine Worte brachten ihr auch ihre Bewegungsfähigkeit zurück. Sie verbarg ihre Hände hinter dem Rücken und drückte sich tief in die Polster.

Mit einer fließenden Bewegung hob er das Handy vom Boden auf und steckte es in seine Hosentasche. Er wusste, dass ihm seine Beute nicht entkommen konnte.

Seine zerstörerische Energie war verraucht. Dafür war da jetzt etwas anderes. Und das konnte viel gefährlicher für sie werden. Seinen Drang zu vernichten, was sein Blut hatte fließen lassen, hatte er bändigen können. Ob ihm das Gleiche mit seinem Verlangen nach ihrem Körper gelingen würde, war ungewiss.

Sein Schöpfer hatte sich schon immer mit Frauen verbunden, in denen sein Same auf fruchtbaren Boden gefallen war, um seine Abkömmlinge in diese Welt zu bringen. Nur seine Tochter Belde hatte lange genug dem Wahnsinn, der sonst alle ins Verderben gerissen hatte, widerstanden und selbst ein Kind geboren, aus dem das Geschlecht der Belden, der Wölfe, hervorgegangen war. Auch er selbst war ein Teil dieser ursprünglichen Kraft und er wusste, dass der Körper der Frau vor ihm fast bereit war, sein Erbe in sich aufzunehmen. Ihre Haut schimmerte, ihre Lippen waren einladend geöffnet. Ihr heftiger Atem zeigte ihm ihre Erregung. Unter ihrem T-Shirt wölbten sich ihre Brüste, als wollten sie von seinen Händen berührt werden. Ein betörender Duft stieg zwischen ihren Beinen auf. Selbst all der Waldboden, der noch an ihr haftete, machte sie verlockender als jede andere Frau. Sein Instinkt drängte ihn, sich mit ihr zu vereinen, wenn nötig auch gegen ihren Willen. Aber das durfte nicht geschehen, es hätte zu viel von seiner Energie abgelenkt. Seine Aufgabe war eine andere und die musste er erfüllen. Danach würde er nicht mehr existieren.

Sein Blick verriet ihr seine Begierde. Als er vor ihr aufragte, trat sie nach ihm. Er ignorierte ihre Tritte wie die einer Maus. Sie stöhnte vor Schmerz auf, als er ihren Arm packte und ihn nach vorne zwang. Obwohl die Angst ihre Kräfte verzehnfachte, dauerte es kaum mehr als eine Sekunde, bis eine Schelle ihr Handgelenk umspannte und die Zähne einrasteten. Die zweite Schelle befestigte er an der hölzernen Armlehne des Sessels.

Wütend riss sie an dem Ding, das ihr Handgelenk umschlang, und sie an dieses gottverdammte Teil unter ihr fesselte. Es tat bloß weh. Ansonsten erreichte sie nichts. „Du miese Ratte, kriech doch zurück in das Loch, aus dem du gekrochen bist.“

„Wenn du mich schon mit einem Tier vergleichst, würde ich einen Wolf bevorzugen.“

„Wenn du glaubst, dass ich mich so einfach von dir fressen lasse wie Rotkäppchen, dann irrst du dich ganz gewaltig.“

„Kämpfe ruhig gegen mich, Wildfang. Das macht es nur noch spannender.“

Er beugte sich den Bruchteil eines Zentimeters zu ihr herunter. Sie drückte sich von ihm weg in den Sessel. Jetzt hatte er sie nahezu wehrlos in der Hand. Ihr Verstand raste, ohne dass sie einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie sah sich verzweifelt nach irgendetwas um, mit dem sie ihn abwehren konnte, aber in ihrer Reichweite war nichts Geeignetes.

Er beobachtete sie, bis sie sich beruhigte – und er sich auch.

„Wo hast du die Handschellen her?“, fragte sie mit dünner Stimme, ohne ihn anzusehen.

„Die gehören zu meiner Standardausstattung.“

„Du hattest sie schon dabei, als du mich gefangen hast?“

„Ja.“

„Warum hast du sie nicht benutzt, als du mich hierher gebracht hast?“

„Es ging auch ohne.“

Sie starrte ihn zornentbrannt an. „Du bist das arroganteste Arschloch, das mir jemals begegnet ist.“

„Deine Wortwahl ist ausgesprochen verführerisch. Die Handschellen stehen dir übrigens auch ausnehmend gut. Sie passen besser zu dir als jeder Diamant.“

„Verdammter Scheißkerl.“

„Warum so wütend?“

Wieder zerrte sie an den Handschellen. „Normalerweise, wenn ein Mann einer Frau ein Armband anlegt, egal ob mit oder ohne Diamanten, küssen sie sich. Blaue Flecken als Dreingabe sind mir neu.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass es dich nach einem Kuss von mir verlangt. Verzeih mir bitte mein schlechtes Benehmen. Ich kann es nachholen, wenn du es wünschst.“

„Vergiss es! Dir sind wohl alle Glühbirnen durchgebrannt.“

Sie wusste nicht, wie sehr sie Recht hatte. Ihr Auftauchen hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Kein anderer, der so waghalsig gewesen war, sich ihm in den Weg zu stellen, hatte das überlebt. Sie aber gab ihm alleine durch ihren Anblick, ihren Duft und sogar durch ihre Widerspenstigkeit zum ersten Mal, seit er existierte, so etwas wie Leben.

Und dann war da noch das Muttermal auf ihrer Kehrseite. Es verriet ihm, was unmöglich war. All das verwirrte ihn bis auf den Grund seines seelenlosen Wesens. „Du bist ganz schön frech, Wildfang. Aber keine Angst, ich werde dir anständiges Benehmen beibringen. Ob auf die harte Tour oder nicht liegt ganz bei dir.“

Sie sah ihn entsetzt an. Er hatte versprochen, ihr nichts zu tun, und sie hatte ihm das sogar abgenommen. Wie hatte sie nur so naiv sein können! Jetzt kam seine wahre Seite zu Vorschein. „Das kannst du vergessen.“ Sie wunderte sich über ihren eigenen Mut – oder war es Wahnwitz?

Ohne dass seine Miene irgendetwas verriet, sah er auf sie herab. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, dem zu entgehen, was er vorhatte, wenn er es wirklich durchziehen wollte.

Obwohl sie ihre Beine mit aller Kraft zusammenpresste, bohrte sich sein Knie zwischen ihre. Er beugte sich vor und stemmte seine Hände in die Rücklehne rechts und links von ihrem Hals. „Wie werden sehen, Wildfang.“

Verdammt, dachte er, hör und sieh dir selber zu. Er wusste, dass er im Bergriff war, einen unverzeihlichen Fehler zu begehen. Aber er konnte das, was in Gang gesetzt worden war, nicht mehr aufhalten.

Diese Frau war begehrenswerter als jede andere, die seinen Weg gekreuzt hatte, und er war dabei, sich in ihren Fallstricken zu verlieren. Vielleicht war sie eingeweiht, vielleicht missbrauchten seine Feinde die Frau vor ihm ohne deren Wissen, um ihn so zu Fall zu bringen. Warum sonst war er hierher in den Wald gelockt worden und warum sonst war sie genau zu diesem Zeitpunkt an der gleichen Stelle erschienen, hilflos, widerspenstig und voll pulsierendem, warmem Blut. Sie war der erste Mensch, der in ihm nicht nur die widernatürliche Kreatur, die er war, sah oder einen aus der Gesellschaft ausgestoßenen Herumtreiber, sondern eine Person. Seine Feinde kannten seine Schwachstellen.

Er hatte in dieser Welt schon einige Frauen gehabt. Sie waren nur auf sich selbst bedacht gewesen und hatten sich genommen, was sie wollten, genau wie er. Jetzt aber wollte er nicht nur in den Körper der Frau vor ihm eindringen, um seinen Trieb zu stillen, sondern auch eine bleibende Spur in ihrer Seele hinterlassen. Er wollte, dass sie sich ohne Schmerz, Wut oder Scham an ihn erinnerte, wenn er aufgehört hatte zu existieren.

Nora sah mit weiten Augen zu ihm auf. So eingeklemmt zwischen seinen Knien und seinen Armen, den Kopf in den Nacken gelehnt, wagte sie es kaum zu atmen. Sein Gesicht war direkt über ihrem, sein Atem strich heiß über ihre Haut. Sie sah, dass eine Leidenschaft in ihm war, die sie mitreißen würde. Wohin, das wusste sie nicht. An ehesten in den Abgrund.

Er schwieg. Sekunden verrannen. Minuten. Unter seinem eindringlichen Blick beruhigte sie sich. Jedenfalls ihr Kopf. In ihrem Unterleib dagegen spürte sie eine zunehmende Unruhe. Es war unfassbar, welche Hitze auf einmal tief in ihr drin loderte. Sie fegte alles andere hinweg. Ihre Augen tauchten in seine. Die Hitze wurde zu einem Lavastrom, der sie mit sich riss und ihr Inneres versengte. Es gab nur eine Möglichkeit, sie zu kühlen, aber noch wehrte sich ein Rest ihres Verstandes dagegen.

Seine rechte Hand löste sich von der Rücklehne. Als seine Fingerspitzen die Haut ihres Halses berührten, zuckte sie zusammen. Seine unerwartet sanfte Berührung elektrisierte ihren Körper. Ihre Hände drückten instinktiv gegen seinen Bauch, um ihn abzuwehren und gleichzeitig an sich zu ziehen. Sie konnte seine harte Muskulatur durch das T-Shirt fühlen. „Bitte nicht“, wimmerte sie.

„Nicht?“, fragte er mit dunkler Stimme, die ihren Unterleib vibrieren ließ. „Was nicht?“

Sie wusste es nicht. Was wäre schlimmer? Wenn er sich brutal nähme, was er wollte, oder wenn er ihr gäbe, wonach ihr verräterischer Körper verlangte?

„Nun, Wildfang? Bekomme ich eine Antwort?“ Wieder setzten seine Worte ihren Unterleib in Schwingung. Sie schüttelte stumm den Kopf. Instinktiv senkte sie den Blick, um ihn nicht weiter zu reizen. Aber das hatte sie schon mehr getan, als sie wollte, hatte ihn bis an die Grenze seiner Selbstbeherrschung und fast zur Raserei gebracht. Immer noch schoss sein Blut wirbelnd durch seine Adern. Seine Augen und seine Haut glühten, der Duft seines erregten Körpers betäubte sie und reizte gleichzeitig alle ihre Sinne. Ihm Schritt seiner Hose sah sie eine Beule, die ihr zeigte, wie sehr ihm das Spiel mit ihr zusagte.

Wieder beugte er sich vor. Sie schloss die Augen. Als seine Lippen ihren Hals dort berührten, wo gerade noch seine Fingerspitzen gewesen waren, riss sie sie wieder auf. Ein Schauder lief über ihre Haut.

Sie wusste, dass ihr Körper ihm verriet, wie sehr auch sie ihn begehrte, obwohl sie sich dagegen wehrte, und wie sehr ihn ihr Kampf gegen sich selbst erregte. Die Hände an seinem Bauch verkrampften sich in seinem T-Shirt.

Er hob die Lippen einen Zentimeter von ihrem Hals. „Du kannst es mir gerne vom Leib reißen“, flüsterte er. Sofort ließ sie es los.

„Schade.“ Seine Lippen legten sich wieder auf ihren Hals und zogen eine sengende Spur bis hinauf zu ihrem Mund. Sie drehte ihren Kopf abrupt zur Seite. Seine Hand fasste ihr Kinn und drehte ihr Gesicht wieder zu ihm hin. Er atmete mit halb geschlossenen Augen langsam ein und nahm ihren Duft tief in sich auf. Ihr Körper war fast bereit, aber noch nicht ganz. Doch er konnte nicht mehr zurück. „Keine Angst, Wildfang. Ich beiße nicht und ich tue nichts, was du nicht auch willst.“

„Ich will das nicht.“

„Was nicht?“

„Na das.“

„Sag es!“

Sie zögerte einen Moment. „Ich will keinen Sex mit dir.“

„Doch du willst.“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich kann es sehen, fühlen und riechen. Auch wenn dein Verstand sich noch dagegen wehrt, dein Körper will es.“

Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, aber er hielt ihr Kinn mit eiserner Hand. Als er seine Lippen auf ihre drückte, schien ihr ganzer Körper zu explodieren, und das Zentrum der Explosion lag in ihrem Unterleib. Wieder verkrampften sich ihre Hände in seinem T-Shirt, diesmal aber, um ihn bei sich zu halten.

Dann meldete sich ihr Verstand zurück. Sie öffnete ihren Mund, um zu protestieren. Ihr Verstand verlor, als er die Situation ausnutzte und seine Zunge in ihren Mund schob. Die Hand, die gerade noch ihr Kinn gehalten hatte, packte in ihre Haare.

Sie wollte ihn umarmen, aber die Kette an ihrem Handgelenk ließ das nicht zu. Frustriert stöhnte sie auf. Das Geräusch brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie drehte ihren Kopf ruckartig zur Seite und versuchte, ihn von sich wegzustoßen. „Hör auf, geh weg!“

„Warum sollte ich das?“

„Ich will das nicht.“

„Doch, du willst es.“

„Natürlich nicht“, begehrte sie auf. „Welche Frau sollte so etwas von dir wollen?“

„Mehr als du denkst.“

„Und wie viele haben es hinterher bereut, alle?“

„Bisher hat sich noch keine beschwert. Probier es aus.“

„Ich würde dir liebend gern eine knallen.“

Er richtete sich auf und hielt ihr seine Wange hin. „Bitte. Tu dir keinen Zwang an.“

Er hatte nicht erwartet, dass sie sein Angebot annahm. Sie auch nicht. Ihr ungebundener Arm hob sich wie von selbst. Ihre ganze Wut konzentrierte sich in ihre Hand. Der Schlag, als sie ihn traf, war überraschend hart. Haut klatschte laut auf Haut. Sein Kopf flog zur Seite. Erstaunt drehte er ihn ihr wieder zu. Sie sah die Abdrücke ihrer Finger in seinem Gesicht und eine gelbe Glut in seinen Augen.

Ihn zu schlagen hatte noch keine Frau gewagt, und erst recht keine, die kaum mehr als halb so viel wiegen konnte wie er. Immerhin hatte er selbst sie schon einmal geschlagen, als sie um Hilfe gerufen hatte, und sie wusste inzwischen, dass er alles andere als zimperlich war. Sie hatte seinen Moment der Schwäche ausgenutzt und ihm Schmerz zugefügt. Jeden anderen Menschen hätte er dafür auf der Stelle vernichtet.

Als er die Hand hob, verbarg sie dann auch in der Erwartung, er werde sich brutal revanchieren, ihr Gesicht hinter ihren Armen. Doch er bewegte die Hand nur langsam auf sie zu. Seine Finger glitten durch ihre Haare. Das Glühen seiner Augen erlosch. Eine nie gekannte Hitze bahnte sich ihren Weg durch alle seine Nervenzellen. Er wusste, dass er süchtig danach war, sie wieder zu spüren.

Doch er hatte ein Aufgabe, der er sich nicht entziehen durfte. Er war gekommen, ein ungeborenes Kind und dessen Mutter gegen ihre mächtigen Feinde zu verteidigen, und diese Frau war nicht jene hier. Dennoch wollte er sie beschützen, statt ihr zu schaden. Er legte seine Hand auf ihren Scheitel. Ihr Haar war schmutzig und roch nach Wald. Heimat. Für einen Moment schloss er die Augen und vergrub seine Finger in ihren Strähnen. Sie fesselten ihn mehr, als es jede Kette gekonnt hätte.

Sein Griff in ihrem Haar war hart und fordernd. Er würde sich nehmen, was er wollte. Trotz ihrer erneut aufkommenden Panik floss ein elektrischer Strom, gemixt aus Angst und Leidenschaft, von seiner Hand in ihre Körpermitte. Ihr Körper schrie danach, ihn an sich und in sich zu fühlen. Sie war verwirrt von ihrem vollkommen unpassenden und doch übermächtigen Verlangen.

Als kein Schlag sie traf, schaute sie vorsichtig auf, ohne dass ihre Arme mehr als ihre Augen freigaben. Tief in ihr drin flackerte Enttäuschung auf, als er seine Hand zurückzog. Er stand vor ihr und lächelte, als würde er um Nachsicht bitten. „Ich werde dich nicht für etwas bestrafen, an dem ich selbst schuld bin“, beruhigte er sie.

„Wofür dann?“

Er hörte ihre Angst und auch einen Missklang in ihrer Stimme und runzelte die Stirn. „Ich werde dir nichts tun.“

„Du bist doch gerade dabei, und ich kann es nicht verhindern“, hielt sie ihm entgegen.

Sie hatte ihn begehrt, gerade eben noch. Und plötzlich lehnte sie ihn ab. Er verstand nicht, was hier ablief. Vielleicht glaubte sie tatsächlich, er würde sie, wenn nötig, mit Gewalt nehmen. Doch so etwas war noch nie nötig gewesen. Noch keine Frau hatte ihn zurückgewiesen, wenn sie erst an diesem Punkt angelangt waren. Jetzt war es, als leerte jemand einen Eimer mit Eiswasser über ihm aus.

Doch dann fühlte er wieder die Hitze ihres Körpers vor sich aufsteigen. Ihr Duft verriet ihm ihr trotz ihrer Furcht immer noch heftiges Verlangen.

„Wovor hast du Angst?“, fragte er sanft.

Sie hob ihren Kopf ein wenig und verdrehte die Augen. „Das ist die blödeste Frage, die mir bisher irgendjemand gestellt hat. Ich bin hier in der Mitte vom Nichts an dieses Ding“, sie riss an den Handschellen und verzog schmerzvoll das Gesicht, „gefesselt. Du bist geil bis unter die Haarspitzen und wahrscheinlich eine Millionen mal stärker als ich.“

„Ich werde dich nicht gegen deinen Willen nehmen“, versprach er mit heiserer Stimme. „Aber du wirst mir geben, was ich will, denn du willst es auch.“

Wieder fand seine Hand ihre Haare. Sie zuckte zusammen, aber seine Berührung war sanft. Ihre Kopfhaut prickelte.

Seine Finger glitten durch ihre Haare. Sie hatten die Farbe des Waldbodens, satt, braun und mit Reflexen darin wie das Gold des Herbstwaldes. Die Hand löste sich aus dem seidigen Geflecht und wanderte unter ihr Kinn. Sie leistete keinen Widerstand, als er ihr Gesicht anhob. Ihre Augen versanken ineinander. Ein bernsteinfarbenes Glühen war in seinen, doch es ängstigte sie nicht.

Er beugte sich zu ihr runter. Ihr ganzes Ich war auf seine Augen und seine Berührung konzentriert. Noch bevor seine Lippen ihre in Besitz nahmen, fühlte sie seine Hitze auf ihrer Haut und roch seinen Duft. Dann war da nichts mehr außer ihrem Verlangen. Ihr Mund antwortete seinem. Ihre Beine, die eben noch versucht hatten, ihn zurückzuhalten, öffneten sich.

Er hatte nicht genug Hände, um das Brennen ihrer Haut zu lindern. Die zwei, die er hatte, schoben den Ausschnitt ihres T-Shirts nach unten. Ihre Brüste drückten sich ihm entgegen. Er befreite sie aus dem BH. Nora keuchte, als seine Hände sie umfingen. Die harten Nippel lugten aus der Spalte zwischen seinen Zeige- und Ringfingern hervor. Der Schmerz, als er sie vorsichtig quetschte, steigerte ihre Erregung. Als seine Zunge erst über den einen und dann über den anderen glitt, glaubte sie, vor Lust zu vergehen. Bevor sie wusste, was sie tat, krallte sich ihre mit den Handschellen gefesselte Hand in seinen Hosenbund, als wolle sie ihn nie wieder gehen lassen. Die andere schob sich unter sein T-Shirt. Sie ertastete die Haut seiner Flanke und seines Bauches. Die Narben dort erschreckten sie nicht.

Seine Hand fand den Weg unter ihren Rock. Sie hob ihm ihr Becken entgegen, soweit es in dem Sessel ging und hörte das Krachen von Stoff, als er ihre Unterhose wegriss. Wieder zerrte sie an den Handschellen.

Er sah auf sie herab. Sie wollte ihn, hier, jetzt und sofort. Aber er erkannte auch ihr immer noch schwelendes Zögern. Er richtete sich auf und zog den Gürtel aus seiner Hose. Sie sah ihm überrascht zu. Dann packte er ihre freie Hand. Erschreckt wollte sie sie zurückreißen, aber er hielt sie fest. „Lass es zu,“ forderte er sanft.

Unter dem bestimmenden Blick seiner Augen erlosch ihr Widerstand. Er legte ihren Unterarm auf die Lehne des Sessels und wickelte den Gürtel straff darum. Im ersten Moment versuchte sie sich zu befreien.

„Lass es zu“, wiederholte er und sie war nicht in der Lage, sich ihm zu widersetzen.

Er kniete sich vor sie und legte seine Hände auf ihre Knie. Sie blieb regungslos sitzen und starrte auf ihn herab. Auch als seine Hände an ihren geöffneten Schenkeln nach oben glitten, tat sie nichts, um ihn abzuwehren. Er umfasste ihre Hüften und zog ihren Unterleib vor bis an die Vorderkante des Sessels. Ihre Beine waren vor seinem Gesicht gespreizt. Wie beim Gynäkologen, schoss es ihr durch den Kopf. Nur dass sie dort nie so etwas Überwältigendes und Mitreißendes empfunden hatte wie jetzt.

Seine Hände lagen auf ihren Leisten und seine Daumen drückten ihre Schamlippen auseinander. Ihr Duft ließ ihn alles andere vergessen. Fast ehrfürchtig strich er mit den Augen über die feuchte samtige Innenseite ihrer Schamlippen. Als seine Zunge seinem Blick folgte, stöhnte sie auf. Er schob einen Finger in sie hinein und sie drückte sich ihm entgegen. Sie wollte mehr, riss an an ihren Fesseln, ohne sie wirklich lösen zu wollen. Während seine Zunge sie reizte, stieß sein Finger rhythmisch in sie hinein. Ihr Stöhnen wurde lauter. Seine Zunge jagte Wellen der Lust durch ihren Körper. Dann drang er mit seinem zweiten, dem dritten und dann dem vierten Finger in sie ein. In dem Gefühl, ganz ausgefüllt zu sein, entlud sich ihre Lust. Sie zitterte am ganzen Körper. Schweiß überzog ihre gerötete Haut, während sie um Atem rang.

Ihr Verstand meldete sich zurück. Sie legte den Kopf in den Nacken und starrte die Decke über sich an. Was gerade geschehen war, hätte niemals geschehen dürfen und dennoch war es berauschender gewesen als alles, was sie bisher erlebt hatte.

Er stand auf und schaute zur Seite. Sein Verlangen war noch ungebrochen und doch ließ er von ihr ab. Ihre Befriedigung zu sehen, war anders als alles, was er bisher erlebt hatte. Es machte ihn stark, obwohl er sich noch nie schwach gefühlt hatte, nicht einmal, als er fast bis zu seinem Verlöschen verwundet gewesen war. Und es machte ihn schwach, lenkte ihn von seiner Aufgabe ab, denn er wollte sie wieder in ihrem Gesicht sehen.

 

6. Dämon

Er drehte sich zu ihr hin. Sie hatte inzwischen ihre Hand aus der Umschlingung des Gürtels befreit. Ihre Beine waren fest zusammengepresst. Mit weit geöffneten Augen starrte sie ihn an. Der Ausdruck der Überraschung war darin und auch der der Furcht. Noch wehrte sich ihr Verstand gegen die Erkenntnis seiner widernatürlichen Beschaffenheit. „Wer bist du?“

Er zog einen Stuhl heran und setzte sich mit vorgebeugtem Oberkörper und auf den Knien abgestützten Ellenbogen darauf. „Ich wurde hierher geschickt, weil jemand in großer Gefahr ist“, erklärte er ihr.

„Wer?“ Die Furcht verschwand aus ihrem Gesicht.

Frauen, dachte er, Neugier ist ihre größte Schwäche. Trotzdem versuchte er, auch nicht die kleinste bedrohliche Bewegung zu machen. „Du würdest es mir nicht glauben.“

„Vielleicht doch.“

Er überlegte einen Moment. „Sie ist von gleichem Wesen wie ich.“ Er stockte. Seine Miene verhärtete sich. „Und sie ist schwanger.“

„Was ist daran so schlimm?“

„Ihre Großmutter herrschte über einen ganzen Planeten. Sie wurde mit ihren Getreuen aus ihrer Heimat vertrieben und kam hierher in eure Welt. Das Kind, das ihre Enkelin erwartet, trägt das Erbe zweier mächtiger Blutlinien in sich, das des Drachen und das es Wolfes. Es wird stärker sein als jeder andere Mensch vor ihm. Ihr und diesem Kind gebührt die Herrschaft über ihre angestammte, ferne Heimat. Es gibt Personen, die wollen, dass es nie geboren wird. Ich werde dafür sorgen, dass dies dennoch geschieht.“

„Warum bist du dann hier und nicht bei ihnen.“

„Sie würde mich nie in ihre Nähe lassen.“

„Warum nicht?“

„Sie kennt mich nicht. Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, dass ich existiere.“ In seinem Inneren herrschte Verwirrung. Ihre Gegenwart durchbrach die Barrikade seines Schweigens. Das durfte nicht sein, und doch wollte er es. Die Worte flossen weiter aus seinem Mund. „Wir sind gleichen Blutes, wenigstens eine Hälfte von uns.“

„Ihr seid Geschwister?“

„Nein. Aber wir tragen das gleiche Erbe in uns.“

„So wie eine erbliche Krankheit?“

Er schüttelte den Kopf. „Es ist keine Krankheit. Es ist ein Geschenk.“

„Was bist du?“

Er hörte ein Zittern in ihrer Stimme, als ahne sie, dass die Antwort ihren Verstand überfordern würde. „Nimm mich so, wie du mich siehst.“

„Ich will die Wahrheit wissen.“

„Es es besser, wenn du sie nicht kennst.“ Sie sah ihn mit großen, ahnungsvollen Augen an. „Ich weiß, dass mit dir irgendetwas nicht stimmt. Sag es mir.“

Betäubt von ihrem ängstlichen und doch fordernden Blick schmolz sein Widerstand. Sanft legte er die flache Hand auf ihr Gesicht. Sie schloss wie hypnotisiert die Augen. Als sie sie wieder öffnete, stand ein Wolf vor ihr und starrte sie mit bernsteinfarbenen Augen an.

Ihr Herz raste und die Luft blieb ihr weg. Es gab hier schon lange keine frei lebenden Wölfe mehr und doch stand einer vor ihr und er war riesig. Das Licht spiegelte sich in seinem glänzenden schwarzen Fell.

Er hob seine Nase und nahm ihre Witterung auf. In ihrem Unterleib nahm sie ein Ziehen wahr, als zöge er die Luft direkt von dort ein. Angst und eine tiefe Ehrfurcht legten sich auf ihr Herz. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Oberlippe und Stirn. Hinter dem Wolf glaubte sie flüchtige Schatten zu sehen. Das Raunen gehässiger Stimmen lag in der Luft. In Panik wollte sie um Hilfe schreien, auch wenn kein menschliches Wesen sie hören würde. Doch kein Schrei drang aus ihrer Kehle. Sie konnte sich keine Handbreit bewegen, nicht einmal einen Finger rühren.

Der Wolf kam auf sie zu, lautlos und leicht wie eine Feder. Seine Füße schienen den Boden kaum zu berühren. Er roch nach Wald. Sein nachtschwarzer Körper warf keinen Schatten. Sie spürte seine Wildheit, seine Kraft, seinen Instinkt und sein uraltes Wesen. Seine Augen bannten die ihren. Ihre Angst verschwand so wie ihre Erstarrung. Sie streckte eine Hand aus und berührte sein Fell. Es fühlte sich an wie Seide.

Sie lächelte. Er gehörte ihr.

Als sie den Kopf hob, stand vor ihr nicht mehr der Wolf, sondern wieder ein Mensch Er sah sie schweigend an und doch hörte sie ihn ihren Namen rufen. In seinen Augen brannte ein bernsteinfarbenes Licht, das sie weich wie Samt umhüllte. Sein Haar war so schwarz wie das Fell des Wolfes. Er trug keine Kleidung, sie konnte seinen vollkommenen Körper sehen. Verlangend streckte sie ihre Arme nach ihm aus, so weit es die Handschellen zuließen. „Komm!“, flüsterte sie. Er hockte sich vor sie und ihre Arme umschlangen ihn. Sie presste ihn fest an sich. Ihr Atem ging schnell. Ihre Haut prickelte. Ihre Brüste wollten berührt werden. Ihr Unterleib war leer, ein wildes Begehren verbrannte schon wieder ihr Inneres. Es gab nur ein Mittel, das das Feuer löschen konnte. Sie rutsche nach vorne, ihre Schenkel öffneten sich. Seine Arme hielten sie fest. Ihre Brust lag an seiner. Der Duft seiner Haut berauschte sie. Außer ihm war da nichts mehr. Als er geschmeidig und doch fest in sie eindrang, glaubte sie in der Ferne das Heulen eines Wolfes zu hören. Er füllte die Leere in ihr aus. Sie stöhnte erleichtert. Wärme floss in ihren Schoß und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Flammen züngelten wie Schlangen über ihren Körper, doch sie verbrannten sie nicht, sondern bereiteten ihr Lust. Sie war ungebunden von Zeit und Schwerkraft. Die Luft um sie herum pulsierte voller Lebenskraft. Sie sah Bilder ohne Gestalt und doch von sinnenbetäubender Schönheit.

Etwas, das stärker war als er, riss ihn von ihr fort. Sie wollte ihn festhalten, doch seine Konturen lösten sich auf und zurück blieb nur eine tiefe Trostlosigkeit. Plötzlich fühlte sie sich schutzlos. Düstere, geflügelte Wesen mit verzerrten Teufelsfratzen und blutunterlaufenden Augen jagten auf sie zu, legten ihre messerscharfen Krallen auf ihren Bauch. Nora erkannte ihren Neid auf den Wolf, der getan hatte, wonach auch sie so sehr verlangten. Sie rochen nach Fäulnis und Tod. Laute, boshafte Stimmen dröhnten aus ihren zähnefletschenden Mündern an ihr Ohr. Noras ganzer Körper schmerzte von ihren giftgetränken Worten, bis sie glaubte, sie nicht mehr ertragen zu können. Widerliche Gestalten, die direkt der Hölle entstiegen schienen, beleidigten und verhöhnten sie mit obszönen Gesten. Verzweifelt sah sie sich um, ihre Augen suchten den Mann, der eben noch in ihr gewesen war. Doch er war zwischen den anderen. Wieder in der Gestalt des Wolfes, starrte er sie mit bernsteingelben Augen an, bevor er ein triumphierendes Heulen ausstieß. Dann versank sie in einem bodenlosen Abgrund, aus dem sie nie wieder zu erwachen glaubte.

Aber sie erwachte. Plötzlich und hart. Sie zitterte. Zuerst war alles so schwarz wie das Fell des Wolfes. Es gelang ihr nicht, die Augen zu öffnen. Sie fühlte seinen Samen in ihrem entblößten Unterleib. Hastig wollte sie sich bedecken, aber mit einem Mal gab es nichts Festes mehr um sie herum. Es gelang ihr, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen, aber da war nur ein undurchdringlicher bernsteinfarbener Nebel, der sich in wilden Spiralen um sie drehte. Ihre Arme, ihre Beine, ihr ganzer Körper gehorchten ihr nicht mehr. Voller Panik riss sie die Augen weit auf. Sie versuchte Halt zu finden, wo keiner war, wusste nicht mehr wo oben oder unten war, ob sie saß, lag oder in einen Abgrund fiel. Sie schnappte nach Luft. Ihre Hände versuchten sich in Armlehnen zu krallen, die überall und nirgends zu sein schienen. Sie wollte schreien, doch kein verständlicher Laut kam aus ihrer Kehle.

Plötzlich fühlte sie etwas Festes an sich, das ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie wollte es wegdrücken, aber ihre Arme und Beine strampelten nur sinnlos in der Luft herum. Es drückte sie tief in den Sessel. Sie fühlte Schmerz, aber wenigsten gab es ihr so etwas wie Halt in dieser Welt, die nur aus bernsteinfarbenen Turbulenzen bestand.

Ihr Blick wurde nur wenig klarer. Immer noch schien sich die Welt zu drehen, doch sie wusste wenigstens wieder, wo oben und unten war und dass sie in einem Sessel saß. Das Licht blendete sie. Etwas tauchte aus dem Nebel auf, nahm immer mehr Kontur an, bis sie über sich ein verschwommenes Gesicht sah. Ein Mann beugte sich zu ihr herunter. Sie wollte nach ihm greifen, aber immer noch gehorchten ihre Hände ihr in dieser sich drehenden und windenden Welt nicht. Ihre Panik wuchs, bis sie fast den Verstand verlor.

„Das geht gleich vorbei“, beruhigte der Mann sie.

„Wann?“, wollte sie wissen, doch aus ihren Mund kamen nur unverständliche Laute.

Sie kämpften miteinander. Ihr unkontrolliert um sich schlagender Körper und der Mann, der sie hielt, damit sie sich nicht verletzte. Obwohl er so viel stärker war als sie, hatte er Mühe sie festzuhalten. Ihre Muskulatur schmerzte, ihre Haut brannte dort, wo er sie hielt. Tränen der Verzweiflung traten in ihre Augen. Als ihre Erschöpfung über die Angst, ins Nichts zu fallen, siegte, wurde sie ruhiger. Die Welt um sie herum bekam etwas Form und Farbe. Sein Gesicht tauchte immer deutlicher aus dem Nebel auf. Aus seinen Zügen sprach seine Entschlossenheit, sie niederzuhalten.

Dann war alles wieder fast normal. Sie sah, dass der Mann normale Kleidung trug. Kein Fell bedeckte ihn. Niemand außer ihnen war im Raum und der Sessel unter ihr war von fester Substanz.

Auch ihre Gedanken wurden klarer. Er hatte sie unter Drogen gesetzt, um sie gefügig zu machen! Und sie war in einem Horror-Tripp gelandet. „Was hast du mir gegeben?“, warf sie ihm wütend vor.

„Nichts.“

„Du lügst. Ich hatte irre Halluzinationen.“

„Das waren keine Halluzinationen.“

„Was dann?“

„Eine andere Wirklichkeit. Du wolltest wissen, was ich bin. Jetzt weißt du es.“

„Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dir das abnehme. Du verdammter Mistkerl.“ Immer noch hatte die Welt einen gelben Stich und schwankte unter ihr.

Ihre Wut traf ihn mehr, als sie sollte. Er streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Sie schlug sie weg. Ein heftiger Schmerz bohrte sich durch seinen Magen. Er rannte aus dem Haus, um in Ordnung zu bringen, was mit ihm nicht mehr stimmte.

„Wo gehst du hin?“, schrie sie ihm hinterher. Er antwortete nicht. Durch die offene Haustür hörte sie seine Schritte auf dem Kiesweg vor der Hütte und zerrte an den Handschellen. „He, du kannst mich hier nicht so zurücklassen!“

Er reagierte nicht auf ihren Ruf. Sie stand auf, so weit es die Handschellen zuließen.

„Scheißkerl“, brüllte sie ihm hinterher. „Komm zurück!“ Sie sah ihn im matten Schein der Lampe im Wald verschwinden. Die Hütte war mitten im Nirgendwo. Wenn er nicht zurückkäme, konnte sie nur darauf hoffen, dass der Zufall irgendwen hierher führen würde, der sie rettete.

Ihr Handy. Es war im Haus. Nur wo? Ihre Gedanken rasten. Oben. Es musste im Schlafzimmer liegen. Und sie war hier unten an den Sessel gefesselt.

Sie stand auf. Der Sessel war nicht sehr massiv. Sie rückte ihn zum Fuß der Treppe, die zu einer Empore hochführte, von der die beiden Schlafzimmer abgingen. Es ging erstaunlich gut. Der Schwindel hatte sich vollständig verflüchtigt. Dann begann sie, den Sessel hochzuwuchten. Es dauerte nicht lange, und der Schweiß lief an ihr herab. Wenn sie nicht aufpasste und der Sessel nach unten rutschte, würde er sie mitreißen. Darüber, was sie sich dabei alles brechen könnte, wollte sie nicht nachdenken.

Irgendwie schaffte sie es, das Ding Stufe für Stufe bis auf die Empore zur zerren und zu heben. In der Schlafzimmertür blieb sie stehen und sah sich um. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie das Handy auf das Fußende des Bettes geworfen hatte. Es lag nicht da. Sie fluchte laut. Die Tür war so schmal, dass der Sessel nicht hindurch passte. Sie wusste, dass es irgendwo dort sein musste. Als sie die gesamte Länge der Kette der Handschellen ausnutze, konnte sie das Bett erreichen. Sie lupfte die Bettdecke und sah das Handy in der Ritze zwischen den beiden Matratzen. Mit ausgestreckte Fingern und so straff gespannter Kette, dass das Metall in ihre Haut schnitt, konnte sie es ergreifen. Es war noch fast ganz geladen und der Empfang war gut.

Sofort wählte sie die 110. Bevor sie die Ruftaste drücken konnte, griff eine andere Hand nach dem Handy und zog es mit einem Ruck weg. „Man darf dich auch nicht einen Moment aus den Augen lassen!“

Sie fuhr herum. Er stand direkt vor ihr. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, unfähig, einen Ton von sich zu geben. Verdammt, sie hatte sich so abgemüht. Wenn er nur zehn Sekunden später gekommen wäre, hätte sie Hilfe rufen können. Tränen der Enttäuschung traten ihr in die Augen. Sie sah die Wut in seinen Augen und registrierte jede einzelne seiner Bewegungen, bereit sich zu ducken. Aber er holte zu keinem Schlag aus.

„Du bist ganz schön stark, Wildfang“, stellte er stattdessen fest.

„Wenn ich das wäre“, fand sie ihre Sprache wieder, „hättest du längst ein gebrochenes Genick. Und nenn mich nicht immer Wildfang.“

„Und wie soll ich dich nennen?“

Wütend und schmollend kreuzte sie Arme vor der Brust, ohne zu antworten. Wenn sie es richtig bedachte, hatte sie Sex mit einem irren Typen gehabt, der ihr irgendwie irgendeine Droge verabreicht hatte und dessen Namen sie nicht einmal kannte.

Er zuckte mit den Schultern. „Wenn du mir deinen Namen nicht sagst, werde ich dich weiter Wildfang nennen.“

„Nora“, verriet sie unwillig.

„Gut, Nora. “

„Und wie heißt du?“

Er grinste. „Hotzenplotz.“

„Darf ich Hotzi zu dir sagen?“

„Untersteh dich.“

„Was dann.“

Seine Mine wurde ernst. Er dachte einen Moment nach. „Silvan.“

„Das ist ein ungewöhnlicher Name.“

„Ich bin ja auch ungewöhnlich.“

Sie verzog das Gesicht. „Allerdings.“

Es war das erste halbwegs vernünftige Gespräch, das sie führten, jedenfalls angesichts der bizarren Situation, in der sie sich befanden. Vielleicht ließe sich daraus etwas machen. Nora glättete ihre Miene. Mit einem vielversprechenden Lächeln und einem aufreizenden Augenaufschlag hielt sie ihm ihr gefesseltes Handgelenk entgegen. „Machst du mich los?“

Er zog tatsächlich den Schlüssel zu den Handschellen hervor. Doch statt ihr Handgelenk zu befreien, öffnete er die Schelle an der Lehne und schob den Sessel mit dem Fuß ein Stück beiseite. „Komm.“

Obwohl sie protestierte, zerrte er sie zum Kopfende des Bettes. Sie versuchte sich dagegen zu wehren, aber das Metall um ihr Handgelenk drückte sich schmerzhaft in ihre Haut und gegen ihre Knochen. „Was hast du vor?“, japste sie.

„Schlafen.“

„Nur schlafen?“

„Bevorzugst du etwas anderes?“ Er befestigte das freie Ende der Handschellen am Kopfende des Bettes.

„Ja. Von hier zu verschwinden.“

Er zuckte mit den Schultern. „Leg dich hin.“

„Ich bin schmutzig und ich hab mir noch nicht die Zähne geputzt.“

„Jetzt hör mir zu. Ich habe seit 36 Stunden nicht mehr geschlafen. Leg dich hin und halte den Mund.“

„Was ist, wenn ich muss.“

„Oh, Mann!“ Er drehte sich um, drückte sich am Sessel vorbei und kam nach einer Minute mit einer Schüssel und Toilettenpapier zurück. Mit einem entnervten Seitenblick stellte er alles neben ihr unter das Bett. Dann ging er auf die andere Seite und legte sich so wie er war hin. „Tu was du willst, aber lass mich schlafen.“

Er hatte kaum ausgesprochen, da hörte sie schon, dass er fest eingeschlafen war. Fassungslos sah sie auf ihn herab. Das konnte doch nicht wahr sein! Dieser Arsch. Wütend zerrte sie an den Handschellen. Selbst der Krach weckte ihn nicht auf. Sie schaute sich um, ob sie sich irgendwie befreien konnte. Keine Chance. Das Kopfende bestand aus massiven Metallstreben. Resignierend legte sie sich so schmutzig, wie sie war, ins Bett.

Sie war nervös. Die Handschellen zwangen ihr eine unbequeme Körperhaltung auf und die Kette klimperte bei fast jeder Bewegung. Sie zählte nicht, wie oft sie ihn verfluchte, bis sie endlich einschlief.

Es war hell. Ihre Haut war nassgeschwitzt, ihr Herz raste. Aber sie war nicht aus einem Alptraum hochgeschreckt, sie steckte mitten in einem. Noch bevor sie die Augen aufschlug, wusste sie, wo sie war und was geschehen war.

Als sie sich aufrichten wollte, hielten die Handschellen sie zurück. Er stand neben dem Bett und sah auf sie herab. „Guten Morgen, Wildfang.“

„Ich habe einen Namen“, beschwerte sie sich. „Und nein, es ist kein guter Morgen.“

Sie sah ihn an. Er sah genauso zerknittert aus, wie seine Kleidung, in der er geschlafen hatte.

„Ich muss mal.“

Er wies auf die Schüssel unter dem Bett.

„Nee!“

„Stell dich nicht so an.“

„Ich stell mich nicht an. Aber wenn ich schon die Schüssel nehmen muss, will ich wenigstens keinen Zuschauer dabei haben.“

„Ich hab dir schon mal dabei zugesehen.“

„Das war einmal zu viel. Außerdem will ich mich waschen. Das könntest du dich übrigens auch mal. Und rasieren. Ich will …“

„Stopp!“, unterbrach er sie. „Wir sind nicht miteinander verheiratet. Also sprich nicht so mit mir.“

„Was anderes hast du dir nicht verdient.“

„Du bist schlecht gelaunt, meine Liebe.“

Sie warf die Bettdecke zurück und sprang auf. „Ich bin nicht deine Liebe. Aber ich bin schlecht gelaunt. Du glaubst gar nicht wie schlecht.“

„Hast du schlecht geschlafen, meine Böse?“

„Boah, du bist echt scheiße.“ Wenn er nicht gefühlt mindestens doppelt groß und viermal so schwer wie sie gewesen wäre, hätte sie ihm ihre schlechte Laune schon bewiesen. Mit irgendetwas, das ihm wehgetan hätte. Sehr weh.

Er trat so dicht neben sie, dass sie sich fast berührten. „Du solltest dich wirklich mal waschen“, rümpfte sie die Nase.

„Du riechst auch nicht gerade nach Parfüm.“

„Im Gegensatz zu dir, bin ich nicht schuld daran.“

Er beugte sich vor und löste die Handschelle am Kopfende des Bettes. Dabei berührte seine Hüfte ihre Seite. Sofort schoss ein elektrischer Strom von dort in seine Körpermitte. Statt zurückzuweichen, drückte er sich instinktiv fester an sie. Als er sich aufrichtete und sie anblickte, sah er den überraschten Ausdruck in ihrem Gesicht, und fragte sich, ob sie das Gleiche gespürt hatte wie er.

„Komm“, sagte er und seine Stimme lief ihr wie ein Schauder den Rücken herunter. Er zog sie an den Handschellen hinter sich her nach unten ins Bad. Sie ließ sich widerstandslos von ihm führen. Ihre Knie waren weich, aber nicht vor Angst. „Verdammt“, flüsterte sie.

„Was ist denn jetzt schon wieder?“

„Es …, es …, es ist kalt im Bad“, stammelte sie verwirrt.

„Du hast dir diese Bude selbst angetan.“

„Da ahnte ich aber noch nicht, dass irgend so ein Irrer mit zum Inventar gehört.“

„Ein Irrer? Ich seh hier keinen.“

„Guck in den Spiegel.“

„Das solltest du auch mal versuchen.“

„Warum?“

„Ist dir zufälligerweise aufgefallen, dass du viel kleiner bist als ich?“

„Ich bin mir drei größeren Brüdern aufgewachsen. Das schreckt mich nicht.“

„Sie haben mein Mitleid. Trotzdem solltest du vorsichtig sein bei dem, was du sagst und tust.“

„Du hast mir bisher nichts getan und das wirst du auch jetzt nicht.“

Er sah sie ernst an. „Du hast keine Ahnung. Sei vorsichtig. Du hast mich schon bis an den Rand meiner Selbstbeherrschung gebracht. Wenn du mich noch mehr reizt, tue ich, was keiner von uns will.“

Er sah sie vor Schreck erstarren. Wenigsten hatte sie ihn verstanden. Die Frage war nur, wie lange es anhalten würde. Aufzugeben oder sich unterzuordnen lag nicht in ihrem Wesen.

Er sah sich um. Dann befestigte das freie Ende der Handschellen an einem Rohr und ging aus dem Bad.

„Wohin gehst du?“

„In die Kneipe. Warte nicht auf mich, Schatz, es kann spät werden.“

Sie sah ihm wütend hinterher. Wenigstens hatte sie Wasser und wenn sie ihren Hintern reckte, konnte sie das WC benutzen. Aber es war kalt hier. Viel zu alt für ihre spärliche Kleidung. Und nachts würde es noch kälter werden.

Sie hörte eine Autotür, aber kein Motor startete. Als er wieder in der Badezimmertür erschien, war sie geradezu erleichtert.

„Schön, dass du dich freust, mich zu sehen“, stellte er fest.

„Fick dich!“

„Lieber würde ich das mit dir tun.“

Er starrte sie an. Sie starrte ihn an. „Untersteh dich!“

Statt zu antworten, hob er seine Hand. Er hielt eine etwa zwei Meter lange Kette und ein Vorhängeschloss darin.

Sie runzelte die Stirn. „Was soll das?“

Er hob eine Augenbraue. „Ich nehme an, du möchtest im Bad allein sein, obwohl ich dir liebend gern Gesellschaft leisten würde.“

„Und?“

Statt zu antworten legte er unter ihrem misstrauischen Blick ein Ende der Kette um das Siphon des Waschbeckens und sicherte es mit dem Schloss. Dann nahm er die Handschelle vom Rohr und befestigte sie am anderen Ende der Kette.

„Warte“, sagte er und verschwand erneut aus dem Bad.

Nora konnte sich so im Bad frei bewegen und sogar aus dem Fenster klettern. Eine Flucht war aber nicht möglich, es sei denn, sie könnte Silvan irgendwie den Schlüssel des Vorhängeschlosses oder der Handschellen abluchsen. Aber er hatte beide so tief in die Tasche seiner Jeans gesteckt, dass sie nur dran käme, wenn er ins Koma fiel. Sie konnte auch versuchen, das Siphon abzureißen, aber das würde Silvan unweigerlich mitbekommen und sie aufhalten, bevor es ihr möglich wäre zu fliehen.

Sie hörte seine Schritte auf der Treppe. Sekunden später später betrat er das Bad und legte frische Kleidung auf den Boden.

„Danke.“ Das Wort war ihr aus dem Mund geschlüpft. Sie biss sich ärgerlich auf die Unterlippe. Er hatte keinerlei Dankbarkeit verdient. Dieser Typ brachte sie durcheinander.

Er verließ das Bad erneut. Dann hörte sie ihn in der Küche rumoren. Anscheinend machte er Frühstück. Endlich mal eine gute Idee.

Im Spiegel sah sie die Male an ihrem Hals, an ihrem Kinn und an ihren Armen, wo er sie hart angefasst hatte. Sie strich mit der Hand darüber. Wenigstens hatte seine Ohrfeige keine Spur auf ihrer Wange hinterlassen. Allerdings änderte das auch nichts. Es war nicht anzunehmen, dass er deshalb Reue empfunden und sie gehen gelassen hätte.

Noch nie hatte jemand sie so grob behandelt oder gar geschlagen. Sie spürte Empörung in sich aufsteigen, aber auch Furcht und Wut. Gleichzeitig wusste sie auch, dass sie im Augenblick nichts ändern konnte. Sie musste warten, bis sich ihr irgendeine Chance zur Flucht bot oder bis jemand, dem sie gesagt hatte, dass sie sich nur für ein paar Tage in dieser Hütte verkrochen hatte, ihr Verschwinden bemerkte und sie hier rausholte. Was geschehen würde, wenn Silvan sie zwang, mit ihm von hier wegzugehen, daran mochte sie nicht denken.

Ihre aufsteigende Verzweiflung unterdrückend, trank sie Wasser aus ihren hohlen Händen. Sie hatte seit fast 20 Stunden hatte nichts mehr gegessen oder getrunken. Dann putzte sie sich die Zähne und stieg unter die Dusche. Die Kette machte Lärm und behinderte sie. Aber wenigstens gab es hier warmes Wasser und sie konnte sich den Schmutz vom Vorabend abduschen und ihre Haare waschen. Als sie sich abtrocknete, hörte sie seine Schritte vor der Badezimmertür. Er würde es doch nicht etwa wagen, hier reinzuplatzen? Schnell hielt sie sich ein Handtuch vor.

„Wie weit bist du?“, wollte er wissen.

Wow. Hotzenplotz hatte wohl doch einen Rest Manieren. „Drei Minuten.“

„Hm.“

Sie hörte, wie er wieder in die Küche ging und föhnte sich die Haare. Dann nahm sie die Kleidung vom Boden und hätte ihn am liebsten gleich wieder angemeckert. Er hatte einen sehr kurzen Jeansrock und ein hauteng sitzendes rotes T-Shirt ausgewählt. Auch die Unterhose aus schwarzer Spitze war kaum mehr als ein Nichts, ebenso wie der BH. Sie hatte beides nie in der Öffentlichkeit unter einem Rock und einem derart eng anliegendem Oberteil getragen. Er musste ihre Sachen durchwühlt und mit sicherem Instinkt die aufreizensten Sachen ausgesucht haben. Wenn sie das anzog, konnte sie auch gleich nackt bleiben.

„Das zieh ich nicht an“, rief sie.

„Wenn du nackt frühstücken willst, ist mir das auch recht“, rief er zurück. „Sogar sehr recht.“

Ok. Nackt war vielleicht doch die schlechtere Alternative. Notgedrungen zog sie die Sachen soweit an, wie es mit der Kette möglich war. „Ich bin fertig.“

Umgehend kam er ins Bad und betrachtete sie. Seine Miene erhellte sich. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sich ihre Brustwarzen deutlich unter ihrer Kleidung abzeichneten. Verdammt, und das wegen dieses ungehobelten und ungewaschenen Waldschrats. An seinem Gesicht konnte sie erkennen, dass ihm gefiel was er sah, und auch an der Ausbeulung in einer Hose.

„Das ist, weil es mir zu kalt ist“, erklärte sie.

„Klar“, antwortete er. „Es ist mitten im Winter. Ich werde den Anblick beim Frühstück trotzdem genießen.“

Sie wusste, sie befand sich auf sehr dünnem Eis. Dummerweise nur wünschte etwas in ihr, dass es brach.

Er löste die Schelle an ihrem Handgelenk und sie konnte sich unter seinen interessiertem Blick vollständig anziehen. Auch während er vor dem Waschbecken hockte und die Kette vom Siphon abnahm, ließ er sie nicht aus den Augen. Als sie fertig war, erhob er sich und wies unmissverständlich auf ihr Handgelenk.

Sie kreuzte die Arme vor der Brust und versteckte ihre Hände in den Achselhöhlen. Er sah sie vorwurfsvoll und mit zur Seite geneigtem Kopf an, obwohl ihr Trotz sie noch begehrenswerter machte, als sie es eh schon war.

„Was bezweckst du damit?“, fragte er, als sie auch auf diese stumme Aufforderung nicht reagierte.

„Ich lass mich nicht wieder an die Kette legen!“

„Und du glaubst ernsthaft, dass du das verhindern kannst.“

„Ich lass es drauf ankommen.“

Er packte ihren Arm. Sie versuchte, sich seinen schmerzhaften Griff zu entwinden, trat und schlug nach ihm. Diesmal ließ er mehr Zeit verstreichen als beim ersten Mal, als er sie an den Sessel gefesselt hatte. Sie hatte das Gefühl, dass er ihren vom Anfang an zum Scheitern verurteilten Kampf genoss, doch schließlich lag die Handschelle erneut um ihr Handgelenk und die Zähne rasteten ein.

Er zog sie an der Kette in den Hauptraum der Hütte, obwohl sie sich mit ungeahnten Kräften wehrte. Trotz seiner Warnung versuchte sie ihn zu verletzen. Er konnte ihren Biss gerade noch abwehren. Selbst als seine Hände um ihren Hals lagen, tobte sie weiter. Mit einem wütenden Knurren kickte er ihre Beine weg und löste gleichzeitig seine Hände von ihrem Hals. Sie fiel mit einem dumpfen Schlag auf den Boden. Obwohl ein Teppich ihren Aufprall abfing, stöhnte sie vor Schmerz.

Er kam ihr nach. Trotz ihrer ungebrochenen Gegenwehr zwang er sie auf den Rücken und hockte sich über sie. Seine Knie drückten ihre abgespreizten Oberarme auf den Boden, seine Hände fixierten ihre Handgelenke neben ihrem Kopf. Sie strampelte mit den Beinen. Mit vor Wut und Anstrengung verzerrtem Gesicht bäumte sie sich unter ihm liegend auf, aber sie konnte ihn nicht abwerfen.

Gelb glühende Augen starrten wütend auf sie herab. „Hör auf!“, donnerte Silvan sie an. Seine Knie pressten sich fester auf ihre Oberarme. Der Schmerz und die Angst, dass sie brechen würden, zwangen sie zur Ruhe. Sie lag heftig atmend unter ihm. So langsam, als traue er ihrem Nachgeben nicht, ließ der Druck auf ihre Arme nach. Sie blieb auch noch liegen, nachdem er aufgestanden war und schaute misstrauisch zu ihm auf.

Er stupste sie mit dem Fuß an. „Steh auf“, verlangte er barsch. „Ich will frühstücken.“ Dass er auch noch etwas anderes wollte, verriet er ihr nicht. Ihr knapper Rock war hochgerutscht. Die winzige Unterhose bot seinem Blick keinen Widerstand, sondern betonte ihren intimsten Bereich nur noch. Schon wieder hatte ihn der Kampf mit ihr mehr erregt, als es gut war. Sie zog mit unsichtbaren Fäden an seinem Körper, als wäre er eine Marionette, und lähmte seinen Verstand.

Dafür war die Kette deutlich sichtbar. Er riss hart daran. Wieder grub sich das Metall der Schelle schmerzhaft in ihre Haut. Sie sprang über seine Behandlung empört auf.

„Verdammt! Du tust mir weh.“

„Wenn du das nicht willst, dann benimm dich entsprechend“, entgegnete er erstaunlich gelassen und wies auf den Tisch. „Und jetzt setz dich.“

Sie rieb ihr schmerzendes Handgelenk. Im Gegensatz zu ihm war sie immer noch wütend bis zum Anschlag. Trotzdem folgten ihre Augen seinem Fingerzeig. Der Tisch war tatsächlich gedeckt. Genau wie sie erwartet hatte, befestigte er die Kette an einem Holzbalken.

Zuerst wollte sie sich beschweren, aber der Kaffee duftete sie an und sie hatte Hunger wie ein Bär nach dem Winterschlaf. Sie verschob das Meckern bis nach dem Frühstück und setzte sich. Dann griff sie herzhaft zu. Jetzt trotzig zu hungern, würde ihr auch nicht helfen.

Als sie aufblickte, fiel ihr auf, dass er bloß Marmeladenbrote, aber nichts Tierisches aß. Er tat nicht einmal Milch in den Kaffee. Von Männern war sie anderes gewohnt, immerhin war sie mit drei Brüdern aufgewachsen. Schon ein einziger Tag ohne Fleisch war für die meisten die reinste Zumutung. Dass ausgerechnet Hotzenplotz ein Veganer sein sollte, war so wahrscheinlich wie ein Eisberg am Äquator.

„Was ist?“, fragte er, als er ihren skeptischen Blick sah.

„Ich hätte nie gedacht, dass du Veganer bist.“

„Bin ich auch nicht.“

„Warum isst du dann keine Wurst oder Käse.“

„Weil das besser für dich ist.“

Sie verzog das Gesicht. „Ich verstehe. Wenn du Fleisch isst, wird dein Blutdurst geweckt.“

„Ja.“

Sie hörte keinen Spott und keine Belustigung in seiner knappen Antwort. Silvan meinte und glaubte offensichtlich den Quatsch, den er von sich gab. Er musste total plemplem sein.

„Bist du ein Werwolf?“, hakte sie spöttisch nach.

Er sah sie nachdenklich an. „Nein.“

„Was macht dich da so sicher?“

„Ich habe keine Allergie gegen Silber.“

„Und bei Vollmond bist du auch nicht abgedrehter als sonst?“

„Nein. Der Vollmond verändert mich nicht.“

„Was dann.“

„Stell nicht so viele Fragen und iss!“, befahl er ihr.

„Ich will aber wissen, ob …“

„Tu endlich einmal, was ich dir sage, Nora. Schweig und iss!“ Die Warnung in seiner Stimme ließ sie tatsächlich verstummen. Man soll Irre nicht reizen.

Silvan warf ihr einen mürrischen Blick zu. Er musste in Zukunft besser auf seine Zunge achten. Sie durfte nicht zu viel wissen. Dabei tat sie das jetzt schon. Ihre Anwesenheit und die Entdeckung des Muttermals auf ihrer Kehrseite warfen alles durcheinander.

Aber er hatte keine Wahl. Er würde alles tun, um seine Aufgabe zu erledigen, egal was es kostete. Und Nora wäre dann bloß ein Kollateralschaden. Sein Mund verzog sich, als habe er in eine Zitrone gebissen.

Er konzentrierte sich auf das Marmeladenbrot und den Kaffee vor sich. Der Geruch ihres Leberwurstbrotes reizte seine Nase. Nicht so verführerisch wie ihr Duft, aber ab jetzt würde es auch für sie vorsichtshalber nur noch vegane Kost geben. Ihre Meckerei zu ertragen wäre weniger schlimm, als das, was er ihr antäte, sollte er die Beherrschung verlieren.

Er war fast während seiner gesamten Existenz alleine gewesen und hatte nichts vermisst. Jetzt fehlte ihm ihre Stimme. Er wollte ein Lächeln auf ihren Lippen und ein Funkeln in ihren Augen sehen.

Sie hatte den Dreck und den Angstschweiß des Vorabends von ihrem Körper gewaschen. Der Duft ihrer Seife und ihres Deos überdeckte den Geruch ihres Körpers nicht vollständig. Er nahm einen Hauch von frischem Schweiß wahr. Und dann war da noch ein anderes Aroma, opulent und schwer. Es stieg verlockend von ihrer Haut, aus dem Tal zwischen ihren Brüsten und aus der dunklen, feuchten Spalte zwischen ihren Beinen zu ihm auf. Er atmete langsam und tief ein. In seinem Gehirn tauchten aufreizende Bilder auf. Er sah, wie seine Nase an ihrem Hals herabglitt zu ihren Achselhöhlen, über ihren flachen Bauch bis zu den Innenseiten ihrer Schenkel, um dann in der Dunkelheit dazwischen zu versinken.

Der Druck seines Blutes in seinen Gefäßen stieg. All das war falsch. Dennoch gelang es ihm nicht einen Moment, die Augen von ihr abzuwenden.

Sie saß ihm schmollend am Tisch gegenüber. Ihr Blick war gesenkt.

Ihre Hände griffen nach dem Brot. Die Kruste drückte sich in ihre Haut. Sein Unterleib fühlte sich an, als hätte sie ihn dort gefasst. Der Schmerz, dass dem nicht so war, durchfuhr ihn wie das gezackte Brotmesser, das in den Laib eindrang. Seine feinen Ohren hörten das Gleiten der Schneide durch die Butter und das Knistern des Brotes als sie die abgeschnittene Scheibe damit bestrich. Unwillkürlich dachte er an ihre Zunge und seinem Glied wurde es in der Hose zu eng. Sein ganzer Körper versteifte sich. Machte sie das unbewusst oder wollte sie ihn provozieren? Die Muskeln in seinem Kiefer pressten seine Zähne fest aufeinander.

Ein Sonnenblumenkern fiel neben ihr Frühstücksbrettchen. Sie feuchtete ihre Fingerspitze mit der Zunge an, tippte damit auf ihn und hob ihn zu ihrem Mund. Sein Blick haftete auf ihrer Hand. Trotz ihres gesenkten Kopfes sah er wie in Zeitlupe ihre sich öffnenden Lippen. Ohne zu ihm aufzusehen legte sie den Kern auf ihre Zunge. Der Anblick des in die samtige feuchte Höhle vordringenden Fingers ließ seine Hose fast platzen. Jetzt hob sie ihr Gesicht zu ihm. Sie war noch zu verärgert, um die Gier in seinen Augen zu erkennen.

Er sprang hoch und stellte sich neben sie. Sie sah erschreckt zu ihm auf. Sein Gesichtsausdruck verriet ihr nichts.

Er nahm ihr das Messer aus der Hand und legte es neben ihr Frühstücksbrettchen. „Steh auf.“

„Warum soll …“ Bevor sie aussprechen konnte, hatte er sie am Arm hochgezogen und presste ihren Bauch gegen die Tischplatte.

„Was soll das?“, beschwerte sie sich.

Statt einer Antwort fasste er ihren Nacken und drückte ihren Oberkörper auf die Tischplatte runter. Ihre Wange lag an der Butter. Sie wollte sich mit den Händen auf der Tischplatte abstützen, aber er verdrehte sie auf ihren Rücken und hielt sie mit einer Hand dort fest.

Die andere schob ihren Rock hoch und öffnete dann seine Hose. Mit einem Ruck zerriss er ihre Unterhose. Nora konnte sein erigiertes Glied an ihrem Po fühlen. Sie versuchte sich seinem Griff zu entwinden, aber er drückte sie nur um so fester nach unten. Die Tischplatte presste sich hart gegen ihre Brüste, die Kante schnitt in ihren Unterleib. „Nein. Tu das nicht.“

„Du willst es doch auch.“

„Nein.“

„Du lügst.“

„Nein“, keuchte sie. „Ich will das nicht und schon gar nicht so.“

„Warum führst du dich dann hier auf, wie eine läufige Hündin?“

Er fasste mit der freien Hand zwischen ihre Beine, bevor sie sie zusammenklemmen konnte. Als er ihr seine Finger zeigte, waren sie feucht. „Du bist schon die ganze Zeit geil. Glaub nicht, du könntest das vor mir verbergen.“ Sie hatte keine Ahnung, wie sehr ihr Duft ihn die ganze Zeit gereizt hatte.

Sein Glied drückte sich zwischen ihre Pobacken. Sie versuchte nach ihm zu treten, aber er war stärker als sie. Ihre Arme wurden nach oben gedrückt, bis sie glaubte, er würde ihr die Schultern auskugeln.

Er roch ihre Angst, aber das hielt ihn nicht auf. Es war zu spät für einen Rückzug.

Ihre Muskeln krampften sich zusammen, als er in sie hineinstieß. Sie spürte, wie ihr Unterleib gewaltsam geteilt wurde und stöhnte vor Schmerz. Mit zusammengepressten Augen und Lippen musste sie über sich ergehen lassen, was er ihr antat.

Schon nach ein paar Stößen ergoss er sich in sie und zog sich zurück. Er richtete seine Augen auf sie, während er seine Hose hochzog. Obwohl er sie losgelassen hatte, lag sie vor Schreck erstarrt auf der Tischplatte. Er verstand nicht, warum sie wie betäubt liegen blieb.

„Was hast du getan!“, warf sie ihm mit tonloser Stimme vor.

Er zuckte nur mit den Schultern.

„Du hattest versprochen, mir nichts zu tun. Du hattest es mir versprochen.“

„Ich habe dir nichts getan.“

„Doch das hast du.“

„Du hast es provoziert. Jetzt stell dich nicht so an und räum hier auf.“

Sie stütze sich empört auf ihre Ellenbogen und wendetet ihm ihr Gesicht zu. „Wie verrückt bist du eigentlich? Du hast mich vergewaltigt und jetzt soll ich dir das Hausmädchen machen?“

„Dann lass es halt.“ Er ging zur Haustür.

„Wohin gehst du?“, rief sie ihm hinterher.

„Zu meinem Auto.“

„Warum?“

Er drehte sich um. „Du nervst.“

„Das würdest du auch, wenn ich dich hier angekettet hätte.“

„Nein.“

„Wie nein?“

„Du wärst tot und ich frei, wenn du das versucht hättest.“

„Du bist wahnsinnig.“

„Ja.“

Er drehte sich um und ging mit abgehackten Schritten aus dem Haus. Die Tür fiel mit einem Knall hinter ihm ins Schloss. Wütend und verletzt richtete sie sich auf. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass ihr so etwas wie gerade eben passieren könnte. Jetzt war es geschehen und ihr Unterleib schmerzte noch nach seinem gewaltsamen Eindringen. Der Schmerz ihrer Seele war um ein Vielfaches stärker.

Als Silvan das Haus wieder betrat, sah sie keinerlei Reue in seinem Gesicht. Er trug er einen Laptop in der Hand und stellte ihn auf die Treppe. „Ich habe ganz in der Nähe zu tun und kann dich hiermit jederzeit hören und sehen. Wenn du irgendetwas anstellst, bin ich sofort wieder hier und sorge dafür, dass du nie wieder etwas anstellen kannst.“ Er trat dicht vor sie. „Hast du das verstanden?“

Sie wendete ihr Gesicht ab. Er packte ihr Kinn und drehte es zu sich. Seine Augen durchdrangen sie. „Hast du das verstanden, Nora? Alles, was ich dir gesagt habe?“

„Warum hast du das getan?“, fragte sie mit dünner Stimme. „Warum hast du mir das angetan?“

„Weil du mich die ganze Zeit gereizt hast.“

„Das ist eine beschissenen Entschuldigung.“

Er ließ ihr Kinn los. „Ich habe mich nicht entschuldigt.“

Sie sah ihn fassungslos an. „Du bist das Letzte. Du bist wirklich das Allerletzte. Ich hasse dich. Du bist ein Monster.“

„Ja, das bin ich. Denk daran, wenn ich unterwegs bin. Du weist jetzt, wozu ich fähig bin, wenn du irgendetwas anstellst.“

Silvans Antwort verschlug ihr die Sprache. Seine Unverschämtheit war bodenlos. Selbstzweifel oder das Gefühl von Schuld waren ihm anscheinend so fremd, wie einem Fisch das Fahrradfahren. Er ging ohne weitere Worte davon.

Sie blieb wütend und mit dem Gefühl der Demütigung am Tisch sitzend zurück. Silvans Computer war unerreichbar für sie. Hilfe konnte sie damit nicht holen. Es blieb ihr nur die Möglichkeit, zu warten und darauf zu hoffen, dass jemand vorbeikäme, der ihre Schreie hörte, bevor dieser Irre wieder da war. Dabei wollte sie nur noch weg von hier, weg von diesem brutalen Typen, der anscheinend glaubte, sie wäre sein Eigentum, mit dem er tun und lassen konnte, wonach ihm gerade der Sinn stand.

 

7. Wald

Silvan ging zu seinem Auto und steuerte es fast blind für seine Umgebung in den Wald. Sie war erregt gewesen, ohne jeden Zweifel. Er hatte es während des Frühstücks gerochen. Sich ihren Körper zu nehmen, war nur natürlich gewesen. Und doch hatte sie ihn danach voller Wut und Verzweiflung beschuldigt, er hätte sie vergewaltigt. In diesem Moment war sie so schön gewesen, wie noch keine Frau zuvor, deren Weg er gekreuzt hatte. Dabei gab es in seiner Existenz weder schön noch hässlich, nur nützlich oder unnütz und damit richtig oder falsch. Er hatte Tränen in ihren Augen gesehen. Sie waren … Er überlegte. Sie waren unnütz gewesen und damit falsch. Etwas passte hier nicht zusammen.

Es sei denn sie hatte gelogen. Ihr Mund hatte eine andere Sprache gesprochen als ihr Körper. Aber auch das stimmte nicht. Ihr Körper hatte ihn mit ihren Duft und mit aufreizenden Bewegungen zu sich gerufen und ihn dann abgewehrt. So etwas entsprach weder seinem instinktiven Wissen noch dem, was er während seiner Existenz gelernt hatte. Die Frauen, die er bisher begehrt hatte, hatten ihn abgewiesen oder sich mit ihm eingelassen. Es hatte keine Zwischentöne gegeben.

Er stieg er aus dem Auto und atmete tief durch. Der Wald war sein Zuhause. Er hatte ihm immer schon Kraft gegeben, hier hatte er seine Gedanken ordnen können. Heute musste es einfach wieder so sein.

Mit weit ausgreifenden Schritten ging er über den Waldboden. Sein Ziel war ein bewaldeter Hang. Dort ließ er sich verborgen zwischen Büschen und einem auf dem Boden liegenden Baumstamm nieder.

Weit unter ihm erstreckte sich ein riesiger, in Terrassen angelegter Besitz. Eine hohe Mauer umrundete ihn. Es gab weit und breit keine Nachbarn. Vor seinem Tor endete ein Zufahrtsweg. Wachen umrundeten seine Grenzen. 

Dort unten waren die Frau und ihr ungeborenes Kind. Seine Erschaffung, seine Existenz, sein Denken, sein Handeln, alles diente nur dem Zweck, sie zu schützen, um das Erbe des Dämonen in dieser Welt zu stärken. Aber nie würde sie ihn freiwillig in ihre Nähe lassen. Seit sie das Kind, die Hoffnung von Millionen auf ein besseres Leben, in sich trug, lebte sie dort unten abgeschirmt von der Außenwelt. Er musste jede Chance nutzen, mit ihr in Kontakt zu treten. Einen zweiten Versuch würde es nicht geben, wenn der erste misslang. Ihn würde es nicht mehr geben.

Essen, Trinken, Schlafen und Sex waren nur darauf ausgerichtet gewesen, die reibungslose Funktion seines Körpers aufrecht zu erhalten. Die Materie, aus der er bestand, und der dämonische Geist, der ihn dirigierte, hatten eine unbezwingbare Einheit gebildet. Er war seinem Ziel stetig näher gekommen. Bis jetzt.

Und dann war sie gekommen. Nora. Es war, als hätten seine Feinde ein Messer in sein Herz gerammt, eines, dass bis in sein Gehirn und seine Hoden reichte.

Er versuchte sich auf das zu konzentrieren, was vor seinen Augen geschah, aber er war zu kaum einem klaren Gedanken fähig. Wenn er sich zusammenriss, gelang es ihm für ein paar Minuten, Sekunden. Schon dass ihm das Handy in Noras Schlafzimmer entgangen war, zeigte, wie sehr sie ihn von seiner Aufgabe ablenkte. Ein solcher Fehler war ihm noch nie unterlaufen. Wäre er heute morgen ein paar Sekunden später in die Hütte zurückgekehrt, hätte sie jemand anderen, vielleicht sogar die Polizei, verständigen können. Die Spione der Frau und auch die ihrer Feinde hätten von ihm erfahren, wenn Nora geredet hätte, und seine Mission wäre gescheitert.

Jetzt sah er sie vor sich, wenn er die Augen schloss. Ihre vollen Lippen, die ihn noch nie wirklich angelächelt hatten, höchstens bitter und voller Verachtung. Er sah ihre großen und empörten Augen, ihr Blitzen, wenn sie wütend war, und das Feuermal auf ihrer Kehrseite, das ihn in Verwirrung gestürzt hatte.

Seine Hände wollten die Konturen ihres Gesichtes ertasten wie die eines Blinden. Seine Finger wollten sanft über die zarte Haut in ihrem Nacken streicheln und wild durch ihre Haare fahren. Sein Mund wollte nicht mehr harsche Worte sagen, sondern freundliche. Seine Lippen wollten ihre berühren. Seine Augen wollten sehen, wie ihre samtige Haut unter dem leichten Druck seiner Fingerspitzen nachgab. Etwas in ihm wollte sie quälen, bis sie sich stöhnend wand, ohne zu wissen, ob vor Schmerz oder vor Lust.

Seine Gedanken gehorchten ihm nicht mehr, sein Körper beherrschte ihn. Der Drang, sie zu berühren, zu riechen, zu sehen, zu schmecken, ihr Stöhnen zu hören, wurde mit jeder Minute übermächtiger. Sie hatte ein Spinnennetz um ihn gewoben und es verdichtetet sich immer mehr.

Er betrachtete seine Hände. Sie waren ihm fremd, genauso wie sein Körper, dessen Gewicht ihn nach unten zog. Mit einem Mal war der Boden, aus dem er immer seine Kraft bezogen hatte, ein feindseliges Hemmnis. Jetzt stöhnte er von seinem unsinnigen Verlangen gequält auf.

 

 

Das schier endlose Nichtstun erforderte mehr Disziplin von Nora, als sie aufbringen konnte. In der ersten Stunde hatte sie sich vorgenommen, ihn ihre Wut spüren zu lassen, wenn er wieder da wäre. Diese Witzfigur würde schon sehen, was er davon hatte, sie so zu behandeln. Was er getan hatte, war unverzeihlich. Immer wieder traten ihr die Tränen in die Augen. Es half auch nicht, wenn sie daran dachte, ihm den Schwanz mit dem Brotmesser abzuschneiden und zuzusehen wie er sich vor Schmerzen windend verblutete.

Ihre Finger trommelten auf die Tischplatte, ihre Füße traten gegen die Stuhlbeine. Der Wasserhahn tropfte. Sie stand auf und ging zum Spülbecken. Die Kette klirrte. Der Wasserhahn tropfte auch noch, nachdem sie ihn so fest sie konnte zugedreht hatte. Nach der zweiten Stunde schmolz ihr Vorsatz, ihn ihre Wut spüren zu lassen. Sie stützte den Kopf in ihre Hände und starrte ins Leere. Der tropfende Wasserhahn machte sie wahnsinnig.

Er hatte alle Fensterläden geschlossen und die Haustür verriegelt, während sie im Bad gewesen war. Die Luft in der Hütte war warm und stickig. Ein Schweißfilm lag auf ihrer Haut und ihre Haare klebten im Nacken. Sie stand auf und ging erneut zum Spülbecken. Das Klirren der Kette brachte sie zur Weißglut. Es gab hier niemanden, an dem sie sie auslassen konnte. Aus dem Vorsatz, ihn ihre Wut spüren zu lassen, wurde Gewissheit.

Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Durch einen Spalt zwischen den Fensterläden sah sie, dass sich ein Auto näherte. Es war nicht das von Silvan. Es verschwand aus ihrem begrenzten Blickfeld, ohne dass es auch nur die Geschwindigkeit verringert hatte. Sie fluchte und schlug mit der geballten Faust auf die Anrichte ein.

Nur mit Mühe konnte sie den zuvor fest zugedrehten Wasserhahn aufdrehen. Einen langen Moment beobachtete sie, wie der Wasserstrahl gurgelnd im Ausfluss verschwand. Sie trank ein paar Schlucke aus der hohlen Hand und kühlte sich Gesicht und Nacken mit dem kalten Wasser. Dann kehrte sie zum Tisch zurück. Sie wartete und malte sich Szenen aus, in denen sie Silvan grausam zurichtete.

Und als ob all das noch nicht genug gewesen wäre, verriet ihr Unterleib sie. Er wartete sehnsüchtig auf die Rückkehr dieses ungehobelten Waldschrats. Anfangs pochend, jetzt ziehend. Ihre Kehle war trocken, auch nachdem sie etwas getrunken hatte. Das durfte doch nicht wahr sein, nicht nachdem, was er getan hatte!

Als sich Stunden später die Tür öffnete, sprang sie so heftig auf, dass die Kette laut klirrte. Ihr stockte der Atem, als sie ihn sah.

„Ich sehe, du hast mich vermisst“, stellte er fest. Seine Miene war unbewegt, doch sein Herz schlug bei ihrem Anblick schneller. Er hatte gesehen, dass sie ihn erwartet hatte, auch wenn ihre Wiedersehensfreude weniger seiner Person, als vielmehr ihrer eigenen Sicherheit galt.

Nora konnte kaum die Augen von ihm lösen. Er trug zwar die gleiche Kleidung wie am Vortag, aber sie war eindeutig sauber. Auch musste er sich selbst gewaschen haben. Seine Haare waren kurz. Dort, wo vorher ein Bart seine Züge verunstaltet hatte, war jetzt ein ausnehmend gut aussehendes Gesicht zu sehen. In der Hand trug er eine Tasche, die sehr schwer aussah. Die Sehnen und Muskeln an seinem Unterarm traten hervor. Trotzdem bewegte er sich mit spielerischer Leichtigkeit. „Du hast dich verändert“, staunte sie. Eine Witzfigur war er ganz gar nicht.

„Gefalle ich dir so besser?“

Sie ahnte nicht, wie sehr seine Ohren auf ein Ja warteten. „Warum hast du das getan?“, wich sie der Frage aus.

„Ich sah zu auffällig aus.“ Während er antwortete drehte er sich um und stellte die Tasche neben der Tür ab. Als er sich vorbeugte, sprang sein Hintern ihre Augen geradezu an. Er schrie danach, von ihren Händen berührt zu werden, heiß und fest.

Verdammt. Männer hatten wegen ihr das große Sabbern gekriegt. Nicht umgekehrt.

Sie atmete tief ein. „Aha“, brachte sie hervor. Dass ihm jetzt jede Frau bewundernd und jeder Mann neidisch hinterhersehen würde würde, sagte sie ihm nicht. „Du warst lange weg“, beschwerte sie sich stattdessen.

„Sagte ich nicht bereits, dass wir nicht miteinander verheiratet sind? Das geht dich also nichts an.“

„Oh doch“, entgegnete sie wütend. „Es geht mich was an, wenn du mich hier am Arsch der Welt ankettest.“ Sie kreuzte die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an.

Er blickte zu Tisch, auf dem immer noch das Frühstück stand. „In nächster Zeit wärst du jedenfalls nicht verhungert.“

„Quak hier nicht so´n dummes Zeug, du genmanipulierte Missgeburt!“

Ihre Worte ließen etwas in ihm explodieren. Bevor sie richtig mitbekam, was geschah, war er vor sie getreten und gab ihr eine Ohrfeige. Sie war nicht so hart wie die erste, die er ihr im Wald verpasst hatte, trotzdem starrte sie ihn überrascht und empört an.

„Oh Mann, was soll die Scheiße?“ Sie rieb ihre schmerzende Wange.

In seinem Gesicht war kein Bedauern. „Sag so etwas nie wieder! Nie!“

Er hatte so hart gesprochen, dass sie wusste, wie ernst seine Drohung war. Sie musste irgendeinen empfindlichen Nerv getroffen haben.

Als er die Verwirrung in ihrem Gesicht sah, verflog sein Drang, ihr wehzutun. Schon mancher Fluch war ihm entgegengeschmettert worden. Sie waren an ihm abgeprallt wie Regen an einer Lotosblüte. Noras Beleidigung hingegen aber hatte ihn nicht nur getroffen, weil sie der Wahrheit so nahe kam, sondern auch, weil sie aus ihrem Mund gekommen war.

Er hob die Hand. In Erwartung eines weiteren Schlages wich sie zurück, bis ihr Arm ausgestreckt und die Kette gespannt war. Sie sah mit Angst in den Augen zu ihm auf. Ihre Lippen zitterten, aber dennoch hob sie ihm ihr Gesicht trotzig entgegen. Jenseits ihrer Angst sagte ihr etwas, dass er ihr nicht wirklich Schaden zufügen wollte.

Statt sie zu schlagen, legte er seine Hand leicht wie eine Feder auf die Wange, die noch von seinem Schlag gerötet war. „Was soll ich nur mit dir machen, Wildfang?“ Bisher hatte er nur Gier und Gewalt gekannt. Jetzt stand diese Frau vor ihm und löste etwas in ihm aus, auf das ihn nichts vorbereitet hatte.

Statt Schmerz spürte sie ein Prickeln, als seine Fingerspitzen ihre Lippen sanft berührten. Sie sah einen tiefen Ernst in seinem Gesicht und roch den Duft seiner Haut. Ihr Unterleib zog sich erwartungsvoll zusammen. Wo nur war ihre Wut geblieben? Ihre freie Hand griff nach seiner, die immer noch in ihrem Gesicht verharrte. Unwillkürlich strich sie über seinen Unterarm und spürte seine Gänsehaut unter ihren Fingern. Er beugte sich vor und legte seine Lippen auf ihre. Als sie es zuließ, wurde er mutiger. Seine Zunge drückte gegen ihren Mund. Sie öffnete ihn und er drang in sie ein. Seine Hand legte sich um ihren Kopf und presste ihn fest an sich. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals. Die eiserne Fessel an ihrem Handgelenk nährte ihr Verlangen, als würde nicht Stahl, sondern seine Hand sie dort halten und an sich ziehen. Sie wollte ihn, wie sie noch nie einen Mann gewollt hatte.

Die Erinnerung an das, was er ihr angetan hatte, zerstob ins Nichts. Ihre harten Brustwarzen rieben durch den Stoff ihrer Kleidung an seiner Brust. Sie hörte ihn aufstöhnen. Dann lagen sie auf dem Teppich. Sie sah in sein Gesicht über sich.

Er drückte ihre Beine mit seinem Unterleib auseinander und rieb sich an ihr. Sie spürte ihn hart und bereit an sich. Er legte sich auf sie. Sie hob ihm ihr Becken entgegen. Ihre Hände packten seine Haare.

„Sag mir, dass du es willst“, verlangte er mit vor Verlangen rauer Stimme.

„Ja.“

„Sag es!“

„Ja, ja, ja.“

„Sag es mir richtig.“

„Ich will es.“

Sein Mund traf hart auf ihren. Freudig nahm sie wahr, dass er seine Hose öffnete und irgendwie herunterzog. Als das Teil sich weigerte, über seine Knie zu rutschen, stöhnte er ärgerlich.

Nora musste trotz ihrer Erregung lachen. Es war, als stieße eine scharfe Klinge in ihn hinein. Dann erkannte er, dass sie ihn nicht auslachte. Ein Lachen trat auch in sein Gesicht und er erschien ihr trotz der gelben Glut in seinen Augen schöner als jeder andere Mann, den sie jemals gesehen hatte.

Irgendwie gelang es ihm, seine Hose über die Füße zu ziehen. Seine Beine waren kaum befreit, als er in sie eindrang.

Er fühlte, wie sie ihn in sich aufnahm. Sie zog ihn bei jedem Stoß tief in sich hinein. Ihre Scheide umhüllte ihn wie ein Urmeer, warm, feucht und voller Versprechungen auf Leben.

Das Glühen in seinen Augen legte sich wie ein Nebel um sie und riss sie mit sich. Doch diesmal trug der Wirbel sie wie auf Wolken und sie ließ sich mitreißen.

In ihrem Gesicht sah er ihre steigende Erregung. Als sie sich entlud, krallte sich sich fast an ihn. Der Schmerz, den sie ihm zufügte, lief durch seinen ganzen Körper und brachte ihn zum Höhepunkt seiner Erregung. Als er sich in sie ergoss, war es, als habe auch er eine Seele.

Er rollte sich von ihr runter, bemüht sie nicht mit seinem Gewicht zu erdrücken. Sie lagen nebeneinander auf dem Teppich und starrten die Decke über sich an. Noras Atem ging heftig. Seiner auch. Er runzelte verwundert die Stirn. So etwas hatte er noch nie erlebt. Kein Mensch hatte seinen Atem je dazu gebracht, sich zu beschleunigen, außer auf der Jagd und der Flucht. Dann bemerkte er, dass seine Haut feucht war. Er hatte geschwitzt. Auch das war ihm neu. Und dann durchfloss ihn wieder dieses ihm bis gestern unbekannte Gefühl. Ein Lächeln trat aus einem bisher nicht existierenden Bereich tief in seinem Innern auf seine Lippen.

Seine Hand tastete nach Nora. Sie war noch da. Die Kette ließ nicht zu, dass sie den Raum verließ, aber sie war auch keinen Millimeter von ihm abgerückt. Sein Lächeln wurde stärker.

Doch dann kam zurück, was ihm aufgetragen worden war. Das Lächeln erstarb. Er sprang hoch. „Steh auf!“, herrschte er Nora an.

Von seinem Stimmungsumschwung überrascht stand sie auf und richtete ihre Kleidung. Auch er zog seine Hose hoch. Die Kälte in dem Blick, den er ihr zuwarf, ließ sie erschaudern, auch wenn nichts Gelbes mehr darin war. Sie hoffte keinen Fehler begangen zu haben, als sie sich seiner und ihrer eigenen Leidenschaft so hemmungslos hingegeben hatte.

Sie konnte eh nicht begreifen, was sie getan hatte. Noch nie hatte sie sich derart schnell mit einem Mann eingelassen, und dieser hier war absolut nicht ihr Traumtyp. Sein Verhalten ihr gegenüber war unter aller Kanone, aber er brauchte anscheinend nur mit den Fingern zu schnippen und sie zerfloss vor Verlangen. Jedenfalls, wenn sie einen Fehler begangen hatte, war es jetzt zu spät, ihn ungeschehen zu machen.

Er trat zu ihr und löste die Handschelle an ihrem Handgelenk. Sein Griff war roh, trotzdem hoffte sie, dass er sie gehen ließ. Seine nächsten Worte nahmen ihr diese Hoffnung. „Du kommst mit mir.“

„Wohin.“

„Ganz hier in der Nähe.“

„Warum.“

Er sah sie böse an und schubste sie grob in Richtung Tür. „Halt den Mund und versuch wenigstens dieses eine Mal, nicht abzuhauen.“

„Ich kann so nicht mitkommen.“

„Warum nicht?“ Sie hörte die Ungeduld in seiner Stimme.

„Ich muss ins Bad.“

„Warum?“

„Männer!“ Sie verdrehte die Augen. „Ich muss mich frisch machen.“

„Stört dich mein Same in dir so sehr?“

„Mehr der, der wieder rausfließt.“

Er sah auf ihre Oberschenkel. Eine feuchte Spur lief daran herab. Der Anblick störte ihn nicht „Ok“, sagte er trotzdem mit einem Achselzucken.

Sie trat ins Bad und er hinter ihr. „Ähm. Ich wäre gerne alleine hier.“

Sein „Nein!“ kam so hart und bestimmt, dass sie kommentarlos zum Waschlappen griff und sich unter seinen Augen säuberte. Er hatte Gleiches mit sich anscheinend nicht vor.

„Kann ich mir etwas anderes anziehen?“

Er nickte nur. Sie ging hinauf ins Schlafzimmer und zog sich frische Unterwäsche, Jeans, ein T-Shirt und feste Schuhe an. Vorsichtshalber nahm sie noch eine Jacke in die Hand und ging wieder nach unten. Er stand ungeduldig am Fuß der Treppe und bedachte sie mit einem flüchtigen Blick. Dann wendete er sich zur Tür. „Komm.“ Er musste mit seinen Gedanken bei etwas anderem sein.

Im Vorbeigehen büchte er sich nach der Tasche, die er zuvor neben der Tür abgestellt hatte. Draußen packte er sie bei der Hand und zog sie zum Auto. „Mach keine Zicken und steig ein!“

Notgedrungen tat sie, was er verlangte. Vielleicht bot sich ihr so eine Gelegenheit abzuhauen.

Er fuhr los, achtete aber auf der kurzen Strecke darauf, nur wenig befahrene Straßen zu nutzen. Wie auch auf der Hinfahrt zur Hütte in der vergangenen Nacht begegnete ihnen niemand.

Wieder fuhr er in einen kleinen Waldweg und dann ein Stück querfeldein. Am Rand einer Lichtung hielt er an und stieg aus. In der Hand hielt er die Tasche. „Komm“, verlangte er erneut, ohne ihr eine Erklärung zu geben.

Widerwillig kletterte sie aus dem Auto.

Er stand direkt vor ihr. „Du wirst nicht weglaufen, nicht schreien und auch sonst keine Dummheiten machen“, warnte er sie. „Du wirst nur tun, was ich dir sage.“

„Bilde dir mal nichts ein.“

„Das tu ich nicht. Aber du tust, was ich dir sage.“

„Du bist so ein durchgeknallter Macho!“

„Stimmt.“

„Ich hasse Machos!“

„Stimmt nicht. Aber jetzt halt endlich den Mund und komm mit.“

„Du hast mir nichts zu befehlen“, konterte sie.

„Ich stelle hier die Regeln auf, Nora. Ich will dir nicht wehtun, aber wenn du sie nicht befolgst, werde ich es tun.“

Der Ausdruck in seinem Gesicht zeigte ihr, dass er es ernst meinte. Ihr erster Impuls war, ihm entgegenzuschreien, wie bescheuert er war, ihr zweiter ihn zu schlagen und zu treten. Zu dumm nur, dass er so viel größer und stärker war als sie.

Und dann machte sich auch noch ihre Hand selbstständig. Sie legte sich an seiner Hüfte auf seinen Gürtel. Zwei Finger bohrten sich zwischen Haut und Stoff.

Männer hatten sie als zickig, kalt und hochnäsig bezeichnet. Und sie hatten Recht gehabt. Wer ihr dumm gekommen oder lästig geworden war, den hatte sie bedenkenlos in die Wüste geschickt. Nichts davon war mehr vorhanden. Stattdessen zog sich ihr Unterleib schmerz- und lustvoll zusammen. Ihre Brüste spannten unter ihrer Kleidung. Sie konnte es kaum fassen, aber wenn dieser Grobian sie auf den Waldboden werfen und nehmen würde, wäre sie zu keiner Gegenwehr fähig gewesen. Und wenn er sie noch lange so reizte, würde sie ihn auf den Boden werfen und an Ort und Stelle vernaschen, obwohl sie ihr erotisches Zwischenspiel eben erst beendet hatten.

Er spürte ihre Finger auf seiner Haut. Verlangen schoss durch seinen Körper. Diese Frau stellte seinen ganzen Plan infrage. Er atmete gepresst ein. „Nicht jetzt.“

Ohne ihr Zeit für eine weitere Antwort zu lassen, packte er Noras Hand und zog sie ein Stück durch den Wald. Sie war zu überrascht, um sich zu wehren, aber sie sah sich um.

„Hier ist niemand“, klärte Silvan sie auf.

„Wieso bist du dir da so sicher?“

„Ich weiß es.“

„Hast du Röntgenaugen?“

„So etwas brauche ich nicht.“

Für ein weiteres Gespräch fehlte ihr der Atem. Er blieb erst stehen, als sich vor ihnen ein weiter Ausblick in ein Tal öffnete. Weit unter ihnen lag ein von einer hohen Mauer umgebener Besitz. Das einzige Tor war anscheinend bewacht. Beton, Glas und Stahl, verbunden in hypermoderner Architektur, ließen das Haus inmitten der Natur so unwirklich erscheinen wie ein UFO. Der riesige, in Terrassen angelegte Park wirkte, als würden die Gärtner jeden Tag die Wege harken und die Pflanzen und den Rasen kämmen. Ordnung ist das halbe Leben, dachte Nora, nur dass es dort unten anscheinend keine zweite Hälfte gab.

Vor dem Haus parkten mehrere Autos verschiedener Nobelmarken und in unterschiedlichen Farben. In einer exakten Linie ausgerichtet waren ihre Kühler dem Tor zugewandt, Man hatte sie in Fluchtrichtung abgestellt. Ihre hinteren Fenster waren so undurchdringlich wie die abweisenden und bis zum Boden reichenden Glasfronten des Hauses.

Am Rand des ummauerten Geländes sah sie einige kleinere Nebengebäude. Weiter unten lag eine Großstadt. Ihre Mitte wurde von einem breiten Fluss durchschnitten. Dort unten studierte sie. Jedenfalls wenn sie nicht gerade von einem Irren entführt wurde.

Silvan setzte sich unterhalb eines dichten Busches, der ihn vor Blicken von oben verbarg, auf den Boden. Der Stamm eines umgestürzten Baumes schütze ihn auch vor beobachtenden Augen von unten. „Setz dich.“

Sie breitete ihre Jacke neben ihm aus und ließ sich darauf nieder. Silvan nahm ein Fernglas aus seiner Tasche und beobachtete, was auf dem Besitz unter ihm geschah.

Verdammt, dachte Nora, er ist ein Einbrecher oder so. Aber kein normaler, der Computer und Schmuck klaut. Er hat es auf irgendetwas streng Bewachtes abgesehen. In was bin ich da nur hineingeraten? Niemand wird mir meine Geschichte glauben, wenn wir erwischt werden.

Und fast noch schlimmer. Sie hatte ungeschützt mit ihm geschlafen. Was, wenn sie sich irgendeine Krankheit eingefangen hatte oder schwanger geworden war. Einen guten Vater würde Silvan ganz bestimmt nicht abgeben.

Die Schatten wurden unter der Nachmittagssonne länger. Während das Warten sie zunehmend ungeduldiger machte, hatte er anscheinend alle Zeit der Welt. Er beobachtete unbeirrt das Haus, obwohl sich da unten nichts tat, außer dass ein paar Wachen in unregelmäßigen Abständen den Park entlang der Mauer umrundeten. Sie überlegte, ob sie ihren Schrei hören könnten. Sicher nicht. Sie waren zu weit weg, sonst hätte Silvan sie nicht mit hierher genommen. Zwischendurch griff er in die Tasche und holte eine Wasserflasche hervor. Nachdem er einen großen Schluck genommen hatte, reichte er sie ihr.

Sie langweilte sich. Ihre Hände spielten mit Grashalmen, zerbrachen trockene Zweige und malten Figuren in den trockenen Waldboden. Als sie einen Tannenzapfen in paar Meter weit in ein Gebüsch warf, drehte Silvan sich wütend zu ihr um. „Lass das!“

Sie griff nach einem weiteren Tannenzapfen. „Und was wenn nicht?“

Er packte ihr Handgelenk und drückte so fest zu, dass sie den Zapfen mit einem Schmerzlaut fallen ließ.

„Dann das“, erklärte er und wandte sich wieder dem Haus zu.

„Scheißkerl“, fluchte sie, aber er reagierte nicht darauf.

Ihr fiel ihr auf, dass keinerlei Insekten sie belästigten. Nicht einmal Vögel waren zu hören. Sie erinnerte sich an die gelbe Glut in seinen Augen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, einmal abgesehen davon, dass er ein irrer Verbrecher war, der sie unter Drogen gesetzt hatte. Ein verdammt gutaussehender Verbrecher.

„Wer bist du?“

Er warf ihr einen entnervten Seitenblick zu. „Silvan. Das sagte ich dir bereits. S. I. L. V. A. N.“

„Ich meine, was bist du? Arbeitest du alleine oder gehörst du zu irgendeiner Organisation?“

„Das geht dich nichts an.“

„Ich will es aber …“

Plötzlich schoss seine Hand zu ihrem Nacken und presste sie auf den Boden, während er sich auch selbst hinter den Baumstamm drückte.

„Was soll das“, brachte sie hervor.

„Sei still und bleib unten.“

„Warum?“

„Einer sucht die Gegend mit einem Wärmebildgerät ab. Damit können sie uns aufspüren, wenn wir nicht unten bleiben.“

Das würde mich jetzt nicht stören, dachte Nora.

„Wir werden das nicht überleben, wenn sie uns erwischen“, erklärte er, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Weder du noch ich.“

„Wir sind zu weit weg. Die können uns nicht einfach so umbringen.“

„Doch, sie können.“

„Warum sollten sie das tun?“

„Sei jetzt endlich still“, zischte er. Vorsichtig hob er seinen Kopf, bis er mit dem Fernglas gerade über den Baumstamm blicken konnte. Nora tat es ihm mit bloßen Augen nach.

Der Mann suchte mit dem Wärmebildgerät gerade eine andere Richtung ab. Dann sah sie, wie eine blonde Frau und ein Mann aus dem Haus traten. Neben ihr spannte Silvan sich an wie ein Raubtier auf der Jagd.

 

 

 

 

8. Flucht

 Mit einem Aufatmen trat Liara aus dem Haus. Obwohl es riesig war, erdrückten sie die Mauern, seit ihre Schwangerschaft sie unbeweglich und schwach machte. Ihr Sohn nahm ihr viel von ihrer Kraft und legte ihre Gabe lahm. Trotzdem liebte sie ihn schon jetzt. Wenn Michael über ihren Bauch strich, fühlte sie, wie das Kind sich zu ihm hin bewegte. Wahre Liebe gibt es nur unter Männern, dachte sie und lächelte bei dem Gedanken an das erst verblüffte und dann glücklich strahlende Gesicht ihres Mannes, als er es zum ersten Mal bemerkt hatte. Jetzt legte sie eine Hand auf ihren Bauch und auch ihr kam das Kind entgegen, obwohl es schon reichlich eng in ihr sein musste. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie es endlich direkt sehen und liebkosen konnte.

Ihr Blick fand den Wald hinter der hohen Mauer. Sie war schon lange nicht mehr dort gewesen. Wehmütig dachte sie daran, wie der Drang so oft mit einer fiebrige Unruhe über sie gekommen war. Er hatte sie gedrängt, das Korsett aus anerzogener Selbstbeherrschung wie einen Fremdkörper abzustreifen, wenn der Geist des Waldes sie hinaus in die Nacht gerufen hatte.

Es begann zwischen ihren Schulterblättern: ein Sehnen, das ihr Herz dröhnen ließ und sich fordernd und verheißungsvoll in ihr ausbreitete, bis jede einzelne ihrer Zellen davon durchdrungen war. Heißkalt, explosiv, vibrierend. Sie hatte den Drang schon immer gefürchtet und gleichzeitig geliebt. Eine längst vergangene Zeit hatte sie zu sich gerufen und sie hatte gehorcht. Sie hatte es nicht aufhalten können, hatte es nicht einmal wirklich gewollt.

Wenn sie aus der Haustür getreten war, war ihr Körper mit jedem Schritt leichter geworden. Die Nacht hatte sie umfangen wie ein alter Freund. Schon auf dem ausgeleuchteten Weg zum Tor hatte sie Witterung aufgenommen. Die Wache hatte es geöffnete und ihr mit aufgestellten Nackenhaaren hinterhergesehen, bis ihr Umriss von der Schwärze jenseits der Lichtkegel aufgesogen worden war. Wenn sich das Tor hinter ihr geschlossen hatte, war sie von anderer Wesensart gewesen.

Sie war losgelaufen und in den Schatten der Bäume, zwischen Büschen und Sträuchern eingetaucht. Ihre Schritte waren lautlos gewesen. Dornen waren vor ihr zurückgewichen, der Boden war unter ihr dahingeflogen. Aufatmend hatte sie die Gerüche des Waldes, die selbst ihr sonst verborgen blieben, wahrgenommen. Sie hatte gespürt, wie das Leben unter ihren Füßen krabbelte und sich wand. Ihre Augen hatten die Nacht durchdrungen, ihre Ohren besser hören können als die einer Wildkatze. Es war ein zeitloser Rausch gewesen, in dem es keine Verpflichtungen, keinen Schmerz und keine Scham gegeben hatte. Sie war frei gewesen. Die Luft hatte pulsiert und zu ihr geredet. Heimat. Sie hatte dem Geist der Wälder gelauscht. Ein gelbes Glühen brannte in ihren Augen.

Seit Beginn ihrer Schwangerschaft war der Drang nicht mehr mit seiner ganzen Kraft über sie gekommen. Doch am liebsten wäre sie auch jetzt nackt in den Wald gelaufen, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war. Aber sie war zu vorsichtig, das zu tun. Nicht die herannahende Kälte hielt sie davon ab, sie konnte ihr nichts anhaben, sondern die Angst, ihrem Kind Schaden zuzufügen.

Die Dienerschaft wusste, was sie tat, wenn es so weit war, und ging ihr aus dem Weg. Niemand wollte ihr in diesem Zustand begegnen, obwohl sie niemals blutüberströmt oder mit den Spuren eines Kampfes zurückgekehrt war. Aber es gab grausige Geschichten über in Stücke gerissene Menschen, die sich dem Wolf in den Weg gestellt hatten. Der Geist des Waldes, so hieß es, verlange nach Blut. Er brauche es, um zum Herr der jenseitigen Welt aufzusteigen und auch die diesseitige zu beherrschen. Deshalb lege er sich in der Gestalt eines schönen Mannes zu Menschenfrauen, um mit ihnen seine Bastarde, halb Mensch, halb Dämon, zu zeugen, die es ihm als Opfer darbrachten. Wenn das Erbe des Wolfes in diesen Abkömmlingen erwache, leuchte eine gelbe Glut in ihren Augen und sie seinen todbringende Bestien, die durch die Nacht streifen, immer auf der Suche nach pulsierenden blutgefüllten Adern.

Liara lächelte, während sie jetzt an Michaels Seite durch den Park ging. Sie verwandelte sich nicht in ein blutrünstiges Monster und hatte auch nie den Drang verspürt zu töten, aber die Gerüchte unter ihren Leuten waren ihr recht. Niemand hatte es jemals gewagt, zu neugierig zu sein oder ihr sogar nachzustellen.

Plötzlich blieb sie stehen und hob ihr Gesicht. Das Lächeln war daraus verschwunden.

Michael wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. „Was ist?“

„Da ist etwas.“

„Was?“

„Ich weiß nicht.“

„Ist es gefährlich?“

Sie legte den Kopf schief und lauschte mit geschlossenen Augen in Richtung Wald. „Keine Ahnung. Aber jemand beobachtet uns.“

„Lass uns reingehen.“

Liara schüttelte den Kopf. „Dann würden wir ihn warnen und er könnte fliehen. Ich muss wissen, wer er ist und was er von uns will.“

„Es ist nur eine Person?“

„Ich weiß nicht.“

Liara winkte gelassen einen der Wachhabenden zu sich und gab ihm eine Anweisung. Zügig, aber ohne auffällige Hektik ging er ins Haus. Er wusste, was er zu tun hatte.

 

Silvans Augen blickten starr auf das Paar, das Seite an Seite einen Spaziergang durch den Park machte. Obwohl sie weit weg waren, erkannte Nora, dass die Frau schwanger war.

Silvan war vollkommen gebannt von dem, was da unten geschah. Die Frau und der Mann gingen langsam durch den Park. Er hatte seinen Arm schützend um ihre Taille gelegt. Trotz ihrer schon deutlich erkennbaren Schwangerschaft ging die Frau mit eleganter Leichtigkeit über die Wege.

Nora rutschte ein Stück von Silvan weg. Er reagierte nicht darauf. Sie rutschte noch ein Stück weg. Sein Blick war starr auf das Paar unten im Park gerichtet. Ihr Herz raste. Sie brachte einen Meter zwischen sich und ihn, dann zwei. Genau hinter seinem Rücken ging sie in die Hocke. Er beachtet sie immer noch nicht. Sie erhob sich wie in Zeitlupe und ging rückwärts ein paar Schritte von ihm weg. Langsam drehte sie sich um und schlich in den Wald. Sie konnte kaum glauben, wie sehr er von dem Anblick dort unten hypnotisiert war.

Ihre Angst trieb sie dazu, zu rennen. Nur mit Mühe hielt sie sich zurück, um sich ihm nicht durch ein verräterisches Geräusch oder eine schnelle Bewegung in Erinnerung zu rufen. Erst als sie sich mehr als 100 Meter von seinem Beobachtungsposten entfernt hatte, blieb sie stehen und blickte sich um. Das Unterholz war niedrig und der Wald so licht, dass er sie auf Hunderte von Metern hätte sehen können. Er würde nicht lange brauchen, sie einzuholen, nachdem er sie erst einmal entdeckt hätte.

Jetzt versuchte sie so schnell wie möglich von hier zu wegzukommen, aber sie kam viel zu langsam voran. Dornige Ranken, und querliegende Stämme behinderten ihre Flucht. Ihre Füße knickten auf Steinen weg. Zwar dämpfte der weiche Waldboden ihre Schritte, aber wenn sie auf einen morschen Ast trat, klang es in ihren Ohren wie das Kreischen einer Kreissäge.

Sie sah sich um. Zwischen den Bäumen war ein Schatten. Er hatte ihre Flucht bemerkt, sie aber nicht gerufen. Jetzt bewegte er sich lautlos auf sie zu.

Vor ihr ragte die Wurzel einer Fichte auf. Der Sturm hatte sie aus dem Boden gerissen. Dicht belaubte Ranken wucherten daran hoch. Nora schlüpfte zwischen das Gestrüpp, hoffend, dass Silvan sie nicht aufspüren würde.

Sie versteckte ihr Gesicht in ihren Armen. Jemand hatte ihr einmal erzählt, ein Jäger fühle den Blick seiner Beute. Sie hatte es nicht geglaubt – bis jetzt.

Er rief sie immer noch nicht. Bis auf ihren Atem war es totenstill. Sie konnte trotz des mit trockenen Tannenzapfen und morschem Holz übersäten Bodens keine Schritte hören.

Vorsichtig hob sie das Gesicht und spähte durch die Ranken. In ihrem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. Als sie den Kopf wendete, sah sie seinen Rücken zwischen dichten Büschen verschwinden. Erleichtert atmete sie auf. Er hatte sie verpasst.

Sie wartete noch. Sekunden vergingen wie Minuten, Minuten wie Stunden. Er kam nicht zurück.

Mit ein zwei Fingern schob sie die Ranken zur Seite. Eine Hand packte ihr Handgelenk. Sie schrie vor Schreck. Silvan zerrte sie aus ihrem Versteck.

„Sei still!“, herrschte er sie an.

Sie trat um sich. Er packte auch ihre Oberarme wie ein Schraubstock und schüttelte sie. Vor ihr war sein hartes Gesicht. „Halt still und sei ruhig!“

Während er noch ihren einen Oberarm hielt, zückte er eine Hand, als wolle er sie schlagen. Noras hob ihre Arme, um den Schlag abzuwehren.

Er schlug nicht zu. Seine Geste war nur eine Drohung gewesen, aber sie wusste, er würde sie wahrmachen, wenn sie sich ihm weiter widersetzte. „Ich dachte, du wärst weg“, schluchzte sie. „Wieso hast du mich gefunden?“

„Der Wald ist mein Zuhause. Es gibt hier keinen Ort, an dem du dich vor mir verstecken kannst.“

Hinter ihm bemerkte sie eine Bewegung. Mehrere Männer standen dort und richteten ihre Waffen auf sie. „Silvan“, schrie Nora, dann war alles weg.

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Tag der Veröffentlichung: 20.02.2015

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