Cover

1. Die Entführung

„Nicht schon wieder dieses Thema, Fehild.“ Liaras Hand strich über den Rock ihres makellos sitzenden Kostüms, das von dem gleichen hellen Grün war wie ihre Augen. Mit einer energischen Bewegung setzte sie sich an den Schreibtisch, dessen dunkles und abgewetztes Holz so gar nicht zu der übrigen, aus hochglänzenden Materialien, Glas, Stahl und Leder bestehenden Einrichtung ihres Hauses passte.

Alles an Liara war kühl und beherrscht, ihre Haltung, ihre blonden hochgesteckten Haare, ihre Gesten. Nur ihre Finger, die ein nicht vorhandenes Staubkorn von der Tischplatte fegten, verrieten ihren Unmut.

Fehild stand auf der anderen Seite des Schreibtisches und sah verständnislos auf ihre ältere Schwester herab. Unwirsch schüttelte sie ihre braunen Locken. „Warum sträubst du dich so dagegen? Es ist ja nicht einmal unangenehm. Im Gegenteil. Außerdem bist du es der Gemeinschaft schuldig.“

„Fang du nicht auch noch an, mir zu erklären, was meine Pflicht und Schuldigkeit ist. Alle andern erinnern mich schon ständig daran.“

„Du hast ihnen in letzter Zeit viel zu viel durchgehen lassen. So etwas dürften sie nie wagen.“

„Das haben sie auch nicht, jedenfalls nicht offen. Aber ihre Blicke und ihre Fragen nach meinem Befinden …“

„Nicht einmal das dürften sie wagen. Du bist jetzt die Reichsherrin. Allerdings haben sie Recht. Es wird Zeit, dass du deine Pflicht erfüllst.“

„Habe ich dass nicht immer getan?“

„Nun ja.“ Fehild schnippte mit den Fingern. Es war eine ihrer Lieblingsgesten und Liara ebenso vertraut wie das Gesicht und das lebhafte Temperament ihrer jüngeren Schwester. „Du warst eine gehorsame Tochter, eine gelehrige Schülerin, eine fleißige Studentin und du hast deine Pflichten immer ausgesprochen gewissenhaft erledigt, geradezu zwanghaft. Seit dem Tod unserer Mutter auch die als Reichsherrin. Bis auf deine wichtigste.“ Sie lächelte nicht nur mit ihrem Mund, sondern auch mit ihren großen dunkelbraunen Augen. „Du hast sogar mich ertragen, und das war bestimmst nicht immer leicht.“

„Du sagst es.“

„Aber du hast keine Ahnung, wie oft unsere Mutter dich mir als leuchtendes Beispiel vorgehalten hat. Als Kind habe ich dich dafür mehr gehasst als diesen unendlich langweiligen Unterricht.“

„Und mich reichlich dafür büßen lassen.“ Liara wusste, dass Fehild sie von ihrem Ärger ablenken wollte. Trotzdem musste auch sie jetzt lächeln, als sie an die Streiche und Boshaftigkeiten ihrer kleinen Schwester dachte. Gut gezielte Schneebälle und eine tote Ratte im Bett waren nur ein geringer Teil davon. Besonders ihre Mutter hatte ihr anheimgelegt, diese Gemeinheiten stoisch über sich ergehen zu lassen. Angesichts ihrer besonderen Stellung zieme es sich nicht, ihre Gefühle im Beisein anderer offen zur Schau zu stellen  oder gar die Selbstbeherrschung zu verlieren. Auch wenn sie damals noch ein Kind gewesen war, hatte man ihr diesen Lehrsatz immer und immer wieder eingeschärft, so lange, bis sie ihn tief verinnerlicht hatte.

Wenn überhaupt hatten andere Fehild für ihre kindlichen Vergehen gestraft; so etwas gehörte nicht zu den Pflichten einer zukünftigen Reichsherrin. Aber keine Strafe hatte ihre kleine Schwester davon abgehalten, sie so lange zu piesacken, bis sie tobend und schreiend in eine kindliche Rage verfallen war. Für Liara war das Schlimmste daran gewesen, dass sie dann stundenlang hatte üben müssen, ihre Selbstbeherrschung zu wahren. Sie, nicht dieses freche kleine Monster, das meist schon nach ein paar Ermahnungen und dem nie gehaltenen Versprechen, sich zu bessern, vergnügt und voller Schadenfreude spielen gehen durfte. Der Blick, den Fehild ihr zugeworfen hatte, war ohne jede Reue, dafür aber voller Triumph gewesen.

Nur selten hatte ihre kleine Schwester das Missfallen ihrer Mutter oder Erzieherinnen wirklich empfindlich zu spüren bekommen. Man hatte ihr fast alles durchgehen lassen und sogar ihr überschäumendes Temperament und ihre Furchtlosigkeit bewundert.

Es war ein hartes Training für Liara gewesen. Und sehr erfolgreich, wenn auch nicht so vollkommen, wie sie es gerne gehabt hätte. Auch die strengste Erziehung konnte das Erbe des Drachen, Impulsivität und Leidenschaft bis hin zur Selbstzerstörung, nicht gänzlich niederhalten.

„Jetzt erinnerst du mich an meine Pflichten, als wärst du meine Mutter“, beschwerte Liara sich.

„Ich denke nur an das Wohl unserer Gemeinschaft.“

„Für das ich geopfert werden soll. Und er auch.“

„Liara, ich bitte dich! Er ist intelligent, gebildet, er sieht gut aus und wird dir gehören. Das ist nun wirklich kein Opfer. Jedenfalls nicht für dich. Und ich denke auch nicht für den, der auserwählt wurde.“

„Er wird das anders sehen.“

„Kaum. Du bist jung, unglaublich reich, die Männer verdrehen sich den Kopf nach dir und du hast die Kraft des Wolfes. Er wird sich bereitwillig fügen. Alle anderen haben es auch getan.“

„Die Menschen hier sind so verbohrt, was ihre Freiheit angeht. Er will sie ganz bestimmt nicht aufgeben.“

Fehilds Mundwinkel zuckte nach oben. „Man muss ihm nur klarmachen, dass er es will.“

Liaras drückte ihre eben noch mit dem nicht vorhandenen Staubkorn beschäftigte Hand flach auf die Schreibtischplatte. „Wie müssen erst sicher sein, dass alles seine Richtigkeit hat“, beharrte sie, obwohl sie genau wusste, wie detailversessen alle Vorbereitungen getroffen worden waren. Sogar einige Ermittlungen, die seine körperliche Funktionsfähigkeit nachweisen sollten, waren mit Hilfe, nun ja, eher finanziell interessierter Damen durchgeführt worden. Sie hatten ihn angesprochen und ihr später über das Ergebnis ihrer Recherchen haarklein Bericht erstattet. Liara hatte nicht persönlich mit ihren gesprochen, ihre schriftlichen Schilderungen hatten ihr genügt.

Um ganz sicher zu sein, hatte man auch Spionagekameras und -mikrofone in seinem Haus installiert. Sie hatten ihr noch mehr Details verraten als jene Frauen. Liara wollte nicht an diese delikate Angelegenheit erinnert werden, doch wie so oft stahlen sich auch jetzt die Bilder, die sie auf dem Monitor ihres Computers gesehen hatte, vor ihr inneres Auge.

Sie sah ihn, wie er sich morgens mit Bartstoppeln und wirren dunkelblonden Haaren aus dem Bett gekämpft hatte. Obwohl er manchmal Tennissocken zu seinem zerknitterten T-Shirt und seinen Shorts trug, waren ihre Augen bewundernd über seinen Körper geglitten, wenn er sich vor dem Fenster stehend zu seiner ganzen Größe gereckt hatte und ein Streifen seines flachen und muskulösen Bauches hervorblitzte. Er war wie ein Relikt aus einer früheren Zeit, stark, ungezähmt und frei von all den Zwängen, denen sie selbst unterlag. Dann war er im Badezimmer verschwunden. Wenn sie ihre Hand zwischen die leeren Laken hätte stecken können, wäre sie von der Wärme, die er dort in der Nacht abgestrahlt hatte, umhüllt gewesen.

Wenig später war er wieder mit ordentlich gekämmten Haaren und glatt rasiertem Gesicht erschienen. Meist hatte sie seine Verwandlung in ein zivilisiertes menschliches Wesen bedauert. Ein paar Mal hatte er so direkt in die Kamera geblickt, dass sie sich von seinen blauen Augen ertappt gefühlt hatte. Ihr sonst so gleichmäßig schlagendes Herz war aus dem Takt geraten. Manchmal hatte sie überlegt, wie es wohl wäre, in eine seiner Vorlesungen zu gehen und ihn leibhaftig zu sehen. Sie hatte den Gedanken von sich gewiesen. So etwas wäre vollkommen überzogen und unangemessen gewesen.

Auch am Abend hatten die Kameras und Mikrofone auf ihn gewartet. Oft war er bei seiner Rückkehr von Frauen begleitet worden. Dann hatte sein sinnliches Lachen die Luft in seinem Haus vibrieren lassen. Er hatte sich als Kavalier der alten Schule gezeigt, ihnen den Mantel abgenommen, etwas zu trinken angeboten und sie mit flüchtigen Berührungen und verführerischen Blicken umgarnt, obwohl er wusste, dass er sie schon längst für diese Nacht gewonnen hatte. Auch jene, die nicht von der Gemeinschaft für ihre speziellen Dienste bezahlt worden waren, hatten sich bereitwillig von seinem Charme, seinem Witz und seinem jungenhaften Lächeln erobern lassen. Seine Finger, seine Lippen und sein Atem hatten ihren Nacken gestreichelt. Liara hatte die Ungeduld in ihren Gesichtern sehen können, wenn er sie quälend langsam aus ihrer Kleidung geschält hatte. Er konnte sanft und zärtlich sein, aber auch wild und ungestüm. Ihr Blick war seinen Händen gefolgt, wenn sie über die Haut seiner Geliebten strichen, ihre Lippen berührten oder hart in ihre Haare griffen. Seine Worte waren frivol und schamlos gewesen. Die Frauen hatten ihm mit einem verlangenden Stöhnen geantwortet. Liara hatte seine steigende Erregung an seinen kraftvollen Bewegungen und an seinem heftiger werdenden Atem erkannt. Wenn er in sie eingedrungen war, hatten die Frauen seinen Körper voller Leidenschaft an sich gezogen, so als wollten sie ihn nie wieder freigeben. Er hatte sie gereizt, sich ihnen immer wieder entzogen, um dann härter anzugreifen, bis sie ihn um Erlösung angebettelt hatten. Wenn er sie ihnen gewährt hatte, lagen sie außer Atem und erschöpft in seinen Armen. Selbst durch das Zwielicht seines Schlafzimmers und durch die Linsen der Kameras hatte Liara die Befriedigung in den Gesichter der Frauen erkennen können.

Bei diesem Anblick hatte sie jedes Mal ein beißendes Gefühl in ihrem Magen verspürt. Zu sehen, was sie sehen musste, war ihr unangenehm gewesen. Aber nicht unangenehm genug, um den Blick abzuwenden. Ihre Hände hatten sich ineinander verkrampft. Der Wolf hatte sie gemahnt, sich keiner Obsession hinzugeben, doch der Drache hatte sie immer wieder vor ihren Computer gezwungen.

Jene Frauen, die von der Gemeinschaft auf ihn angesetzt worden waren, hatten ihn bald nach Ableistung ihrer Pflicht verlassen. Die anderen waren neben ihm eingeschlafen. Am nächsten Morgen hatten sie sich gebärdet, als hätten sie ihm eine unverdiente Gunst erwiesen. Sie waren sich ihrer Schönheit bewusst gewesen und erwarten geradezu seine Dankbarkeit und Verehrung. Er hatte ihre Allüren mit erstaunlicher Gelassenheit und mit einem feinsinnigen Lächeln über sich ergehen lassen. Die meisten waren wiedergekommen.

Liara zwang ihre Gedanken ins Hier und Jetzt zurück. „Es ist nicht so dringlich, dass es sofort geschehen muss“, erklärte sie mit harter Stimme.

„Wir sind vollkommen sicher, dass er passt. Ihr seid das perfekte Paar.“ Fehild konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Genetisch jedenfalls.“ Dann wurde sie wieder ernst. „Es hat so lange gedauert, bis wir den Richtigen gefunden haben. Wir sollten nicht noch mehr Zeit verstreichen lassen. Du wirst dich nicht vor der Erfüllung deiner wichtigsten Pflicht drücken. Du nicht. Ich kenne dich. Früher oder später wirst du es tun. Warum also nicht gleich? Und erzähl mir bitte nicht, du hättest Gewissensbisse, das nehme ich dir nicht ab.“

Fehilds respektlose Worte verärgerten Liara noch mehr. Sie erhob sich wieder und trat an das bodentiefe Fenster ihres Arbeitszimmers. Ihr war danach, dem Gummibaum neben ihr einen Tritt zu versetzen. Sie verbat sich eine solch unbeherrschte Tat nicht nur, weil es die einzige Pflanze im Haus war.

Weit unter ihr, jenseits der hohen Mauer, die ihren riesigen Besitz von der Außenwelt abschirmte, kämpfte sich der Strom der Autos träge durch den Verkehr der allabendlichen Rushhour. In der feuchtkalten Dämmerung eines späten Sommertages bildete das Licht weißer und roter Lampen endlose Schlangen vor den Ampeln. Der Fluss durchtrennte die Stadt wie ein dunkles Band in zwei fast gleichgroße Hälften. Liaras Augen folgten ihm stromaufwärts, bis er hinter einer Biegung verschwand. Hier oben, durch das Sicherheitsglas des Fensters, war von den Geräuschen der Großstadt unter ihr nichts zu hören.

Sie wusste, er war dort unten und so ahnungslos, wie man es nur sein kann.

Der Wolf rief sie in die Dunkelheit hinaus. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, seinem Ruf zu folgen. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. Am liebsten hätte sie die Flügel ausgebreitet, um schwerelos im Aufwind durch die Nacht zu gleiten. Doch obwohl sie nicht nur dem Geschlecht des Wolfes, sondern auch dem des Drachen entstammte, war ihr diese Gabe nicht vergönnt. Die Schwerkraft hielt sie so fest am Boden wie jeden anderen Menschen. Vielleicht sogar noch mehr, denn die Verantwortung, die das Schicksal ihr aufgebürdet hatte, lastete schwer auf ihren Schultern.

Fehild betrachtete ihre Schwester. Auf jeden Fremden wirkte sie so kalt und abweisend wie ein Eisblock. Und jeder außer ihr selbst war ein Fremder für Liara. Sie aber kannte die Kräfte, die unter ihrer harten und spröden Oberfläche wirkten. Sowohl der Drache als auch der Wolf hatten Liara ein machtvolles Erbe beschert. Aber jedes einzelne davon war nicht nur gefährlich für ihre Widersacher, sondern auch für sie selbst. In ihr vereinigten sich die Leidenschaft und die Gabe der Drachen mit der Weisheit, der Unbeirrbarkeit und der Kraft des Wolfes. Eine nahezu unbesiegbare Einheit war entstanden. Doch dieses Erbe bedrohte auch Liara selbst wie eine tickende Zeitbombe. Deshalb hatte man sie seit frühester Kindheit zu einer stählernen Selbstbeherrschung erzogen und sie gelehrt, ihre Kräfte zu meistern und zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen. Sie, die selbst die verborgensten Gefühle der Menschen um sich herum erkannte, durfte ihre eigenen für niemanden sichtbar werden lassen, nicht einmal für sich selbst.

Nur Fehild kannte die winzigen Zeichen, die Liaras Stimmung verrieten. Jetzt allerdings war ihr Ärger unübersehbar, obwohl keine Strähne ihrer blonden Haare es gewagt hatte, sich aus ihrer strengen Frisur zu lösen und ihr maßgeschneidertes Kostüm so faltenfrei saß wie am Morgen. Jedes Mal, wenn ein Absatz ihrer Pumps den dunklen Granitboden getroffen hatte, war das Geräusch hart und laut durch den Raum gehallt. Ihre Bewegungen waren eckig und ihre Lippen zusammengepresst. Fehild war der einzige Mensch, in dessen Anwesenheit sie sich noch gestattete, etwas von ihren Gefühlen zuzulassen und sogar nach außen dringen zu lassen. Nur sie konnte in die Klausur vordringen, in die Liara ihre Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche verbannt hatte. Jedem anderen war der Zugang zu jenem verborgenen Ort verwehrt, an dem der Drache und der Wolf darauf lauerten, die Herrschaft über sie zu übernehmen.

Liara wusste, dass ihre Schwester Recht hatte. Was begonnen worden war, musste beendet werden. Jetzt. Die Dinge waren im Fluss, große Veränderungen standen an, Umbrüche, die dem Schicksal eines ganzen Planeten eine neue Richtung geben sollten. Es gab kein Zurück mehr und auch keine andere Möglichkeit. Das Erbe beider Linien ihrer Familie musste um jeden Preis bewahrt und weitergegeben werden. Und er war der Schlüssel dazu. Zu dumm nur, dass sie das Schloss war.

Fehild trat hinter sie. „Es muss sein. Du weißt das genauso gut wie ich, wie wir alle.“ Sie ließ Liara einen Moment zum Nachdenken. „Erlaubst du, dass wir es tun?“, bat sie dann leise, fast flüsternd. Sie kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie mit Bitten und leisen Tönen besser zu lenken war als mit Forderungen und Lärm.

Liara drehte sich um und starrte sie aus grün blitzenden Augen an. „Ja.“

Bevor Fehild Liaras Büro verließ, deutete sie eine Verbeugung an, ohne wirklich Demut zu empfinden. „Es wird alles zu deiner Zufriedenheit geschehen“, versprach sie. Die scheinbare Erleichterung in ihrer Stimme war unüberhörbar. Sie spielte ihr Spiel gut. Keiner in ihrer Gemeinschaft hegte einen Zweifel daran, dass sie der Reichsherrin treu bis in den Tod ergeben war. Doch der einzige Mensch, dem ihre Loyalität galt, war sie selbst. Die moralischen Skrupel ihrer Schwester waren ihr fremd.

Schon in jungen Jahren hatte Liara eine unglaubliche Autorität ausgestrahlt. Jede menschliche Schwäche schien ihr fremd zu sein. Ihre Respekt gebietende Ausstrahlung war noch angewachsen, nachdem sie zur Reichsherrin aufgestiegen war und die Leitung der Gemeinschaft übernommen hatte. Jeder ihrer Anhänger fürchtete und verehrte sie gleichermaßen. Jeder außer ihr selbst. Respekt war das Letzte, das sie ihrer älteren Schwester entgegenbrachte.

Die Liaden waren immer voller Leidenschaft gewesen. Sie, Fehild, wusste um deren Ausschweifungen und Exzesse, die oft sogar ihr vorzeitiges Ableben herbeigeführt hatten. Aber ihre Maßlosigkeit war auch der Nährboden ihrer Stärke und Macht gewesen. Wer sich ihnen in den Weg gestellt hatte, war hinweggefegt worden.

Liaras Blick auf ihre Vorfahren hingegen war verblendet. Sie sah in ihnen weise und besonnene Herrscher, die ihr Volk mit harter und doch väterlicher oder mütterlicher Hand gelenkt hatten und versuchte verbissen, diesem verklärten Bild nachzueifern. Was für eine Tagträumerin!

Ihre Selbstkasteiung war unnatürlich, einer Liade unwürdig. Erst ihre Großmutter hatte nach ihrer Flucht begonnen, das, was ihre Familie einst stark gemacht hatte, zu unterdrücken. Liara hatte diese Idiotie fast bis zur Vollkommenheit perfektioniert. Die Liaden drifteten ihrem Untergang entgegen. Es war an der Zeit, das zu ändern.

Liara ahnte nicht das Geringste von dem, was sich hinter der Stirn ihrer Schwester abspielte. Obwohl Fehild der einzige Mensch war, dessen Gefühle sich vor ihr verbargen, vertraute sie ihr voll und ganz.

Sie sah ihr nachdenklich hinterher. Fehild machte ihrem Namen alle Ehre. Äußerlich jedenfalls. Sie sah aus wie eine grazile dunkle Fee und bewegte sich leichtfüßig und elegant. Ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren. Es war fast unvorstellbar, dass sie auch nur einer Mücke etwas zuleide tun könnte, und doch wusste Liara, dass sie bis zur Grausamkeit hart und kompromisslos sein konnte, wenn sie es für nötig befand. Ihre Mutter hatte den Namen gut gewählt. Fehild bedeutete in der Sprache der hiesigen Ureinwohner 'Die Freude am Kampf hat', und das traf voll und ganz auf ihre Schwester zu. Fee und Kämpferin, eine gefährliche Mischung, die schon manche aufs Glatteis geführt hatte.

Das Schicksal hatte ihr seit dem Tod ihrer Mutter eine große Verantwortung übertragen. Es war gut, dass es ihr auch solch eine Schwester zur Seite gestellt hatte.

 

Er hätte nie gedacht, dass es auf diese Weise geschehen würde. Eigentlich hatte er überhaupt nicht angenommen, dass so etwas passiert. Genau genommen hatte ihn dieses Thema genauso wenig interessiert wie die Frage, ob Millionen Lichtjahre entfernt von hier ein neuer Stern geboren wird. Es war bloß die Vorlage für ein paar Geschichten und Filme gewesen, vielleicht auch für irgendwelche Computerspiele. Nur Fantasten waren davon überzeugt, dass sich so etwas jemals ereignet hat, und das sogar schon hundertfach.

Wirrköpfe, die glaubten, es sei ihnen widerfahren, erzählten von riesigen schwarzen Augen, die aus den übergroßen Schädeln grauhäutiger Gestalten auf sie herabblickten. Sie berichteten mit gesenkter und doch erregter Stimme von Sonden, die bei beschämenden und schmerzhaften Versuchen in ihre wehrlos ausgelieferten Körper vorgeschoben wurden, während sie bewegungslos auf OP-Tischen festgeschnallt waren. Und sie sprachen von einem blenden Licht.

 Doch es geschah im Dunkeln, nachdem er das Licht verlassen hatte.

 

Zum x-ten Mal rief Liara seine Akte im Computer auf. Sie kannte sie fast schon auswendig.

Michael Berger, 34 Jahre, ledig, ungebunden, keine Kinder, keine näheren sonstigen Verwandten, gelegentliche, aber meist flüchtige Bekanntschaften mit Frauen, großer, aber lockerer Freundeskreis, treibt Sport, Nichtraucher, trinkt wenig Alkohol, gesunde Ernährungsweise, keine bekannten Laster, keine Schulden, Dozent am Institut für Kunstgeschichte der hiesigen Universität, kleines ererbtes Vermögen, verreist gerne lange und abseits der ausgetretenen Touristenpfade.

Erneut betrachtete Liara die Fotos und spielte die Clips ab, die man ganz offen oder auch heimlich von ihm gemacht hatte. Sie zeigten einen gutaussehenden dunkelblonden Mann mit einem offenen Gesicht, der gerne lachte und das Leben in vollen Zügen genoss.

Die Aufzeichnungen, die man ohne sein Wissen in seinem Schlafzimmer gemacht hatte, ließ sie aus. Sie hatte sie bereits gesehen. Es war eine Notwendigkeit gewesen, ihn auch in seinem intimsten Bereich zu observieren, um die Angaben der bezahlten Damen zu überprüfen. Nicht auszudenken, wenn er dort nicht funktionsfähig gewesen wäre oder nur mit Männern. Man hatte nichts falschen Auskünften oder dem Zufall überlassen dürfen. Aber sie war sich dabei so abartig vorgekommen, denn sie war von dem, was sie gesehen hatte, beileibe nicht abgestoßen gewesen.

Wenigstens war sie die einzige Person, die Zugang zu diesen speziellen Informationen hatte. Sie war nicht verklemmt. Aber angesichts dessen, was von ihr erwartet wurde, wäre es ihr unangenehm gewesen, wenn andere, insbesondere die Mitglieder der Gemeinschaft, sie ebenfalls gesehen hätten. Aus dem gleichen Grund waren auch nur außenstehende Prüferinnen auf ihn angesetzt worden. Man hatte ihnen gesagt, eine angehende Ehefrau wolle die Treue ihres Verlobten testen. Wie verlangt, hatten sie sehr genaue und intime Informationen geliefert, gegen ein entsprechend hohes Entgelt natürlich. Er hatte sich, wie sie selbst gesehen hatte, erwartungsgemäß als durchaus leistungsfähig erwiesen. Ein Sportler in jeder Lebenslage.

Den Ordner mit seinen medizinischen Unterlagen, den wichtigsten Daten von allen, ließ sie ebenfalls ungeöffnet. Sie wusste bereits, dass er nicht nur körperlich gesund war, sondern auch, dass alles perfekt passte.

Es war nicht schwer gewesen, an diese Informationen zu kommen, als er nach einer Blutspende erst einmal ins Visier der Gemeinschaft geraten war: Einige vom Personal des hiesigen Krankenhauses hatten mehr Schulden, als ihnen lieb war, und teure Affären oder Hobbys. Die örtlichen Banken, deren Aktien sich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil im Besitz der Gemeinschaft befanden, rückten ihnen auf den Pelz. Ein paar unerhebliche finanzielle Gefälligkeiten und sie hatten nach einem kleinen fingierten Unfall alle noch fehlenden Daten besorgt. Zweifellos waren seine körperlichen Qualifikationen mehr als ausreichen. Die ihm zugedachte Aufgabe dürfte für ihn genauso wenig ein Problem darstellen wie der Marathonlauf zu ihrer Eizelle für seine Spermien.

Eine lange Reihe ihrer Vorfahren hatte ohne zu klagen und erfolgreich getan, was getan werden musste. Jetzt war es an ihr, den Fortbestand ihrer Familie zu sichern. Fehild hatte Recht. Es gab kein vernünftiges Argument, es hinauszuzögern, und doch hatte sie eine beklemmende Vorahnung bei dieser Angelegenheit. Es war, als täte sich ein dunkler Abgrund vor ihr auf und sie müsste hineinspringen, ohne zu wissen, wie tief er war und was sich auf seinem Grund befand.

 

Es war alles andere als gut, nur neblig, nass und viel zu kalt und dunkel für Mitte September. Während er über durchweichte Wege durch den Stadtpark rannte, ließ jeder seiner Schritte Wasser hochspritzen.

Er hatte energisch gegen seinen inneren Schweinehund ankämpfen müssen, um überhaupt aus dem Haus zu gehen. Dabei war er beileibe keine Kämpfernatur. Viel lieber hätte er über seinen Büchern gehockt und dann den Abend mit einer kühlen Flasche Bier vor dem Fernseher oder mit ein paar Freunden in einer Kneipe beendet.

Statt durch den Park zu rennen, hätte er auch Marie anrufen können. Sie war die Tochter eines Botschaftsangehörigen und eine blendende Schönheit. Allein ihr Augenaufschlag konnte einen Mann um den Verstand bringen. Ihr französischer Akzent war ihm durch Mark und Bein gegangen, als sie einander vorgestellt worden waren. Die Aufmerksamkeit aller Männer im Saal hatte ihr gegolten, nicht seinem Vortrag, den er auf Einladung des Deutsch-Französichen Kulturvereins vor einem handverlesenen Publikum gehalten hatte. Um ein Haar hätte er den Faden verloren, als sie ihm nicht nur ein vielversprechendes Lächeln ihrer sinnlichen Lippen geschenkt hatte, sondern auch einen tiefen Einblick in ihr Dekolletee.

Beim Hinausgehen war sie an sein Rednerpult getreten und hatte sich vorgebeugt. Im Ausschnitt ihrer Bluse hatte er die zarte Spitze ihres schwarzen BH´s erkennen können. Seine Augen waren von den Rundungen, die er ihm entgegengehoben hatte, magisch angezogen worden. Sie hatte so getan, als wolle sie ihn noch etwas zu seinem Vortrag fragen, und ihm ihre Handynummer zugesteckt - an ein Gespräch über Kunstgeschichte hatte sie dabei sicher nicht gedacht.

Jetzt aber war er hier, obwohl er normalerweise an einem Freitagabend Besseres zu tun hatte, als sich selbst zu quälen. Außer ihm war kaum jemand im Stadtpark unterwegs, dabei war es gerade erst dunkel geworden. Nur ein paar Hundebesitzer und einige wenige, die sich wie er den Stress des Tages von der Seele laufen wollten, verloren sich auf den mit Pfützen übersäten Wegen. Das schummrige Licht der Lampen spiegelte sich in dem trüben Wassers des Sees, den er umrundete. Trotz der Kälte begann er zu schwitzen. Dass die letzten Lampen, bevor er sein Auto erreichte, kaputt waren, registrierte er kaum, und noch weniger, dass sie es nicht gewesen waren, als er seine Runde begonnen hatte.

Er verließ den letzten Lichtkegel. Seine Hand griff nach dem Autoschlüssel. Mit langsamer werdenden Schritten tauchte er ein in die unvollkommene Dunkelheit des Stadtparks. Dann wurde es vollkommen dunkel.

 


 

2. Gehirnwäsche

Licht drang durch seine Lider. Er öffnete die Augen. Über ihm war die Zimmerdecke. Verwirrt setzte er sich auf und sah sich um. Er lag in einem Krankenhausbett. Aber er befand sich eindeutig nicht in einem normalen Krankenzimmer. Außer dem Bett gab es kein einziges Möbelstück. Alles hier war weiß, sogar der geflieste Boden. Indirektes Licht erleuchtete den Raum. Er war allein. Sein Blick fiel auf einen großen Spiegel in der Wand. Instinktiv wusste er, dass man ihn von der anderen Seite aus beobachtete. Rechts und links neben dem Spiegel waren Türen. Sie waren geschlossen. Es war gespenstisch ruhig, er hörte weder Geräusche noch Stimmen, nicht einmal das leise Ticken einer Uhr.

Trotz eines leichten Schwindels warf er die Bettdecke von sich und sprang auf. Überrascht stellte er fest, dass er nackt war, er trug nicht einmal ein hinten offenes Nachthemd. Doch weder die fehlende Bekleidung noch der Schwindel hielten ihn davon ab, die Türen zu untersuchen.

Die erste ließ sich öffnen. Dahinter befand sich ein fensterloses Bad. Das Licht ging automatisch an, als er es betrat. Ein Ventilator surrte leise. Er schaute sich um. Auch hier war alles klinisch weiß, sogar die Zahnbürste. Einen Rasierer gab es nicht. Nichts Außergewöhnliches war zu sehen. Wenn es hier drin kälter gewesen wäre, hätte er sich wie in einem begehbaren Kühlschrank gefühlt. Er ging wieder hinaus. Die Tür fiel von selbst hinter ihm ins Schloss. Das leise Geräusch ließ ihn zusammenfahren.

Die zweite Tür hatte weder Klinke noch Riegel oder ein Schlüsselloch. Sie ließ sich nicht öffnen, auch nicht als er kräftig dagegen drückte und trat. Es gab nur ein gedämpftes Geräusch. Er war eingesperrt.

Im ersten Moment konnte er es nicht fassen. Verstört, vor allem aber wütend trat er noch einmal gegen die Tür. Diesmal fester. Das einzige Ergebnis war ein heftiger Schmerz in seinem Fuß.

Fluchend und noch wütender drehte er sich um und besah sich das Zimmer genauer. Es hatte kein Fenster. Außer ihm gab es hier nichts als das Bett, den Spiegel und die Türen. Er sah nicht einmal einen Klingelknopf, um jemanden zu rufen. Seine Wut schlug um in eine dumpfe, klaustrophobische Furcht. Er überlegte, an was er sich erinnern konnte: der Park, nass und kalt, sein Auto, unvollkommene Dunkelheit, dann nichts.

Die einzige Erklärung war, dass man ihn in ein Irrenhaus gesteckt hatte. Seine Furcht wandelte sich in nackte Angst. Der Raum war mit einem Mal zu klein zum Atmen. Sein Schwindel hatte sich gelegt, aber der Boden wankte plötzlich unter seinen Füßen. Warum hatte man ihn hier eingesperrt? Und wer? Es musste einen Grund dafür geben. Was war geschehen? Er musste irgendetwas getan haben. Aber so sehr er sich auch das Gehirn zermarterte, da war keinerlei Erinnerung an irgendetwas, das sein Hiersein erklärte.

Er sah an sich herab. Steckte man Patienten in einem Irrenhaus nackt in Zellen? So etwas hatte er noch nie gehört. Verwundert registrierte er, dass sein Verstand klar arbeitete. Er musste bewusstlos gewesen sein, als man ihn hierher gebracht hatte. Jetzt aber stellte man ihn anscheinend nicht mehr mit Medikamenten ruhig. Er tastete seine Arme und Beine ab. Da waren keine Verletzungen wie nach einer gewaltsamen Festnahme, keine Einstichwunden wie von Spritzen. Keine Riemen hatten ihn zurückgehalten, seine Hände und Füße waren frei, keine Schläuche steckten in ihm, keine Elektroden klebten auf seiner Haut. Irgendetwas stimmte hier nicht!

Mit gerunzelter Stirn trat er vor den Spiegel. Er zeigte ihm wirre dunkelblonde Haare und ein von Bartstoppeln bedecktes Gesicht, das fast so weiß war wie die Zelle, und aus dem seine blauen Augen in dieser farblosen Umgebung geradezu hervorstachen. „Wo bin ich?“

Keine Antwort. Sie mussten ihn hören. Er war sich sicher, dass sie ihn von jenseits des Spiegels beobachteten.

„Wo bin ich?“, fragte er lauter. Seine Stimme verhallte in dem kahlen Raum.

Wieder keine Antwort.

Er legte seine Hände wie einen Ring auf den Spiegel und drückte sein Gesicht dagegen. Obwohl seine Augen so gegen das Licht der Zelle abgeschirmt waren, konnte er auf der anderen Seite nur Schemen erkennen. Sein Atem kondensierte auf dem kalten Glas. Er hob den Kopf. „Wo bin ich?“, schrie er. „Verdammt noch mal, wo bin ich und wer seid ihr?“ Nichts. Er schlug mit der flachen Hand auf den Spiegel. Noch einmal, fester.

Die bisher verschlossene Tür öffnete sich. Drei Frauen traten ein. Er hatte erwartet, hier nur Menschen in weißen Kitteln zu sehen, doch sie trugen normale Kleidung. Aber sie waren nicht normal. Obwohl er nicht klein war, waren sie mindestens genau so groß wie er, aber viel massiger. Sie wirkten übergewichtig und unbeweglich. Er wollte sie beiseitedrücken und durch die offen stehende Tür verschwinden. Als Hände nach ihm griffen, versuchte er, sie wegzuschlagen.

Doch er hatte sich geirrt. Die Frauen waren nicht übergewichtig, und schon gar nicht unbeweglich. Sie waren muskulös und bewegten sich blitzschnell. Bevor er wusste, wie ihm geschah, lag er rücklings auf dem Boden und sah über sich drei Walküren aufragen. Er hob panisch seine Hände, um sie abzuwehren, doch sie stürzten sich nicht auf ihn, sondern traten sogar einen Schritt zurück.

„Benehmen Sie sich manierlich, sonst müssen wir Sie ans Bett fesseln“, drohte eine von ihnen. „Überlegen Sie sich gut, was Sie tun. Heben Sie nie wieder gegen eine von uns oder irgendwen sonst hier die Hand. Sie haben nur zwei davon. Wenn Sie tun, was man Ihnen sagt, wird Ihnen nichts Arges geschehen.“

Von ihren Worten nicht wirklich beruhigt, nahm er zögernd seine Hände herunter. „Wer sind Sie, wo bin ich hier, und warum?“ Seine Stimme zitterte.

„Mein Name ist Sisgard. Ich bin ebenso wie die beiden anderen Frauen hier für Sie zuständig.“ Ohne noch etwas zu sagen oder ihm die Gelegenheit zu geben, weitere Fragen zu stellen, verließen die Frauen die Zelle. Verwirrt und mit schmerzenden Knochen stand er auf und starrte die Tür an. Dann versuchte er noch einmal, sie zu öffnen. Vergeblich. Er schlug dagegen. „Lasst mich hier raus!“

Keine Reaktion.

„“Verdammt. Ich will hier raus!“

Nichts.

„Sagt mir wenigstens, was das hier soll.“ Seine Schreie verhallten.

Ohne die Tür aus dem Blick zu lassen, wich er zurück, bis sein Rücken die gegenüberliegende Wand berührte. Hektisch suchten seine Augen die Zelle nach einer Möglichkeit zur Flucht ab. Da war nichts, und auch kein Anhalt, wo er war. Es gab kein Entkommen aus diesem Alptraum. Sein Mund war trocken, sein Herz schlug hart gegen seine Brust.

Verwirrt und wütend und setzte er sich ins Bett und zog die Bettdecke über sich, obwohl sie ihm nicht wirklich das Gefühl von Sicherheit gab. Er spürte immer noch ihre Blicke, die ihn durch den Spiegel beobachteten.

Aufrecht sitzend lehnte er sich mit dem Rücken gegen das Kopfende des Bettes. Lange, es kam ihm wie Stunden vor, wartete er so, dass etwas geschah.

Der Abend musste inzwischen weit fortgeschritten sein, wahrscheinlich war es sogar mitten in der Nacht. Vielleicht war es auch schon wieder helllichter Tag, er wusste es nicht, hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war.

Niemand mehr betrat die Zelle, bis er das Bad benutzte.

Als er zurückkam, fand er ein auf dem Boden abgestelltes Tablett mit Essen. Bevor er es hochnahm, untersuchte er noch einmal die andere Tür. Sie ließ sich nicht öffnen.

Ohne wirklich etwas anderes erwartet zu haben, hob er das Tablett hoch und ging in Ermanglung eines Tisches oder Stuhles wieder ins Bett. Während er aß und trank, fühlte er immer noch ihre Blicke auf sich. Beim Essen bemerkte er, wie ausgehungert und durstig er war. Er staunte über seinen Appetit, normalerweise konnte er unter Stress kaum etwas zu sich nehmen.

Brav, dachte er zynisch, als er das Tablett vor sich betrachtete. Du hast deinen Teller leergemacht. Du bist ein braves Kind.

Einige Zeit später wurde das Licht gedimmt, bis er kaum noch etwas sehen konnte, und ohne dass noch einmal jemand zu ihm in die Zelle gekommen war. Wieder saß er mit dem Rücken an das Kopfende gelehnt im Bett. Er wollte nicht einschlafen. Wahrscheinlich hätte er es auch gar nicht gekonnt.

Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, bis er die Konturen des Bettes und die Umrisse der Türen erkennen konnte. Der Spiegel schimmerte in der Dunkelheit. Von der anderen Seite her spürte er ihre Augen beständig auf sich ruhen.

Er hielt lange durch. Irgendwann, er hatte schon längst jedes Zeitgefühl verloren, fielen ihm dann doch die Augen zu.

 

Als er sie wieder aufschlug, war es in der Zelle taghell. Ruckartig setzte er sich auf. Vor ihm stand eine junge, schlanke Frau in einem einfachen aber geschäftsmäßig aussehendem dunklen Kleid. Braune Haare fielen in dichten, seidig glänzenden Wellen über ihre Schultern. Im Gegensatz zu seiner hob sich ihre Gesichtsfarbe deutlich von den weißen Flächen der Zelle ab. Sie erschien ihm schöner als alle Frauen, denen er jemals begegnet war. Er war für einen Moment sprachlos. Auch sie schwieg, während ihre dunkelbraunen Augen verächtlich auf ihn herabsahen.

„Wer sind Sie und wo bin ich?“, fragte er, als er seine Sprache wiedergefunden hatte.

„Mein Name ist Fehild Liade“, antwortete die Frau mit erstaunlich beiläufiger Stimme.

„Wo bin ich, Frau Liade?“, fragte er in der Hoffnung, dass sie auch diese Frage beantwortete.

„Für dich lautet meine korrekte Anrede Herrin Fehild“ gab sie aber nur zurück. „Wir reden uns hier nicht so wie in deiner Welt mit Herr oder Frau Sowieso an.“

Von ihrer seltsamen Antwort verwirrt, sah er sie mit gerunzelter Stirn an. „Wo bin ich und was wollen Sie von mir?“

Sie genoss seine Verwirrung. „Wir wollen dich.“ Es war unglaublich, dass das Schicksal solch einem Nichts eine derart wichtige Aufgabe zugedacht und ihn mit den zu Liara passenden Genen ausgestattet hatte. Aber ihr konnte das nur recht sein. Er war zu schwach, um ihren Plänen gefährlich werden zu können.

„Mich? Warum wollen Sie mich? Sagen Sie mir endlich, wo ich hier bin!“, verlangte er. Seine Worte und seine Stimme verrieten ihr, dass er hinter seiner Verwirrung ungeduldig wurde. Dabei stand es ihm nicht zu, irgendetwas zu fordern. Er würde das bald genug lernen.

„Du wirst der Ersten Herrin in allem gehorchen und ihr zur Verfügung stehen, wann und wie sie es will“, teilte sie ihm abschätzig lächelnd mit. „Merke dir das gut.“

„Wem?“

„Der Ersten Herrin.“

„Wer ist das?“

„Deine Herrin.“

Er sah die Frau, Fehild, zweifelnd an. War sie irre oder er? Sie musste es sein, allein schon, weil sie ohne jeden Schutz vor ihm stand. Sie war schlank, eigentlich sogar zierlich, und deutlich kleiner und leichter als er. Er hätte sie mit Leichtigkeit verletzen oder sogar töten können. Wer geht schon alleine in die Zelle eines möglicherweise gefährlichen Irren!

Sie schien seine Gedanken zu erahnen. „Eine falsche Bewegung von dir und die drei Frauen, deren Bekanntschaft du ja schon gemacht hast, kommen herein, und was dann geschieht, kannst du dir sicher denken.“ Sie verriet ihm nichts über ihre eigenen Fähigkeiten. Eine kleine aber gemeine Überraschung konnte nicht schaden bei dem, was sie mit ihm vorhatte. Er würde früh genug begreifen, zu was sie fähig war. Sie freute sich schon darauf.

Ihre Warnung reichte ihm. Die drei Walküren herauszufordern, erschien ihm nicht ratsam. Er nickte nur und verzog das Gesicht. „Ich beuge mich der Gewalt.“

„Das ist schon einmal ein guter Anfang.“

„Bekomme ich sonst noch eine Antwort auf meine Fragen?“

„Das hängt ganz von deinem Verhalten ab.“

„Was heißt das?“

„Je kooperativer du bist, desto entgegenkommender sind auch wir.“

Aus ihrer Antwort schloss er, dass er sich nicht in einem Krankenhaus befand, sondern eher als Statist in einem schlechten Spionagefilm. Bei seiner nächsten Frage war seine Stimme nicht mehr ungeduldig, sondern verärgert. „Was zum Teufel wollt ihr von mir. Falls ihr irgendetwas von mir wissen wollt, muss ich euch enttäuschen. Ich bin bloß Dozent für Kunstgeschichte und der Wert meiner wissenschaftlichen Arbeiten dürfte wohl kaum einen solchen Aufwand …“, er sah sich kurz in der Zelle um, „… lohnen.“

Fehilds Stimme war hart. „Zum einen: Du wirst hier niemanden mehr duzen. Zum anderen: Dass du intelligent und gebildet bist, zählt hier nicht. Dein Wissen interessiert uns nicht.“

„Was dann?“

„Tu einfach nur, was man dir sagt und erweise der Ersten Herrin den ihr zustehenden Respekt“, ermahnte sie ihn arrogant. „Es ist zu deinem Besten.“ Sie drehte sich von ihm weg und ging in Richtung Tür. Dort schaute sie sich noch einmal kurz um. „Allerdings erwarte ich trotz deiner Bildung und Intelligenz nicht wirklich, dass du klug genug bist, dich zu fügen.“

Er konnte kaum glauben, was er da hörte. Ihre Worte und vor allem ihr Hochmut ließen ihn entgegen seiner sonstigen Art aufbrausen. Bevor sie die Zelle verlassen hatte, griff er nach dem Tablett und warf es ihr hinterher. Es knallte gegen die Wand und fiel laut scheppernd zu Boden, als sich die Tür hinter ihr schloss. Er wartete mit verkniffenem Gesicht und geballten Fäusten darauf, dass sie zurückkam oder die Walküren in die Zelle schickte. Aber die Tür blieb verschlossen.

 

Der Sonnenaufgang überzog den Himmel mit einem orangeroten Licht. Fehild betrat mit schwungvollen Schritten das Büro ihrer Schwester. Die spektakuläre Sicht auf die Stadt unter ihr würdigte sie keines Blickes.

Liara sah stirnrunzelnd von ihrem Schreibtisch auf. „Und?“

„Wir haben ihn.“

„Das ging schnell. Ist er okay?“

„Selbstverständlich. Es hat keine Komplikationen gegeben.“

„Wann wird er wieder bei klarem Verstand sein?“

„Die Betäubung hat bereits vollständig nachgelassen.“

„Warst du schon bei ihm?“

„Ich komme gerade von unten.“

„Wie ist er?“

„Er ist intelligent und er sieht gut aus. Aber das weißt du ja schon alles aus seinem Dossier.“ Fehild lächelte. „Jetzt ist er ein wenig wütend.“

„Was man ihm nicht verdenken kann.“

„Er wird sich schon abregen.“

„Du hältst mich auf dem Laufenden?“

„Natürlich. Aber du solltest ihn dir selbst ansehen.“

Liara zuckte mit den Schultern. „Das hat Zeit bis nach seiner Erziehung.“

„Komm schon“, lockte Fehild. „Immerhin werdet ihr viel Zeit miteinander verbringen.“

„Verbringen müssen.“ In Liaras Stimme war weder Begeisterung noch Neugier zu hören.

„Wir haben einen ziemlichen Aufwand betrieben, um ihn zu finden und hierher zu bringen.“ Fehilds Stimme wechselte ins Spöttische. „Waren die Bilder aus seinem Schlafzimmer so schrecklich oder so anregend, dass du dich derart zierst, obwohl du die Erste Herrin bist? Du hast doch nicht etwa Angst vor einem Mann, Schwesterlein?“

Als Liara ihr einen bitterbösen Blick zuwarf, wusste sie, dass ihre Bemerkung ins Schwarze getroffen hatte. Trotz ihrer heimlichen Genugtuung deutete sie eine Verbeugung an. „Ich bitte um Verzeihung für meine ungebührlichen Worte“, sagte sie ernst. Sie wusste, dass sie zu weit gegangen war. Die Tage ihrer Kindheit, als sie sich einen solch flapsigen Ton hatte erlauben können, wenn keine ihrer Erzieherinnen zugehört hatte, waren vorüber. Sie hatte viele Freiheiten, verglichen mit allen anderen Angehörigen der Gemeinschaft. Aber manchmal musste auch sie die Form wahren, selbst wenn es ihr gegen den Strich ging.

Ihre Entschuldigung beschwichtigte Liara sofort. Sie hatte ihr trotz aller in der Kindheit verübten Gemeinheiten noch nie lange böse sein können, nicht einmal damals. Fehilds Lachen und ihre temperamentvolle Fröhlichkeit waren schon immer ansteckend gewesen. Niemand hatte sich dem entziehen können, auch sie nicht. Ihre kleine Schwester war das einzig wirklich Lebendige in ihrer Kindheit gewesen. Sie hatte ihr gezeigt, dass es noch etwas anderes jenseits von Disziplin und Verpflichtungen gab. Nur Fehild hatte ihre Einsamkeit, die ihr Leben begleitete wie eine unheilbare Krankheit, lindern können. Sogar ihre strenge Mutter hatte sich oft ein Lächeln nicht verkneifen können, obwohl sie ihre jüngste Tochter wegen dem, was sie gerade wieder aufgefressen hatte, eigentlich hätte hart bestrafen müssen.

Fehild sah ihre große Schwester nicken. „Ich weiß doch, dass er dir gefällt“, fuhr sie weniger ernst fort.

„Ob er mir gefällt oder nicht, spielt keine Rolle.“

„Aber es macht die Sache wesentlich pikanter. Nun komm schon“, drängelte Fehild ungeduldig. „Er gehört dir. Nimm ihn dir!“

Mit einer resignierenden Handbewegung stand Liara auf. „Du lässt mir ja sonst keine Ruhe.“

Sie nahmen den Aufzug in die unterirdischen Geschosse. Die Flure wurden von kaltem Licht erleuchtet. Hier dämpfte der Bodenbelag das Geräusch ihrer Schritte. Eine Frau kam ihnen entgegen und verbeugte sich vor Liara. „Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Erste Herrin.“ Liara nickte ihr zu. „Guten Morgen, Sisgard.“

Ohne zu fragen, wo die Zelle war, ging sie weiter. Sie war nicht oft hier unten gewesen, aber sie kannte sich trotzdem so gut aus, als hätte sie das Gebäude selbst erbaut. Das Schiff ruhte hier hinter dicken Mauern verborgen, und damit der wichtigste Gegenstand, den ihre Gemeinschaft besaß. Auf seiner Außenhaut prangte deutlich sichtbar das Zeichen des Drachen. Er war das Symbol der einen Familie, der sie entstammte, den Liaden, die über Generationen die Führung des Reiches innegehabt hatte. An dem Tag, an dem das Schiff die nahezu unzerstörbaren Wände seines Gefängnisses sprengen und dann abheben würde, bliebe von dem Haus darüber nur noch Schutt und Asche übrig, wenn überhaupt. Es musste mit allen Mitteln vor Entdeckung oder Sabotage bewahrt werden. Über es zu wachen, gehörte zu ihren vordringlichsten Pflichten.

Nur wenige hatten Zugang zu ihm, aber es war das sicht- und fassbare Zeichen der Hoffnung aller in ihrer Gemeinschaft - und auch vieler in ihrer Heimatwelt, obwohl diese es nie gesehen hatten und lediglich Gerüchte kannten. Das, was fern von hier nur hinter vorgehaltener Hand weitergegeben wurde, sprach von einer besseren Zukunft für einen ganzen Planeten. Die Menschen, die sich dort noch an die Vergangenheit erinnerten, erhofften sich verzweifelt die Rückkehr der Reichsherrin und ein Leben jenseits von Tyrannei und einem nicht enden wollenden Krieg.

Doch die Alten starben und mit ihnen die Erinnerung, während die Jungen um ihr Überleben kämpften. Das, was einst gewesen war, geriet im Laufe der Jahrzehnte in Vergessenheit. Es war an der Zeit, das zu ändern.

Hier hatte kein Außenstehender jemals von dem Schiff erfahren. Jeder ihrer Leute wusste, welche Strafe darauf stand, Fremde einzuweihen. Der Tod wäre eine Erlösung.

Ein Blick zeigte ihr, dass die schwere Tür, die dicker war als die eines Bunkers, und die den einzigen Zugang zum Hangar bot, geschlossen war. Egmont hatte sie endlich einmal nicht offen stehen lassen. Wahrscheinlich nahm er sich ausnahmsweise zusammen, weil er wusste, dass ein Gast hierher gebracht worden war und er mit ihrem Kommen rechnen musste. Sein Selbsterhaltungstrieb war wohl doch stärker als sein Leichtsinn und sein Ungehorsam.

Liara seufzte innerlich. Egmont: gutaussehend, arrogant und immer gut gelaunt. Er hatte sie zum Lachen gebracht. Nicht nur ihr Mund hatte gelacht, sondern ihr ganzer Körper. Seine Worte fanden immer noch leicht den Weg in ihr Ohr und er nutzte seine Position schamlos aus, obwohl alles längst vorüber war. Die anderen in ihrer Gemeinschaft wussten das und wandten sich zuerst an ihn, wenn sie ein schwieriges Anliegen an sie hatten. Dafür gewährten sie ihm den Respekt, nach dem sein übersteigertes Ego verlangte, und wohl auch einiges andere, von dem Liara nichts wissen wollte.

Seine Leichtfertigkeit hatte schon mehr als einmal für Schwierigkeiten mit der hiesigen Bevölkerung und den Behörden gesorgt. Bisher hatte sie immer alle Wogen glätten können, mit Geld, Beziehungen oder, wenn all das versagte, mit Drohungen. Er hatte ihre Geduld schon oft und arg strapaziert. Sie hatte ihm viel zu viel durchgehen lassen. Eines Tages würde er die Grenze ihrer Toleranz endgültig überschreiten.

Eine andere Tür wurde geöffnet. In dem halbdunklen Vorraum dahinter blieb Liara neben Fehild stehen. Natürlich wollte sie den Mann sehen, aber sie unterdrückte ihre Neugier. Sie war unangemessen und deplatziert. Allerdings musste sie wenigstens einen kurzen Blick auf den Mann werfen, um Ruhe vor ihrer Schwester zu haben. Danach konnte sie wieder gehen.

Der Mann auf der anderen Seite des Spiegels ging in der hell erleuchteten Zelle auf und ab. Er war nackt und offensichtlich nervös. Ihre Augen glitten über ihn, während er wie getrieben seine Kreise zog. Sein Körper war schlank und durchtrainiert. Es hieß, er laufe viel und seine Bewegungen waren tatsächlich geschmeidig und voller Energie. Zwischendurch legte er seine Hände in den Nacken und reckte seinen ganzen Körper, so, als wolle er sich von einer Last befreien. Jetzt, wo sie ihn direkt vor sich sah, gefiel er ihr noch besser als auf dem Monitor ihres Computers. Wie ein Tiger im Käfig, dachte sie, und genauso kraftvoll und schön.

Den letzten Gedanken verwarf sie umgehend: Sein Aussehen war unwichtig!

Sie erinnerte sich an die Bilder, die sie von ihm gesehen hatte, jene aus seinem Schlafzimmer, und hoffte, dass im Halbdunkeln ihre plötzliche Röte unbemerkt blieb. Ihre Finger verkrampften sich unwillkürlich ineinander.

Als hätte er ihre Blicke gespürt, nahm er seine Hände herab und wandte sich dem Spiegel zu. Bartstoppeln bedeckten sein blasses Gesicht. Sein kurzes dunkelblondes Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Er fuhr nervös mit der Hand hindurch. Blaue Augen versuchten das Glas zwischen ihnen zu durchdringen und blieben auf ihren haften, obwohl er sie nicht sehen konnte. Sie erkannte einen starken Willen darin. Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Er wusste, sie war da.

Eine unsichtbare Hand legte sich auf ihren Nacken und nahm ihr den Atem. Sie spürte einen Stich in ihrem Unterleib. Ansonsten spürte sie … Nichts! Da war nichts. Absolut nichts.

Irritiert zwang sie sich zur Ruhe und atmete tief ein. Seine Augen ließen sie nicht los. Sie konzentrierte sich auf ihn. Doch da war immer noch nichts. Sie konnte ihn nicht fühlen!

Dabei war es ihr angeboren, in den Gefühlen anderer Menschen zu lesen, als ständen sie in einem aufgeschlagenen Buch vor ihr.

Bisher war ein solches Versagen dieser Fähigkeit nur bei ihren nächsten Verwandten vorgekommen. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dies sei nicht ungewöhnlich bei Familienmitgliedern der Liaden und Belden. Sie hatte diese Erklärung nie angezweifelt. Das Innere des Mannes auf der anderen Seite des Spiegels aber war ihr genauso wenig zugänglich, wie das ihrer Mutter, Großmutter oder Schwester. Es war eine höchst unangenehme Überraschung.

Sie wusste, dass so etwas in der Vergangenheit schon einmal vorgekommen war. Es war zu jener Zeit gewesen, als die beiden verfeindeten Linien ihrer Familie, die des Drachen und die des Wolfes, wieder zueinandergefunden hatten. Alles habe sich danach geändert. Das Reich und die Macht der Liaden waren zu einer nie gekannten Großartigkeit aufgeblüht. Es hieß, Gleiches geschehe wieder, wenn die Chimäre aus Drache und Wolf auf einen ebenbürtigen Gegenpart träfe, den sie nicht fühlen könne. Auch dann bräche eine neue Zeit der Hoffnung an.

Aber es war nur eine Prophezeiung. Auch wenn sie ihn nicht fühlen konnte, würde sich jetzt nicht viel ändern. Kein Mann konnte ihr das Wasser reichen, und dieser weltfremde Gelehrte auf der anderen Seite des Spiegels schon gar nicht. Er war ihr in keinster Weise ebenbürtig. Dieser Mann war nur ein Spielzeug, das sie nicht hatte haben wollen, während alle anderen erwarteten, dass sie sich intensivst damit beschäftigte. So intensiv, dass sie gemeinsam den Grundstein für die weitere Zukunft legten.

„Gut“, sagte sie knapp und ohne auch nur die geringste Begeisterung zu zeigen. Nach einem letzten Blick in die Zelle drehte sie sich abrupt um und löste ihre verkrampften Hände. Sie verriet nicht, dass sie ihn nicht fühlen konnte. Selbst ihrer Schwester wollte sie das Versagen ihrer Gabe gerade bei diesem Mann nicht eingestehen und es war zudem zu verwirrend, um es in Worte zu fassen.

„Ich nehme an, du wirst ihn erziehen?“, wandte sie sich an ihre Schwester. Es bereitete ihr Mühe, diese Frage in einem belanglosen Ton zu stellen und ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen. Sie spürte seine Nähe, als stände er direkt hinter ihr, ohne eine Mauer aus Glas und Stahlbeton zwischen ihnen. Aber das, was sie ihn fühlen ließ, war nicht die Gabe des Drachen. Sein Blick hatte ein Fieber in ihr entfacht, das sie nicht wahrhaben wollte, und das doch stärker glühte als jede noch so strenge Erziehung.

„Selbstverständlich übernehme ich seine Erziehung“, antwortete Fehild. Liaras mangelnde Begeisterung enttäuschte sie nicht wirklich, sie kam ihren Zwecken nur entgegen. Schon als sie die ersten Fotos von ihm gesehen hatte, war sein gutes Aussehen unverkennbar gewesen. Sie hatte befürchtet, Liara könne sich so sehr zu ihm hingezogen fühlen, dass daraus eine Gefahr für ihre Pläne erwüchse.

Andererseits könnte ihre Schwester auch durch ihr neues Spielzeug von dem, was sie hinter ihrem Rücken tat, abgelenkt werden. Diese Variante wäre ihr ebenfalls entgegengekommen. Sie musste abwarten und dann entscheiden, was zu tun war.

Dabei war Geduld noch nie ihre Stärke gewesen. Auch sie war eine Liade, ein Abkömmling des Drachen, jedenfalls was Leidenschaft, Impulsivität und Ungeduld anging. Im Gegensatz zu Liara aber hatte man bei ihr nie auch nur annähernd so konsequent versucht, diese Charaktereigenschaften zu bändigen. Sie hatte zudem die Unbeirrbarkeit der Belden, der Wölfe, geerbt und nichts und niemand konnte sie von dem Weg, den sie einmal eingeschlagen hatte, abbringen.

Liara hatte den gefährlich verächtlich Blick gesehen, mit dem Fehild den Mann bedacht hatte. „Halte dich zurück“, forderte sie ihre Schwester auf. „Du sollst ihn erziehen, nicht zerstören.“ Sie kannte Fehild gut genug, um zu wissen, welch eisenharter Charakter sich hinter ihrem unschuldigen Äußeren verbarg. Wen sie einmal in ihren Klauen hatte, der war verloren.

„Ich werde mein Bestes geben, Liara. Wie immer.“

„Das befürchte ich.“

Liara verließ den Vorraum, ohne ihrer Schwester Zeit für eine Antwort zu geben. Als sie mit dem Aufzug nach oben fuhr, beschlich sie wieder diese beklemmende Ahnung. Hier, unbeobachtet von menschlichen Augen und Überwachungskameras, erlaubte sie sich einen leisen Seufzer: Egal was kommt, es wird nicht einfach werden.

 

Liara wusste, was dem Mann bevorstand. Alle seine Vorgänger hatten die Erziehung durchmachen müssen. Es war notwendig, zum Schutz und zum Wohle ihrer Gemeinschaft und für die Zukunft des Reiches. Aber vollkommen mit der eigenen Vergangenheit zu brechen, ist ein schwerer Gang, für manche härter als für andere, unabhängig von der Belohnung, die auf sie wartete, wenn sie ihre Aufgabe erfüllten: ein unermesslicher Luxus.

Das Blut des Drachen und des Wolfes floss in ihr. Es machte sie stark, damit sie die Verpflichtung, die das Schicksal ihr auferlegt hatte, erfüllen konnte. Fast 800, über die ganze Erde verstreute Menschen, lebten mit ihr im Exil fern ihrer Heimatwelt und glaubten an sie und ihre Bestimmung. Die Verantwortung für deren Wohlergehen und ihre Rückkehr lastete auf ihr. Schon wegen ihnen konnte sie sich weder Mitleid noch Skrupel erlauben. Aber auch das Reich, egal wie fern es war, forderte seinen Tribut von ihr - wie von allen, denen das Schicksal eine besondere Stellung zugewiesen hatte. Sie hatte ihre Bestimmung angenommen und geschworen, die Ihren zu schützen und ihrer aller Rückkehr anzustreben, um einst die Bevölkerung eines ganzen Planeten in eine bessere Zukunft zu führen. Diesen heiligen Eid zu brechen, war undenkbar. Etwas anderes, als ihre Pflicht zu erfüllen, war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Da war kein Raum für Hoffnungen, Sehnsüchte oder Zweifel, die sie von ihrem vorgezeichneten Weg abbringen konnten.

Sie ging zurück in ihr Büro und verbat sich jede Störung. Dort saß sie lange an ihrem Schreibtisch, dem Ort, von dem aus schon ihre Mutter und Großmutter mit eiserner Hand über das von ihnen geschaffene Imperium geherrscht hatten. Er fühlte sich hart und vertraut an. Versonnen zeichnete sie mit ihrem Finger die Holzmaserung nach.

Man hatte ihr gesagt, dieser Schreibtisch sei noch viel älter und habe bereits vor Urzeiten im Regierungspalast ihres Heimatplaneten gestanden. Er war schon immer das Zentrum der Macht der Liaden, jener Familie, deren Namen sie trug, gewesen, seit sie sich den Aufstieg an die Spitze des Reiches erkämpft hatten. Während sie hier in einem Palast aus Glas, Beton und Stahl lebte, gab ihr diese Beständigkeit über Generationen und über eine unvorstellbare Entfernung hinweg Sicherheit.

So viele ihrer Vorfahren hatten daran gesessen und die Geschicke der Menschen eines ganzen Planeten gelenkt. Sie waren alle voller Pflichtbewusstsein und von wahrer Größe gewesen, hart gegen andere und gegen sich selbst, immer bedacht auf das Wohl des Reiches. Als Kind war sie jedes Mal zutiefst beeindruckt gewesen, wenn man sie hierher gerufen hatte. Ihre Großmutter und später ihre Mutter hatten dahinter gethront, unnahbar und Respekt gebietend. Sie war sich so winzig vorgekommen, wenn sie in ergebener Haltung vor ihnen gestanden hatte. Manchmal überkam sie dieses Gefühl auch heute noch, wenn sie an ihre Pflichten und die damit verbundene Verantwortung dachte.

Sie hatte die Gemeinschaft zu führen und zusammenzuhalten. Ihre Großmutter, die als junge Frau mit ihren Getreuen aus einer fernen Welt hierher geflohen war, und ihre Mutter waren wie auch ihre anderen Vorfahren ein unerreichbares Vorbild. Sie hatte ihr Möglichstes getan, um sich auf ihre Pflichten vorzubereiten, aber sie bezweifelte, dass das ausreichte. Die Welt um sie herum war so anders als die, für die sie erzogen worden war. Sie musste ihren Anhängern, auch jenen, die fern von hier lebten, einen Platz inmitten ihnen fremder Menschen schaffen, ohne dass sie ihr Wesen oder den Zusammenhalt untereinander verloren. Eines Tages, vielleicht sogar schon bald, konnten sie alle in die angestammte Heimat zurückkehren. Ihre persönliche Pflicht war es, dafür zu sorgen, dass die Linie ihrer Familie, und damit deren altehrwürdiges Erbe, erhalten bliebe, um dereinst ihre Bestimmung zu erfüllen. Sie durfte sich nicht als unzulänglich erweisen.

Jetzt trommelten ihre Finger nervös auf das uralte Holz der Tischplatte. Doch das Geräusch konnte ihr ungutes Gefühl nicht übertönen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Oder aber es stimmte zu viel.

Sie hatte Männer kennengelernt. Bis auf Egmont hatte keiner zu ihrer Gemeinschaft gehört. Alle anderen waren flüchtige Bekanntschaften gewesen, die nicht einmal ihren richtigen Namen gekannt hatten. Sie hatte jeden, der ihr gefiel, bedenkenlos genommen, und ihn dann, wenn sie ihn nicht mehr wollte, genauso bedenkenlos fallengelassen. Sie war vorsichtig gewesen. Wenn sie zu ihnen gegangen war, hatte sie sich anders gekleidet, anders geredet, anders bewegt. Sie hatte eine andere Rolle gespielt. Niemand von ihnen hatte je erfahren, wo sie wohnte. Auch wenn sie bei ihnen gewesen war, hatte sie nie die Kontrolle verloren, sich nie vollends gehen lassen.

Kaum einer hatte hinter ihre Maske blicken wollen. Die meisten waren froh gewesen, eine solch unkomplizierte Affäre zu haben. Wenn einer sich zu sehr für sie interessiert hatte, war sie verschwunden. Man hatte ihr nicht nur beigebracht, andere Menschen zu beherrschen, sondern auch ihre eigenen Gefühle. Diese Fähigkeit hatte sie bisher vor allzu großem Schmerz bewahrt.

Den Mann dort unten in der Zelle hatte sie bisher nur auf dem Monitor ihres Computers und eben kurz durch den Spiegel gesehen. Und doch ging ihr sein Gesicht und der Ausdruck darin nicht aus dem Kopf. Seine Augen hatten sich auf unerlaubte Weise in ihre Hirnwindungen eingebrannt; sie sah sie vor sich, wenn sie ihre eigenen schloss. Es ist, weil ich ihn nicht fühlen kann, sagte sie sich. Es ist Neugier. Ausrufezeichen. Es ist ganz bestimmt Neugier. Noch mal Ausrufezeichen.

Doch da war mehr. Und das drängte sie zu ihm. Anfangs versuchte sie es zu ignorieren, aber es wurde mit jeder Minute verlockender.

Da war ein Drang, älter und machtvoller noch als das Erbe des Drachen. Liara kannte ihn. Seit sie die Grenze zwischen Kindheit und Jugend überschritten hatte, war er stetig in ihr gewachsen. Er war ein Teil von ihr. Das, was sie mit einer archaischen Besessenheit erfüllte, war jenes andere Erbe, das des Wolfes, welches sie in sich trug. Sie überließ sich ihm bereitwillig, wenn sie dem Ruf des Wolfes gefolgt und in die Nacht hinausgelaufen war. Doch nie zuvor hatte ein Mensch etwas Derartiges in ihr ausgelöst. Kein Mann war für sie mehr gewesen als ein kurzes Abenteuer, nicht einmal Egmont. Männer dienten ihrem Vergnügen. Keinem hatte sie auch nur eine Träne nachgeweint.

Aber nicht einer von ihnen hatte sie innerhalb von Minuten so sehr beeindruckt, wie er es alleine durch seine Nähe und seinen Blick getan hatte. Sie wollte ihn berühren, seine Witterung aufnehmen, war neugierig auf den ungefilterten Klang seiner Stimme, den Geschmack seiner Haut.

Wieder schlichen sich Bilder in ihre Gedanken. Was heißt hier schleichen! Sie donnerten vor, wie ein wütendes Rhinozeros. Bilder von seinen Abenteuern in seinem Bett, von seinen Augen, von seinem nackten Körper. Sie glaubte die Haare in seinem Nacken und die Stoppeln in seinem Gesicht unter ihren Fingerspitzen zu spüren.

Mit einem entnervten Aufatmen beugte sie sich über die Korrespondenz vor ihr und wies die Bilder zurück. Sie kamen wieder, Schnappschüsse, die Kapriolen in ihrem Hirn schlugen. So wie sie ihn in der Zelle gesehen hatte, sah sie ihn vor sich: nackt, voller Leben und mit einem ungebrochenen Willen.

Und sie fühlte sich. Untenherum! Es zog und pochte, als schlüge dort ein zweites, ungehorsames Herz, und es weitete sich aus. Sie atmete langsam und tief ein, dachte an Eisberge und Gletscherwasser. Es half nichts. Sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre Gedanken konnten sich nicht mehr auf die Schreiben vor ihr konzentrieren.

Sie stand auf und stellte sich ans Fenster. Jenseits des Parks schnitt die hohe Mauer ihren Besitz von der Außenwelt ab. Ihr Blick wurde von dem dichten Wald auf der anderen Seite angezogen. Sie atmete tief ein. Fast glaubte sie den erdigen Geruch zu riechen und den weichen Boden unter ihren Füßen zu fühlen. Der Wald rief sie zu sich. Heimat. Zuflucht. Der Wolf in ihr war erwacht und setzte zum Heulen an. Sie zwang ihn in seine Höhle zurück, wissend, dass sie ihn nicht auf Dauer zähmen konnte.

Ihre Finger zitterten voll unerfüllter Sehnsucht nach etwas, das sie nicht zu kennen glaubte, und das ihrem Instinkt doch nur zu gut bekannt war. Ein Wispern, gleich einem Versprechen sägte an den Fesseln ihres Verstandes. Sie wehrte sich dagegen. Doch diese irrationale und für sie unverständliche Anwandlung widersetzte sich ihrem Willen. Das Wispern wurde zu einem unüberhörbaren Rauschen, das ihren ganzen Körper in Schwingung versetzte.

Sie zuckte unwillig mit dem Kopf. Das Ganze wurde schon unangenehm, kaum dass es angefangen hatte! Es war besser, sich dieser entnervenden Angelegenheit zu stellen, bevor sie sich ihrer Kontrolle gänzlich entzog. Sie drehte sich um und ging diesmal alleine in den unterirdischen Trakt ihres Hauses.

Ihr Mund war trocken, ihr Herz schlug umso härter, je näher sie ihm kam. In ihrer Körpermitte war ein forderndes Pochen. Es war nicht so, wie es hätte sein sollen. Ganz und gar nicht.

Unten angekommen betrat sie zusammen mit Sisgard die Zelle. Sie brauchte niemanden zu ihrer Verteidigung, sollte sich ihr Gast als aggressiv erweisen. Kein Mann konnte ihr etwas anhaben. Aber sie fürchtete etwas anderes als seine körperliche Kraft. Sie fürchtete … irgendetwas.

Er saß mit angezogenen Beinen in einer Ecke auf dem Boden. Die Unterarme hatte er auf den Knien abgelegt, die Hände davor gekreuzt. Als er das Öffnen der Tür hörte, hob er den Kopf und schaute ihnen hoffnungsvoll, aber mehr noch misstrauisch entgegen. Er drückte seinen Kopf gegen die Wand hinter sich, als wolle er dort Halt suchen.

Zwei Frauen betraten seine Zelle. Die größere erkannte er wieder. Sie hatte gesagt, sie heiße Sisgard. Vor ihr musste er sich hüten.

Die andere war ihm unbekannt und wirkte auf ihn wie eine leitende Bankangestellte. Ihre kerzengerade Haltung und ihr fester Schritt ließen erkennen, dass all das hier ihr unterstand. Sie sah gut aus, aber auch so abweisend wie die Wände der Zelle. Schweigend schaute sie aus eiskalten grünen Augen auf ihn herab. Er blickte zurück und fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.

„Stehen Sie auf, wenn die Erste Herrin zu Ihnen kommt“, forderte Sisgard ihn auf. Die Drohung in ihrer Stimme war unmissverständlich.

Er erhob sich. Gegen diese Walküre sahen seine Chancen zu schlecht aus, um hier den Störrischen zu spielen.

Immerhin wusste er jetzt, wer diese ominöse Erste Herrin war, von der Fehild gesprochen hatte. Diesmal versuchte er Antworten von ihr zu bekommen. „Wer sind Sie? Sagen Sie mir endlich, was das hier soll! Warum halten Sie mich hier fest? Ich will hier raus!“

Die Walküre baute sich vor ihm auf. „Sie reden erst, wenn die Erste Herrin es Ihnen gestattet“, donnerte sie und er fühlte sich mit einem Mal winzig.

Die andere Frau machte eine knappe Handbewegung und die Walküre war plötzlich deutlich kleiner. Es war eindeutig, wer hier das Sagen hatte.

Liara sah ihm lange ins Gesicht. Er parierte ihren Blick. Dann erkannte er in ihren Augen eine gelbe Glut, die ihn mit Furcht erfüllte. Da war etwas Archaisches, das sich nur seinem Instinkt enthüllte. Es schien ihn zu durchbohren, ihn auszuloten, sich in seine Seele zu brennen. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Doch trotz seiner wachsenden Unsicherheit und seiner weichen Knie hielt er stand.

So etwas hatte Liara noch nie erlebt. Es war ihr immer ein Leichtes gewesen, den Blick der anderen niederzuzwingen. Nicht so bei ihm, als sie sich mit den Augen maßen. Mit einem Mal spürte sie selbst einen Anflug von Unsicherheit. Die Sekunden dehnten sich wie in Zeitlupe. Sie hörte das Pochen ihres Blutes in ihren Ohren. Etwas drängte sie zur Flucht. Nur ihre Disziplin bewahrte sie davor, den Kopf von ihm wegzudrehen.

Endlich wandte er den Blick ab. Liara war erleichtert, auch wenn er ihn nicht vor ihr gesenkt hatte.

So etwas hatte er noch nie erlebt. Ihr Blick hatte ihn seziert, sich mit kalten Fingern entlang seiner Hirnwindungen vorgetastet und seine Gedanken in Besitz genommen. Nur mit Mühe hatte er den Blick abwenden können.

Er fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht, als wolle er Spinnweben abstreifen. Dann sah er wieder zu ihr hin. Außer ihrer Kälte war da nichts Beängstigendes mehr, auch nichts Gelbes. Seine überreizte Fantasie hatte ihn etwas sehen lassen, was nicht da gewesen sein konnte. Erleichtert atmete er tief durch.

„Bitte, sagen Sie mir, wo ich bin und warum“, wiederholte er seine inzwischen schon verzweifelt klingende Litanei. „Wer sind Sie? Was passiert hier mit mir?“

Seine Stimme rührte eine Saite in Liara. Sie versuchte ihr Schwingen unterdrücken. Es vertrug sich viel zu gut mit dem Pochen in ihrem Unterleib. „Bringen Sie uns zwei Stühle und lassen Sie uns dann alleine, Sisgard“, verlangte sie unwillig.

Er sah, dass die Walküre sofort und geradezu unterwürfig gehorchte. In einer anderen Situation wären seine Mundwinkel amüsiert nach oben gezuckt. Hier aber war ihm jeder Humor abhandengekommen.

Nachdem Sisgard die Stühle gebracht und die Zelle widerspruchslos verlassen hatte, setze Liara sich mit übereinandergeschlagenen Beinen hin. Mit einer knappen Bewegung ihres Zeigefingers forderte sie Michael auf, es ihr gleichzutun.

Alles an ihr sagte ihm, dass diese Frau gefährlich war und es besser wäre, sich ihrer Anweisung nicht zu widersetzen. Dennoch kam er ihrer Aufforderung nur zögernd nach. Ihre Anwesenheit lähmte seine Gedanken und seinen Körper. Der Stuhl unter seinen Pobacken war kalt. Er fühlte sich unbehaglich, ihr unbekleidet gegenüberzusitzen, etwas, das er sonst bei einer schönen Frau nicht kannte. Aber das hier war vollkommen anders als alles, was er jemals erlebt hatte.

Liara nahm seine ansteigende Nervosität, sein Unbehagen und seine Unsicherheit wahr, obwohl sie ihn nicht fühlen konnte. Das hier war sicher vollkommen anders als alles, was er jemals erlebt hatte. Sie roch seine Angst, sah die Schweißtropfen auf seiner Stirn und wusste, dass sein Herz schneller schlug. Sein Brustkorb hob und senkte sich wie nach einem Sprint. Sie konnte sehen, dass seine Muskeln angespannt hervortraten. Er war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

Trotzdem war er kooperativ, soweit es seine Angst zuließ. Sie betrachtete ihn einen Moment unschlüssig und schweigend. Dann kam sie zu dem Schluss, dass es angebracht war, ihm eine Erklärung zu geben, obwohl es gegen die Regel verstieß, nach der man den zu Erziehenden so lange in umfassender Ungewissheit hält, bis er sich vollkommen fügt.

„Wie heißt du?“ fragte sie ihn, ohne etwas von dem zu zeigen, was in ihr vorging.

„Michael Berger.“

„Nein. Dein Name ist Neun.“

Michael runzelte die Stirn. „Was soll das heißen?“

„Wie ich bereits sagte: Dein Name lautet Neun.“

Michael zog eine Augenbraue hoch. „Neun?“

„Ja.“

Hoffnung keimte in ihm auf. „Sie müssen mich verwechseln. Mein Name ist Michael Berger“, wiederholte er schnell, „und ich …“

„Wir haben dich keineswegs verwechselt“, unterbrach sie ihn mit einer schroffen Geste. „Dein Name ist Neun.“

„Was soll das sein, eine Sträflingsnummer?“

„So ungefähr.“

In Anbetracht seiner Lage enthielt er sich jeglichen Kommentars. Es war besser, diesen Eisblock vor ihm nicht weiter zu reizen. Sicher wartete Sisgard noch vor der Tür, um auf ein Zeichen von ihr hereinzustürmen. „Wie heißen Sie?“, fragte er stattdessen.

„Mein Name ist Liara Liade.“

„Und wer oder was sind Sie?“

„Ich bin die rechtmäßige Reichsherrin.“

„Reichsherrin? Was bedeutet das?“

„Dass ich hier der Boss bin.“

„Und wie soll ich Sie anreden, Boss?“

Als er sie trotz seiner Lage so frech ansprach, drängte sich ihr ein Lächeln auf. Sie unterdrückte es. Es wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen, so etwas zuzulassen. „Du wirst mich Erste Herrin nennen, so lautet mein Titel.“

Ich muss doch in einem Irrenhaus gelandet sein, ging es ihm durch den Kopf. Allerdings in einem, in dem das Personal verrückter ist als die Patienten. Oder ich bin in einer antiken Hölle mit Walküren, seltsamen Frauen, die seltsame, alte Namen tragen und irgendeinem Reich. Hoffentlich bin ich nur nicht in die Hand irgendwelcher politisch oder religiös Versponnener mit einem abstrusen Gedankengut geraten.

„Wo bin ich hier und was soll das alles?“, fragte er trotzdem in der Hoffnung, endlich Antworten zu bekommen. Die Ungewissheit, das Eingesperrtsein und die Unmöglichkeit, etwas dagegen zu tun, machten ihn tatsächlich schon ganz kirre.

„Du wirst mir nicht glauben, wenn ich dir sage, wer wir sind und warum du hier bist“, erklärte Liara ihm.

„Ich werde es versuchen“, versprach er mit einem bestätigendem Nicken und versuchte seiner Stimme einen festen Klang zu geben, obwohl er wusste, dass seine Körpersprache seine Nervosität verriet.

Sie legte den Kopf zur Seite. Mit Verwunderung stellte sie fest, dass er sie tatsächlich interessiert ansah. Hinter seinem Interesse war sogar seine Angst zurückgewichen. Plötzlich hatte sie den Wunsch, sein Gesicht zu berühren und seine männlichen Züge zu ertasten. Fast spürte sie seine weichen, warmen Lippen unter ihren Fingern. Sie unterdrückte diese Anwandlung und faltete ihre Hände, als wolle sie sie daran hindern, irgendetwas völlig Irrwitziges zu tun. „Dein Versuch, mir zu glauben, wird scheitern“, kündigte sie ihm an.

Ihre Gesprächsbereitschaft und kalte Höflichkeit ermunterten ihn. „Ich werde ganz Ohr sein.“ Er hob eine Hand. „Großes Indianer-Ehrenwort.“

Wieder fiel es ihr schwer, ihm kein Lächeln zu zeigen. Es wäre unpassend gewesen. Ihre manikürten Fingernägel drückten sich tief in ihre Haut, obwohl sie auf Michael immer noch kühl und distanziert wirkte. „Nun denn, halten wir es einfach so: Ich werde dir eine Geschichte erzählen und du hörst mir nur zu. Einen Kommentar kannst abgeben, wenn ich damit fertig bin. Einverstanden?“

Er nickte. Was blieb ihm anderes übrig? „Einverstanden.“

Trotz seiner Nervosität fiel sein Blick auf den Saum ihres sonst genau über dem Knie endenden Rockes. Jetzt war er hochgerutscht und für einen Moment hafteten seine Augen an jener Stelle, wo sich die Rinne zwischen ihren übereinandergeschlagenen Beinen in der verlockenden Dunkelheit unter dem Stoff verlor. Er verspürte den Drang, sein Gesicht auf ihren Schoß zu legen und ihren Duft einzuatmen. Es war irrwitzig, in seiner Situation auch nur an so etwas zu denken.

Liara sah seinen Blick und dass er sich zwang, ihn ihr wieder zuzuwenden. Eigentlich hätte sie ihn wegen seiner Unverschämtheit maßregeln müssen. Stattdessen war da schon wieder dieses Lächeln um ihren Mund. „Vor langer Zeit“, begann sie schnell, um es zu überspielen, „gab es ein Reich, sehr, sehr weit weg von hier, das von einer mächtigen Familie regiert wurde, den Liaden. Wegen einer Erbstreitigkeit spaltete sie sich in zwei miteinander auf den Tod verfeindete Linien. Die eine, die Liaden, herrschte unter dem Zeichen des Drachens weiter über das Reich, die andere, man nannte sie die Belden, führte unter dem Zeichen des Wolfes eine Rebellion an. Es kam zu einem generationenlangem Krieg, der das Reich ausblutete und viele Opfer forderte. Auch die Liaden und die Belden wurden fast ausgelöscht. Das Schicksal führte einer uralten Prophezeiung folgend eine Frau aus der herrschenden Familie und den Anführer der Rebellen zusammen. Ihr Sohn, eine Chimäre aus Drache und Wolf, brachte der alten Legende zufolge Frieden über das Reich. Er zeugte wiederum mit der letzten Überlebenden der Liaden, die zu jener Zeit auch die Reichsherrin war, eine Tochter, unter der eine bessere Zeit anbrach, die über Generationen andauerte.“

Michael war anfangs bemüht gewesen, Liara unvoreingenommen zuzuhören. Jetzt aber hatte er Mühe, seine Gesichtszüge im Zaum zu halten und gleichzeitig seinen Blick davon abzuhalten, wieder zum Saum ihres Rocks abzudriften. „Das hört sich nach dem Happy End einer kitschigen Gute-Nacht-Geschichte an.“

„Die Geschichte hat leider kein gutes Ende genommen. Bisher jedenfalls, obwohl die Tochter der beiden und deren Nachkommen viel Gutes bewirkten.“

„Inwiefern?“

„Sie förderten die Bildung und den Wohlstand des Volkes.“

„Und was ist daran schlimm?“ Es war unwirklich, alptraumhaft, ein solches Gespräch in einer derart verqueren Situation zu führen. Er wollte nur noch aus diesem verrückten Traum aufwachen.

„Der Adel war schon vorher höchst dekadent“, fuhr Liara unbeeindruckt von seinem zweifelnden Gesichtsausdruck fort. „Nach dem Ende der Rebellion hatten sie keinen Feind mehr und verloren alle Hemmungen, überschritten alle Schranken, wenn es ihnen gefiel. Wer vom Volk zu Reichtum gekommen war, tat es ihnen nach. Sie übertrumpften sich gegenseitig mit ihren Lastern und in ihrem moralischen Verfall. Um ihren Lastern nachgehen zu können, begingen die Menschen Verbrechen bis hin zu Morden. Jede Generation war maßloser als die vorherige.

Die oberste Führung des Reiches nahm die Gefahr nicht wahr. Politiker sahen aus Eigennutz weg oder gaben falsche Informationen an die Reichsherren weiter. Viele machten selbst mit. Solange sich die Verbrechen und das Morden nicht gegen sie selbst richtete, kümmerte es sie nicht. Sie wollten immer nur noch mehr Macht und Reichtum.

Das Volk verarmte. Es kam zu einzelnen Aufständen, die blutig niedergeschlagen wurden. Die rechtmäßige Regierung verlor ihren Rückhalt in der Bevölkerung. Dann kamen Naturkatastrophen und Seuchen hinzu. Die Aufstände breiteten sich aus. Das Militär wurde immer mächtiger und selbstgefälliger. Schließlich musste die herrschende Familie fliehen, obwohl sie immer versucht hatte, den Niedergang aufzuhalten. Das Gute, das sie einst bewirkt hatte, verkehrte sich ins Gegenteil.“

Liaras Vortrag hatte sich wie auswendig gelernt angehört. Das machte ihre Worte nicht gerade glaubwürdiger. Michael versuchte angespannt, seinen Unglauben vor ihr zu verbergen. „Interessant. Und wohin floh diese besagte Familie?“

„Auf die Erde.“

„Und jetzt kommen Sie ins Spiel?“

Liara wunderte sich über seine schnelle Auffassungsgabe selbst in dieser Situation. „Ja, meine Schwester und ich sind die letzten Überlebenden jener Familie. Wir sind Chimären aus Drachen- und Wolfsblut.“

„Aha.“ Alles klar. „Und wer sind die anderen hier?“

„Sie sind die Nachkommen jener treuen Anhänger, die meine Familie ins Exil begleitet haben. Es ist schon lange her, fast alle, die die Flucht miterlebt haben, sind inzwischen verstorben.“

„Wann sind Sie geflohen.“

„Zur Zeit als meine Großmutter über das Reich geherrscht hat. Sie war sehr jung damals, fast noch ein Kind, aber stark und unbeugsam.“

„Und wo ist das alles passiert?“

„Weit weg von hier.

„Wie weit?“

„Unvorstellbar weit“, wich Liara aus. Sie hatte ihm mit ihrer Erklärung einiges zugemutet. Wahrscheinlich schon zu viel. Ihr war der Zweifel in seinem Gesicht nicht entgangen, auch wenn er versuchte, ihn vor ihr zu verbergen.

Michael überlegte kurz. „In welcher Maßeinheit bemessen Sie die Entfernung?“

„In so etwas Ähnlichem wie Parsec.“

„In was?“

„Eine Parallaxensekunde entspricht etwa 3,26 Lichtjahren. Bei uns ist die Maßeinheit noch etwas größer.“

„Demnach nehme ich an, dieses Reich, von dem Sie erzählt haben, liegt außerhalb unseres Sonnensystems.“

Liara nickte nur.

„Und das soll ich Ihnen glauben?“

„Wie ich bereits sagte, ich erwartete nicht, dass du das tust.“

„Einmal angenommen, ich glaube Ihnen, warum sind Sie hierher gekommen?“

„Es gab keine Alternative. Hier ist der einzige bewohnbare Planet außerhalb unseres Heimatsystems, der meiner Familie bekannt war. Hier war wenige Jahre zuvor ein Krieg beendet worden. Er hatte große Teile eures Planeten verwüstet. In den Wirren danach kümmerte es die wenigsten, dass wir nicht von hier waren. Außerdem hatten wir genug Edelmetalle und Edelsteine mitgebracht, um uns eine neue Heimat zu kaufen. Die Menschen hier waren arm, verzweifelt und hungerten. Sie wollten sich eine neue Zukunft aufbauen, und wir uns eine neue Heimat - zumindest für die nächste Zeit. Alles passte.“

„Sicher war man in ihrer Heimat hinter Ihnen her. Warum hat niemand Sie hierher verfolgt?“

„Man hatte euch mehr oder weniger zufällig entdeckt. Es war ein Geheimnis meiner Familie. Meine Vorfahren ahnten schon früh, dass wir einmal eine Zuflucht brauchen würden, um im Exil zu überdauern, bis wir wieder an unseren angestammten Platz zurückkehren können. Daher hielten sie ihr Wissen geheim. Nur wenige erfuhren von der Entdeckung eurer Welt. Sie flohen alle mit uns hierher. Die neuen Machthaber hätten sie sonst gefoltert, um unseren Verbleib zu erfahren, und sie dann getötet. Wir sind alleine durch unsere Existenz eine Bedrohung für sie.“

„Was tun Sie hier?“

„Uns verstecken.“

„Und was wollen Sie?“

„Überleben. Es sind schon so viele für unsere Sache gestorben.“

„Sie wollen eines Tages in ihre, ähm, Heimatwelt zurückkehren?“

Liara deutete ein Nicken an. „Das ist unser Ziel.“

„Wie?“

„Das geht dich nichts an.“

Michael kamen Berichte von Sekten in den Sinn, die sich in einem kollektivem Selbstmord von dieser Welt verabschiedet hatten. Er konnte nur hoffen, dass dieser Liara nicht so etwas im Kopf herumspukte. Immerhin war ihre Gedankenwelt reichlich merkwürdig. „Warum weiß niemand hier davon?“, fragte er gepresst.

Liara lächelte nachsichtig. „Das wollen wir nicht. Es würde zu viele Fragen und Begehrlichkeiten aufwerfen. Menschen sind aggressiv und machtgierig. Staaten oder Organisationen, die unser Wissen hätten, würden alle anderen unterwerfen und versklaven.“

„Warum haben Sie es dann mir erzählt.“ Er fühlte sich plötzlich so bedroht wie eine Geisel, die das Gesicht ihres Entführers gesehen hat.

„Du wirst die nächste Erste Herrin zeugen“, erklärte Liara. „Deshalb gehörst für den Rest deines Lebens zu unserer Gemeinschaft und wirst uns in unsere Heimat begleiten. Du wirst keine Gelegenheit haben, irgendwem etwas zu verraten.“

Je nachdem, was sie vorhatte, dauerte der Rest seines Lebens vielleicht nicht mehr allzu lange. In Michaels Miene waren seine Befürchtungen jetzt deutlich zu erkennen, und auch, dass er an ihrem Verstand zweifelte.

„Solltest du auch nur andeutungsweise einen Verrat begehen“, warnte Liara ihn, „wirst du dir wünschen, du wärst gestorben, bevor wir davon erfahren haben. Es ist besser für dich, wenn du dich fügst und mein Kind zeugst.“

„Ich soll Ihr Kind zeugen? Wieso?“ Gütiger Himmel, was redet die da!

Liara überlegte noch einmal kurz, was sie ihm erzählen sollte. „In meiner Familie wird seit mehreren Generationen ein genetischer Defekt von Mutter zu Tochter weitergegeben“, fuhr sie dann fort.

„Was für ein Defekt?“

„Wir können keine Kinder von Unseresgleichen bekommen.“

„Unseresgleichen?“ Langsam wurde ihm alles zu wirr. Er hatte Mühe, den Faden nicht zu verlieren.

„Von Männern, die von unserem Planeten stammen.“

„Aber von Männern, die von der Erde stammen?“

„Ja, aber nur Töchter. Daher ist eine Heilung nicht möglich.“

„Das heißt, der Gen-Defekt liegt auf der Mitochondrien-DNA.“

„Ja.“

„Was macht er?“

„Männliche Embryonen werden abgestoßen, bevor sie sich in die Gebärmutter einnisten können. Wenn der Vater von unserem Planeten stammt oder genetisch nicht passt auch weibliche.“

Was für ein Blödsinn, ging es ihm durch den Kopf, aber gut durchdacht. „Sind die Frauen Ihrer Familie immer hierher gekommen, um sich einen …“, er überlegte kurz, „… Erzeuger zu suchen?“

„Nein“, antwortete Liara mit einem nur angedeuteten Kopfschütteln. „Dazu ist der Weg selbst für uns zu weit gewesen. Die Reise hierher braucht trotz unserer technischen Entwicklung Monate. Das war zu lange, insbesondere für die Abwesenheit der Reichsherrin. Daher haben wir uns besorgt, was wir brauchten.“

Die Geschichte wurde immer wirrer, ein einziges Wahngebilde. Es schien Michael allerdings ratsam, fürs Erste darauf einzugehen. „Dass heißt, Sie haben Männer entführt und zu Ihrem Planeten verschleppt, die dann dort ein Kind zeugen mussten?“

„Ja.“

Er versuchte sich zu beherrschen. Trotzdem war seine Entrüstung unverkennbar.

„Zieh nicht so ein Gesicht“, beruhigte Liara ihn. „Es ging ihnen gut dort. Sie waren hochgeehrt, ganz besonders, nachdem ihre Tochter geboren worden war.“

Obwohl er ihr nicht glaubte, empörten ihn ihre Worte noch mehr. „Falls das alles stimmt, dann haben Sie diese Männer bedenkenlos aus ihrem Leben gerissen!“

„Wir hatten keine andere Wahl.“

„Man hat immer eine Wahl. Sie hätten sie fragen können.“

„Und wenn sie nein gesagt hätten?“

„Es hätte bestimmt genügend gegeben, die freiwillig mitgekommen wären.“

„Wir hätten die, die nicht wollten, mit ihrem Wissen nicht einfach zurücklassen können. Einmal ganz abgesehen davon, dass es schwer ist, jemanden zu fragen, dessen Sprache man nicht spricht. Und wenn sie uns verstanden hätten, wäre die Gefahr zu groß gewesen, dass sie geredet hätten.“

„Niemand hätte ihnen geglaubt.“

„Anfangs vielleicht nicht. In den letzten Jahrzehnten schon.“

„Nun denn. Jetzt habt haben Sie es leichter.“ Der Zynismus in seiner Stimme war unüberhörbar. „Sie brauchen nur noch jemanden in Ihre Höhle verschleppen und dann können Sie ihn ganz für Ihre Zwecke zu missbrauchen.“

„Wir missbrauchen niemanden. Wir geben ihnen ein Vielfaches mehr, als wir ihnen genommen haben.“

„Und was geben Sie ihnen?“

„Eine Familie, Macht, Reichtum und Anhänger, die ihnen treu bis in den Tod ergeben sind.“

„Ihre Geschichte ist gut, zugegeben, aber vollkommen neben der Spur.“

„Du wirst es erleben und mir dann glauben.“

„Das ist doch alles Quatsch. Ich werde jedenfalls niemals Ihr … Ihr …,“ er suchte wütend nach einem Wort, „Ihr Zuchthengst sein.“

Liara sah ihn verärgert an. „So eine Unverschämtheit wirst du dir mir gegenüber nie wieder erlauben!“, warnte sie ihn mit scharfer Stimme.

„Und wenn doch, was dann?“, konterte Michael. „Oh ja, Sie können mich entsorgen und sich einen neuen Zuchthengst“, er betonte das Wort bissig, „besorgen, es gibt ja mehr als genug davon auf dieser Welt, sicher sogar einen, der Ihnen besser gefällt als ich und der Ihnen für alles dankbar ist, was Sie ihm geben. Mit dem können Sie dann so viele Hybriden herstellen, wie Sie wollen.“

Zu seiner Überraschung war Liara trotz seines Vorwurfs äußerlich wieder vollkommen beherrscht. „Nein, es gibt auch auf dieser Welt nicht sehr viele Kandidaten für diese Aufgabe“, erklärte sie mit einer Ruhe, die an Arroganz grenzte. „Außerdem bist du der Geeigneste, den wir finden konnten, und das mit Abstand.“

Dass er ihr trotz, vielleicht sogar gerade wegen seiner Renitenz gefiel, verriet sie ihm nicht. Jeder in ihrer Gemeinschaft war ihr ergeben. Selbst Egmont unterwarf sich ihrem Willen, wenn auch nicht ganz so pflichtbewusst, wie es angemessen gewesen wäre. Ihre Liebhaber hatte sie um den kleinen Finger wickeln können. Alle anderen, mit denen sie in der Welt dort draußen zu tun hatte, sahen in ihr eine reiche Kundin oder Mandantin und verhielten sich entsprechend zuvorkommend, manche geradezu devot. Neun hingegen war der erste Mann in ihrem Leben, der sich ihr widersetzte. Es war neu, sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Es war prickelnd. Er war faszinierend.

„Und warum gibt es keinen Besseren als mich?“, fragte er sarkastisch. „Bin ich etwa so einzigartig?“

„Ja, das bist du. Nur wenige Männer sind für diesen Zweck genetisch und gesundheitlich passend und du bist der passenste von allen. Es war nicht einfach, dich zu finden.“ Sie lächelte. „ Und dann haben wir dich praktisch vor unserer Haustür gefunden.“

Michael horchte auf. Ihren Worten nach befand er sich nicht weit weg von seinem Zuhause. Wenn man allerdings bedachte, dass sie Entfernungen in so etwas wie Lichtjahren berechnete, war Nähe relativ.

„Wir wissen nicht“, fuhr sie fort, „wann und wie es zu einer Ansiedlung von Menschen auf zwei verschiedene Planeten gekommen ist. Aber es muss vor sehr langer Zeit geschehen sein. Unser Erbgut hat sich geändert; ist kaum mehr miteinander verträglich.“

Ihre durchgeknallte Erklärung riss ihn fast vom Stuhl. Nur mit Mühe beherrschte er sich. Aber auch wenn diese Geschichte vollkommen verrückt sein musste, gab man ihm wenigstens eine Erklärung für sein Hiersein. Vielleicht konnte er aus dieser selbsternannten Ersten Herrin noch ein paar Informationen für eine Flucht herauslocken. Möglicherweise bewachten sie ihn auch weniger intensiv, wenn er sich ruhig und kooperativ zeigte. „Das ist so, wie die Gen-Drift bei den Tieren auf den Galapagos-Inseln?“, merkte er an und bemühte sich, seiner Stimme statt eines ungläubigen einen ernsthaften und nachdenklichen Klang zu geben.

„So ungefähr. Die wenigen Embryonen, die aus einer Vermischung unseres Erbgutes stammten, starben alle kurz nach der Zeugung. Meine Schwester und ich sind die einzigen, die überlebt haben.“

„Ihr Vater war also passend.“

„Ja. Auch er wurde unter vielen auserwählt.“

„Und wieso sind Sie sicher, dass ich, wie Sie es so charmant ausdrücken, für diesen Zweck passend bin?“

„Unsere Kenntnisse in Genetik sind viel älter und umfassender als eure. Wir haben immer so lange Tests gemacht, bis wir den Auserwählten gefunden haben. Diesmal bist du es.“

Er war also ein Auserwählter. Das wurde ja immer besser! Er musste so schnell wie möglich weg von hier. Nur wie? „Und der wievielte Auserwählte bin ich?“

„Der neunte.“

Michael stutzte überrascht. „Daher also kommt mein neuer Name. Wie einfallsreich. Was haben Sie jetzt mit mir vor?“

„Du wirst zu einem treuen und gehorsamen Untertanen erzogen werden und alles zurücklassen, was bisher dein Leben ausgemacht hat, auch deinen Namen.“

„Ich will meinen Namen aber nicht verlieren und alles andere auch nicht!“

„Je schneller du dich fügst, desto einfacher wird es für dich.“

„Sie sollten sich einen Hund kaufen, der Männchen macht, wenn Sie pfeifen.“

Liara ignorierte seine erneute Unverschämtheit. „Wenn ich eine Tochter, unsere Tochter, geboren habe, darfst du dir jeden Namen wählen, den du dir wünschst. Man wird ihn mit Ehrfurcht aussprechen.“

„Michael würde genügen.“

Seine Antwort brachte sie kein bisschen aus dem Konzept. „Alle außer diesem“, erklärte sie gelassen. „Michael existiert nicht und hat nie existiert.“

Er war sprachlos. Dieser Frau waren alle Sicherungen durchgeschmort, obwohl man es ihr nicht ansah. Im Gegenteil. Sie war attraktiv und wirkte überlegt und überlegen. Aber hinter der Fassade war Kabelsalat.

„Und wie soll das mit der Zeugung vonstatten gehen?“, fragte er, als er sich wieder einigermaßen von dem, was sie ihm mitgeteilt hatte, erholt hatte. „Drücken Sie mir einen Becher in die Hand und schicken mich dann mit einem Pornoheft zur Anregung in ein Kabuff? Oder muss ich mich auf Ärgeres gefasst machen?“

„Weder noch. Wir bevorzugen den natürlichen Weg.“

„Wenn Ihre genetischen Kenntnisse so weit fortgeschritten sind, dürfte die Erschaffung eines Retortenbabys für Sie ein Leichtes sein. Warum also wollen Sie es auf die althergebrachte Methode haben?“

„Damit sich niemand auf irgendeine unerlaubte Weise einmischen kann. Wir wollen nur das Erbgut der Reichsherrin und des Auserwählten, nicht das von irgendwem sonst.“

„Das heißt, ich soll mit Ihnen schlafen?“

„Ja.“

Das war eine Aufgabe, der er sich sicher stellen konnte. Michael lächelte sie provozierend an. „Kein Problem. Jetzt gleich, oder soll ich mich erst frisch machen?“

Liara antworte ihm trotz seiner Provokation so nüchtern, als sprächen sie über das Wetter. „Ich werde dich zu mir kommen lassen, wenn ich meine fruchtbaren Tage habe. Du gehörst mir, verhalte dich so!“

Ihre Anmaßung verschlug ihm die Sprache. Bevor er sie wiedergefunden hatte, war Liara aufgestanden. „Du wirst in nächster Zeit erzogen werden. Tu, was man dir sagt“, riet sie ihm. „Deine Erzieherin kann sehr nachdrücklich sein. Und glaube mir, sie wird früher oder später bekommen was sie will. Wahrscheinlich früher. Je eher du es ihr gibst, desto leichter wird es für dich sein. Gehorche ihr so, wie du mir gehorchen wirst. Ansonsten wirst du den Himmel über dir nie wieder sehen.“ Sie drehte sich um und ließ ihn in seiner Verwirrung zurück.

 

Es dauerte nicht lange und Fehild betrat die Zelle. Diesmal trug sie einen schwarzen Anzug und Stiefel mit hohen Absätzen. Ihre Haare waren im Nacken zu einem festen Knoten zusammengebunden. Trotz seiner Situation fand er, dass sie selbst mit dieser strengen Frisur umwerfend aussah, allerdings auch ausgesprochen arrogant. Sie setzte sich wortlos und ohne jegliche Andeutung einer Begrüßung auf den Stuhl, auf dem zuvor Liara gesessen hatte. Weder ihre feuerrot geschminkten Lippen noch ihre Augen zeigten auch nur die Andeutung eines Lächelns, während sie durch Michael hindurchsah. Kein Geräusch bis auf ihr Atmen und das Rascheln ihres Anzugs, wenn sie ihre Position kaum merklich änderte, ging von ihr aus.

Das ist wohl der Komödie zweiter Teil, dachte Michael. Er war sich inzwischen sicher, in ein verrücktes Experiment geraten zu sein, oder in so etwas wie ein interaktives Krimi-Spiel. Man musste ihn verwechselt haben, denn er hatte nie in eine Teilnahme eingewilligt oder sich für so etwas beworben, geschweige denn für so einen Irrsinn bezahlt.

Er wartete. Fehild beachtete ihn so wenig wie eine weiße Fussel auf einem weißen Flokati-Teppich.

Minute um Minute verging. Sein Mund war trocken. Auf seiner Stirn bildete sich Schweiß. Als er in seinen Augen brannte, wischte er ihn mit seiner Hand fort. Er wusste, dass sie ihn mürbe machen wollte. „Was wollen Sie von mir?“, fragt er in die Stille hinein.

Sie wandte ihm langsam das Gesicht zu und betrachtete ihn von oben bis unten. Mit einem Mal war er sich seiner Blöße noch stärker bewusst als eben in Liaras Anwesenheit.

„Sag mir deinen Namen“, forderte sie ihn mit beleidigender Herablassung auf.

„Michael.“

Sie beugte sich blitzartig vor und schlug im ins Gesicht. Der Schlag traf ihn unerwartet hart. Verblüfft starrte er sie an und hielt sich seine brennende Wange. Bei einem Mann hätte er zurückgeschlagen, aber seine Erziehung verbot ihm selbst jetzt, das Gleiche bei einer Frau zu tun.

„Wie heißt du?“

„Michael.“

Diesmal war er vorbereitet. Als sie erneut die Hand hob, um ihn auf die andere Wange zu schlagen, ergriff er ihr Handgelenk.

Statt zu versuchen, sich loszureißen, blieb sie vollkommen ruhig und lächelte ihn an. „Lass meine Hand los und bitte mich um Verzeihung, Neun.“

Michael hätte nie gedacht, dass dunkelbraune Augen ihn so eiskalt anzuschauen könnten, wie ihre es jetzt taten. Sie sprachen von Gefahr. Er ließ das Handgelenk los.

„Du hast vergessen, mich um Verzeihung zu bitten.“

„Warum sollte ich das?“, fragte er patzig.

„Weil es besser für dich wäre.“ Ihre Stimme war scharf wie eine Rasierklinge. Sie war es gewohnt, dass andere ihr aufs Wort gehorchten und duldete keinerlei Widerspruch oder Ungehorsam.

Genüsslich lehnte sie sich zurück. Unter ihrem geringschätzigen Lächeln fühlte Michael sich wie eine Fliege, die sich in einem Spinnennetz verfangen hat, während die Spinne schon am Rand sitzt und sich das Strickmuster für den Kokon überlegt. Aber er gab nicht nach. „Ich werde mich ganz bestimmt nicht bei Ihnen entschuldigen.“

„Ich warte nicht mehr lange!“, warnte sie ihn. An ihrem Ton hörte er, dass ihre Geduld zu Ende war. Trotzdem schwieg er. Sie konnte unmöglich glauben, dass er sie dafür um Verzeihung bat, ihren Schlag abgewehrt zu haben.

Als von seiner Seite keine Antwort kam, erhob sie sich langsam. Dann waren ihre Bewegungen die einer angreifenden Kobra. Ohne wirklich zu wissen, wie er dorthin gekommen war, lag er im Bruchteil einer Sekunde vor ihr auf dem Boden. Ein spitzer Stiefelabsatz befand sich genau über seinem Auge. Eine winzige Bewegung von ihr und der Absatz hätte es durchbohrt. Schweiß trat aus allen seinen Poren.

„Entschuldige dich, Neun!“, drang Fehilds Stimme wie von weither und doch glasklar an sein Ohr.

Sein eben noch vorhandener Stolz war wie weggefegt. „Entschuldigung“, brachte er hervor.

„Ist das alles?“

Er lag nackt, wehrlos und verwirrt vor ihr auf dem Boden, sein Auge ihrem Stiefelabsatz auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Was wollte sie denn noch von ihm?

„Bei wem entschuldigst du dich für was?“, beantwortete sie seine Gedanken.

Da war nur noch Wackelpudding in seinen Knien. Sein Atem ging stoßweise. Der Absatz war seinem Auge immer noch bedrohlich nahe. „Ich … ich entschuldige mich dafür, Ihre Hand abgewehrt zu haben“, brachte er stockend hervor. Seine ganze Konzentration war auf den Absatz gerichtet, dessen Spitze ihm so nah war, dass sie vor seinem Auge verschwamm.

„Wie bitte?“ Ihre Stimme war hart.

Seine Gedanken zuckten hin und her. Er verstand nicht, was sie von ihm verlangte.

„Deine fehlende Anrede war unverschämt“, half sie ihm. Er hörte die Grausamkeit in ihrer Stimme.

Jetzt verstand er. „Ich entschuldige mich, dass ich Ihre Hand abgewehrt habe, Herrin Fehild.“

Der Absatz verschwand aus seinem Gesichtsfeld. Trotz seiner Erleichterung wagte er es noch nicht, sich zu bewegen. Nur der Wackelpudding in seinen Knien zitterte weiter.

Er sah zu Fehild auf. Sie stand über ihm, als sei nichts Besonderes geschehen. „Steh auf und setz dich auf deinen Stuhl“, forderte sie ihn auf. Er sah die Verachtung in ihrem Gesicht. Nicht einmal ihr Atem hatte sich beschleunigt.

Sein Atem hatte sich beschleunigt. Ungelenk und mit schmerzenden Gliedern erhob er sich und setzte sich auf den Stuhl.

Sie hatte das Limit seiner Erziehung überschritten. Er hätte sie geschlagen, durchgeschüttelt, angeschrien, wenn sie nicht was auch immer für Kampfkünste beherrscht hätte und die Walküren nicht in Lauerstellung gewesen wären. So hielt ihn nur der Rest seines Verstand, der noch nicht in Schreckstarre verfallen war, von irgendeiner unbedachten und übel endenden Aktion zurück.

„Wie heißt du?“, fragte Fehild erneut, als sie sich ihm gegenüber hingesetzt hatte.

„Michael.“ Er staunte über sich selbst, als er hörte, was aus seinem Mund kam. Wahrscheinlich wäre selbst Schweigen besser gewesen.

„Dein Name ist Neun.“ Keinerlei Ungeduld war in ihrer Stimme zu hören.

War es die Ruhe vor dem Sturm? Er erwiderte nichts, zuckte nur zusammen, als sie sich einen Millimeter bewegte.

Sie wartete einen Moment. „Wie lautet dein Name!“ Es war keine Frage, es war der Befehl, ihr zur antworten, leise ausgesprochen und doch unmissverständlich.

Michael warf den Kopf zurück. „Warum wollen Sie, dass ich meinen Namen aufgebe?“

„Du wirst deinen Namen nicht aufgeben. Dein Name ist Neun.“ Sie wartete einen Moment, bevor sie ihre Behauptung wiederholte. „Dein Name ist Neun.“

„Nein.“ Er schrie das Wort hinaus. „Verdammt noch mal, mein Name ist Michael, war es immer und wird es immer sein.“

Fehild stand auf und sprach in einem Tonfall mit ihm, als wäre er ein trotziges Kind. „Du weißt, dass dein Name Neun ist und du wirst es nicht vergessen.“

Michael sah ihr voller Hass hinterher, als sie die Zelle verließ. Der Sturm war bisher ausgeblieben, aber er war sich sicher, dass er schon im Herannahen war.

Er kam. Tag für Tag. Fehild fragte ihn nach seinem Namen. Jedes Mal beharrte er auf Michael. Sie fragte ihn auch zu anderen Dingen aus, flocht aber immer wieder die Frage nach seinem Namen in ihr Verhör ein. Er hatte gelernt, hob seine Hand nicht wieder gegen sie, auch wenn sie ihn mit ihrem Auftreten und ihren Worten zur Weißglut brachte.

Sie hätte ihn mit nackter Gewalt innerhalb kürzester Zeit zwingen können, ihr zu gehorchen. Aber das tat sie nicht. Sie schlug ihn nicht einmal mehr. Jedes Mal, wenn er kurz davor war nachzugeben, beendete sie ihre Inquisition. Es war offensichtlich, dass sie es genoss, ihn immer wieder ihre Überlegenheit spüren zu lassen.

Obwohl er kein Zeitgefühl mehr hatte, nahm er an, dass seine so genannte Erziehung seit Tagen andauerte, vielleicht auch eine schon eine Woche. Er hoffte, dass man ihn vermisste und nach ihm suchte. Seine Freunde und Kollegen wussten, dass er abends oft durch den Park lief. Sein Auto stand noch dort. Man musste einfach Hinweise auf seine Entführer finden und ihn hier rausholen!

Als er nach der ersten Woche seiner Erziehung immer noch nicht so parierte, wie sie wollte, verschärfte Fehild ihre Erziehungsmethoden. Man gab ihm weniger zu essen und ließ ihn fast die ganze Zeit im Dunkeln sitzen. Selbst Sanitärartikel und das Tablett mit Nahrung wurden so durch die Zellentür geschoben, dass er kein Licht sah. Die Dunkelheit nahm ihn in sich auf und zerrte seine Ängste hervor. Nur wenn Fehild bei ihm war, wurde die Zelle erleuchtet. Niemand außer ihr sprach mit ihm. Fast schon war er froh, wenn sie zu ihm kam. Dann ließ man ihn nicht mehr schlafen.

Er war ausgelaugt. Immer öfter fragte er sich, ob man die Suche nach ihm aufgegeben hatte. Warum sonst hatte man ihn noch nicht befreit.

Und dann geschah es. Fehild hatte ihn zum unendlichsten Male gefragt, wie sein Name lautet.

„Neun.“

Er bemerkte seine falsche Antwort erst, als sie laut und demonstrativ mit den Fingern der rechten Hand schnippte und ihn lobte. „Gut.“ Er blickte auf und sah zum ersten Mal seit vielen Tagen ein Lächeln in einem Gesicht. Fast hätte er zurückgelächelt. Dann ließ sie ihn alleine in der Zelle zurück. Endlich durfte er wieder schlafen.

Als er nach einem traumlosen Schlaf aufwachte, wurde das Licht in der Zelle angelassen. Man brachte ihm Zeitungen und Bücher. Er war nicht zu mehr in der Lage, als darin rumzublättern und sich die Bilder anzusehen. Aber selbst diese rauschten nur an ihm vorbei.

Fehild übte seine Antwort noch mehrfach mit ihm ein. Jedes Mal, wenn er zu ihrer Zufriedenheit antwortete, schnippte sie mit den Fingern, wenn nicht, traf ihn ihr strafender Blick. Mehr brauchte es inzwischen nicht mehr, um ihn dazu zu bringen, sich ihrem Willen zu fügen.

Michael nahm an, dass wiederum mehrere Tage vergangen waren, als Fehild zusammen mit Liara die Zelle betrat. Er saß auf dem Bett und schämte sich für sein Nachgeben. Nur mit Mühe konnte er ihren Blicken standhalten.

„Wie heißt du?“, fragte Liara. Vor ihr saß ein Häufchen Elend. Fehild hatte ganze Arbeit geleistet. Sie unterdrückte die Gefühle, die ihr hochkamen, bevor sie wusste, von welcher Art sie waren.

Er blickte zu ihr hoch. In ihren Augen war keine Rettung zu sehen.

Dann sah er Fehild an. Sie rieb den Zeigefinger ihrer rechten Hand so am Daumen, als wollte sie damit schnippen, aber ohne dass ein Geräusch zu hören war. Sonst tat sie nichts. Aber es genügte. Er wusste, es war eine Warnung. Diese einfache, kurze Bewegung wirkte bedrohlicher auf ihn, als wenn sie die Hand zum Schlag erhoben hätte.

„Neun“, flüsterte er. Fehild lächelte.

Liaras Miene blieb unbewegt. Als sie die Zelle verlassen wollte, war er versucht, sie zu bitten, ihn nicht mit Fehild zurückzulassen. Seine Zähne schlugen hörbar aufeinander. Unwillkürlich fasste seine Hand nach ihr. Sie stieß sie zurück und drehte sich weg.

Als Fehild das nächste Mal zu ihm kam, brauchte es nicht lange, bis er auch ohne bedrohliche Blicke oder Fingerschnippen seinen neuen Namen nannte. Diesmal brachte man ihm zur Belohnung ein Fotoalbum in die Zelle, das man aus seinem Haus geholt hatte. Er betrachtete die Bilder mit seinen Erinnerungen. Dann weinte er.

Es dauerte nur noch wenige Tage, bis er auf die Frage nach seinem Namen zuverlässig und ohne nachzudenken mit „Neun“ antwortete. Die irrwitzige Hoffnung, dass man ihn gehen oder wenigstens aus der Zelle ließe, keimte in ihm auf. Es war ein Irrtum.

Er wusste es, als Fehild die Zelle betrat und ihm eine andere Frage stellte. „Was wirst du tun, Neun?“

Er erinnerte sich, dass irgendjemand es ihm gesagt hatte, aber er hatte vergessen, was es war. „Ich weiß es nicht.“

Sie hob die Hand. Die zweite Runde war eröffnet. Er wusste, dass seine Antwort nichts an dem änderte, was auf ihn zukam. In Erwartung eines Schlages schloss er die Augen. „Aber ich bin mir sicher, mir wird etwas einfallen.“

Der Schmerz war weniger stark als erwartet. Jedenfalls nicht beim ersten Schlag. Weitere folgten. Und weitere. Anfangs vermochte er nicht, sie abzuwehren, obwohl nur eine zierliche Frau vor ihm stand. Ihr Wille und die Androhung härterer Strafen lähmten ihn.

Als er ihren Schlägen dann doch auswich und die Hände vor sein Gesicht hob, kamen die Walküren herein und banden ihm die Hände hinter dem Rücken zusammen. Dann war es wie bei einer Heiß-und-kalt-Suche. Je näher seine Antwort der erwünschten kam, desto weniger hart waren ihre Schläge. „Du wirst tun, was wir von dir verlangen. Nur dann wirst du am Leben bleiben“, drohte sie.

Er wusste, dass sie es ernst meinte. Sein Gesicht schwoll unter ihren Schlägen an.

Diesmal verlor Fehild die Geduld. „Die richtige Antwort lautet: Ich werde der Ersten Herrin dienen und ihr in allem gehorchen“, gab sie am Ende der vierten Sitzung vor. Michael schüttelte den Kopf. Es wäre so viel leichter gewesen, ihrem Befehl zu gehorchen. Er konnte es nicht.

Die Fragen begannen erneut, dauerten an, die Schläge wurden härter, folgten schneller aufeinander. Sein Ich war genau so gefesselt wie sein Körper, dann zerrann es in Angst und Schmerz. Nichts als eine leere Hülle aus Pappmaché blieb von ihm übrig. Und dennoch weigerte er sich weiter auszusprechen, was sie von ihm hören wollte. Noch war er nicht vollständig gebrochen.

Die Frage, ob an der wirren Geschichte, die Liara ihm erzählt hatte, etwas Wahres dran war, stellte er sich schon lange nicht mehr. Es war nicht wichtig.

Wieder die gleiche Frage, wieder seine Weigerung, noch mehr und noch härtere Schläge. Sein Kopf flog hin und her. Dann verlor er das Bewusstsein.

3. Sehnsüchte

Hell. Schmerz. Ein sich windender Magen. Sein Mund war ausgedörrt.

Eine Hand schob sich unter seinen Kopf und hob ihn an. Sie war kühl. Ein verschwommenes Gesicht tauchte vor ihm auf. Er war zu schwach, um irgendetwas abzuwehren oder auch nur seinen Kopf wegzudrehen. Doch kein Schlag traf ihn.

Er schaute auf, bemühte sich mit dem Rest seiner Wirklichkeit, klar zu sehen. Sein Schädel dröhnte, ihm war übel. Zwei grüne Augen erschienen vor ihm. Er erinnerte sich, sie schon einmal gesehen zu haben, nur dass sie ihn diesmal nicht eiskalt und hart ansahen, sondern unendlich sanft und warm in ihn eintauchten. Etwas lief über seine Lippen. Er schluckte. Eine kühle Flüssigkeit rann durch seine Kehle. Er schluckte mehr, bis sich das Gefäß von seinen Lippen löste.

„Gib auf. Bitte gib auf“, hörte er eine Stimme, die genauso sanft und warm war wie der Blick aus den grünen Augen. Er nickte.

„Sag deinen Namen.“

„Neun.“

„Was ist deine Aufgabe, Neun?“

„Ich werde Ihnen dienen und in allem gehorchen, Erste Herrin.“ Trotz seiner Schwäche wunderte er sich, wie leicht ihm diese Worte über seine Lippen gekommen waren. Sie fühlten sich richtig an.

Etwas in ihm war gebrochen. Etwas, das seinen Widerstand aufrecht erhielt. In diesem Augenblick. Er wusste es nur noch nicht.

Doch Brüche können heilen. Sie ahnten es nur noch nicht. Und die Heilung kann das neu Zusammengewachsene stärker machen, als es das Ungebrochene war.

Die Hand ließ seinen Kopf in das Kissen unter ihm sinken und zog sich zurück. Er griff nach ihrem Handgelenk. Sie zog es nicht weg, doch fast wären seine kraftlosen Finger abgeglitten. „ Bitte …, bitte nicht … allein mit Fehild …“

Ihre Haut unter seinen Fingern brannte. Sie schaute gebannt in seine blauen Augen und sah die Angst und den Schmerz darin. Der Anblick brachte sie aus der Fassung.

„Es wird alles gut“, tröstete sie ihn. „Schlaf.“ Die Finger ihrer freien Hand strichen über seine Stirn. Sie war feucht. Erschreckt zog sie ihre Hand zurück; noch nie hatte sie so etwas getan und noch nie ein solches Gefühl empfunden wie jetzt. Es ging ihr durch Mark und Bein – und es fühlte sich unerhört gut an. Sie sperrte sich dagegen, aber es ließ sich nicht verleugnen.

Er ließ das Handgelenk los und fiel zurück in eine ohnmachtartige Nacht.

 

„Was hast du mit Michael gemacht!“, herrschte Liara ihre Schwester an.

„Neun“, entgegnete diese gelassen. „Er heißt Neun.“

Liara antwortete nicht, sondern presste nur ihre Lippen fest aufeinander. Ihre Gedanken liefen nicht in den richtigen Bahnen, und ihre Schwester hatte sie dabei ertappt.

Fehild schüttelte verärgert den Kopf. „Im Gegensatz zur dir habe ich mich an die Regel gehalten.“

„An welche Regel?“, fragte Liara, obwohl sie wusste, was ihre Schwester meinte.

„Man hält jemanden, den man erzieht, in möglichst umfassender Unwissenheit. Das weißt du doch selbst ganz genau. Er kann überhaupt schon von Glück reden, dass wir ihm unsere Namen gesagt haben. Du aber hast unserem 'Gast' sogar erzählt, warum er hier ist. Und als ob das nicht schon genug wäre, hast du ihm eins seiner Fotoalben geben lassen.“

Sie hatte das Wort Gast mit so deutlicher Verachtung ausgesprochen, dass es sogar Liara in ihrer Empörung aufgefallen war. „Woher weißt du von unserem Gespräch?“

„Was glaubst du? Von ihm selbst natürlich. Wir haben uns über einige interessante Sachen unterhalten, nicht nur über seinen Namen und seine Aufgabe. Er war durchaus gesprächig.“

„Es erschien mir angebracht, ihm zu sagen, warum er hier ist“, entgegnete Liara. „Er glaubt es eh nicht. Er hält uns für verrückt.“

„Du mischst dich in Dinge ein, die dich nichts angehen.“

„Sie gehen mich sehr wohl etwas an. Sogar mehr als dich.“

„Aber du hast keine Ahnung davon.“

„Nicht so viel wie du, zugegeben. Aber ich will nicht, dass er unnötig leidet. Er hat uns nichts getan.“

“Es spielt keine Rolle, was er getan hat und was nicht, sondern nur, dass er seine Aufgabe erledigt. Vergiss das nicht.“

„Keine Sorge, das vergesse ganz bestimmt nicht. Aber du solltest nicht vergessen, dass er dazu noch lebendig sein muss und, wenn es dir irgendwie möglich ist, am besten auch gesund und bei Verstand.“

„Ich habe mein Bestes gegeben, so wie ich es angekündigt habe.“

„War das wirklich so hart notwendig? Er hat eine schwere Gehirnerschütterung!“

Es gelang Fehild kaum, ihre Genugtuung zu verbergen. Sie genoss es, Liara zurechtweisen zu können, denn sie wusste ganz genau, wie sehr diese es hasste, auch nur den kleinsten Fehler zu machen. „Eine Gehirnerschütterung heilt schnell. Er wird sie überstehen und daraus eine Lehre ziehen. Meine Vorgehensweise war jedenfalls sehr schnell erfolgreich.“

„Bedauerst du das?“

Diesmal wurde Fehild Stimme lauter. „Natürlich nicht. Was denkst du von mir?“ Doch ja. Sie bedauerte es. Neun war ihr vom ersten Moment an zuwider gewesen. Er war einer jener blutleeren Klugscheißer, die studiert haben, und sich umso wichtiger vorkommen, je unwichtiger ihr Fach ist. Ob ihr ein Bild oder eine Vase gefiel, wusste sie auch ohne den Rat eines Experten.

Neun war ihr vollkommen unterlegen. Er war kein wirklicher Gegner gewesen, eine Memme, die losgeheult hatte, kaum dass es ein bisschen wehgetan hatte. Ohne die anmaßende Einmischung ihrer Schwester hätte er noch viel mehr geheult. Sie passten gut zueinander, einer so zartbesaitet wie der andere.

„Ich sage ich lieber nicht, was ich von dir denke“, hielt Liara ihr entgegen.

„Du kennst mich seit meiner Geburt!“

„Oh ja, das tue ich. Aber manchmal erschreckst du mich trotzdem noch. Nicht alles, was du tust, ist richtig. Vielleicht habe ich dir bisher zu viele Freiheiten zugestanden.“

Fehild hatte die Drohung in Liaras Worten gehört. Aber niemand durfte so mit ihr reden, nicht einmal die Reichsherrin. „Wir haben uns an fast jedem Tag unseres Lebens gesehen und uns beim Tod unserer Mutter und unseres Vaters gegenseitig getröstet“, brauste sie auf. „Jetzt erlaubst du einem Wildfremden, sich zwischen uns zu drängen.“

„Niemand kann sich zwischen uns drängen. Niemand außer uns selbst.“

Liara rauschte aus dem Zimmer. Fehild sah ihr hinterher. Vielleicht kannte ihre große Schwester sie wirklich nicht sehr gut. Sie hingegen wusste ganz genau, wie Liara tickte. Wahrscheinlich sogar besser als ihre Schwester selbst. Sie hatte in der Tür gestanden, als Liara Neun an seinem Bett aufgesucht und mit einem Blick voller Mitleid und Scham angesehen hatte. Und sie hatte gesehen, wie sie ihm mit der Hand über die Stirn gefahren war. Eine solch zärtliche Geste war äußerst ungewöhnlich für ihre sonst so kühle und beherrschte Schwester. Unter ihrer glatten und abweisenden Oberfläche brodelte mehr, als die meisten Menschen vermuteten.

Man hatte bei Liaras Erziehung ganze Arbeit geleistet und aus ihr eine eherne und selbstbeherrschte Herrscherin gemacht. Sie war geboren worden wie jeder Mensch aus Fleisch und Blut. Doch sie war mehr. Sie selbst hatte es erst bemerkt, als ihre große Schwester die Grenze zwischen Kindheit und Jugend überschritten hatte.

Mit Hinterlist und Übermut hatte sie es wieder einmal geschafft, Liara entgegen aller harter Erziehungsmaßnahmen bis zur Weißglut zu reizen. Sie hatte gesehen, wie deren nahezu unerschütterliche Selbstbeherrschung implodiert war und es aus tiefster Seele genossen. Dann aber hatte sie in ihr Gesicht gesehen. Es war menschlich gewesen und doch hatte sie einen unmenschlichen Instinkt darin erkannt. Etwas Dunkles spiegelte sich in ihren Augen. Eine gelbe Glut war darin aufgeflammt, wild und Gefahr verheißend. Liara hatte einen Laut von sich gegeben, der ihr eine Gänsehaut über den Rücken gejagt und ihr Herz zum Stillstand gebracht hatte.

Seit sie denken konnte, hatte kein Mensch sie in Furcht versetzen können. Jetzt hatte sie zum ersten Mal Angst vor ihrer großen Schwester gehabt, eine Angst, die sie erstarren ließ. Sie hatte einen Schrei gehört und dann mit Verwunderung festgestellt, dass er aus dem Mund ihrer Erzieherin gekommen war. Männer waren herbeigeeilt und hatten Liara ergriffen. Sie hatte sich gewehrt wie ein wildes Tier. Noch während die Männer mit Liara gerungen hatten, war sie selbst in Panik zu ihrer Mutter gerannt. Sie hatte ihr mit kindlichem Schrecken berichtet, was sie gesehen und gehört hatte. Zu ihrem Erstaunen hatte ihre Mutter nur gelächelt und ihr dann geduldig erklärt, was sie wissen musste.

Liara, hatte sie gesagt, vereine das Erbe des Drachen und des Wolfes in sich. Es werde seit Generationen in ihrer Familie weitergegeben. Wenn der Träger die Grenze zwischen Kindheit und Jugend überschreite, zeige es sich. Der Drache schenke ihm Leidenschaft für alles, was er tut und begehrt, und die Fähigkeit, auch die verborgenen Gefühle der Menschen zu erkennen. Der Wolf hingegen stärke seine körperlichen und geistigen Kräfte und erfülle die Menschen in seiner Umgebung mit einer lebendigen Kraft, auf dass sie ihm bedingungslos folgen. Alle unterwerfen sich seinem Willen. Dieses Erbe stamme vom Geist der Wälder, der sich ihrer Urahnin in Gestalt eines Wolfes genähert habe.

Fehild hatte wissen wollen, wann sich das Erbe bei ihr zeige. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, es werde immer nur ein Nachkomme mit diesem doppelten Erbe gesegnet und kennzeichne die nächste Reichsherrin. Dies sei in dieser Generation ihre Schwester Liara.

Fehild hatte enttäuscht gefragt, woher ihre Mutter das wisse. Dann erfuhr sie, dass ein Feuermal auf Liaras Bauch das Zeichen des Drachen sei. Sie hatte es selbst gesehen und ihre große Schwester immer wieder damit aufgezogen.

Fehild hatte weiter gefragt, woher ihre Mutter wisse, dass ihre Schwester auch das Erbe des Wolfes in sich trage. Sie habe sonst keine körperlichen Besonderheiten an ihrer Schwester bemerkt, kein Fell oder weiteren Male. Ihre Mutter hatte nur gelächelt. „Ein Wolf erkennt den anderen.“

Fehild war empört gewesen. Sie hatte es noch nie ertragen können, dass jemand über ihr stand, selbst bei ihrer Mutter und Großmutter war es ihr immer schwerer gefallen, je älter sie geworden war. Es war ihr schon kaum möglich gewesen zu akzeptieren, das Liara die nächste Reichsherrin werden sollte. Das Wissen, dass dieses innerlich wie äußerlich blasse Etwas auch noch besondere Fähigkeiten haben sollte, die sie stärker als sie selbst machten, war ihr unerträglich gewesen.

Und dann hatte ihre Mutter ihr auch noch erklärt, dass sie als die oberste Dienerin und Beschützerin ihrer Schwester eine besondere Stellung innerhalb der Gemeinschaft haben werde. Das Erbe des Drachen, Leidenschaft und Impulsivität, gepaart mit der Kraft des Wolfes, sei nicht nur gefährlich für andere, sondern auch für Liara selbst - bis hin zur Selbstzerstörung. Deshalb habe man sie so hart erzogen; sie habe lernen müssen ihre Fähigkeiten zu beherrschen und zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen. Fehild werde eine große Verantwortung tragen und von allen geehrt und geachtet werden.

Was für eine Zumutung! Sie sollte eine Dienerin sein? Unmöglich. Ihr war so viel mehr von einem Drachen und einem Wolf gegeben worden als Liara. Das musste doch für alle offensichtlich sein!

Die Liaden, die Drachen, waren immer voller Leidenschaft gewesen, auch schon, bevor einer ihrer Vorfahren einem Feuer nicht nur unversehrt, sondern sogar mit der Gabe des Erkennens gesegnet entstiegen war. Für sie gab es nur schwarz oder weiß, keine Grautöne und vor allem keine Skrupel, wenn es um ihre eigenen Interessen ging. Aus ihren Lastern zogen sie ihre Stärke. Nur sie, Fehild, nicht Liara, konnte die wahre Erbin der Liaden sein. Zudem hatte sie den Instinkt eines wilden Tieres. Sie war der Wolf. Ihr - nur ihr! - hätte es zugestanden, die nächste Reichsherrin zu sein.

Inzwischen waren Jahre vergangen. Sie wusste nur zu gut um die Stärke, die Liaras Fähigkeiten seit jenem Gespräch mit ihrer Mutter erreicht hatten. Mit jedem Jahr waren sie mächtiger geworden. Sie hatten ein Maß erreicht, wie schon lange nicht mehr in ihrer Familie. Ihre große Schwester erkannte mit Leichtigkeit die Gefühle anderer, selbst wenn sie unterdrückt oder hinter Mauern aus Stahl und Beton verborgen wurden. Kein noch so guter Schauspieler konnte ihr etwas vormachen. Liara übte einen mitreißenden Sog auf die Menschen in ihrer Umgebung und ganz besonders auf die Angehörigen der Gemeinschaft aus. Sie gab die Kraft des Wolfes an sie weiter, machte sie stark und weise.

Aber Fehild hatte ihrer Schwester gegenüber einen Vorteil: Sie war die einzige lebende Person, bei der Liaras Fähigkeiten versagten, und zwar alle. Fehilds Gefühle entzogen sich ihr und sie war keiner ihrer hirnlosen und blind ergebenen Untertanen. Sie brauchte nichts von ihrer Kraft, um stark zu sein.

Fehild lächelte selbstgefällig. Wenn ihre Schwester auch nur ein wenig kriminelle Energie gehabt hätte, wäre sie eine unschlagbare Pokerspielerin gewesen. Einmal abgesehen davon, dass sie eh zu weich und ehrlich für so etwas war. Sie hatte die Kraft und geistige Stärke der Belden geerbt. Den Wölfen. Jener Linie ihrer Familie, die vor wenigen Generationen noch die Rebellion gegen die Liaden angeführt hatte. Aber auch deren Geradlinigkeit. Nur manchmal noch kam das Erbe des Geistes der Wälder in seiner ganzen und ungezügelten Stärke bei ihrer Schwester zum Vorschein. Es rief sie nachts in die Wälder und ließ ein gelbes Leuchten in ihren Augen aufflammen, wenn die Mauer ihrer Selbstbeherrschung löchrig wurde. Das Wölfische in ihr nahm ihr einen Teil ihrer Menschlichkeit, doch es machte sie nahezu unbesiegbar.

Letztendlich aber war das Fehlen dieser Gaben zwar ärgerlich, aber hinnehmbar. Die Gefühle der anderen hatten Fehild noch nie sonderlich interessiert, sie waren eh alles Schwächlinge und taten – notfalls mit etwas Nachhilfe - sowieso alles, was sie wollte.

Bis auf Liara. Und da lag das Problem. Wenn es hart auf hart käme, wäre ihre Schwester stärker als sie. Das Erbe des Wolfes war gefährlich für alle, die sie oder die Ihren bedrohten. Ihre eigene Ausbildung konnte daran nichts ändern. Einen direkten Kampf Mann gegen Mann, oder besser gesagt Mensch gegen Wolf, musste sie unbedingt vermeiden. Sie hatte keine Chance ihn zu gewinnen. Es gab Gerüchte über Belden, die einer überwältigenden Übermacht entgegengetreten waren, um sich selbst oder ihre Schutzbefohlenen zu verteidigen, und die nur die verstümmelten Leichen ihrer Feinde zurückgelassen hatten.

Wenn sie etwas gegen ihre Schwester unternehmen wollte, musste es in Sekundenbruchteilen geschehen, bevor es für sie zu spät wäre, zu reagieren. Glücklicherweise vertraute Liara ihr voll und ganz.

Allerdings dürfte niemand wissen, wer dahintersteckte. Zwar tobte auf ihrem Heimatplaneten ein blutiger Bürgerkrieg und auch tödliche Intrigen waren an der Tagesordnung, aber ein Schwesternmord stieße selbst dort übel auf. Wenn ihre Macht erst einmal gefestigt wäre, sollte auch das kein Problem mehr darstellen, aber um an die Spitze des Reiches gestellt zu werden, und um sich dort anfangs über Wasser zu halten, brauchte sie Verbündete. Jeder würde zögern, eine Frau zu unterstützen, die ihre eigene Schwester ermordet hatte. Nicht aus Ehrgefühl oder wegen irgendwelcher Skrupel, sondern weil sie damit rechnen mussten, selbst bei nächster Gelegenheit kaltgestellt zu werden. Wer seine vom Schicksal zum Herrschen auserkorene Schwester verraten hatte, kannte weder Ehre noch Gewissen oder Dankbarkeit. Nichts und niemand wäre vor seiner Machtgier und Grausamkeit sicher.

Eine andere Möglichkeit wäre, Liara zu betäuben und sie dann von jemand anderem beseitigen zu lassen. Als trauernde Schwester könnte sie das Erbe antreten, ohne dass jemand einen Verdacht gegen sie hegte.

 

Glühende Nadeln stachen in seinen Kopf. Der Schmerz strahlte in seinen ganzen Körper aus. Michael schlug die Augen auf. Es war blendend hell. Die niedrig stehende herbstliche Sonne schien auf sein Bett. Durch das Fenster hörte er den gedämpften Gesang von Vögeln, obwohl es schon Anfang Oktober war. Im ersten Moment war es ihm, als läge er wie einst als krankes Kind in seinem Zimmer, liebevoll umsorgt von seiner Mutter.

Die Erinnerung an das Hier und Jetzt kam hart und brutal. Und das nicht nur, weil er statt eines Schlafanzugs mit Bärchen drauf einen Anzug aus einem leuchtend orangeroten Baumwollstoff trug, ähnlich dem Overall eines Häftlings im amerikanischen Hochsicherheitstrakt.

Er wusste nicht, wohin man ihn gebracht hatte und wie er hierher gekommen war. Am wichtigsten war im Augenblick, dass er sich nicht mehr mit Fehild in der Zelle befand und dass das Stechen in seinem Kopf aufhörte.

Als er sich mit schmerzhaft verkniffenen Augen im Zimmer umsah, sah er die blonde Frau mit den grünen Augen am Fußende des Bettes stehen. Sie beobachtete ihn mit gerunzelter Stirn.

Er versuchte sich aufzusetzen. Seine Glieder waren wie Gummi. Ihm wurde schwindelig und schwarz vor den Augen. Er ließ sich in die Kissen zurückfallen. Als sich sein Kreislauf wieder stabilisiert hatte, stand die Frau, Liara, erinnerte er sich, neben ihm.

Bei seinem zweiten Versuch gelang es ihm, sich aufzusetzen. „Wo bin ich jetzt schon wieder und seit wann?“

„Du bist seit gestern an deinem neuen Wohnort.“

Er hatte also nur einen Tag aus seinem Bewusstsein verloren. „Wo?“

„Du wirst hier die nächste Zeit verbringen.“

„Wo ist hier?“

„In meinem Haus.“

„Und wo genau ist das?“

„In der Nähe von deinem bisherigen Wohnort.“

Er blickte aus dem Fenster. Weit unter sich sah er eine Stadt. Das Gebäude, in dem er sich befand, musste an einem Berghang darüber liegen. Obwohl das Sonnenlicht in seine Augen stach, erkannte er einen breiten Fluss und einen Dom. Es war tatsächlich die Stadt, in der er seit seiner Geburt wohnte. Es dürfte ihm nicht schwer fallen, den Weg nach Hause zu finden. Er musste nur irgendwie aus diesem Haus voller Verrückter rauskommen.

Liara folgte seinem Blick und erriet seine Gedanken. „Das Haus und das Gelände sind gesichert und werden bewacht. Du kannst beides ohne meine Erlaubnis nicht verlassen.“

„Und wann werde ich Ihre Erlaubnis erhalten?“

„Noch nicht.“

„Ich habe also nicht Lebenslänglich bekommen“, stellte er sarkastisch fest.

„Doch, aber mit Freigang bei guter Führung.“

„Es ist ein beruhigender Gedanke, Ihr Gefangener zu sein.“

„Ich bevorzuge das Wort Gast.“

„Ich bevorzuge die Wahrheit.“

„Du wirst das bald anders sehen.“

„Wohl kaum.“ Er sah sich um. „Ist Fehild nicht hier?“

„Es heißt für dich Herrin Fehild. Sie ist beschäftigt.“

„Wie bedauerlich. Wäscht sie gerade jemand anderem das Gehirn?“

„Du solltest auf deine Worte achten.“

„Das habe ich bereits bemerkt. Ihre Komplizin war sehr nachdrücklich.“

„Sie ist nicht meine Komplizin, sie ist meine Schwester.“

Michael war überrascht. Dann erinnerte er sich vage, dass beide den gleichen Nachnamen trugen. Liade. Aber er hätte nie gedacht, dass sie so nah miteinander verwandt sein könnten. „Dann kann ich nur hoffen, dass Sie sich nicht nur äußerlich so deutlich von diesem Biest unterscheiden, sondern auch charakterlich.“

Liaras Miene verdunkelte sich, obwohl sie wusste, wie schwierig ihre Schwester sein konnte. Sie öffnete ihren Mund, um ihm eine angemessen empörte Entgegnung zu geben.

„Ich weiß“, kam er ihr voller Ironie zuvor. „Sie ist ein Engel.“

Gegen ihren Willen verzogen sich Liaras Lippen zu einem Lächeln. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Bild ihrer mit einem weißen Nachthemd bekleideten Schwester, die einen Heiligenschein über ihrem Kopf und Flügel in ihrem Rücken trug. Nein, das passte wirklich nicht zu Fehild. Sie senkte kurz den Blick, um ihr Lächeln vor Neun zu verbergen. Als sie aufschaute, war ihre Miene wieder unbewegt. Sie durfte Neun diese Provokation nicht durchgehen lassen. „Du wirst nie wieder so von ihr sprechen“, sagte sie hart.

Er zog es angesichts seiner Situation vor, ihr eine angemessene Antwort schuldig zu bleiben. „Man wird mich vermissen“, stellte er stattdessen fest. „Ich habe viele Freunde. Die Polizei wird mich spätestens dann suchen, wenn man mein verlassenes Auto am Stadtpark findet.“

„Dein Auto steht wohlbehalten in deiner Garage. Wir haben Postkarten mit deiner Handschrift aus einigen entlegenen Gegenden dieser Welt an deine Freunde geschickt. Sie denken, du machst eine längere Studienreise. Es wird nicht lange dauern, bis sie dich vergessen haben und neue Freunde finden. Du hast übrigens eine schreckliche Handschrift. Wir haben sie kaum entziffern und nachmachen können.“

„Datenschutz“, erklärte er lakonisch. „Aber meine Kollegen und Studenten werden sich fragen, wo ich abgeblieben bin. Und meine Verwandten auch, wenn sie nichts mehr von mir hören.“

„An deiner Uni wird man einfach davon ausgehen, dass du nicht an einer Verlängerung deines Vertrages interessiert warst. Es gibt genug, die dich jederzeit ersetzen können. Und deine Verwandtschaft besteht nur aus ein paar Cousinen und Cousins, die du einmal im Jahr auf einer Beerdigung siehst.“

„Woher kennen Sie meine Freunde und Verwandten?“

„Du hast einen Computer und ganz klassisch ein Adressbuch.“

Er erinnerte sich, dass man ihm eines seiner Fotoalben gegeben hatte. Jemand musste es aus seinem Haus geholt haben. „Sie waren in meiner Wohnung?“, fragte er trotzdem.

„Ja.“

„Wie oft?“

„Nur ein paar mal. Zum Beispiel um die Kameras und Mikrofone, die wir in deinem Haus verteilt haben, wieder zu entfernen.“

„Sie haben mich in meinem Haus ausspioniert?“

„Natürlich.“

„Und, haben Sie etwas Interessantes herausgefunden?“

„Du schläfst in Shorts und T-Shirts und wenn es kalt wird auch mit Tennissocken.“

„Sie haben mich sogar beobachtet, während ich in meinem Bett geschlafen habe?“ Er konnte es kaum fassen, dass sie so dreist gewesen waren, und noch weniger, dass er davon nichts bemerkt hatte.

„Ja, und auch während du in deinem Bett eher aktiv warst.“ Ihre Antwort trieb ihm die Schamesröte ins Gesicht. Er schlug mit der Faust auf die Matratze. „Das darf nicht wahr sein. Ihr Schweine!“

„Beruhige dich“, antwortete Liara. Plötzlich schämte sie sich für ihr Eindringen in seine Privatsphäre.

„Beruhigen? Ich will mich nicht beruhigen!“

„Es war unumgänglich.“

„Ihr kennt wohl keine Grenzen in eurem Wahn! Zum Teufel mit euch.“

„Man kann nicht zu viel über denjenigen erfahren, der der Vater der nächsten Reichsherrin werden soll.“

Er sparte sich eine Antwort auf ihr verrücktes Gerede. Mit zusammengebissenem Kiefer wendete den Blick ab und schaute demonstrativ aus dem Fenster. Es hatte allerdings auch kaum eine andere Möglichkeit, ihr seinen Protest zu zeigen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, gleich wieder in den Fängen der Walküren oder, schlimmer noch, von Fehild zu landen.

Liara starrte auf seinen Rücken und musste sich zwingen, ihn nicht zu berühren. Ärgerlich biss sie sich auf die Lippe. Sie hätte ihm nicht sagen sollen, dass sie ihn beobachtet hatten. Wie hatte ihr so etwas nur passieren können? Es war, als hätte seine Nähe ihren Schutzwall untergraben. Zu dumm. Aber jetzt war es zu spät, ihre Worte zurückzunehmen. Es ist auch nicht wirklich von Bedeutung, ob er es weiß oder nicht, redete sie sich ein. Ein unangenehmes Gefühl blieb.

Sie warf ihm einen langen Blick zu, wollte, dass er sie anschaute, einfach so, ohne dass sie ihn dazu auffordern musste.

Er starrte immer noch aus dem Fenster. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Kein Zeichen der Versöhnung ging von ihm aus.

„Wir sehen uns, Neun.“

„Ist das eine Drohung?“

„Es ist das, was du daraus machst.“

„Bekomme ich etwas gegen meine Kopfschmerzen oder gehören die auch zu Ihren Foltermethoden?“

Seine Unzugänglichkeit enttäuschte Liara. Sie verstand nicht, dass er sich weigerte, sein Schicksal als so selbstverständlich anzunehmen, wie sie selbst es mit dem ihren getan hatte. Neun und sie waren in ein und derselben Stadt aufgewachsen und doch in zwei verschiedenen Welten. Er drehte sich immer noch nicht um. Der Weg aus seinem Zimmer war lang.

Michael hörte, wie die Tür verriegelt wurde. Kurze Zeit später brachte ihm eine Dienerin wortlos ein Medikament, während eine der Walküren die Tür bewachte. Er überlegte einen Moment, ob die Tablette eine Falle sein könnte, dann nahm er sie ein. Sie hatten es nicht nötig, ihn auf diese Weise zu hintergehen.

Er streckte sich auf dem Bett aus und starrte die Zimmerdecke an. Als er die Augen schloss, traf ihn eine bittere Erkenntnis: Er war in keinem Alptraum, aus dem er einfach so aufwachen und sich den Angstschweiß von der Haut abwaschen konnte.

Es war kaum zu glauben, aber diese Frauen, die eine kalt wie ein Eisblock, die andere eine Furie, hielten ihn tatsächlich gefangen. Der Gedanke, für lange Zeit, vielleicht sogar für den Rest seines Lebens, hier in der Gewalt dieser Irren und ihrer Handlanger festzusitzen, war niederschmetternd. Er überlegte fieberhaft, was er zu seiner Rettung tun könnte, aber da gab es nichts. Kein Weg führte ihn hier raus, wenn sie es nicht zuließen. Dass er die Fenster des Zimmers und des Badezimmers genauso wenig öffnen konnte wie die Tür zum Flur, hatte er schon festgestellt.

Sein bisheriges Leben mit all der gewohnten Sicherheit war zerplatzt wie eine Seifenblase. Als er seinen Blick wieder dem Fenster zuwandte, hatte er das Gefühl, in einen dunklen Abgrund zu fallen, ohne zu wissen, wie tief er war und was sich auf seinem Grund befand.

Er fasste sich an den Kopf, der trotz des Medikamentes brummte. Sie konnten doch nicht ernsthaft von ihm erwarten, dass er sein altes Leben widerspruchslos für irgendeine Fantasterei aufgab. Aber sie taten es, so absurd es auch war. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass sie ihn freiwillig gehen ließen oder dass man die Suche nach ihm noch nicht aufgegeben hatte - falls man ihn überhaupt vermisst hatte.

Er sprang trotz Schwindel, Übelkeit und Kopfschmerzen vom Bett auf und rannte die wenigen Meter in seinem Zimmer auf und ab. Verzweifelt schlug er mit der Faust gegen die Wand. Sie war hart, undurchdringlich und genauso kalt wie dieses blonde Miststück.

 

Den ganzen Rest des Tages ärgerte Liara sich über ihre herausgeplatzten Worte und ihre deplatziere Scham. Neun hatte zu viel Macht über ihre Gedanken und Gefühle.

Vom ersten Moment an hatte er sie fasziniert, zuerst nur ihre Augen, gefiltert durch den Monitor ihres Computers und den venezianischen Spiegel der Zelle, doch dann auch alle ihre anderen Sinne. Jetzt wartete jeder einzelne ihrer Nerven darauf, von ihm gereizt zu werden. Ihr ganzer Körper schrie unter der Fassade ihrer Selbstbeherrschung nach ihm. Ihr Unterleib pochte, wenn sie mit trockenem Mund an ihn dachte. Es war unfassbar. Es war ungesund.

Sie musste das unterbinden – sofort - und sich von ihm fernhalten, bis sie wieder klar denken konnte. Ihr Entschluss stand fest. Es war eine harte Probe, sie wusste es.

Der Abend kam und mit ihm eine fiebrige Unruhe. Sie drängte Sie, das Korsett aus anerzogener Selbstbeherrschung wie einen Fremdkörper abzustreifen. Liara wusste, was mit ihr geschah. Es begann zwischen ihren Schulterblättern: ein Sehnen, das ihr Herz dröhnen ließ und sich fordernd und verheißungsvoll in ihr ausbreitete, bis jede einzelne ihrer Zellen davon durchdrungen war. Heißkalt, vibrierend, explosiv. Sie fürchtete den Drang und liebte ihn. Er war schon lange nicht mehr mit seiner ganzen Kraft über sie gekommen, seit Monaten nicht mehr, aber heute geschah es wieder. Sie konnte es nicht aufhalten, wollte es nicht einmal. Eine längst vergangene Zeit rief sie und sie gehorchte.

Sie zog sich bequeme Kleidung in Tarnfarben an. Viel lieber wäre sie nackt in die Nacht hinausgelaufen, aber sie war zu vorsichtig, das zu tun. Nicht die Kälte hielt sie davon ab, sie konnte ihr nichts anhaben, sondern die Angst vor Entdeckung. Wenn sie schon durch die Dunkelheit rannte, getrieben von einem übermächtigen Drang, und irgendjemand sie wider alle Wahrscheinlichkeit sah, wollte sie nicht auch noch durch fehlende Kleidung auffallen.

Die Dienerschaft wusste, was sie tat, und ging ihr aus dem Weg. Niemand wollte ihr in diesem Zustand begegnen, obwohl sie niemals blutüberströmt oder mit den Spuren eines Kampfes zurückgekehrt war. Aber es gab grausige Geschichten über in Stücke gerissene Menschen, die sich dem Wolf in den Weg gestellt hatten. Der Geist des Waldes, so hieß es, verlange nach Blut. Er habe seine Abkömmlinge, Bastarde halb Mensch, halb Dämon, in diese Welt geschickt, damit sie es ihm als Opfer darbrachten. Wenn der Wolf in ihnen erwache, leuchte eine gelbe Glut in ihren Augen und sie seinen todbringende Bestien, die durch die Nacht streifen, immer auf der Suche nach pulsierenden, blutgefüllten Adern.

Liara lächelte, während sie mit federndem Gang durch die Flure in Richtung Ausgang ging. Sie verwandelte sich nicht in ein blutrünstiges Monster und hatte auch nie den Drang verspürt zu töten, aber die Gerüchte unter ihren Leuten waren ihr recht. Niemand wagte es, zu neugierig zu sein oder ihr sogar nachzustellen.

Sie trat aus der Haustür. Ihr Körper wurde mit jedem Schritt leichter. Kies knirschte unter ihren Füßen. Die kühle Oktobernacht umfing sie wie ein alter Freund. Schon auf dem ausgeleuchteten Weg zum Tor nahm sie Witterung auf. Die Wache öffnete es und sah ihr mit aufgestellten Nackenhaaren hinterher, bis ihre Umrisse von der Schwärze jenseits der Lichtkegel aufgesogen wurden. Als sich das Tor hinter ihr schloss, war sie von anderer Wesensart.

Sie lief los, tauchte ein in den Schatten der Bäume, zwischen Büsche und Sträucher. Ihre Schritte waren lautlos. Dornen wichen vor ihr zurück. Der Boden flog unter ihr dahin. Aufatmend nahm sie die Gerüche des Waldes wahr, die selbst ihr sonst verborgen blieben. Sie spürte, wie das Leben unter ihren Füßen krabbelte und sich wand. Ihre Augen konnten die Nacht durchdringen, ihre Ohren besser hören als die einer Wildkatze. Es war ein zeitloser Rausch, in dem es keine Verpflichtungen, keinen Schmerz und keine Scham gab. Sie war frei. Die Luft pulsierte, redete zu ihr. Sie lauschte dem Geist der Wälder. Ein gelbes Glühen brannte in ihren Augen.

 

Während der nächsten drei Wochen wurde Michael von den Walküren versorgt. Sie redeten nur das Nötigste mit ihm. Von Liara und – glücklicherweise – von Fehild sah er nichts. Sein körperlicher Zustand besserte sich, doch in seinem Innern tobte ein Sturm.

Er war seit Wochen Menschen ausgeliefert, an deren Verstand er zweifelte. Angst, Wut und Verzweiflung lösten einander ab. Je länger er in ihrer Gewalt war, desto weniger glaubte er, dass sie ihn gehen ließen oder dass man ihn hier lebend rausholte. Von niemandem hier konnte er Hilfe bei einer Flucht erhoffen.

Immer noch rannte er ruhelos in seinem Zimmer auf und ab. Es war groß und doch viel zu klein für seinen Bewegungsdrang, seine Wut und seine Ängste. Er hatte immer intensiv Sport getrieben. Jetzt konnte er nur noch wenige Übungen machen wie Liegestütze und Sit-ups. Die erzwungene Untätigkeit und das Eingesperrtsein zehrten an seinen Nerven. Im Gefängnis konnte es kaum schlimmer sein. Dort gibt es wenigstens Mithäftlinge und einmal täglich eine Stunde Hofgang.

Er wollte ihnen seine Angst nicht zeigen, dafür aber ließ er sie seinen Zorn spüren. Mehr als Worte und Blicke hatte er dazu nicht. Sie verpufften an ihnen wie kindliches Gequengel.

Er wusste, es wäre das Beste für ihn, sich mit den Gegebenheiten abzufinden. Aber das konnte er nicht – und wollte es auch nicht. Sie hatten ihn aus seinem Leben gerissen, ihn misshandelt, und sie hielten ihn immer noch gefangen wie einen Verbrecher. Jeden Tag brachte man ihm nicht nur frische Wäsche, sondern auch einen frischen Anzug. Das leuchtende Orange kotzte ihn an. Er malte sich aus, was er ihnen antäte, wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Die Brutalität seiner Gedanken überraschte ihn - er genoss sie.

 

Man brachte ihm Bücher und Zeitschriften. Auf seinem Zimmer stand sogar ein Fernseher. Er fand keine Hinweise darauf, dass man ihn vermisste und suchte. Die Legende, die Liara und ihre Anhänger um sein Verschwinden gesponnen hatten, war perfekt. Niemand hegte einen Verdacht, dass irgendetwas nicht stimmte.

Die Tage auf seinem Zimmer zogen sich einer um den anderen zäh wie Kaugummi dahin. Er hatte Mühe, sie voneinander zu unterscheiden. Oft musste er scharf nachdenken, um sich an das Datum zu erinnern. Vielleicht sollte er für jeden Tag einen Strich in die Wand über seinem Bett einkerben. Wenn sie ihn schon hielten und kleideten wie einen gefährlichen Gefangenen, konnte er sich auch so verhalten.

Er fragte sich, warum Liara nicht mehr zu ihm kam. Er fragte sich, warum er sich das fragte. Du wirst doch nicht etwa Sehnsucht nach diesem Eisblock haben, schalt er sich. Bestimmt nicht! Ihr fehlte jegliche Form von Leidenschaft. Wahrscheinlich ließe sie sich nicht einmal herab, mit ihm zu streiten, wenn er sie dazu herausforderte.

Sein Wunsch, sie zu sehen, musste daher rühren, dass sie als einzige hier ihn nicht zu Boden geworfen, dafür aber normal mit ihm gesprochen hatte. Wobei der Begriff normal relativ war. Auf sie zu warten, war völlig daneben. Er hätte wütend auf sie sein sollen. Nur wütend. Sie trug die Verantwortung für alles, was ihm hier angetan wurde.

Aber wenn ihr Gesicht vor seinem inneren Auge auftauchte, spürte er keine Wut. Im Dunkeln fühlte er wieder ihre Hand unter seinem Kopf und sah ihre Augen warm und sanft auf ihn herabblicken, grün und mit einem geheimnisvollen gelben Widerschein darin.

Nachts wand er sich stöhnend in seinem Bett. Er fühlte, wie ihn die Einsamkeit zerriss und wie die Sehnsucht nach diesem grünäugigen Miststück ihn im Dunkeln noch mehr quälte als bei Tageslicht.

Immer wieder fuhr er nassgeschwitzt aus Alpträumen hoch. Oft wachte er auf und wusste nicht, wo er war. Wenn es ihm einfiel, lag er trotzdem minutenlang in der Schwärze und überlegte, wo die Lampe war, um dann planlos danach zu tasten. Er war zu stolz, nach einem Nachtlicht zu fragen.

Warum nur war ihm das passiert? Warum hatte er nicht bemerkt, dass sie ihn beobachtet hatten? Warum hatte er sich nicht gewundert, wenn Fremde ihre Kameras auf ihn gerichtet hatten?

Er war stolz gewesen, nicht misstrauisch, als er in den Kneipen immer wieder von gutaussehenden Frauen angesprochen worden war, statt zuerst ihnen einen Drink anzubieten. Sie hatten ihn nach seinem Leben gefragt. Manche waren mit ihm nach Hause gegangen. Er hatte keine von ihnen ein zweites Mal gesehen. Die Telefonnummern, die sie ihm gegeben hatten, existierten nicht. Warum hatte nicht einmal das ihn misstrauisch werden lassen?

Vielleicht wären ihm die Kameras und Mikrofone in seinem Haus aufgefallen, wenn er nicht zu faul zum Putzen gewesen wäre. Seine Haushälterin hatte anscheinend nichts bemerkt. Oder aber sie hatte gedacht, er habe sie selbst dort angebracht. Wenn sie die in seinem Schlafzimmer gefunden hatte, dachte sie sicher, er sei ein perverser Spanner, der seine Abenteuer filmt, um sich später daran aufzugeilen.

Warum hatte er an jenem beschissenen Abend, als sie ihn geholt hatten, trotz des miesen Wetters unbedingt laufen gehen müssen, statt sich wie jeder normale Mensch hinter seinem warmen Ofen zu verkriechen? Warum nur hatte er immer gesund gelebt? Wenn er geraucht, gesoffen und 30 Kilo Übergewicht mit sich herumgetragen hätte, hätten sie ihn bestimmt nicht ausgesucht. Hoppla, sie nannten es ja nicht ausgesucht, sondern auserwählt. Er wäre als Erzeuger von Liaras Kind nicht in Betracht gezogen worden, dafür aber noch auf freiem Fuß.

 

Das Wetter, mit dem der November begann, war auch nicht besser als seine Stimmung. Seit sechs Wochen befand er sich in der Hand dieser Irren. Zum ersten Mal gab man ihm normale Kleidung. Es war nichts von seinen eigenen Sachen dabei, trotzdem passte alles wie angegossen.

Nachdem er sich angezogen hatte, forderte Sisgard ihn auf, ihr zu folgen. Sie beantwortete seine Frage nach dem Wohin mit einem eisigen Schweigen und einem ebensolchen Blick. Er fragte nicht noch einmal. Nach drei Wochen, in denen man ihn weitgehend alleine eingesperrt hatte, war er froh, endlich sein Zimmer verlassen zu können.

Auf dem Weg durch die Korridore sah er sich um. In diesem Haus gab es anscheinend mehr Überwachungskameras als Menschen. Alles war modern, aber kalt eingerichtet. Er fühlte sich wie in einem riesigen Labor – mit ihm als Ratte darin.

Die Walküre öffnete eine Tür am Ende des Korridors. „Sie müssen sich vor der Ersten Herrin verbeugen“, mahnte sie ihn verstohlen. Er sah sie einen Moment erstaunt an, schon weil er nie erwartet hätte, sie einmal leise sprechen zu hören.

Dann betrat er den Raum. Liara war dort. Er ging direkt zu dem Schreibtisch, an dem sie unnahbar und kalt saß. Ihre Ausstrahlung glich der von Königinnen auf alten Gemälden, nur dass sie im Gegensatz zu diesen außer einer einfachen Perlenkette keinen Schmuck trug. Sie brauchte keine Preziosen, um ihre aristokratische Haltung und ihren Machtanspruch zu unterstreichen.

Eine Verbeugung sparte er sich. Ehrerbietung oder Respekt war das Letzte, das er für sie empfand. Wenn sie seine Unterwerfung sehen wollte, musste sie ihn zwingen. Er wusste, sie war dazu in der Lage, aber noch war seine Selbstachtung trotz Fehilds so genannter Erziehung nicht gänzlich dahin. Sie hatten ihn einmal gebrochen, aber die Heilung hatte bereits eingesetzt.

Liara sah in sein trotziges Gesicht und spürte wieder einen Stich in ihrem Unterleib. Er sprach weder eine Begrüßung aus noch verbeugte er sich. Nun ja, den Einheimischen hier mangelte es an einigem und insbesondere an einer guten Kinderstube. Dass man von den Angehörigen eines Volkes, das selbst bestimmt, wer es regiert, nichts anderes als Ungehorsam und Respektlosigkeit erwarten kann, wusste sie längst und hatte gelernt, außerhalb ihres Hauses damit umzugehen. Sie bewegte sich in zwei Welten: in ihrer eigenen geordneten und in jener dort draußen, in der alle ohne jegliches Verantwortungsbewusstsein ihren egoistischen Gelüsten folgten. Neun musste lernen, dass es nur noch diese hier für ihn gab.

Als er jetzt zum ersten Mal bekleidet und direkt vor ihr stand, und ohne dass sonst noch jemand im Raum war, bemerkte Liara, dass er deutlich größer war als sie. Trotz Fehilds Behandlung und der langen Untätigkeit bewegte er sich mit der Leichtigkeit eines Sportlers. Wenn sie sich unter anderen Umständen kennengelernt hätten, hätte sie ihm mehr als nur einen Blick gegönnt, vielleicht sogar mehr als nur ein paar Augenaufschläge. Sie roch sein Aftershave und zog unbewusst die Luft tief ein. Wieder war da dieses unerwünschte Pochen in ihrem Unterleib.

Auch jetzt schwang eine Saite in ihr, von deren Existenz sie vor seinem Erscheinen nichts gewusst hatte: Sie wollte ihn beschützen. In Anbetracht der Umstände war das vollkommen abwegig, schließlich war er durch sie in diese Lage geraten und dazu verdammt, es auch für den Rest seines Lebens bleiben. Ihre Gefühle waren verstörend, passten nicht zu ihrer Vorstellung von einer Reichsherrin und zu dem Bild, das andere von ihr haben sollten. Ihr Schutz galt der Gemeinschaft. Die Männer liefen ihr nach, nicht umgekehrt. Punkt! Aber in seiner Gegenwart war alles verdreht. Verwirrt registrierte sie nicht nur, welche Empfindungen sich ihr aufdrängten, sondern auch, dass sie sich nicht beherrschen ließen und sogar für ihn sichtbar wurden. Falten kräuselten ihre Stirn, Unverständnis ihr Inneres.

Er sah ihre Verwirrung. Es war ihm egal, dass er sie nicht verstand. Er wollte nur weg von hier. „Was wollen Sie von mir?“ Seine Stimme war hart.

Anscheinend wusste er immer noch nicht, dass er ihr eine respektvolle Anrede und eine ebensolche Ausdrucksweise schuldete. Aber trotz seines unangebrachten Verhaltens war ihre Stimme weich, als sie ihm antwortete. „Ich will mit dir reden.“

Er staunte über ihren freundlichen Ton, aber er hütete sich davor, sich von ihr einlullen zu lassen. „Ich will auch mit Ihnen reden. Warum tun Sie mir das alles an?“, warf er ihr vor. „Sagen sie es mir! Diesmal lasse ich mich nicht mit irgend so einer schwachsinnigen Erklärung abspeisen. Also?“

Ihre Stimme war nicht minder scharf als seine, als sie auf seine provokative Frage antwortete. „Das habe ich dir bereits erklärt.“

„Ich glaube Ihnen Ihre dämliche Geschichte aber nicht. Und selbst wenn sie doch wahr wäre, hätten Sie kein Recht, mich hier festzuhalten.“

Sie spürte ihren wachsenden Zorn. Verdammt, er kratzte viel zu sehr an ihrer Selbstbeherrschung. Sie riss sich zusammen. „Das Recht, das auf meinem Grund und Boden herrscht, ist ein anderes, als das deines Staates, Neun“, erklärte sie mit wieder unbewegter Stimme. „Es ist sehr viel älter. Du gehörst jetzt unabänderlich zu mir. Aber glaube mir, wenn du es zulässt, werde ich dir das Leben an meiner Seite so leicht wie möglich machen.“

Er tat ihre Erklärung mit einer Handbewegung ab. Sie betrachtete es anscheinend als ihr gottgegebenes Recht, ihn zu besitzen. Er sah das weiß Gott anders. Aber er wusste, dass er hier mit Zorn oder einer weiteren Respektlosigkeit nichts erreichen konnte und zwang sich zur Ruhe. „Lassen Sie mich gehen“, bat er sie eindringlich. „ich werde Sie nicht anzeigen.“

„Das ist unmöglich.“

„Ich werde niemandem etwas erzählen“, versprach er. „Ich weiß nicht einmal genau, wo ich hier bin. Und selbst wenn ich etwas verraten wollte, niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, würde mir diese Geschichte abnehmen.“

„Das ist nicht verhandelbar. Du bleibst!“

„Warum?“

Sie hörte einen Anklang von Verzweiflung in seiner Frage. Das war gut, zeigte es doch, dass er endlich begann, seine Lage zu akzeptieren.

Dennoch meldete sich ihr Gewissen. Es war verrückt. Ein schlechtes Gewissen war hier nicht angebracht. Es hing so viel davon ab, dass ihre Familie weiter existierte, und dazu war seine Mitarbeit erforderlich. Sie nahm sich zusammen. „Wenn wir dich gehen ließen, hätten wir keinen Zugriff mehr auf dich.“

Es stieß ihm übel auf, dass sie von ihm sprach, als wäre er eine Sache, über die sie nach Belieben verfügen konnte. Zudem musste er sie siezen, während sie ihn duzte. Jetzt hatte sie ihn auch noch zu sich zitiert, als wäre er ein ungezogener Schuljunge, der von seiner Lehrerin gescholten wird.

In einer anderen Situation wäre das ein reizvolles Spiel gewesen. Liaras unterkühlte Schönheit und Strenge hätten das Herz vieler Schüler schneller schlagen lassen, sogar seines. Hier und jetzt war es jedoch kein Spiel, sondern bittere Realität fern jeder Erotik. Wenigstens hielt sie keinen Rohrstock in ihren Händen. Auf einen rotgestriemten Hintern konnte er verzichten.

Am liebsten hätte er ihr seine Meinung ins Gesicht geschleudert. Aber er versuchte sich zu beherrschen. Ein Zornesausbruch würde sie sicher nicht dazu bewegen, ihn gehen zu lassen.

So ganz gelang es ihm nicht, sich zurückzunehmen. „Wenn Sie mich gehen lassen, können Sie ja jederzeit zu mir kommen“, bot er ihr halb zynisch, halb ernst gemeint an. Er war bereit, auf fast jede Bedingung einzugehen, nur um von hier wegzukommen. „Ich werde Ihnen gerne spezielle Dienste ganz nach Ihren Wünschen und Vorlieben leisten. Ihre Schwester wird sicher verhindern, dass ich die Polizei rufe und persönlich darüber wachen, dass ich nichts tue, was Sie nicht wollen.“

Seine Unverschämtheit verschlug ihr die Sprache. Vielleicht waren Fehilds Erziehungsmethoden doch nicht so effektiv gewesen, wie sie bisher gedacht hatte.

„Sei vorsichtig, was du sagst oder tust“, drohte Liara, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. „Wenn ich es für richtig halte, wirst du wieder in die Zelle gesteckt und nur hin und wieder herausgeholt werden, bis ich eine Tochter von dir empfangen habe. Du würdest den Himmel über dir nie wieder sehen. Glaube mir, du wärst nicht der Erste, dem das passiert.“

Die unterdrückte Wut verlieh Liaras Gesicht einen rötlichen Schimmer. Hellgrüne Augen blitzten ihn scharf und strahlend an wie Glasscherben unter der Äquatorsonne. Bei jedem Atemzug zeichneten sich ihre Brüste unter ihrem Kleid ab. Oh, verflucht. Sie hätte eine verdammt attraktive Lehrerin abgegeben. Sein Mund war nicht nur wegen ihrer Drohung trocken. „Und wenn ich kooperiere?“, riss er sich zusammen.

Seine Frage zügelte Liaras Wut. „Je mehr wir dir vertrauen, desto größer werden deine Freiheiten hier sein. Es wird dir vielleicht sogar gestattet werden, in Begleitung das Gelände zu verlassen. Im Haus und gegebenenfalls auch außerhalb werden dir Annehmlichkeiten zur Verfügung stehen, von denen du bisher nur träumen konntest: Reisen im Privatflieger, Luxushotels, die schnellsten Autos, ganz wie du willst. Es hängt von dir ab.“

„Und wenn ich alleine sein will?“

„Außerhalb meines Hauses wirst du immer mindestens einen Leibwächter an deiner Seite haben.“

Er verzog das Gesicht. „Ich bin nicht käuflich. Wenn ich so sehr auf Luxus stehen würde, wie Sie denken, wäre ich bestimmt nicht Dozent an der Uni geworden, da gibt es nur ein karges Gehalt bei unsicherer Zukunft. Aber es ging mir gut, bisher jedenfalls. Ich habe ein kleines Vermögen geerbt, von dem ich gut leben kann, und ein Haus. Meine Freiheit ist mir wichtiger als Ihr Geld. Sie haben mir nichts zu bieten!“

„Es ist nicht deine Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben. Gewöhn dich an den Gedanken.“

„Dann sagen Sie mir, warum Sie mich zu sich gerufen haben“, wechselte Michael das Thema.

„Du wirst nicht mehr in deinem Zimmer eingesperrt werden, jedenfalls so lange du dich entsprechend verhältst. Ich wollte dir mitteilen, was dir hier erlaubt ist und was nicht.“

„Kriege ich auch ein Leckerchen, wenn ich brav bin“, fragte Michael bissig.

Liara wusste, sie durfte seinen Sarkasmus genauso wenig ignorieren wie sein Respektlosigkeit eben. Trotzdem ging sie darüber hinweg. „Du darfst dich auf dieser Ebene meines Hauses frei bewegen und in Begleitung in den Park gehen. In den unteren Bereichen hast du nichts zu suchen.“

„Sie meinen den Bereich mit der Zelle?“

„Ja. Wir werden wissen, wenn du gegen dieses Verbot verstößt.“ Was sich außer der Zelle sonst noch im unterirdischen Teil des Hauses befand, teilte sie ihm nicht mit. Wenn er von dem Schiff wüsste, wäre er so gut wie tot.

„Warum diese Heimlichtuerei?“, fragte er prompt. „Gibt es dort unten noch mehr wie mich? Ein Heer vergessener Gefangener, die nur darauf warten, dass Sie ihnen Ihre Gunst wieder zuwenden? Oder ist dort die Gruft, in der Sie die Gebeine ihrer Vorfahren und Anhänger bis zu dem Tag aufbewahren, an dem Sie sie in ihre Heimat zurückbringen?“

„Tu einfach, was man dir sagt. Glaube mir, es ist besser für dich.“ Ihr Ton ließ keinen Raum für Mutmaßungen zu; sie meinte, was sie sagte.

Er ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ach. Welcher Fluch trifft mich, wenn ich gegen Ihr Verbot verstoße? Der des Drachen oder der des Wolfes?“

„Meiner.“

Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. „Das ist ein schlagendes Argument“, brachte er heraus.

„Dann sind wir uns ja einig.“

„Was das angeht schon.“

Er hörte einen entnervten Ton in ihrer Stimme. „Wir bereits gesagt, es ist dir strengstens verboten, dorthin zu gehen. Außer natürlich, du schaffst es, dass du wieder eine mehr oder weniger lange Zeit in der Zelle verbringen musst.“

„Mein Bedarf daran ist bis auf Weiteres gedeckt, aber ich habe keinen Zweifel, dass das passieren wird.“

Sie sah ihn schräg an und hatte Mühe, sich zu beherrschen. Noch nie war ihr jemand derart unverschämt entgegengetreten, und das sogar in ihrem eigenen Haus.

„Wenn du, wovon ich ausgehe, lieber in den Park willst als in die Zelle“, fuhr sie fort, „solltest du überdenken, was du tust. Jeder Fluchtversuch ist sinnlos. Wenn du einen auch nur andeutest, wirst du keine Gelegenheit mehr zu einem zweiten bekommen. Verstanden?“

„Ganz wie Sie meinen.“

„Ich habe dir eine klare Frage gestellt und erwarte eine klare Antwort von dir.“

Michael zog eine Augenbraue hoch. „Würden Sie Ihre Frage noch einmal wiederholen? Ich habe sie vergessen.“

Liara atmete tief ein, um ihren Ärger in den Griff zu bekommen. Trotzdem war ihre Stimme rasiermesserscharf. „Hast du mich verstanden, Neun?“

„Ich bin nicht taub.“

Liaras Gesichtszüge entgleisten. Dieser verdammte Idiot machte sich und ihr das Leben schwer, wo er nur konnte. Wann würde er es endlich lernen, seinen Mund zu halten oder ihn wenigstens nur dann zu öffnen, wenn er sich damit nicht in Schwierigkeiten brachte! Sie spürte, wie sich die Muskeln in ihrem Nacken anspannten. Er hatte keine Ahnung, mit wem er es hier aufnahm. Wer es wagt, den Wolf herauszufordern, lebt gefährlich. Ihre Hand knallte auf die Tischplatte. Bevor sie die Kontrolle über sich auf eine nicht wieder gutzumachende Weise verlor, betätigte sie einen Knopf an ihren Schreibtisch. Sofort standen die drei Walküren im Raum.

„Bringen Sie ihn in die Zelle“, wies Liara sie an. „Nackt, kein Licht, kein Essen.“ Sie sah Michael wütend an. „Du hast es schneller geschafft, als ich gedacht habe. Gratuliere. Mal sehen, ob du bis morgen an Einsicht gewinnst“, zischte sie.

Michael war von ihrer unbeherrschten Reaktion überrascht. Er starrte sie verblüfft an. Kurz. Für mehr hatte er keine Zeit. Zwei Walküren packten ihn an den Armen und zerrten ihn gefolgt von der dritten aus dem Raum.

Liara sah ihnen aufgebracht hinterher. Ihre Hände waren zur Faust geballt. So wütend und unbeherrscht war sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gewesen. Er hatte es geschafft, sie in kürzester Zeit zur Weißglut zu bringen. Sie fühlte sich wieder in ihre Kindheit zurückversetzt, als Fehild sie immer wieder gepiesackt hatte und sie fast jedes Mal tatenlos hatte zusehen müssen, wie diese kleine Reißzwecke ungeschoren davongekommen war.

Inzwischen war sie älter geworden und der Drache und der Wolf waren in ihr erwacht. Sie fühlte, wie etwas aus ihr hervorzubrechen drohte, von dem sie wusste, dass sie es nicht mehr beherrschen könnte, wenn sie sich ihm jetzt überließe.

So viele Jahre hatte sie unter dem strengen Regiment ihrer Mutter und Erzieherinnen üben müssen, ihre Gefühle im Zaum zu halten, bis Ihr Gesicht fast zur Maske erstarrt war. Und mehr noch, man hatte sie gelehrt, ihr Inneres derart unter Kontrolle zu halten, dass auch ihr Herz eingefroren war. Jetzt war er gekommen und mit ihm Tauwetter. Risse und Spalten taten sich in ihrem Eispanzer auf.

Liara atmete tief durch die Nase ein. Sein Aftershave lag noch in der Luft. Die Klimaanlage brauchte deutlich länger als ein geöffnetes Fenster, um seinen Geruch zu entfernen. Verdammt, dass in diesem Haus alles doppelt und dreifach gesichert war! Sie hätte den Raum wechseln können. Sie tat es nicht.

Michael landete unversehens in seiner altbekannten Zelle. Die Walküren verlangten von ihm, sich auszuziehen. Er tat es unter ihren Blicken, alle Scham war ihm in den letzten Wochen abhandengekommen. Man ließ ihn kommentarlos alleine zurück. Kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war, wurde das Licht gelöscht.

Diesmal brauchte er wenigstens nicht Fehilds Erscheinen zu fürchten – hoffte er - und das Ende seiner Haft war abzusehen. Doch in der Dunkelheit dehnten sich die Stunden, es war fast ein ganzer Tag, endlos dahin.

Anfangs war er noch wütend. Er wollte dieser Verrückten da oben und ihrem schwesterlichen Giftzwerg auf keinen Fall nachgeben und das brave Haustier spielen. Was fiel Liara ein, ihn zur Strafe wie ein ungehorsames Kind in einen dunklen Keller zu sperren! Er durchquerte die Zelle trotz der Dunkelheit immer wieder mit wütenden Schritten. Inzwischen kannte er sie gut genug, um nicht zu stolpern.

Die Zeit floss träge dahin. Seine Wut ließ nach. Die Gedanken ordneten sich.

Es hätte bei seinem Gespräch mit Liara nur ein einzelnes Wort gebraucht, zwei Buchstaben, ein einfaches Ja, und er wäre nicht hier. Es war ein schlechtes Geschäft gewesen.

Er ließ sich mit dem Rücken an der Wand auf dem Boden nieder und legte seinen Kopf auf die angezogenen Knie. Nach einiger Zeit tat ihm der Hintern weh. Er stand auf, tastete im Bett nach dem Kissen, legte es auf den Boden und setzte sich darauf. Die Zeit floss noch träger dahin.

Sein Magen knurrte. Wasser konnte er am Waschbecken im Dunkeln aus seinen hohlen Händen oder direkt aus dem Hahn trinken. Es war demütigend. Wieder kam die Wut hoch, nicht mehr so stark wie zuvor, dafür hatte er Hunger.

Irgendwann stand er auf, nahm das Kissen vom Boden, und legte sich ins Bett. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Wahrscheinlich Tage. Ihm fiel ein, dass sich das Kissen zwischen dem Boden und seinem nackten Hintern befunden hatte. Mürrisch warf er es aus dem Bett.

Er wälzte sich von einer Seite auf die andere, sagte Gedichte im Dunkeln auf, zählte Schäfchen, Autos, Hauptstädte, … Die Zeit floss träge dahin. Das lauter werdende Knurren seines Magens war außer dem Knistern der Laken und seinem Atem das einzige Geräusch, das er hörte.

Er stand wieder auf und tat ein paar Schritte.

Plötzlich stand er inmitten einer undurchdringlichen Schwärze. Weder das Bett noch eine Wand waren in greifbarer Nähe. Nichts außer dem glatten Boden unter seinen nackten Füßen gab ihm mehr Halt. Die Dunkelheit floss in ihn, eroberte ihn, fraß ihn von innen her auf. Sein Verstand hatte bereits begriffen, wie ausweglos seine Lage war. Hier, umgeben von Nacht und unüberwindbaren Mauern, tief unter der Erde, machte es klick in seinem Kopf. Mit einem Mal verstand er ganz und gar, was es bedeutete, anderen Menschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Die Macht der Gesetze, die bisher sein Leben geregelt und geschützt hatten, endete an der Mauer von Liaras Besitz.

Wieder brach etwas in ihm. Nicht sein Stolz, sein Wille oder seine Wut. Es war jene letzte Barrikade seiner Seele, die ihn davor bewahrt hatte, vollends zu verstehen, was man mit ihm antat. Dafür wurde etwas neu geboren: sein Wille zu überleben. Körperlich und geistig.

Es war ihm mit einem Mal klar, was er zu tun hatte. Er musste kooperieren, scheinbar, sie in Sicherheit wiegen, bis sich ihm die Gelegenheit zur Flucht bot. Zeit genug dazu hatte er ja. Aber sich dauerhaft zu verstellen, ist alles andere als einfach. Dessen war er sich sicher. Er musste immer und überall sein Verhalten, seine Worte und sogar seine Blicke kontrollieren.

 

Sie war wütend gewesen. Den ganzen Tag über hatte sie an ihn denken müssen. Sie war noch wütender geworden. Ihr Herz hatte wild geschlagen, ihr Magen hatte sich verkrampft. Jetzt war es spät am Abend, dunkel und kalt. Ihr Körper war heiß. Sie legte sich ins Bett und drehte sich auf die Seite. Ihre Beine umschlangen die Bettdecke, ihre Arme das Kopfkissen. Sie drückte ihr Gesicht fest in das Leinen. Es konnte ihre Hitze nicht kühlen. Ihr Körper verlangte von ihr, was sie ihm nicht gab: ihn.

Mit einem tiefen Atemzug legte sie sich auf den Rücken und zog die Bettdecke hoch bis zum Kinn. Über ihr schimmerte die Zimmerdecke in der Dunkelheit. Ihre Hand legte sich auf ihren Bauch und blieb dort einen langen und unsicheren Moment liegen. Dann wanderte sie langsam nach unten. Ihre Finger strichen über ihre Schamlippen, drängten sie auseinander. Sie wunderte sich nicht einmal über die Feuchtigkeit dort. Ihre Lider schlossen sich, um auch das letzte Licht auszublenden. Vor ihr tauchten zwei blaue Augen auf. Sie verdrängte die Bilder, konzentrierte sich auf andere Fantasien, während ihre Finger ihre Klitoris rieben, und die Erregung, die sie seit dem Gespräch mit ihm beständig gefühlt hatte, anfachten. Ihre Schenkel öffneten sich, ihr Unterleib bewegte sich um anzulocken, was nicht das war. Wieder tauchten blaue Augen vor ihr auf. Er war fast zum Greifen nah. Ihr ganzer Körper war bereit, ihn aufzunehmen, doch sie war alleine. Als sie kam, unterdrückte sie ihr Stöhnen, obwohl außer ihr niemand da war.

Ihre körperliche Spannung fiel von ihr ab. Zurück blieb eine ungestillte Sehnsucht. Wieder legte sie sich auf die Seite. Sie rollte sich zusammen, so eng es ging.

 

Trotz seines Entschlusses zu kooperieren, hatte er schlecht geschlafen. Als das Licht aufflammte und die Tür aufging, hoffte er, dass es Morgen sei. Das Tablett, das Sisgard auf den Boden stellte, bestärkte seine Hoffnung. Er musste sich zwingen, das Essen nicht herunterzuschlingen, als hätte er seit Tagen gehungert.

Sisgard brachte ihm frische Kleidung und Unterwäsche. „Ziehen Sie sich an, die Erste Herrin will mit Ihnen sprechen.“ Er verschwand ins Bad. Wenig später holte sie ihn ab.

„Verbeugen Sie sich wenigstens dieses Mal vor der Ersten Herrin!“, zischte sie ihm zu, als sie vor der Tür von Liaras Büro standen. Ihr Ton war diesmal wesentlich unfreundlicher als am Vortag. Anscheinend hatte sie von seiner gestrigen Renitenz gehört. Es war eindeutig, dass sie ihm übelnahm, wie aufsässig er sich gegenüber ihrer hochverehrten Herrin benommen hatte.

Sie klopfte. Nach einem „Herein!“ schob sie Michael in den Raum und schloss die Tür hinter ihm.

Er verbeugte sich nicht. Aber sie hätten ihm auch nicht abgenommen, dass die eine Nacht in der Zelle seine Einstellung grundlegend geändert hatte. Sicher hätten sie stattdessen eine Arglist vermutet – zu Recht. Er begrüßte Liara nicht einmal, sondern starrte sie nur mit verkniffenem Gesicht an.

Sie sagte nichts. Mit der für sie typischen knappen Bewegung ihres Zeigefingers wies sie auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Wenigstens kam er diesmal ihrer Aufforderung widerspruchslos nach. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, dabei schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie hatte schlecht geschlafen, zu viel an ihn gedacht. Jetzt saß er vor ihr und sie wusste, dass sie seinetwegen noch viele Nächte schlecht schlafen würde.

„Wie war deine Nacht, Neun?“

„Ruhig.“

„Ich nehme an, du hattest Zeit nachzudenken.“

„Durchaus.“

„Und zu welchem Schluss bist du gekommen? Hast du verstanden, was ich dir gestern gesagt habe?“

Er zögerte einen Moment. Liara sah seine Kiefermuskulatur hervortreten. Sie lehnte sich zurück und sah ihn erwartungsvoll an.

„Ja“, sagte er und selbst in dieser einzelnen Silbe war ein Stocken zu hören. Er nickte. „Ich habe verstanden.“

Seine Worte und sein Nicken waren eindeutig widerwillig gewesen. Trotzdem lächelte Liara. „Gut“, sagte sie mit Erleichterung in ihrer Stimme, obwohl sie ihm diese eigentlich nicht zeigen wollte. Schon wieder stellte er ihre Selbstbeherrschung infrage. Sie musste sich angewöhnen, in seiner Gegenwart besser auf ihr Tun zu achten. „Denk an das, was ich dir gestern gesagt habe. Geh nicht in die unteren Etagen meines Hauses. Gehorche und unternimm keinen Fluchtversuch. Halte dich an die Regeln, dann machst du dir dein Leben hier nicht unnötig schwer.“

„Sie erwarten zu viel von mir.“ Verdammt, warum musste er schon wieder auf Konfrontation gehen! Sie hatte Recht. Er machte sich trotz seines nächtlichen Vorsatzes, scheinbar zu kooperieren, das Leben schwer.

In ihrem Gesicht sah er keine Reaktion auf seine spitze Bemerkung. Dieses eiskalte Biest. Wieder machte sie nur eine demütigend knappe Bewegung mit ihrem Finger in seine Richtung und dann zur Tür. „Du kannst jetzt gehen.“

Michael stand auf und nickte ihr noch einmal zu. Es war ein lange eingeübter Reflex der Höflichkeit. An Liaras Lächeln erkannte er, dass sie sein Nicken als die Andeutung einer Verbeugung wertete.

Verärgert über seine unbedachte Bewegung verließ er ohne ein weiteres Wort den Raum. Zu seiner Überraschung erwartete ihn keine einzige Walküre und auch niemand anderer vor der Tür. Sie hatten mit seinem Nachgeben gerechnet. Es verärgerte ihn noch mehr, so vorhersehbar auf ihre Strafe reagiert zu haben. Er kam sich vor wie ein Schüler, der zur Direktorin gerufen worden war, und jetzt von dannen schlich, froh, dass ihm nichts Ärgeres widerfahren war.

Liara lehnte sich weit in ihrem Stuhl zurück und betrachtete nachdenklich die Zimmerdecke über sich. Neun hatte beteuert, er habe verstanden. Aber das waren nur Worte gewesen, die sie erzwungen hatte, keine wirkliche Einsicht. Er würde sich nicht an die Regeln halten. Von kindischem Trotz getrieben lehnte er kategorisch ab, was sie von ihm wollte, was sie ihm anbot, und auch sie selbst. Sie hatte es nicht fühlen können, aber sein abweisendes Mienenspiel war klar und deutlich gewesen. So deutlich, dass es ihr wehgetan hatte.

Seine Ablehnung hätte sie nicht persönlich treffen dürfen. Aber genau das hatte sie getan; wie spitze Pfeile waren ihr seine Blicke und seine bitteren Worte unter die Haut gegangen. Wenn Neun in ihrer Nähe war, fühlte und tat sie, was sie noch nie bei einem Mann gefühlt oder getan hatte. Es war unglaublich.

Sie hatte ihn für seine gestrige Aufsässigkeit bestrafen müssen. Der Tag in der dunklen Zelle war angemessen gewesen. Aber statt das Gefühl zu haben, das Richtige getan zu haben, fühlte sie sich schlecht dabei. Ihn zu strafen bedeutete, sich selbst Schmerz zuzufügen. Und bei all dem war sie so hingerissen, wenn sie in sein trotziges Gesicht sah, dass sie am liebsten auf der Stelle mit ihm ihre Pflicht erfüllt hätte.

Ihr Unterleib brannte. Sie wusste nicht genau, wo Neun jetzt war, aber es wäre ein Leichtes gewesen, das herauszufinden. Wenn er auf seinem Zimmer gewesen wäre, hätte sie gleich dorthin gehen und ihn sich nehmen können. Niemand hätte es gewagt, sie zu stören.

Aber sie war sich sicher, von ihm zurückgewiesen zu werden. Er hatte seine Meinung über sie und ihr Anliegen klar und deutlich zum Ausdruck gebracht. Seine Zurückweisung würde alles nur noch schlimmer für sie machen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Angst vor einem Mann.

Alles war akribisch geplant und bis ins kleinste Detail durchdacht worden: die Auswahl des Neunten, seine Entführung und Erziehung. Nur das Große hatte man außer Acht gelassen: Gefühle gehörten nicht zu den Vorgaben. Aber sie waren da und erschufen eine neue, eine ihr unbekannte Welt.

Sie entstammte einer Familie von Kämpfern - Männer wie Frauen. Fehild war der beste Beweis dafür. Auch sie selbst hatte gelernt, mit Waffen umzugehen und sich falls nötig mit bloßen Händen zu verteidigen. Aber auf den Kampf, den sie mit Neun ausfechten musste, hatte nichts und niemand sie vorbereitet. Es war ein Zweifrontenkrieg. Sie hatte nicht nur mit ihm, sondern auch gegen sich selbst zu kämpfen. Egal wie es kommt, dachte sie, ich werde unterliegen, so oder so. Die Zweideutigkeit ihres Gedankens verzog ihren Mund zu einem gequälten Lächeln.

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihre Finger bei dem Gedanken an Neun die Schreibtischplatte unwillkürlich so zärtlich berührt hatten wie Wochen zuvor seine Stirn. Sie zuckte zurück. Ihre Hand ballte sich zur Faust, als wollte sie ihre verräterischen Finger vor sich selbst verstecken.

Sie hatte für eine Erbin zu sorgen. Das war alles, was man von ihr in Bezug auf Neun erwartete. Seine Aufgabe war es, ihr dabei mit körperlichen Einsatz zur Verfügung zu stehen. Für alle anderen um sie herum wäre ihr Wunsch, mehr von ihm zu besitzen, unverständlich gewesen. Nicht einmal sie selbst konnte es verstehen. Ihr Zögern, ihn zu sich zu rufen, hatte bestimmt schon Fragen und Gerüchte in der Gemeinschaft aufgeworfen. Aber die Vorstellung, von ihm den Zeugungsakt einzufordern und dann mit harschen Worten zurückgewiesen zu werden, war unerträglich. Wenn es sich herumspräche, wäre ihr Gesichtsverlust in der Gemeinschaft nicht wiedergutzumachen. Noch schlimmer wäre es, wenn ihm sein Körper bei dem Versuch, seiner Aufgabe nachzukommen, den Gehorsam verweigerte. Sie hatte Angst vor dem Schmerz und davor, was sie ihm nach solch einer Demütigung antun könnte. Der Wolf gab ihr Kraft und Weitsicht, aber er wartete auch auf die Gelegenheit, sie zu beherrschen, ihr ihre Menschlichkeit zu nehmen, um den dämonischen Blutdurst des Geistes der Wälder zu stillen.

Sie hoffte, dass es keinem Dritter gelänge, sich einzumischen und ihre gegenseitige Zermürbung auszunutzen. Das Reich war weit weg, aber die Möglichkeit der Entdeckung hing wie ein Damoklesschwert über ihnen. Falls ihre übermächtigen Feinde erst einmal ihr Versteck zu fänden, wäre das nicht nur ihr Ende, sondern auch das so vieler Hoffnungen hier wie dort. Es war von höchster Wichtigkeit für sie, möglichst schnell einer Tochter das Leben zu schenken, um das Erbe ihrer Familie an die nächste Generation weiterzugeben. Doch dieser verdammte Idiot sperrte sich dagegen. Sie wusste, sie musste geduldig sein, wenn sie mehr von ihm wollte als nur einen erzwungenen Zeugungsakt. Dabei war Geduld noch nie die hervorstechenste Tugend der Liaden gewesen und die Zeit drängte.

Michael ging zuerst auf sein Zimmer, um sich etwas Wärmeres anzuziehen, und dann in den Park. Sich draußen die Beine zu vertreten, war nach dem Gespräch mit Liara genau das Richtige. Noch richtiger aber wäre ein Sandsack gewesen, auf den er hätte einschlagen und -treten können.

Als er eine Tür nach draußen öffnete, atmete er mit weit geöffneten Nasenflügeln ein. Seit Wochen hatte es für ihn nur die von der Klimaanlage gefilterte Luft im Haus gegeben. Sie war verdorben gewesen, hatte das Aroma von Angst und Gewalt in sich getragen.

Noch bevor er die frische Luft richtig genießen konnte, erschienen zwei Männer, die ihn mit Argusaugen beobachteten. Michael sah sie misstrauisch an. Ihrem Aussehen und ihrer Haltung nach waren sie recht sportlich, jedenfalls in Sportarten, die er nicht beherrschte. Sicher konnten sie ihm sehr wehtun, sollte er etwas tun, das ihnen, oder besser gesagt Liara, missfiel. Er fragte sich, ob es ihnen erlaubt war, ihn zu töten, um eine Flucht zu verhindern. Sie schwiegen genauso wie er.

Missmutig wandte er den Blick von ihnen ab und ließ ihn in die Ferne streifen. Dort draußen, jenseits der hohen Mauer, lag seine Stadt. Heimweh zog seine Brust zusammen, dabei hatte er schon längere Reisen gemacht. Aber er hatte sich den Aufenthalt dort selbst gewählt und gewusst, dass er bald wieder zurückkehren musste. Er lachte grimmig; viel zu bald, so hatte er es damals empfunden. Aber er hatte die Zeit in angenehmer Gesellschaft verbracht, wissend, dass er jederzeit in sein Haus und in sein selbstbestimmtes Leben zurückkehren konnte.

Er könnte es schaffen, an zusammengeknoteten Bettlaken über die Mauer zu klettern. Allerdings müsste er dazu etwas haben, um sie an der Mauerkrone zu befestigen. Hier gab es aber nichts, das er als Enterhaken gebrauchen konnte. Und selbst wenn. Er hatte auf Schritt und Tritt einen Begleiter neben sich und der zweite war nicht weit weg. Es gab keine Möglichkeit, beide außer Gefecht zu setzen, einmal abgesehen davon, dass der Park durch Kameras und weitere Personen überwacht wurde.

Wütend über das, was man ihm hier zumutete, kickte er Kieselsteine vom Weg. Wenigsten derjenige, der sie aus dem perfekt gepflegten Rasen aufklauben musste, würde sich ärgern. Aber weder seine Wut noch seine Rachegelüste wurden bei dieser Vorstellung auch nur im Geringsten befriedigt.

 

Später fand er die Bibliothek. Obwohl es auch hier eine Klimaanlage gab, war sie der erste Raum in diesem Haus, der Wärme und Behaglichkeit ausströmte. Sie war bis zur Decke mit Büchern aus allen möglichen Epochen und zu den unterschiedlichsten Themen ausgestattet. Einzelne, sehr alt und wertvoll aussehende Werke lagen in Vitrinen. Unter anderen Umständen hätte er sich über seine Entdeckung wesentlich mehr gefreut.

Die meisten Bücher waren in deutscher oder englischer Sprache geschrieben, aber einige waren in einer ihm unbekannten Schrift verfasst worden. Ihr Einband war kostbar. Er besah sich die Bilder darin. Weder die abgebildeten Orte noch Gebäude oder Menschen kamen ihm bekannt vor. Selbst die Szenen waren anders. Es gab keine Autos. Dinge, die nicht aussahen wie Flugzeuge oder Hubschrauber, flogen durch die Luft. Die Menschen waren anders gekleidet. Es war, als schaue er sich Szenenbilder eines Science-Fiction-Films an, nur wirkte alles realer: die Perspektive, der Schmutz, die Menschen.

Dann fand er ein solches Buch, das er zu seiner Überraschung lesen konnte. Es war die Geschichte der Liaden und Belden. Er vertiefte sich drin und war bald gebannt von dem, was er las.

Auf einem Tisch stand eine antike Uhr. Sie war in diesem Haus wohl einer der wenigen nicht hochmodernen Gegenstände außer ihm, Liaras Schreibtisch und einigen Büchern. Während er in den nächsten Stunden die Langfassung von Liaras Schilderung ihrer Herkunft las, begleitete ihn ihr monotones Ticken.

Die Geschichte begann mit einer uralten Legende, nach der Liara und ihre Vorfahren vom Geist des Waldes abstammten. Er hatte sich einer Urahnin in Gestalt eines Wolfes genähert. Die Tochter, die aus dieser Begegnung hervorgegangen war, sie wurde Belde genannt, trug sein dämonisches Erbe in diese Welt. Der Herrscher des Reiches, ein Liade, nahm sie zur Geliebten und zeugte mit ihr einen Sohn. Nach dessen Geburt erkannte er ihn, seinen Erstgeborenen, den man als die Brut des Wolfes fürchtete, als seinen rechtmäßigen Erben an und heiratete Belde. Das Geschlecht der Belden, halb menschlich, halb dämonisch war gegründet.

Er hatte jedoch auch einen Sohn aus seiner ersten Ehe. Dieser erhob Anspruch auf den Thron, da er rechtmäßig gezeugt und geboren worden war. Die beiden Halbbrüder stritten mit dem Schwert um die Herrschaft. Über dem ehelich gezeugten Sohn, dem Liaden, brach eine brennende Goldschmiede zusammen. Doch er kam in der Glut nicht um, sondern entstieg ihr gesegnet mit der Gabe, auch die verborgenen Gefühle der Menschen zu erkennen. Durch seinen Sieg über das Feuer war das Geschlecht der Drachen geboren. Es herrschte über Generationen mit absoluter Macht über den Planeten.

Der Wolf und seine Anhänger indes flohen und führten eine Rebellion an. Es kam zu einem generationenlangen Aufstand, der zahllose Opfer auf beiden Seiten forderte. Das Sterben und die Grausamkeiten endeten erst, als gemäß einer Prophezeiung ein aus beiden Blutlinien entstammendes Kind im Verborgenen geboren worden war, um dann nach einem kometenhaften Aufstieg die Macht im Reich zu übernehmen. Liara und Fehild waren die beiden letzten Nachkommen jener Chimäre aus Drache und Wolf.

Mit vor Überanstrengung brennenden Augen legte Michael das schwere Buch beiseite. Er konnte es kaum fassen, aber Liara glaubte offensichtlich, dass diese Geschichte wahr sei und zog daraus die Rechtfertigung, ihn gefangen zu halten.

Auch den nächsten Tag verbrachte er größtenteils in der Bibliothek. Er nahm sich Bücher über Astronomie aus den Regalen. Nach Liaras angeblicher Herkunft aus einem fernen Sonnensystem erschien ihm das angebracht, obwohl er ihr dieses Ammenmärchen immer noch nicht abnahm. Das Buch über die Geschichte ihrer Familie hatte daran nichts geändert. Es war eine Legende voller Naturmystik, durchaus spannend für jemanden, der solche Sachen gerne liest. Aber mehr auch nicht. Für die Gemeinschaft war es wohl eine Art Glaubensbekenntnis. Nun, er war noch nie besonders gläubig oder leichtgläubig gewesen. Auch daran hatte sich nichts geändert.

Bisher hatte er sich noch nie sonderlich für Astronomie interessiert, obwohl solche Kenntnisse in seinem beruflichen Fachgebiet von Vorteil gewesen wären. Er konnte am Himmel nichts anderes als Sonne, Mond, Polarstern und den großen und kleinen Wagen benennen. Mit etwas Glück fand er Orion. Das war dann auch schon alles.

Jetzt erfuhr er einiges Neues, auch wenn es ihm schwerfiel, sich darauf zu konzentrieren. Diese verrückte Geschichte, die er am Vortag gelesen hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf.

In meiner Situation sollte ich mich vielleicht besser mit Astrologie statt Astronomie beschäftigen, überlegte er. Möglicherweise können mir die Sterne sagen, was die Zukunft bringt. Zu dumm nur, dass er daran genauso wenig glaubte wie an Liaras Geschichte.

Inzwischen war es Abend geworden. Michael legte das Astronomiebuch beiseite, schloss seine vor Überanstrengung brennenden Augen und streckte seine Glieder in dem schweren Ledersessel aus.

 

Da war eine zaghafte Schwingung in der Luft. Dann ein zurückhaltendes Klopfen an der Tür. Liara hob den Kopf „Herein.“

Die Sekretärin trat ein. Ihre Verunsicherung wunderte Liara. Die Frau war schon seit Jahren eine ihrer engsten Mitarbeiterinnen und sie war zwar immer respektvoll, aber nie besonders verschüchtert gewesen. Jetzt blieb sie betreten vor dem Schreibtisch stehen.

„Ja.“

„Die Herrin Edigna ist angereist.“

Jetzt war Liara noch mehr verwundert. Edigna war die stellvertretende Vorsitzende des Reichsrates, dessen zehn Mitglieder auf der ganzen Erde verstreut waren und die sie um Rat fragen konnte, wenn eine außergewöhnlich schwierige Angelegenheit zu regeln war. Es handelte sich um der Gemeinschaft besonders ergebene Personen mit einem umfangreichen Wissen, einem herausragenden diplomatischen Geschick und Beziehungen zu den Schaltzentralen dieser Welt. Liara hatte erst zweimal von der Möglichkeit, sie zu konsultieren, Gebrauch gemacht.

„Wo ist sie?“

„Sie wartet im Hof auf die Erlaubnis, sich Ihnen nähern zu dürfen.“

Das war die Bekundung eines erstaunlichen Respektes. Sie hatte als Reichsrätin das direkte Vorsprechrecht bei ihr, auch wenn seit dem Aufbruch der Gemeinschaft in eine neue Welt noch nie jemand vom Reichsrat von diesem Vorrecht Gebrauch gemacht hatte. Liara ahnte, dass Edignas Erscheinen nicht nur einen wichtigen, sondern auch einen sehr speziellen Grund hatte.

„Führen Sie sie herein“, forderte sie ihre Sekretärin auf. Die Frau beeilte sich, ihre Anweisung auszuführen, denn auch sie wusste, dass etwas Besonderes im Gange sein musste.

Liara konnte Edignas Nervosität schon spüren, als sie durch den Korridor auf ihr Büro zukam. Respektvoll blieb sie in der Tür stehen und verbeugte sich tief, während sie darauf wartete, sprechen zu dürfen.

„Guten Tag, Herrin Edigna, treten Sie ein“, begrüßte Liara sie mit der ihrem Rang angemessenen Zurückhaltung.

„Ich wünsche ihnen einen guten Tag, Erste Herrin.“ Die Frau richtete sich auf und trat mit niedergeschlagenen Augen vor Liara. Sie war beauftragt worden, eine höchst delikate Angelegenheit mit der Reichsherrin zu besprechen.

Mitglieder der Gemeinschaft waren an den Reichsrat herangetreten. Befürchtungen, die nicht ignoriert werden durften, waren geäußert worden. Man hatte sie ausgewählt, bei der Reichsherrin vorzusprechen, da sie die erfahrenste Frau im Rat war und auch Liaras Mutter schon ihr Wissen und ihr Einfühlungsvermögen geschätzt hatte.

Ihr Mund war trocken und ihr Herz stolperte vor Aufregung. Die Reichsherrin hatte die Macht über Leben und Tod eines jeden von ihnen. Ein einziges Wort von ihr und sie sähe den Himmel über sich nie wieder. Keiner in der Gemeinschaft wäre noch so waghalsig, ihren Namen aussprechen. Obwohl sie mehr als doppelt so alt war wie Liara, fühlte sie sich in ihrer Gegenwart unsicher.

Liara spürte ihre Angst und lächelte ihr aufmunternd zu. „Es freut mich, sie zu sehen, Herrin Edigna. Bitte nehmen Sie Platz.“

Edigna setzte sich auf die Stuhlkante. Ihre ganze Haltung drückte ihren Respekt aus. „Ich danke Ihnen, Erste Herrin.“

„Was führt Sie zu mir?“, fragte Liara direkt. Sie sah eine leichte Röte im Gesicht der Frau.

„Der Reichsrat hat mich beauftragt, Sie aufzusuchen. Ist es mir erlaubt, offen zu sprechen?“

„Ich bitte darum.“ Liara spürte die Verlegenheit der Frau, als diese ihren ganzen Mut zusammennahm und sie eindringlich anblickte.

„Wir haben erfahren, dass sich die Dinge in unserer Heimat ändern. Eine Rückkehr der Gemeinschaft ist vielleicht schon bald möglich. Es wird Opfer auf unserem Weg geben, niemand ist davor gefeit.“ Edigna stockte. Sie atmete tief durch. „Auch Sie könnten im Kampf fallen, was das Schicksal verhindern möge. Wir wissen, dass das Wohl der Gemeinschaft oberste Priorität für Sie hat. Wir wissen auch, dass Sie jemanden gefunden haben, um die Linie Ihrer ehrenwerten Familie fortzusetzen.“ Edigna blickte Liara jetzt an, als wolle sie um die Erlaubnis bitten, weiterreden zu dürfen. Auch sie war es gewohnt, Menschen zu führen, sowohl Mitglieder der Gemeinschaft als auch die Mitarbeiter ihres Unternehmens. Ihre Stimme war jedoch noch unsicherer als zuvor, als sie nach einem Nicken Liaras fortfuhr. „Es ist uns zu Ohren gekommen, dass es gewisse Differenzen zwischen Ihnen und dem Mann, der als der Neunte auserwählt wurde, gibt.“

„Differenzen?“, fragte Liara, obwohl sie die Antwort schon kannte.

Die Röte in Edignas Gesicht verstärkte sich. „Es heißt, er komme den Wünschen der Gemeinschaft weniger entgegen als alle seine Vorgänger und dass er seine Aufgabe nicht so erfüllt, wie er sollte.“

Liara verstand den Zwiespalt, in dem Edigna steckte. Einerseits war auch sie der Gemeinschaft verpflichtet und hatte hier einen Auftrag des Reichsrates auszuführen. Andererseits hatte sie einfach Angst, etwas auszusprechen, das ihr teuer zu stehen kommen konnte.

Liara beruhigte die Frau mit einem Lächeln. „Es gibt tatsächlich gewisse Differenzen. Sie sind aber nicht unüberwindlich.“

„Ihre ehrenwerten Vorgängerinnen haben sich immer umgehend mit dem Auserwählten zusammengetan. Es heißt, dass der neunte durchaus das Auge einer Frau auf sich zieht. Man munkelt auch, er nehme zu viel Platz in Ihren Gedanken ein, aber keinen in Ihrem Bett.“

Edignas Worte zeigten Liara, dass die Buschtrommeln selbst in ihrem eigenen Haus trotz aller Loyalität nicht schwiegen. Wie von ihr befürchtet waren Gerüchte im Umlauf, die nur zu wahr waren.

Liara fühlte sich plötzlich in die Verteidigungsposition gedrängt. Sie durfte das nicht zeigen und nahm sich zusammen. „Die Menschen in diesem Staat glauben zu sehr an das Recht auf Freiheit im Denken und Handeln“, erklärte sie mit fester Stimme. „Er braucht einfach etwas Zeit, um seine Aufgabe anzunehmen.“

„Die Gemeinschaft macht sich Sorgen um die Zukunft. Eine Erbin würde sie beruhigen. Vielleicht wäre er mit etwas Nachdruck schneller fügsam.“

Liara seufzte. „Ich denke eher nicht. Männer sind, was den Zeugungsakt angeht, tatsächlich etwas schwierig zu handhaben.“

„Bei manchen von soll ein wenig Härte Wunder wirken“, riet Edigna und ihr Gesicht nahm eine hochrote Farbe an.

„Er gehört nicht dazu. Aber ich bin mir sicher, dass er sich bald fügen wird.“

„Schlimmstenfalls gibt es auch Möglichkeiten …“ Edigna stotterte plötzlich. „Also man kann auch …“

„Ich weiß, es gibt Mittel und Wege, dem nachzuhelfen. Aber dafür ist es noch zu früh.“

„Sie sind eine schöne Frau, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Mit etwas Ermunterung dürfte es ihm nicht schwerfallen, Sie zu erfreuen.“

Liara zog eine Augenbraue nach oben. „Soll ich ihn verführen?“

Edignas Gesichtsfarbe wechselte schlagartig von Rot zu Weiß. Ihre Worte waren schlecht gewählt gewesen. Einen Mann zu verführen, wäre einer Reichsherrin nicht angemessen gewesen. „So hatte ich das nicht gemeint. Bitte verzeihen Sie mir, Erste Herrin.“

Liara beruhigte die Frau. Sie versicherte ihr, dass alles Notwendige innerhalb kürzester Zeit getan werde. Dann entließ sie sie.

Edignas Erleichterung darüber, ihre Mission unbeschadet überstanden zu haben, war deutlich zu spüren, obwohl sie sich bemühte, sich nichts anmerken zu lassen. Nach einer tiefen Verbeugung ging sie aus dem Raum. Liara wusste, dass sie die Bedenken der Frau nicht hatte zerstreuen können. Nichtsdestotrotz war es an der Zeit, Neuns Gehorsam einzufordern.

 

Inzwischen war es Abend geworden. Michael hatte das Astronomiebuch beiseitegelegt, seine vor Überanstrengung brennenden Augen geschlossen und seine Glieder in dem schweren Ledersessel ausgestreckt. Als er sie öffnete, fuhr er zusammen. Vor ihm stand eine junge Frau in fast demütiger Haltung und mit vor dem Schoss gefalteten Händen. Er hatte sie noch nie gesehen. Wenn sie keinen Rock angehabt hätte, wäre sie mit ihren kurzen schwarzen Haaren und ihrer schlanken Gestalt glatt als Junge durchgegangen. Er hatte ihre herannahenden Schritte auf dem dicken Teppich nicht gehört. Wenigstens hatte sie nichts von einem Wolf oder Drachen an sich, so wie Fehild, deren Charakter wohl der einzige Beweis für die Wahrheit von Liaras Geschichte war.

„Ja?“, fragte er stirnrunzelnd und richtete sich auf.

„Bitte folgen Sie mir.“ Ihre leise Stimme klang, als müsse sie sich zwingen zu sprechen. „Die Erste Herrin wünscht Sie zu sehen.“

„Und? Weiß sie nicht, wo ich bin oder kann sie plötzlich nicht mehr gehen?“

Die Frau riss angesichts seiner respektlosen Worte ihre Augen vor Schreck weit auf. „Bitte …, bitte …, folgen Sie mir bitte“, wiederholte sie stammelnd.

Michael entdeckte, dass es ihm ein ungeahntes Vergnügen bereitete, Liaras verblendetes Personal zu verunsichern. Trotzdem stand er auf und ging ihr nach. Nach einem langweiligen Tag konnte etwas Ablenkung nicht schaden, auch wenn alles bestimmt wieder nur in einem Streitgespräch mit Liara endete. Er hatte seine Lektion gelernt und nahm sich vor, keine weitere Nacht und vielleicht auch mehr in der Zelle zu riskieren.

Selbst als Kind hatte er keine Angst im Dunkeln gehabt. Jetzt hatte sich auch das geändert. Die Nacht, in der man einfach zum Lichtschalter greifen kann, ist eine ganz andere als jene, der man blind ausgeliefert ist. Er hatte sich für einen anderen Weg als offenen Widerstand entschieden, um sein Ich vor der Kapitulation zu bewahren. Jetzt machte er sich auf, ihn zu beschreiten. Zu dumm nur, dass er sich auf die Begegnung mit Liara freute, sein Herz schlug plötzlich schneller in seiner Brust und er hatte Schmetterlinge im Bauch.

Schmetterlinge? Das war wohl kaum möglich. Und auch dieser pulsierende Druck in seiner Körpermitte durfte nicht sein.

Die Frau ging eilig vor ihm her. Sie war nervös. Immer wieder blickte sie sich zu ihm um, als hätte sie Angst, er käme nicht nach. Sie tat ihm leid, obwohl auch sie sicher mit seiner Entführung einverstanden war – zum Wohle ihrer Gemeinschaft und eines ganzen Planeten. Das alles war schlichtweg absurd. Es musste sich hier um eine Sekte voller Verrückter handeln. Sicher war das Hirn der Frau mit absonderlichen Ideen verstrahlt.

Sie brachte ihn zu einem am Ende des großen Gebäudes gelegenen Zimmer. Die Tür war geschlossen.

„Bitte sehr“, sagte sie ein wenig verlegen und zog sich lautlos zurück.

Michael öffnete die Tür und sah in ein Schlafzimmer. Liara war da. Verblüfft bemerkte er, dass sie alleine war. Er sah nicht einmal Kameras, weder im Zimmer noch auf dem Flur davor. Die Einrichtung war genauso kalt und unpersönlich, wie fast überall im Haus.

Sie stand mitten im Raum und sah ihm gespannt entgegen. Die Erinnerung an ihre Worte, er solle der Vater ihrer Tochter werden, schoss ihm durch den Kopf.

Mit in den Hosentaschen seiner Jeans steckenden Händen blieb er in der Tür stehen und lehnte sich schweigend mit der Schulter gegen den Rahmen. Seine Augen glitten über sie. Ihr Kostüm und ihre hochgesteckten Haare strahlten wieder ihre reservierte und abweisende Eleganz aus. Das Gesicht zeigte nichts anderes. Gegen seinen Willen, aber entsprechend seiner Natur, verstärkte sich bei dem Gedanken an das, was sie von ihm wollte, der Druck in seiner Körpermitte.

Er spürte, wie sehr ihn ihre unterkühlte Art reizte. Schon immer hatten gerade jene Frauen, die ihm die kalte Schulter zeigten, seinen Jagdinstinkt geweckt. Meist hatte er sie erlegt. Die wenigen Male, die er das Nachsehen gehabt hatte, konnte er verschmerzen. Dass er hier nur verlieren konnte, änderte nichts an seinen Vorlieben. Liara passte genau in sein Beuteschema.

Sie ist der Kuchen und ich soll hier die Wespe sein, dachte er. Hoffentlich bin ich keine Biene, denn die stirbt, wenn sie zugestochen hat. Naschen kann gefährlich sein, nicht nur für Insekten. Besonders, wenn sich die vermeintliche Beute als Raubtier herausstellt.

„Komm rein und schließ die Tür“, wies Liara ihn mit fester Stimme an.

Er sah weder Reißzähne noch Krallen an ihr, Drache hin, Wolf her. Mit betont lässigen Bewegungen kam er ihrer Aufforderung nach. „Sie haben mich rufen lassen, Gnädigste?“, fragte er mit dem gleichen Ausdruck in seiner Stimme. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Er sah Liara mit einem herausfordernden Lächeln an.

Ihre Lippen wurden zu Strichen. Der Versuch, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen, misslang ihr offensichtlich. Es tat ihm gut, sie so aus der Fassung zu bringen.

Seine Unverfrorenheit war bodenlos. Schlimmer noch als seine Worte waren der Tonfall, in dem er sie geäußert hatte, und seine Haltung, vor allem aber sein unverschämtes Grinsen. Unverschämt und provozierend. „Laut meinem Arzt haben meine fruchtbaren Tage begonnen“, erklärte sie mit nicht mehr ganz so fester Stimme.

„Ach, wie schön für Sie.“ Er weigerte sich, es ihr einfach zu machen. Mit rachsüchtigen Vergnügen nahm er die Röte in ihrem Gesicht wahr. Sie war wohl doch nicht ganz so kalt und überlegen, wie sie alle glauben machen wollte. Ein wenig Schwäche stand ihr gut.

„Er sagt, es sind in jedem Zyklus sechs Tage hintereinander“, fuhr sie mit ihrer Erklärung fort, ohne auf seine spitze Bemerkung einzugehen.

„Sie erwarten also, dass ich Ihnen heute und an den nächsten fünf Tagen zur Verfügung stehe?“

„Ja.“

„Und was ist, wenn ich nicht richtig funktioniere. Immerhin fordern Sie eine recht sportliche Leistung vom mir.“

Liara bemühte sich weiter um Fassung. „Wie du weißt, haben wir dich auch in deinem Schlafzimmer überwacht“, erklärte sie mit immer noch vorgespielter Kälte, obwohl ihr Herz Saltos schlug. „Du hattest ein recht reges Liebesleben. Das wirst du schon schaffen. Immerhin warst du, was das angeht, in den letzten Wochen eher untätig und dürftest einiges an libidinöser Energie aufgespart haben. Ich habe da keine Bedenken.“

„Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis und Ihr Vertrauen.“ Sein Lächeln und der Tonfall seiner Worte hatten nichts an Unverschämtheit verloren. „Aber ich bin seit einiger Zeit etwas indisponiert, wie Sie sicher wissen.“

„Von dieser Unpässlichkeit, die du deinem eigenen Starrsinn verdankst, konntest du dich inzwischen erholen. Ich habe also keinen Zweifel daran, dass du einwandfrei funktionieren wirst. Ein wenig Bewegung wird dir nicht schaden.“

Ihre Worte brachten jetzt ihn aus der Fassung. „Ihre Art, einen Mann zu verführen, ist wirklich unwiderstehlich.“

Sie warf einen Blick auf die neu aufgetretene Ausbuchtung im Schritt seiner eng anliegenden Jeans. „Und wirkungsvoll“, sagte sie mit einem Anflug von Belustigung in ihrer Stimme und in ihrem Gesicht. „Geh ins Bad und mach dich frisch.“

„Ich habe heute schon geduscht und mich sogar hinter den Ohren sauber gemacht. Wollen Sie es nachprüfen, Frau Lehrerin?“ Er drehte ihr sein Ohr zu und drückte die Muschel herunter. „Was sind eigentlich ihre Fächer? Nein, sagen Sie nichts! Lassen Sie mich raten.“ Er verdrehte die Augen nach oben, als ob er scharf nachdachte. „Biologie und …“, er schien noch einmal kurz zu überlegen, „… Erziehungswissenschaften? Obwohl, Letzteres trifft wohl eher auf Ihre Schwester zu.“ Als er sie wieder anblickte, nahm er mit Befriedigung ihre versteinerten Gesichtszüge wahr. Beim Schiffe versenken hieße es jetzt „Treffer, versenkt!“. Nur leider konnte er hier nicht wirklich gewinnen, höchsten untergehen.

„Tu was ich dir sage!“ Diesmal verriet ihre Stimme ihre Verärgerung und auch eine gewisse Verunsicherung. Sie war es nicht gewohnt, dass man ihr in ihrem eigenen Hause den Gehorsam verweigerte und ihr widersprach oder sich sogar über sie lustig machte. Als er dann auch noch seinen Blick betont abschätzend an ihrem Körper herabgleiten ließ, hätte sie ihn am liebsten wieder in seine Zelle werfen lassen. Aber erst musste er seine Aufgabe erledigen, eine Strafe konnte sie sich später ausdenken.

Sie wünschte sich, sie hätte etwas mehr von ihrer Schwester gehabt. Fehild hätte ihn in seine Schranken gewiesen und sich bedenkenlos genommen, was sie wollte.

Verdammt. Ihre eigenen Gedanken hatten sie verraten. Was hier und jetzt anstand, war keine Pflicht für sie. Jedenfalls nicht nur. Sie wollte es! Verdammt. Sie stellte sich vor, in einen glasklaren und eiskalten Bergsee zu springen. Bisher hatte ihr das im Notfall immer geholfen, ihre Gedanken und Gefühle zu beherrschen. Jetzt versagte es.

Michael blickte sich in Zimmer um und sah eine zweite Tür. In der Annahme, dass sie ins Bad führte, ging er unter Liaras Blicken hindurch und stellte fest, dass er richtig geraten hatte. Er zog sich aus. Ein Blick auf seine Körpermitte zeigte ihm, was er eigentlich schon wusste. Der Gedanke an das, was Liara von ihm verlangte, erregte ihn mehr als nur ein bisschen. Verdammt. Sein Körper wollte etwas anderes als sein Wille. Das war schon immer so gewesen; nach außen hin war er der besonnene Gelehrte, aber innen drin mit einem Hang zur Zügellosigkeit. Sein gutes Aussehen hatte ihm dabei noch nie im Wege gestanden. Die Frauen waren hingerissen gewesen, wenn sie diesen Gegensatz erst einmal entdeckt hatten.

Er duschte so kalt wie möglich. Liara sollte nicht wissen, welche Macht sie über seinen Körper hatte. Um noch etwas Zeit zu gewinnen, hob er seine Kleidung vom Boden hoch und legte sie sorgsam gefaltet auf die Ablage. Doch auch so bekam er seine Erregung nicht in den Griff.

Als er das Schlafzimmer wieder betrat, lag sie im Bett. Er konnte nur annehmen, sie sei so nackt wie er selbst, denn sie hatte die Bettdecke bis zu den Achseln hochgezogen.

„Und was jetzt?“ Er trat ans Bett.

„Leg dich neben mich.“

„Auf auf den Bauch, den Rücken oder die Seite?“

Sie sah ihn giftig an. „Du machst es mir nicht gerade leicht. Ich mache so etwas auch zum ersten Mal.“

Sein Gesicht zeigte ein breites Grinsen. „Ich hätte mir denken können, dass Sie noch Jungfrau sind.“

„Wie bitte?“, fragte sie schnippisch.

„Kein Mann wird so verrückt sein, sich an Ihnen zu vergreifen, während Ihre kleine Schwester über Sie wacht.“

„Ich muss dich enttäuschen. Du bist nicht der erste Mann in meinem Leben. Allerdings der widerspenstigste.“

Er deutete eine Verbeugung an. „Ich danke für dieses Kompliment.“

Sie verdrehte die Augen. „Jetzt mach endlich.“

„Keine Angst, meine Spermien laufen nicht weg. Jedes hat nur einen Schwanz, genau wie ich, aber keine Beine, im Gegensatz zu mir.“

Trotz seiner anzüglichen Worte hob er die Bettdecke und besah sich Liara eingehend. Er wusste, wie sehr ihr diese Begutachtung zuwider war und genau das war der Grund, warum er es tat. Sie ließ es unwillig geschehen. Augen zu und durch, sagte sie sich. Sie spürte, dass sie kurz davor war zu zittern.

Was Michael entdeckte, überraschte ihn. Sie war tatsächlich nackt und ihr Körper war noch schöner, als er erwartet hatte. Ihr Bauch war flach. Feste Brüste reckten sich ihm entgegen. Ihre Brustwarzen schienen nur darauf zu warten, dass jemand sie sanft mit den Zähnen reizte. Er atmete tief durch, während sein Blick über ihre seidige Haut glitt, die sich schimmernd von dem nachtblauen Satin um sie herum abhob. Versuchung pur. Die Wirkung der kalten Dusche war dahin. Er spürte den Drang, sie zu berührten, ihren Körper zu erkunden. In einer anderen Situation hätte er sich mit Freude und voller Energie in ein Abenteuer mit solch einer Frau gestürzt, kühl, schön und im Bett sicher hemmungslos. Plötzlich war seine Kehle wie ausgetrocknet.

Was soll´s, dachte er. Seine Leidenschaft war über Wochen kaltgestellt worden – wenn auch nicht auf Eis gelegt. Hier hatte er nicht nur die Gelegenheit, sie auszuleben, es wurde geradezu von ihm verlangt. Und es gibt Aufgaben, denen Mann nur zu gerne nachkommt. Sich den Kopf über diese Angelegenheit zu zerbrechen, dazu hatte er später noch Zeit genug. Seine Hormone schoben alles Hinderliche aus seinen Gedanken.

Er schlüpfte zwischen die Laken und schmiegte sich an ihren sinnlichen Körper. Er war warm. Ihr Duft war so verlockend wie das Rot ihrer Lippen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er die körperliche Nähe einer Frau vermisst hatte. Er beugte sich über sie und wollte sie küssen. Sie hob eine Hand an seine Brust und drückte ihn vehement weg. „Nein!“

Überrascht richtete er sich auf. Er hatte schon einmal eine Freundin gehabt, die nicht geküsst werden wollte. Dafür hatte sie andere vergnügliche Qualitäten gehabt, die das mehr als ausgeglichen hatten.

Sein Blick fiel auf ihre Brüste. Er wollte sie berühren. Wieder drückte sie seine Hand weg. „Lass das!“

Er rückte von ihr ab. „Geben Sie mir das Reagenzglas.“

Sie schaute ihn verständnislos an. „Welches Reagenzglas.“

„Ich denke, ich soll hier ein Kind zeugen. Dazu ist im Allgemeinen Körperkontakt nötig.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Ansonsten brauchen wir ein Reagenzglas und ein wenig Handarbeit. Allerdings nehme ich nicht an, dass Sie mir dabei helfen werden. Sie könnten sich dabei ja die Hände oder irgendein anderes Körperteil schmutzig machen. Ich werde wohl die Arbeit ganz alleine machen müssen.“ Seine Stimme wurde zynisch bis zum Anschlag. „Oder sehen Sie das anders?“

„Du bist nicht zu deinem Vergnügen hier. Du sollst lediglich ein Kind zeugen. Nicht mehr und nicht weniger. Möglichst auf ganz natürlichem Wege. Bist du dazu imstande oder nicht?“

Er fühlte Wut in sich aufsteigen, als er verstand, was sie von ihm forderte. „Ich bin dazu imstande, wenn Sie die Beine für mich breit machen, Frau Biologielehrerin“, antwortete er hart und höhnisch.

An dem Ausdruck in ihrem Gesicht und an den zusammengepressten Lippen erkannte er, dass seine Worte ins Schwarze getroffen hatten. Dennoch öffnete sie zu seinem Erstaunen ihre Schenkel. Sie war rasiert. Zu seinem noch größeren Erstaunen sah er die Feuchtigkeit zwischen ihren Schamlippen glänzen.

„Gleitgel“, zerstörte sie jede Illusion, als sie seinen Blick bemerkte.

Er antwortete nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er eine Frau im Bett schlagen, ihr richtig wehtun.

Die Wut verstärkte seine Erregung. Nie hätte er so etwas von sich erwartet. Er war immer ein zwar leidenschaftlicher, aber auch sensibler Liebhaber gewesen, der den Frauen nur dann den Hintern versohlt hatte, wenn es ihnen ein sinnliches Vergnügen bereitet hatte.

Liara erriet seine Gedanken, als sie in sein Gesicht blickte. „Wage es nicht, mir wehzutun!“

„Sie gönnen einem aber auch gar kein Vergnügen, Teuerste.“

Er hielt sich zurück, hob nicht die Hand gegen sie. Es gab eine andere Möglichkeit, ihr zu zeigen, wie sehr sie ihn verletzt hatte, jetzt und seitdem sie ihn hatte entführen lassen. Er legte sich rücksichtslos und mit seinem ganzen Gewicht auf sie und drang ohne jedes Vortasten in sie ein. Es war schwierig, denn sie lag wie ein toter Frosch unter ihm und half ihm in keinster Weise. Er sah in ihr Gesicht. Sie hatte ihre Augen abgewandt, ansonsten zeigte sie keine Reaktion.

Nun gut, dachte er, ganz wie du willst. Er begann sich in ihr zu bewegen. Immer noch zeigte sie keine Reaktion. Trotzdem wuchs seine von Wut aufgepeitschte Erregung weiter an.

Liara hatte erwartet, sein Vorstoß wäre ihr trotz ihrer Vorbereitung höchst unangenehm. Doch das war er nicht. Im Gegenteil. Seine Erregung und Wut waren hart in ihr und ihr Körper antwortete ihnen mit einer fordernden Hitze, die sich von ihrer Mitte her in ihr ausbreitete. Sie starrte die Wand an, versuchte dieses unpassende Gefühl auszublenden. Ihre Finger krallten sich in das Laken unter ihr.

Sie hörte seinen heftiger werdenden Atem, roch den Duft seiner Haut. Unwillkürlich zog sie die Beine an. Das Blut des Drachen floss in ihren Adern. Es wollte, dass er sie ganz ausfüllte. Sie hörte ein Stöhnen und stellte überrascht fest, dass es sich aus ihrer Brust gelöst hatte. Instinktiv passte sie sich seinen Bewegungen an. Sie spannte die Muskulatur ihres Unterleibes an, um ihn noch enger zu umfassen. Er füllte sie ganz und gar aus. Sie bog sich ihm entgegen. Ihre Finger lösten sich vom Bettlaken, ihre Arme legten sich um den Mann über ihr. Jetzt wollten ihre Brüste von ihm berührt werden, ihre Lippen die seinen fühlen. Ihre Augen fanden seine. Sie stöhnte lauter. Ihre Beine umfingen ihn, zogen ihn bei jedem Vorstoß tief in sich hinein. Seine Kraft vereinte sich mit der des Wolfes und mit der Leidenschaft des Drachen, riss sie mit in einen Strudel jenseits von Verstand und Selbstbeherrschung.

Er kam mit einem lauten Stöhnen. Sie spürte, wie er sich in sie ergoss. Als er sich gleich darauf aus ihr zurückzog, blieb eine schmerzhafte Leere zurück.

Er stand noch schwer atmend auf und verließ das Zimmer. „Ich hoffe, ich habe meine Aufgabe zu Ihrer Zufriedenheit erfüllt“, sagte er im Hinausgehen und ohne sich umzublicken.

Die Tür schloss sich mit einem Knall hinter ihm. „Aber nicht zu meiner Befriedigung“, flüsterte sie kaum hörbar und legte den Kopf zurück. Etwas sagte ihr, dass hier alles anders als geplant verlief.

Sie blieb noch einen Moment liegen. Das Gefühl der Leere ging zurück, aber es verschwand nicht. Noch nackt ging sie ins Bad und sprang unter die Dusche. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich beschmutzt, nachdem sie mit einem Mann geschlafen hatte. Das Wasser floss an ihr herab und nahm seinen Samen, der aus ihr herausgeflossen war, mit sich in den Ausguss. Trotzdem fühlte sie sich nicht reingewaschen. Dann verstand sie: Nicht er hatte sie beschmutzt, sondern sie ihn.

Sie trocknete sich ab und trat aus der Dusche. Seine Kleidung lag noch auf der Ablage. Er hatte sie so sorgfältig zusammengefaltet, als hätte er die Zeit bis zu dem Moment, als er sich zur ihr ins Bett gelegt hatte, hinauszögern wollen. Es gab ihr einen Stich. Sie legte eine Hand auf den Stapel. Unwillkürlich beugte sie sich vor und versenkte ihre Nase in dem Stoff, der seinen Duft trug. Als sie sich aufrichtete, waren Tränen in ihren Augen. Wütend fegte sie die Kleidung zu Boden.

 

Er sah sie in der nächsten Woche nicht, obwohl sie ihm angekündigt hatte, seine Dienste an insgesamt sechs Tagen hintereinander in Anspruch zu nehmen. Wenn er in seinem Zimmer oder in der Bibliothek war und Schritte hörte, spitze er unwillkürlich die Ohren, und war enttäuscht, wenn sie vorübergingen. Ich warte nicht auf sie, sagte er sich. Nein. Ich warte absolut nicht auf sie.

Wenn er jemanden wie nebenbei fragte, wo sie war, erhielt er nur eine ausweichende Antwort. Schließlich gab er es auf. Niemand sollte womöglich denken, dass er sich nach ihr sehnte, denn das tat er nicht. Ganz bestimmt nicht. Auch wenn sie ihm ständig durch den Kopf ging und seine Haut an den Stellen, mit denen er sie berührt hatte, wie von einem inneren Feuer brannte.

 

Michael saß in seinem Zimmer am Tisch und tat etwas, wovon er gedacht hatte, es wäre das Hobby unausgelasteter Rentner. Er löste ein Kreuzworträtsel. Als er über einen Begriff grübelte, stieß er versehentlich den Stift von der Tischplatte. Er griff danach. Doch statt ihn mit der Hand aufzufangen, schubste er ihn in den hintersten Winkel unter dem Tisch. Es gelang ihm nicht, ihn mit den Füßen aus der Ecke herauszuangeln. Fluchend erhob er sich und krabbelte allen vieren unter den Tisch.

Gerade, als er nach dem Stift fasste, wurde die Tür schwungvoll aufgerissen. Erschreckt fuhr er hoch und knallte mit dem Hinterkopf gegen die Tischplatte. Als ob das noch nicht reichte, hörte er Fehilds hämische Stimme hinter sich.

„Ich hätte nie gedacht, dass du dich irgendwann einmal freiwillig dorthin begibst, wo du hingehört.“

Verdammt, musste sie ihn gerade jetzt erwischen! Er fühlte, wie er vor Ärger rot anlief. „Sie können mir hier unten gerne Gesellschaft leisten, falls Sie ohne Ihre Walküren im Nacken den Mut dazu haben.“

„So einem widerlichen Abschaum wie dir werde ich ganz bestimmt keine Gesellschaft leisten, weder dort noch irgendwo sonst.“

Er krabbelte unter dem Tisch hervor und blickte missmutig zu ihr rüber, während er den Drang unterdrückte, sich an seinen schmerzenden Hinterkopf zu fassen. Sie stand im Türrahmen. Ihre Haltung und ihr Gesicht zeigten ihm ihre Schadenfreude und Verachtung.

„Welche Überraschung Sie hier in meiner bescheidenen Hütte begrüßen zu dürfen“, konterte er mit unüberhörbaren Sarkasmus.

„Fasel hier kein dummes Zeug. Meine Schwester will dich sprechen. Sie erwartet dich in ihrem Büro. Sofort!“, wies sie ihn an.

Ohne zu antworten, aber verwundert, dass Fehild höchstpersönlich Liaras Anweisung überbracht hatte, drückte er sich an ihr vorbei durch den Türrahmen. Als sie vor ihm zurückwich, grinste er sie an. „Fahr zur Hölle!“, fauchte sie.

„Ich denke, ich soll zu Ihrer Schwester. Was denn nun?“ Als er sah, dass seine Antwort ihr die Sprache verschlug, war seine Laune plötzlich erheblich besser.

Liara hatte ihn in ihr Büro bestellt. Anscheinend zieht sie diese Umgebung einer intimeren vor, dachte er spöttisch. Sie hat ja auch lange genug gewartet. Jetzt sind ihre fruchtbaren Tage sicher vorbei und sie muss sich nicht mehr mit mir einzulassen. Seine Enttäuschung darüber ließ er nicht an die Oberfläche seines Bewusstseins dringen.

Liara stand am Fenster und schaute ihm bei seinem Eintritt entgegen. Die Stadt lag ihr zu Füßen. Er tat das nicht und würde es auch nie tun!

Sie sprach keine Begrüßung aus. Er schwieg.

„Setz dich, Neun“, verlangte sie.

„Ich bleibe in Gegenwart einer stehenden Frau stehen“, begehrte er auf. „Alte Schule.“

Liara trat vom Fenster zurück und setzte sich hinter ihren Schreibtisch. Seine Widerspenstigkeit erstaunte sie nicht mehr. Trotzdem fühlte sie sich hinter der hölzernen Barriere sicherer vor seinen verbalen Angriffen.

Er blieb auch jetzt noch stehen. Wenn sie gedacht hatte, er ließe sich für irgendein Vergehen, dessen er sich nicht einmal bewusst war, von ihr abkanzeln, dann hatte sie sich geirrt.

„Man hat mir berichtet, dass du während meiner Abwesenheit fügsam warst. Jedenfalls mehr als jetzt.“

„Gezwungenermaßen.“

„Hast du etwas vermisst?“

„Meine Freiheit.“

„Sonst nichts?“

„Wenn Sie auf sich oder Ihre Schwester anspielen, ganz bestimmt nicht.“

Er sah, wie sich Liaras Augen verengten. Trotzdem setzte er nach. „Wann lassen Sie mich endlich gehen? Anscheinend werde ich hier nicht mehr gebraucht.“

„Du bleibst, wo du bist!“

Er verzog das Gesicht. „Sie können mich gehen lassen und mich besuchen, wenn Sie Ihre fruchtbaren Tage haben“, schlug er vor. „Natürlich auch zwischendurch, wenn Ihnen danach ist. Ich würde Ihnen mit dem größten Vergnügen zur Verfügung stehen, und glauben Sie mir, auch Sie hätten mehr Vergnügen daran, als letzte Woche. Obwohl, so ganz gegen den Strich ist es Ihnen ja nicht gegangen.“

Er sah, wie sie bei der Erinnerung an jenen Abend errötete. Für einen Moment hoffte er, eine weiche Stelle in ihrer Panzerung getroffen zu haben. Doch ihre nächsten, hart gesprochenen Worte zerstörten seine Hoffnung. „Versteh und akzeptiere endlich. Es gibt kein Zurück mehr für dich!“

„Gibt es irgendetwas, womit ich Sie umstimmen kann?“

„Nein.“

„Warum sind Sie nicht einfach zu mir gekommen. Wir hätten ein paar nette Abende und aufregende Nächte miteinander verbracht, und wenn Sie schwanger geworden wären, wären Sie einfach wieder aus meinem Leben verschwunden. Sie hätten gehabt, was Sie wollen, und ich ein paar schöne Erinnerungen mehr.“

Liara sah ihn verständnislos an. „Du glaubst doch nicht, dass die zukünftige Herrscherin eines ganzen Planeten von irgendeiner Kneipenbekanntschaft abstammen kann. Das ist völlig undenkbar.“

Ihre Worte ließen ihn aufbrausen. „Es ist mir so was von scheißegal, was ihr auf eurem gottverdammten Planeten treibt. Ich will nur noch hier raus, weg von euch Verrückten.“

„Deine Zukunft liegt an an meiner Seite.“

„Als Neun, nicht als Mensch. Nein danke. Darauf kann ich verzichten.“

„Als Vater der zukünftigen Reichsherrin. Wenn wir erst in unsere Heimat zurückgekehrt sein werden, wirst du ein Leben führen, von dem du dir keine Vorstellung machen kannst. Du wirst neben mir an der Spitze der Gesellschaft stehen.“

Er hatte sich fest vorgenommen, sich von ihr zu keiner unüberlegten Reaktion provozieren zu lassen. Doch jetzt sah er in ihren Augen, dass es ihm nicht gelang, sie umzustimmen. Seine schon angekratzte Selbstbeherrschung brach zusammen wie ein Kartenhaus im Sturm. Er stützte sich mit seinen Händen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich zornentbrannt über sie. „Zu Hölle mit dir, oder von mir aus auch auf deinen gottverdammten Planeten! Seid ihr denn alle hier zu blöde, um das zu verstehen: ICH! WILL! ES! NICHT!“

Sie wäre fast vor ihm zurückgewichen. Er hörte den Zorn in ihrer Stimme, als sie ihm antwortete, auch wenn er seinem eigenen nicht einmal ansatzweise gleichkam. „Dein Wille zählt nicht, Neun. Das solltest du inzwischen wissen. Nimm es als gegeben hin.“

„Das werde ich nie!“ Seine Stimme war so laut, dass man sie noch mehrere Zimmer weiter hören musste.

Er hatte erwartet, dass sie ihn nach seinem Zornesausbruch wieder in die Zelle stecken ließe. „Setz dich“, verlangte sie stattdessen mit plötzlich geradezu einschmeichelnder Stimme.

Von ihrem plötzlichen Stimmungsumsprung überrascht, richtete er sich auf und kreuzte abwehrend die Arme vor der Brust. Er blieb stehen. Wenn sie etwas von ihm wollte, sollte sie ihn doch zwingen!

„Setz dich.“ Ihre Stimme war seidenweich. Alle seine Alarmsignale standen auf Tiefrot.

„Setz dich“, ihre Stimme wurde eindringlicher.

Er blieb unbewegt stehen und sah, wie sie den Knopf an ihrem Schreibtisch betätigte. Zu dumm, wenn sie Fehild zu sich rief. Dieser Giftzwerg konnte ihn blitzartig in eine weit unbequemere Position bringen, als zu sitzen.

Doch statt Fehild traten die drei ihm noch in allzu unguter Erinnerung befindlichen Walküren ein. Er betrachtete sie argwöhnisch, als sie sich ihm näherten. Auch ihnen war er körperlich unterlegen, wie er nur zu gut wusste, wahrscheinlich sogar jeder einzelnen. Sie hätten als russische Ringerinnen auftreten können, während er in der Vergangenheit weitaus weniger kämpferische Sportarten ausgeübt hatte. Trotzdem blieb er stehen. Sie hatten keine solche Macht über sein Gehirn wie Fehild.

„Setz dich“, forderte Liara ihn noch einmal auf. Ihre Miene war nicht überheblich oder siegesgewiss, sondern ernst. Mit einem missbilligenden Blick auf die drei Walküren kam er ihrer Aufforderung diesmal notgedrungen nach.

„Leg deine rechte Hand auf den Tisch“, fuhr Liara fort. Er tat es zögernd und sah sie fragend an. Was sollte das bedeuten? Wollte sie ihn für seinen Ungehorsam bestrafen? Er wusste, dass man im Gefängnis gerne Schulden eintreibt, indem man dem säumigen Schuldner die Hand bricht. Sein Herz raste. So etwas hatte sie doch wohl nicht im Sinn? Schon als Kind hatte man ihn durch die Kinderarztpraxis jagen und mit mehreren Erwachsenen festhalten müssen, wenn eine Impfung angestanden hatte.

Liara sah das Zittern seiner Hand. Sie konnte sich einer gewissen Schadenfreude nicht erwehren. Sein Trotz war plötzlich arg in sich zusammengeschmolzen. Als sie zu den Walküren hochblickte und ihnen zunickte, zog Michael reflexartig seine Hand zurück.

Eine der Frauen stellte sich hinter seinen Rücken, die anderen rechts und links neben ihn. Er wollte aufspringen, aber die hintere legte die Hände auf seine Schultern und drückte ihn in den Stuhl herunter. Ihm brach der Scheiß aus. Er schaute Liara hilfesuchend an. Sie lächelte zurück und er glaubte eine gewisse Grausamkeit in ihren Zügen zu erkennen. Sie genoss es, ihn so kleinlaut zu sehen. Verdammt, sie konnte ihn doch nicht ernsthaft so brutal bestrafen!

Unter seinem geradezu panischen Blick schmolz ihre Schadenfreude noch schneller dahin als zuvor sein Trotz. „Leg deine rechte Hand auf den Tisch“, erinnerte sie ihn trotzdem an ihren Wunsch. Die Finger auf seinen Schultern griffen hart in sein Fleisch und mahnten ihn, ihrer Anweisung nachzukommen. Zögernd und jederzeit bereit, sie blitzartig zurückzuziehen, legte er die Hand wieder auf die Tischplatte. Er hoffte nur noch, dass sie nicht wirklich vorhatte, ihn zu verletzen oder dass seine Angst sie beschwichtigte und sie von ihrem Vorhaben abließ.

Liara nickte Sisgard, die rechts neben ihm stand, zu. Mit langsamen Bewegungen beugte sie sich vor und legte ihre Hand auf seine. Er wollte sie wieder zurückziehen, aber der Griff der Walküre war eisenhart.

„Bleib ruhig“, sagte Liara. „Dir wird nichts Schlimmes geschehen.“

Michael sah sie ungläubig an und erstarrte. Sein Herz schlug wie ein Vorschlaghammer in seiner Brust. Fast wie in Trance ließ er es geschehen, dass Sisgard seine Hand anhob. Sein Atem stockte. Alles in ihm war auf Flucht eingestellt. In Erwartung des Schmerzes schloss er die Augen und biss die Zähne zusammen.

Seine Hand wurde nicht auf die Tischkante geschlagen. Stattdessen vernahm er eine Bewegung aus Liaras Richtung und spürte etwas an seinem Arm. Er öffnete die Augen und sah, dass sie sich zu ihm rübergebeugt hatte und etwas um sein Handgelenk legte. Erschreckt wollte er seine Hand dem Griff der Walküre entwinden, aber es gelang ihm nicht. Sie drückte nur seine Finger so hart zusammen, dass er glaubte, seine Knochen müssten nun doch brechen.

„Halt still,“ forderte Liara ihn auf. „Es wird nicht wehtun.“ Es blieb ihm angesichts der Übermacht der Walküren nichts anderes übrig, als sich zu fügen und zuzulassen, was sie tat.

Misstrauisch sah er zu, wie sie einen Armreif um sein Handgelenk legte. Er bestand aus einem schweren, dunklen Metall und glänzte matt. Dann nahm sie einen Gegenstand von ihrem Schreibtisch, er dachte zuerst, es sei ein Stift, und führte die Spitze an den Verschluss des Armreifs. Ein helles, blaues Licht flackerte kurz auf und er schrak zusammen. Als er seine Hand erneut zurückzog, hielt niemand mehr ihn fest und auch die Hände auf seinen Schultern gaben ihn frei. Liara nickte den Walküren kurz zu.

Überrascht griff mit seiner linken Hand nach dem Armreif. Er zog daran, doch der Verschluss öffnete sich nicht. Er zog heftiger daran, vergeblich. Er zog so heftig daran, wie er konnte, nichts.

„Du kannst ihn nicht öffnen. Nie wieder. Dazu braucht es unsere Technik.“

Er sah auf und bemerkte, dass die Walküren verschwunden waren. „Es gibt Zangen oder Sägen.“

„Mit diesem Material schneiden wir Diamanten“, erklärte Liara milde lächelnd.

„Laser.“

„Den Einsatz eines eurer Laser, der diesen Armreif öffnet, würdest du nicht überleben. Wie bereits gesagt, nur unsere Technik kann dich davon befreien, es sei denn, du brichst dir die Knochen deiner Hand so, dass du ihn abstreifen kannst. Aber dass irgendwer so etwas willentlich und bei klarem Verstand schafft, wage ich zu bezweifeln.“

„Sie haben mich also als Ihren Besitz markiert, jetzt wo Sie festgestellt haben, dass ich zu Ihrer Zufriedenheit funktioniere!“

„Nicht nur das. In dem Armreif befindet sich auch ein Sender, mit dem wir dich jederzeit aufspüren können. Er verrät uns weltweit auf zehn Meter genau deinen Standort, hier im Haus und im Park auf einen Meter. Versuch also gar nicht erst zu fliehen oder dich zu verstecken. Du hast keine Chance. Wir werden dich in Windeseile finden, egal wo du bist. Du wirst diesen Sender niemals verlieren und auch keinen Arzt finden, der dir in Narkose die Knochen bricht, bevor wir dein Versteck entdeckt haben.“

Er sprang wütend auf. „Verdammt. Ihr seid wahnsinnig!“ Ohne auf ihre Antwort oder Erlaubnis zu warten, rannte er aus den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. In seinem Zimmer versuchte er erneut den Verschluss des Armreifs mit seiner Kraft zu sprengen oder mit einer Nagelschere zu öffnen. Es gelang ihm nicht. Er saß eng und ließ sich auch mit Seife nicht abstreifen. Irgendwann gab er auf. Er war wütend. Wütend und verzweifelt. Der Armreif war das sichtbare und unzerstörbare Brandmal, mit dem Liara ihn als ihren Besitz gekennzeichnet hatte.

Der Armreif hatte etwas in ihm verändert. Vielleicht hatten sie auch das geplant. Es war, als hätten sie eine undurchdringliche Wand um ihn herum gebaut, die ihn von seinem alten Leben abtrennte. Mit hängenden Schultern stand er am Fenster. Der Ausblick war der gleiche wie immer: ein riesiger und gepflegter Park, ein grauer Himmel, eine unüberwindbare Mauer. Es gab nichts, das er tun konnte, außer zu hoffen und abzuwarten.

Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich. Er sah auf. Liara stand im Rahmen und blickte ihn fragend an.

Reichte es ihr für heute noch nicht, wie sehr sie ihn gedemütigt hatte? Anscheinend nicht. Ein grimmiges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. „Sie können wohl nicht genug von mir kriegen. Was wollen Sie?“

„Ich will mit dir reden.“

„Schon wieder? Es habe es satt, Sie zu sehen oder mit Ihnen oder irgendjemand sonst hier zu reden. Macht Ihnen das Spaß, mich zu quälen, selbst hier auf meinem Zimmer? Gibt es keinen Ort mehr, an dem Sie mich in Ruhe lassen?“

„Warum machst du dir und mir alles so schwer?“, fragte sie traurig.

„Sie haben mich entführt und misshandelt und jetzt auch noch beringt wie einen Ziervogel. Ihre Schwester hat versucht, meine Seele zu zerstören. Niemand hat mich gefragt. Niemand hat mir eine Wahl gelassen. Was erwarten Sie?“

„Ich habe dich nie verletzen wollen, Neun“, verteidigte sie sich.

„Ach nein? Wirklich nicht?“

„Ich möchte, dass es dir gutgeht.“

„Das wage ich zu bezweifeln. Selbst hier, wo uns keiner hört, reden Sie mich nicht einmal mit meinem richtigen Namen an.“

„Du musst das verstehen. Ich habe schon gegen die Regeln verstoßen, als ich dir dein Fotoalbum habe geben lassen. Nichts darf dich mehr an dein altes Leben erinnern. Du musst damit abschließen. Ich habe keine andere Wahl.“

„Und warum nicht?“ Seine Stimme wurde zu ihrer Überraschung leiser, nachgiebiger. Sie glaubte ein Zittern darin zu hören und verstand, dass er kurz davor war, die Nerven zu verlieren. „Warum ist das alles geschehen? Und fangen Sie nicht schon wieder mit diesem hirnverbrannten Märchen von einem anderen Planeten an.“

„Unsere Leute haben meiner Familie immer treu gedient, in unserer Heimat und ganz besonders nach unserer Flucht. Jetzt haben sie sich meiner Führung anvertraut. Ich bin es ihnen schuldig, meinen Teil der Abmachung zu erfüllen, und dazu gehört, dass ich die Linie meiner Familie fortsetze und sie in ihre Welt zurückbringe. Es ist die Verpflichtung, für die ich geboren und erzogen wurde, und es ist deine Aufgabe, mich dabei zu unterstützen. Du kannst nichts dagegen machen. Das weißt du inzwischen.“

„Ich werde das jedenfalls nie akzeptieren. Das wissen inzwischen Sie.“

„Glaub mir, ich hätte dich auch viel lieber unter anderen Umständen kennengelernt und dir wenigstens scheinbar eine Wahl gelassen. Aber es ging nicht. Wir brauchen dich. Deine Aufgabe wurde dir vom Schicksal genauso auferlegt wie mir meine Verpflichtung.“

„Hören Sie sich eigentlich selbst beim Reden zu? Wahrscheinlich nicht, sonst würden Sie merken, welchen Schwachsinn Sie hier von sich geben.“

„Wir tragen beide die Verantwortung für meine Anhänger.“

„Es sind erwachsene Menschen. Sie sind für sich selbst verantwortlich. Ich habe nichts mit ihnen zu tun, außer dass sie mich auf Ihren Befehl hin hier gefangen halten.“

„Sie würden ihr Leben für mich geben und, wenn wir erst ein Kind haben, auch für dich.“

„Karoshi.“

„Tod durch Arbeit? Nein. Dieser Begriff meint den Tod durch Überarbeitung, nicht durch Ehre, Mut und Treue.“

„Mir scheint, Sie leben zur falschen Zeit am falschen Ort. Würden Sie umgekehrt auch ihr Leben für ihre Leute opfern?“

„Keine Anführer sollte etwas von seinen Leuten verlangen, wozu er nicht selbst bereit ist.“

„Das hört sich wirklich schön an. Schön geschwollen. Aber Sie opfern hier nicht Ihr Leben, sondern meines. Es ist leicht so zu reden, wenn es nur dem anderen wehtut. Doch wahrer Mut zeigt sich erst im Feuer.“

„Wir sind Drachen. Das Feuer ist unser Element.“

„Ich habe in Ihrer Bibliothek davon gelesen. Sie haben es sogar in unserer Schrift und Sprache niedergeschrieben. Warum auch immer. Aber ich glaube diesen ganzen Unfug nicht.“

„Du wirst eines Tages einsehen, dass es wahr ist“, sagte sie leise und ging vorsichtig auf ihn zu. Er wollte unwillig vor ihr zurückweichen und konnte sich doch nicht vom Fleck rühren, wollte, dass sie ging, hoffte dass sie blieb. Sie kam ihm so nahe, bis sie ihn fast berührte. Seine Wut flaute ab. Sie streckte ihren Arm vor und ihre Finger glitten flüchtig über seine rechte Hand, verharrten kurz an dem Armreif, und hinterließen eine sengende Spur auf der Haut seines Unterarmes. Sein eben noch dröhnendes Herz flatterte plötzlich wie die Flügel eines Kolibris. Ein heißer Strahl schoss in seine Körpermitte.

Mit einem Mal war ihre Stimme ganz weich. „Bitte Neun, wehr dich nicht mehr dagegen. Lass einfach zu, was geschieht.“

Sie drehte sich abrupt um und ging steif und erhobenen Hauptes aus dem Zimmer. Er sah nicht die Tränen in ihren Augen.

 

Wohl aber Fehild, die im Flur gestanden und das Gespräch mitbekommen hatte. Liara sah sie, rauschte aber an ihr vorbei, ohne etwas zu sagen. Fast floh sie vor ihr.

Fehild hatte genug gesehen und gehört. Sie folgte ihrer Schwester und stellte sie in der Bibliothek. Es war an der Zeit einzuschreiten, bevor sich die Probleme auswuchsen und zu einer Bedrohung für ihre eigenen Pläne wurden. Wenn Neun sich erst einmal in sein Schicksal fügte, könnte er einen großen Einfluss auf ihre Schwester ausüben. Sie war sich sicher, dass er Liara gegen sie aufhetzen würde. Nicht ganz zu Unrecht.

„Was willst du?“, fragte Liara harsch. Sie fühlte sich ertappt und wollte sich die Vorwürfe ihrer Schwester nicht anhören, denn sie wusste, dass Fehilds Worte berechtigt waren, bereits bevor sie sie aussprach.

„Du kennst Neun kaum, aber du siehst in ihm schon mehr als nur den Vater deiner Tochter.“

„Wäre das so schlimm?“

„Verbeiß dich nicht in etwas, das du nicht kontrollieren kannst.“

„Ich habe alles unter Kontrolle!“

„Vielleicht jetzt noch. Aber ich bin mir nicht sicher, dass das so bleibt. Was wirst du tun, wenn sich herausstellt, dass er gefährlich ist?“

„Er ist nicht gefährlich.“

„Er ist sicher kein großer Kämpfer.“ Sie lachte böse. „Ich könnte ihn mit meinem kleinen Finger umbringen. Aber er hat eine weiche Stelle in unserem System gefunden.“

„Und welche“, fragte Liara, obwohl sie wusste, was ihre Schwester meinte.

„Dich. Deine Gefühle für ihn. Es wäre besser für dich, in ihm nicht mehr als einen Samenspender zu sehen. Er hätte seine Zelle niemals verlassen dürfen.“

Liara sah ihre Schwester empört an, dabei hatte sie Recht. Sicher würde Neun bei erster Gelegenheit fliehen und sich dann gegen sie wenden. Er wusste schon zu viel. Die Außenwelt durfte nie erfahren, was hier vor sich ging. Doch er hatte schon so viel erlitten. Könnte sie es ertragen, ihn vollständig zu zerstören? Allein bei dem Gedanken wuchs ein Kloß in ihrer Kehle.

„Er passt sehr gut zu dir, Liara.“ Fehilds Stimme war ruhig und eindringlich. „Fast zu gut.“

„Was willst du damit sagen?“

„Es ist ein erstaunlicher Zufall, dass wir ihn gefunden haben. Findest du das nicht auch? Seine Gene passen fast schon zu perfekt zu deinen.“

„Du denkst, sie haben ihn auf uns angesetzt?“

„Möglich.“

„Dazu müssten sie uns erst gefunden haben.“

„Was ist, kann gefunden werden. Wenn er ein Spion ist, haben sie jedenfalls mit ihm ihr Meisterstück vollbracht.“

„Wenn er zu einer Bedrohung für die Gemeinschaft wird, wird er ausgeschaltet.“

„Wenn er zu einer Bedrohung für dich wird, wird er zu einer Bedrohung für die Gemeinschaft und für die Zukunft des Reiches.“ Und wenn ihr euch zusammentut, werdet ihr eine Bedrohung für mich, dachte Fehild.

„Wenn es sein muss, werde ich das Nötige veranlassen“, sagte Liara ohne rechte Überzeugung und ohne die geringste Ahnung von den Hintergedanken ihrer Schwester.

„Selbst wenn er noch kein Spion ist, könnten die anderen ihn für ihre Zwecke einspannen“, stichelte Fehild weiter. „Er würde alles tun, um wieder freizukommen.“

„Wir haben alle ihre Spione ausgemerzt.“

„Schon möglich. Sag mir trotzdem Bescheid, wenn du mich brauchst. Denk an den Eid, den du der Gemeinschaft geleistet hast. Sie steht an erster Stelle. Nichts und niemand sonst. Wenn du versagst, reißt du uns alle mit ins Verderben.“

Befriedigt sah Fehild den Schmerz im Gesicht ihrer Schwester, und auch ihre Skepsis. Die Saat des Zweifels war ausgebracht. Mit ein wenig Geduld konnte sie eine reiche Ernte einholen.

 

Michael ging jetzt täglich in den Park, oft auch mehrmals, und sogar wenn das Wetter schlecht war. Er hielt die bedrückende Stille und die Enge in dem riesigen Haus nicht mehr aus. Ständig waren zwei Schatten nicht weit weg und überwachten jeden seiner Schritte. Immerhin rückte man ihm nicht mehr ganz so dicht auf die Pelle wie an den ersten Tagen.

Oftmals, wenn er auf dem Rasen stehend seinen Blick hob, konnte er Liara durch das große Fenster an ihrem Schreibtisch sitzen sehen. Sie empfing Besucher, erledigte Korrespondenz oder telefonierte. Manchmal stand ihre Sekretärin in so ehrerbietiger Haltung neben ihr, dass er sich fühlte, als ob er tatsächlich in einer anderen Welt oder Zeit gelandet wäre. Immerhin warf sich, so weit er das sehen konnte, keiner vor ihr auf den Boden.

Liara saß allein an ihrem Schreibtisch. Die Stadt war unter ihm, das Haus ragte vor ihm auf. Er konnte durch das bis zum Boden reichende Fenster nur die Rücklehne des Stuhls und ihren Nacken und Kopf sehen. Offensichtlich beschäftigte sie sich auch heute wieder mit irgendwelchen Schreiben.

Als hätte sie seinen Blick gespürt, hob sie ihren Kopf und drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich. Grün und Blau kreuzten die Klingen. Michael spürte ein Kribbeln auf seiner Haut. Die Welt stand für einen langen Moment so still wie sein Herz. Er sah, was Liara war, blickte hinter die Fassade, die erst andere um sie errichtet hatten und die sie dann fast bis zur Perfektion vollendet hatte. Sie war ein Mensch, der fühlte und litt. Und sie war mehr. Und dieses Mehr war beängstigend und faszinierend zugleich.

Liara wandte plötzlich den Blick ab. Die Sekretärin trat vor ihren Schreibtisch. Der Moment war vorüber. Das Kribbeln, dass sie schon gespürt hatte, als sie dem Fenster noch den Rücken zugekehrt hatte, verschwand. Sie wusste, dass sich etwas geändert hatte. Fehild hatte Recht gehabt. Neun war das Bedrohlichste, das ihr jemals begegnet war. Er hatte ihr festgefügtes Leben ins Stolpern gebracht und ihren Panzer durchlässig gemacht. Sie musste etwas tun, um ihn aus ihren Gedanken zu eliminieren. Das Dumme war nur, dass das, was jenseits ihres Verstandes durch ihn aus einem langen Winterschlaf erweckt worden war, etwas ganz anderes wollte.

Michael setzte seine Runde durch den Park fort. Liaras Blick hatte sich in seine Seele gebrannt und ihm versprochen, wonach er nie bei einer Frau verlangt hatte. Etwas, das weit über einen kurzen Rausch der Sinne hinausging und nach dem er sich plötzlich sehnte, in dem Wissen, es nie zu bekommen. Er fühlte sich einsamer als gerade eben noch. Kälte drang unter seinen Mantel. Er stellte den Kragen hoch. Die Kälte von außen wurde abgehalten, die in ihm drin loderte weiter.

 

Tage später war das Wetter so schlecht geworden, dass sogar er es vorzog, im Haus zu bleiben. Die Dienerin, die ihn vor gut einem Monat aus der Bibliothek zu Liara geführt hatte, betrat sein Zimmer. Sie trug Besen, Eimer und Lappen und sah ihn verduzt an. „Verzeihung“, sagte sie mit einer Verbeugung. „Ich wusste nicht, dass Sie hier sind. Ich werde später noch einmal wiederkommen, Herr.“

Ihre seltsame Anrede war ihm nicht entgangen. „Bitte bleiben Sie“, bat er sie, ohne darauf einzugehen. Mit einer einladenden Handbewegung und einem Lächeln untermalte er seine Bitte, bevor sie sich wieder zurückziehen konnte. „Tun Sie sich keinen Zwang an. Ich beiße nicht.“

Verlegen und ohne über seine letzte Bemerkung zu lachen schaute sie zu Boden und begann das Zimmer aufzuräumen und zu reinigen. Es war das erste Mal, dass er dabei anwesend war, seit er sich mehr oder weniger frei im Haus bewegen durfte. Bisher hatte die Dienerschaft tunlichst darauf geachtet, für ihn unsichtbar zu sein. Dementsprechend wirkte die Frau jetzt verunsichert. Sie sprach und schaute ihn nicht an, tat nur etwas fahrig ihre Arbeit.

Er sah ihr eine Weile aus den Augenwinkeln zu, während er vorgab, in einer Zeitung zu lesen. „Darf ich Ihren Namen erfahren?“, eröffnete er ein Gespräch, an dem sie offensichtlich nicht interessiert war – oder sein durfte.

„Aleke.“ Ihre Stimme war immer noch so leise, als fürchtete sie sich vor ihm. Sein Verdacht, es sei nicht erwünscht, dass sie mit ihm sprach, verhärtete sich. Er legte die Zeitung beiseite. „Kennen Sie meinen Namen, Aleke?“

„Sie heißen Neun.“

„Mein Name ist Michael Berger.“

„Nein. Das stimmt nicht. Niemand hier heißt Michael Berger.“

„Doch. Ich bin Michael Berger.“

„Bitte …, Herr, ich weiß nicht …, die Herrin Fehild hat gesagt, Ihr Name sei Neun und …“

Er hörte die Angst in ihrer Stimme und konnte sie gut verstehen. Der Giftzwerg hatte nicht nur ihn eingeschüchtert. „Wie lange arbeiten Sie schon hier?“, wechselte er das Thema.

„Ich diene der Ersten Herrin seit meiner Geburt.“

„Seit Ihrer Geburt?“

„Ja.“

„Warum?“

Sie sah ihn an, als hätte er etwas Unanständiges gefragt. „Sie ist unsere Erste Herrin.“ Ihre Stimme trug ihm ihr Unverständnis zu. Sie konnte wohl nicht glauben, dass er so etwas Selbstverständliches nicht wusste.

„Wo wohnen Sie?“

„Hier.“

„Hier? Haben Sie keine eigene Wohnung außerhalb der Mauer?“

„Nein. Alle, die der Ersten Herrin persönlich dienen dürfen, haben das Vorrecht, in Unterkünften auf ihrem Besitz zu wohnen.“

Michael war bereits bei seinen ersten Spaziergängen am Ende des Parks auf mehrere Häuser hinter einer ebenfalls hohen Mauer gestoßen. Das Tor dorthin war zwar unbewacht, aber verschlossen gewesen. Obwohl die Gebäude offensichtlich bewohnt waren, hatte er keine Menschenseele durch das eiserne Gitter erkennen können. Er hatte gleich geahnt, dass Liaras Personal dort wohnte. Offensichtlich lebte nicht nur er vom normalen Leben abgeschnitten in ihrer Welt.

„Werden sie dort auch bewacht?“

„Natürlich.“

„Warum?“

„Die Wachen schützen uns vor den Fremden dort draußen.“

„Haben Sie nie den Wunsch gehabt, von hier wegzugehen, die große weite Welt zu sehen, andere Menschen kennenzulernen, wenn man Sie ließe?“

Sie sah ihn verwirrt an. „Nein. Natürlich nicht. Außerdem kann ich nach draußen gehen, wenn ich will.“

„Warum tun Sie es nicht? Es gibt dort draußen so viel mehr zu sehen und zu erleben als hier. “

„Die Erste Herrin sorgt für uns und eines Tages werden wir alle mit ihr in unsere angestammte Welt zurückkehren.“

„Wünschen Sie sich das?“

„Oh, ja“, sagte die Frau plötzlich lebhaft. „Wir wollen alle zurück.“

„Auch wenn Sie hier geboren worden sind.“

„Ja. Wir gehören dorthin. Es ist unsere Pflicht, alles zu tun, um dorthin zurückzukehren.“

„Warum ist es Ihre Pflicht?“

„Wenn wir mit der Ersten Herrin aus unserem Exil in unsere Heimat zurückkehren, wird eine glorreiche Zukunft für das ganze Reich anbrechen.“

„Halleluja.“

„Wie bitte?“

„Nichts.“ Michael machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe nicht gerade das Gefühl, dass Freiheit in Ihrer Gemeinschaft großgeschrieben wird. Warum wollen Sie in eine solche Welt zurückkehren.“

„Wir sind anders als die Menschen hier.“

Diese Sekte hatte den Menschen wirklich den Kopf verdreht. Er konnte es Alekes fast schon verzücktem Gesicht ansehen. Warum taten offizielle Stellen nichts dagegen! Er konnte sich nicht vorstellen, dass niemand etwas wusste. Es musste hier auch Kinder geben, die es vor solch einem Unsinn zu schützen galt. Allerdings hatte er inzwischen einen Eindruck von dem Reichtum dieser Gemeinschaft bekommen und konnte sich denken, dass keiner, der auf Wählerstimmen angewiesen ist, freiwillig auf großzügige Spenden und Steuereinnahmen verzichtet.

„Inwieweit sind Sie anders?“, hakte Michael nach.

„Hier sind alle so auf sich selbst bedacht, so egoistisch.“

„Und Sie?“

„Wir dienen der Ersten Herrin und sie sorgt für uns.“

„Warum dienen Sie ihr?“

„Sie wurde vom Schicksal auserkoren, über unseren Planeten zu herrschen. Deshalb wurde sie mit besonderen Gaben ausgestattet. Bei der jetzigen Ersten Herrin sind sie besonders stark und sie steht weit über allen anderen.“

„Was für Gaben?“

„Die Menschen in ihrer Nähe werden mit der Kraft des Wolfes erfüllt. Sie folgen ihr. Die Erste Herrin ist der Drache, der in die Herzen der Menschen sehen kann.“

„Das heißt, sie hat eine gute Beobachtungsgabe und herausragende Führungsqualitäten.“

„Es ist mehr als das“, sagte Aleke mit geradezu missionarischem Eifer. „Sie weiß auch, was wir ganz tief in uns drin fühlen, oft sogar besser als wir selbst. Haben Sie das noch nicht bemerkt?“

„Wenn sie in mein Herz sehen kann, findet sie dort eine Mördergrube.“

„Verzeihen Sie mir bitte, Herr, aber Sie sollten so etwas nicht sagen, nicht einmal denken.“

„Ach.“

„Sie sollten sich glücklich schätzen, ihr als einer der wenigen Außenstehenden dienen zu dürfen, und das sogar in einer solch herausragenden Stellung.“

„Oh ja. Ich bin ausgesprochen glücklich hier sein zu dürfen, ohne Freunde oder Familie, gefangen in einem Haus, von dem aus ich nur noch auf mein altes Leben herabsehen kann, auf eines, in dem ich frei war.“

„Wenn Sie die Erste Herrin auch als Ihre Herrin anerkennen und ihr in allem gehorchen, wird sich alles für Sie zum Besseren wenden.“

„Sie erwarten doch nicht wirklich von mir, dass ich mich ihr unterwerfe?“

„Versuchen Sie es. Es ist nicht schwer. Die Erste Herrin liebt und schützt die Menschen, die um sie sind.“

„Und ihre kleine Schwester schützt sie.“

Alekes Gesichtszüge verhärteten sich. „Die Erste Herrin schützt uns auch vor der Herrin Fehild.“

Er sah das Entsetzen in ihrem Gesicht, als sie sich den Mund zuhielt. „Ich habe das nicht so gemeint. Bitte …“

„Keine Sorge, ich verstehe Sie schon. Fehild ist alles andere als zuvorkommend und nachsichtig. Ich werde Sie nicht verpetzen.“

Er sah, dass seine Worte die Frau sogar noch mehr verängstigten, statt sie zu beruhigen. Es war eindeutig, dass sie auf einen solchen Gesprächsverlauf nicht vorbereitet gewesen war. Er passte nicht in ihre Gedankenwelt. Vielleicht fühlte sie erstmals so etwas wie einen winzigen Zweifel in ihrem Herzen, er hoffte es. Es tat ihm gut zu wissen, dass er nicht der Einzige hier war, der Fehild lieber auf den Rücken als ins Gesicht blickte, oder besser gesagt, gar nicht sah.

„Ist denn noch niemand von hier weggegangen?“, fragte er weiter.

Er sah, wie Aleke sich wand. „Schon.“

„Na bitte. Es geht also.“

„Sie sind alle schon nach kurzer Zeit zurückgekommen.“

Michael runzelte ungläubig die Stirn. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Sie blickte ihn zum ersten Mal fest an. „Doch. Wenn sie weggehen, fühlen sie die Kraft des Wolfes nicht mehr. Es ist, als hätte ihr Leben seinen Sinn verloren.“

Drogen. Es konnten nur Drogen sein, mit denen Liara ihre Anhänger gefügig machte. Wer hätte gedacht, dass sich hinter dieser überkorrekten und eiskalten Fassade eine Dealerin verbarg. Er fragte sich, ob sie ihm auch welche verabreichten, um ihn abhängig und willenlos zu machen. Bisher war ihm nichts dergleichen aufgefallen. Nichts außer der Macht, die Liara auf seinen Geist und seinen Körper ausübte. Er nahm sich vor, in nächster Zeit besser darauf zu achten, was er aß und trank.

Sicher ging Aleke nach diesem Gespräch schnurstracks zu Liara. Ganz bestimmt glaubte sie, ihrer Ersten Herrin alles von diesem Gespräch berichten zu müssen, weil diese in ihr Inneres blicken konnte.

„Haben Sie denn wirklich nie das Verlangen, nach draußen zu gehen, wenn Sie Bilder und Berichte in Fernsehen sehen?“

„Wir haben hier kein Fernsehen.“

„Ich habe eins.“

„Ja, ich weiß“, sagte Aleke. Immerhin stand das Gerät neben ihnen im Raum und wurde täglich von ihr abgestaubt.

„Radio?“

„Nein, auch nicht.“

„Zeitungen?“

„Nein.“

Aleke sah den Unglauben in seinem Gesicht. „Die Erste Herrin und die Herrin Fehild haben so etwas“, versuchte sie die Gemeinschaft trotzig zu verteidigen, „und Reichsräte und ein paar ausgewählte Mitglieder der Gemeinschaft auch. Wir anderen dürfen Bücher aus der Bibliothek lesen.“

Gefiltertes Leben, dachte Michael, zensiert durch Liara und sicher ganz besonders durch Fehild. Er, als unwilliger Außenstehender, war eine Gefahr für das Gleichgewicht innerhalb der Gemeinschaft. Fehild täte sicher alles, um ihn zum Schweigen zu bringen, wenn sie die Gelegenheit dazu hätte. „Warum haben nicht alle so etwas?“.

„Die Menschen werden dadurch verdorben, ganz besonders durch das Fernsehen. Sie lassen sich gehen, weigern sich, ihre Pflicht zu erfüllen. Es verführt zu Müßiggang und regt sie an, ihre niedrigsten Triebe und Laster auszuleben. Es bringt Unordnung unter die Menschen, wie so vieles andere auch, das es da draußen gibt.“

„Aber es bildet auch und regt den Geist an.“

„Lügen werden so lange ausgesprochen, bis die Menschen sie glauben.“ Plötzlich nahm ihr Gesicht einen düsteren Ausdruck an. Entschlossen griff sie zum Besen und begann zu kehren. Es war eindeutig, dass sie nicht mehr gewillt war, weiter über dieses Thema zu sprechen – oder zu verängstigt.

Michael wollte sie nicht noch mehr verschrecken und ging trotz des schlechten Wetters in den Park. Als er zurückkam, war sein Zimmer so aufgeräumt und sauber wie immer, wenn sich die sonst unsichtbaren Geister darum gekümmert hatten.

 

In der nächsten Zeit spielte er vor, sich langsam anzupassen und seinen Widerstand aufzugeben. Nach außen hin tat er, was man von ihm verlangte, manchmal widerwillig, aber immer öfter als sei es eine Selbstverständlichkeit. Er kannte die Geräusche und Gerüche des Hauses, richtete sich nach seinem Rhythmus. Fragen beantwortete er zurückhaltend, aber höflich. Er grüßte zurück, wenn man ihn grüßte.

Es wurde mit jedem Tag anstrengender, den Anschein zu wahren. Die andauernde Schauspielerei nahm ihm so viel von seiner Kraft und Aufmerksamkeit, dass er alles um sich herum nicht mehr als wirklich empfand. Sogar sich selbst verlor er dabei. Alles fühlte sich anders an. Seine Bewegungen schienen nach einem anderen Muster zu laufen. Es war, als habe man ihn in einen Körper gesteckt, der seinem nur ähnlich, aber nicht gleich war.

Er musste etwas tun, um sein eigenes Ich zu wahren. Abends, wenn er im Bett lag, sagte er gebetsartig „Mein Name ist Michael! Ich will hier raus!“ auf. Es war wie ein Befehl, den er sich selbst gab, obwohl er die Worte nur nahezu unhörbar und unter der Bettdecke aussprach, denn er befürchtete, dass sie ihn auch in seinem Zimmer mit versteckten Kameras und Mikrofonen überwachten. Dabei lag er so gekrümmt auf der Matratze, als spräche er in sein Glied wie in ein Mikrofon. Nur wollte ausgerechnet dieses Körperteil ihm am wenigsten zuhören. Es wollte Liara, egal unter welchen Bedingungen. Vielleicht auch deshalb fiel ihm diese einfache Maßnahme zur Rettung seiner Person mit jedem Abend schwerer.

Es wäre so viel leichter gewesen, sich in sein Schicksal zu ergeben. Er fühlte sich erbärmlich, schon nach Wochen mit dem Gedanken zu spielen, die Hoffnung auf eine Befreiung oder Flucht fahren zu lassen. Andere hatten Jahre in Gefangenschaft ausgehalten, ohne aufzugeben. Aber die mussten auch nicht Liaras wölfischer Kraft widerstehen, dachte er bissig.

Und dann tat er etwas, von dem er gedacht hatte, er täte es niemals wieder. Unwillkürlich verschränkten sich seine Hände ineinander, während er noch gekrümmt unter der Bettdecke lag. Sein Mund formte Worte, die sich zu einem Gebet auswuchsen, das er schon lange nicht mehr gesprochen hatte. Zuerst kam es nur stockend, aber dann erinnerte er sich an jede einzelne Silbe. Zum ersten Mal, seit er es auswendig gelernt hatte, leierte er es nicht herunter, als wäre es eine lästige Pflicht, sondern mit tiefer Inbrunst. Es gab ihm, der sich noch vor seiner Entführung für einen Atheisten gehalten hatte, Halt in seiner zerfließenden Welt.

 

Er hielt ständig nach einer Möglichkeit Ausschau, zu fliehen oder jemandem draußen eine Nachricht zukommen zu lassen. Aber er hatte feststellen müssen, dass sie ihm keine Gelegenheit dazu ließen. Die Äste der Bäume im Park waren so weit von der Mauer entfernt, das er nicht hinüberklettern konnte. Es gab nirgendwo ein ungesichertes Telefon oder eine ihm zugängliche Internetverbindung. Wenn er in den Park ging, wurde er bewacht. Sie waren diskret, aber ständig auf der Hut, was er tat. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit, einen Zettel über die Mauer zu werfen. Um Hilfe zu schreien, war sinnlos. Das Haus lag weitab von allen anderen. Kaum ein Spaziergänger verirrte sich in die Nähe, und wenn doch, konnte er ihn wegen der Mauer allenfalls von Weitem sehen. Die Freiheit schien so nah zu sein und war doch unerreichbar. Immer wieder packte ihn die Wut über seine Entführer, doch er wusste, dass er nichts gegen sie ausrichten konnte.

Oft stand er im Park und sah auf die Stadt herunter. Bilder aus seiner Vergangenheit tauchten unwirklich und wie von ferne vor ihm auf, auch wenn es noch gar nicht mal lange her war, dass er dort gewesen war und ein unbeschwertes Leben geführt hatte. Jedes Mal grub sich der Schmerz in seine Magengrube. Wie lächerlich erschienen ihm jetzt seine damaligen Probleme.

Sie wollten ihn vollkommen von seiner Vergangenheit abschneiden und sein altes Ich auslöschen. Aber gleichzeitig ließen sie zu, dass er immer wieder auf seine Heimat herabsehen konnte. Wahrscheinlich wussten sie nicht einmal, wie absurd das war.

Das Gebäude und der Park waren riesig. Die Einrichtung war luxuriös. Es gab hier reichlich Bedienstete und Wachen. Dabei wohnten offensichtlich nur Liara und er im Hauptgebäude. Obwohl es mehrere Büros gab, benutzte sie nur eins davon und ging anscheinend keiner geregelten Tätigkeit nach. Wahrscheinlich musste sie sich bei ihrem immensen Vermögen nicht die Hände schmutzig machen.

Hin und wieder begleitete Liara ihn in den Park. Seine Aufpasser hielten sich währenddessen außer Hörweite. Die Gewalt, die ihm hier angetan wurde, erschien ihm dann mit einem Male nicht mehr so schlimm. Es schien, als ob Alekes Worte über Liaras Wirkung auf andere Menschen wahr gewesen waren, denn ihre Nähe besänftigte ihn. Seine Einsamkeit war für einen Moment nicht mehr unerträglich.

Von einer Dienerin erfuhr er auch, dass die Erste Herrin vor seiner Ankunft über Jahre nicht mehr in den Park gegangen war. Als er sie nach dem Grund fragte, reagierte die Frau so verschreckt wie Aleke in der Bibliothek, als dieser herausgeplatzt war, Liara schütze die Mitglieder der Gemeinschaft auch vor Fehild.

 

Sie gingen wie ein Paar über die Kieswege. In der kalten Dezemberluft bildete ihr Atem flüchtige Wolken vor ihren Mündern. Er trug den Armreif jetzt schon seit über drei Wochen, aber er wog immer noch schwer an seinem Handgelenk.

Ihm war schon lange aufgefallen, welchen Respekt das Personal vor Liara hatte. Oft schauten sie ihr vor lauter Ehrfurcht nicht einmal in die Augen, wenn sie mit ihr sprachen oder eine Anweisung erhielten. Als er während des Spaziergangs zu ihr sagte, sie sei die Kaiserin von China für ihre Leute, lachte sie nicht oder war empört, sondern nickte nur. Ihre Überheblichkeit verschlug ihm die Sprache. Unwillkürlich entfernte er sich ein winziges Stück von ihr.

Sie bemerkte sein plötzliches Schweigen und fröstelte, als hätte seine Ernüchterung auf sie abgefärbt. Noch einem fragenden Blick in sein abweisendes Gesicht und ging sie ins Haus.

Er blieb noch im Park zurück und sah auf die Stadt herunter. In der Ferne erklangen Kirchenglocken. Er erinnerte sich an seine Zeit als Messdiener, den Geruch von Weihrauch und Tannennadeln. Obwohl er nie besonders fromm oder gläubig gewesen war, legte sich die Erinnerung schwer auf seine Brust. Das Weihnachtsgeschäft musste im vollen Gang sein. Hier bekam er davon nur mit, was er durch die Medien erfuhr.

Er starrte in den grauen Himmel. Heute war der Tag, an dem Kinder Süßigkeiten in ihren Schuhen fanden, jedenfalls, wenn sie sie am gestrigen Abend geputzt vor ihre Zimmertür gestellt hatten. Hier brauchte er den Dreck nicht selbst von seinen Schuhen zu kratzen, dafür kam aber auch weder Nikolaus noch sonst jemand zu ihm. Keine Arbeit wartete auf ihn, und auch nichts anderes, das seinen Leben einen Sinn gab. Seine Hauptbeschäftigung war das Nichtstun. Lediglich die Spaziergänge mit Liara im Park bedeuteten eine Erleichterung seiner Gefangenschaft.

Er war noch nie ein leidenschaftlicher Briefschreiber oder Weihnachtsfreak gewesen, aber bei dem Gedanken, weder Weihnachtsgrüße zu versenden noch welche zu erhalten, fühlte er eine bleierne Traurigkeit. Seine Augen wurden feucht. Bevor seine Bewacher etwas davon mitbekamen, senkte er den Blick und ging mit hochgeschlagenem Kragen, so als friere auch er, ins Haus.

Später bat er Liara, seine privaten E-Mails lesen und beantworten zu dürfen. Er hatte keine Geheimnisse vor ihnen. Sie waren wie eine feindliche Armada in sein Leben eingefallen und hatten alles, was sie an sich raffen konnten, vereinnahmt.

„Ihre Bewacher können ja neben mir stehen und alles mitlesen und meine Antworten kontrollieren, bevor ich sie abschicke. Ich werde keinen von meinen Freunden in Gefahr bringen.“

„Du brauchst keinen E-Mail-Account mehr“, erklärte Liara ihm.

Wieder einmal war er sprachlos, bevor sich seine Wut Luft machte. „Sie haben ihn gelöscht?“

„Nein, noch nicht. Es wäre zu auffällig, wenn wir das getan hätten. Aber du hast allen deinen Freunden die Nachricht geschickt, dass du ans Ende der Welt verreist bist und sie dich auf unabsehbare Zeit nicht erreichen können. Sie werden sich nicht wundern, wenn du nicht antwortest.“

Michael ballte die Fäuste. Sie waren ohne Jeden Scham in seinen Computer eingebrochen und hatten seine E-Mails gelesen. „Was ist mit meinem Konto?“

„Du zahlst weiter deine Steuern, die Rundfunk- und Müllgebühren und so weiter. Man soll dich nicht vermissen. Wenn dein Konto leer ist, laden wir es auf. Deine Post geht an ein Postfach, dass regelmäßig geleert wird.“

Michael spürte, wie ihm die Galle hochkam. „Ich lebe nicht mehr und ich bin nicht tot. Sie haben mich zu einem Untoten gemacht.“

„Nun werde mal nicht melodramatisch.“

„Melodramatisch?“, donnerte Michael los. „Melodramatisch? Ihr habt mir mein Leben genommen und jetzt wagen Sie es, mich melodramatisch zu nennen? Was sind Sie nur für ein Mensch! Sie sind das Abartigste, das mir jemals über den Weg gelaufen ist, und ich habe schon viel erlebt. Vielleicht sind Sie wirklich nicht von hier. Aber Sie sind von keinem anderen Planeten. Sie hat die Hölle selbst geschickt.“

Er war zunehmend lauter geworden und erwartete, dass Liara die Walküren rief, um ihn in die Zelle bringen zu lassen. Aber sie ließ sein Gebrüll eiskalt über sich ergehen. „Geh auf dein Zimmer, Neun!“

„Wie bitte?“

„Geh auf dein Zimmer.“

„Sie können mich nicht einfach fortschicken wie einen Hund.“

„Doch. Das kann ich.“ Auch ihre Stimme wurde plötzlich lauter und sehr viel härter. „Du gehörst mir und du tust was ich dir sage!“

„Und wenn nicht? Rufen Sie dann wieder Ihre tumben Helferlein, damit sie mich in die Zelle stecken?“

„Sie sind nicht tumb, aber ansonsten hast du deine Lage klar erkannt. Und glaube mir, diesmal wirst du länger als eine Nacht dort bleiben.“

Michael kreuzt die Arme vor der Brust. Er war plötzlich ganz ruhig. „Dann holen Sie sie.“

Liara war von seinem Trotz überrascht. Man hatte sie selbst als Heranwachsende mehrmals über Tage in die Zelle gesteckt. Es war zu ihrer Abhärtung geschehen. Im Dunkeln waren Schreckgespenster aus ihrem Hirn hervorgekrochen, von deren Existenz sie zuvor keine Ahnung gehabt hatte. Sie wusste, welchen wahnsinnigen Mut es brauchte, sie derart herauszufordern. Nie hätte sie gedacht, dass ein Mann ihr so stark und eigenwillig entgegentreten könnte.

„Neun, geh.“ Ihre Stimme war unsicher, es war kein Befehl mehr. Zu seinem Erstaunen hörte er ein Zittern darin. Er reagierte nicht.

„Bitte, Neun, geh.“

Ihr leise Stimme brach seinen Trotz. Sie sah, dass er einen Kampf mit sich selbst ausfocht. Sein Kopf zuckte unwillig. Dann drehte er sich wortlos um und ging.

Liara blieb erleichtert zurück. Dennoch steckte ein Kloß so fest ihrer Kehle, dass sie ihn nicht herunterschlucken konnte.

Später erfuhr sie, dass er tatsächlich in sein Zimmer gegangen war. Er hatte das Licht nicht angemacht. Während sie noch einsam an ihrem Schreibtisch saß und Vorfälle in ihrer Gemeinschaft regelte, wusste sie um seine selbstgewählte Dunkelhaft. Er bestrafte nicht sich selbst, er trauerte. Und er bestrafte sie.

Am nächsten Tag ließ man ihn tatsächlich seine E-Mails lesen und beantworten. Es hatten sich so viele angesammelt, dass es Stunden dauerte. Seine Bewacher wechselten mehrmals. Er durfte sogar einige Nachrichten versenden. Sie waren nur kurz und wurden genauestens kontrolliert. Es war ihm nicht möglich, einen Hilferuf abzuschicken.

Als er fertig war, lehnte er sich erschöpft, aber auch seltsam glücklich zurück. Es war, als hätte er einen Teil seines Lebens, das er lange noch nicht aufgegeben hatte, zurückgewonnen.

 

Kurze, dunkle Tage und lange und noch dunklere Nächte vergingen. Die Menschen jenseits der Mauer feierten Weihnachten, Silvester und Neujahr. Als Liaras Gefangener bekam er fast nichts davon mit. Während das neue Jahr mit der üblichen Knallerei begrüßt wurde, fragte er sich, was es ihm wohl bringen werde.

Teilweise nahm er die Mahlzeiten alleine ein, teilweise zusammen mit Liara. Sie sprachen über Alltagsdinge. Inzwischen ließ sie manchmal durchblicken, was in der Gemeinschaft geschah. Er erfuhr von Hochzeiten und Geburten. All das interessierte ihn nicht, es betraf Menschen, die er nicht kannte und mit denen er nichts zu tun haben wollte. Aber er hörte auch von Personen, die die Gemeinschaft verließen. Es waren nur wenige Heranwachsende in ihrem jugendlichen Aufbegehren. Die meisten kehrten schnell wieder in ihr beschütztes Zuhause zurück, so, als ob die normale Welt dort draußen unerträglich für sie sei.

Liara verreiste viel. Sie schlichtete Streitigkeiten und besuchte Versammlungen, bei denen sie auf ihre Anhänger traf. Er nahm an, sie musste sie immer wieder auf ihre Gemeinschaft einschwören, sie das fühlen lassen, was sie die Kraft des Wolfes nannten, und das er immer noch für Drogen hielt.

Einmal holte sie persönlich eine ihrer Anhängerinnen, die die Gemeinschaft verlassen hatte, zurück, indem sie ihr gut zuredete. Ein Hinweis auf Fehild und ihre speziellen Überredungskünste war dabei eines ihrer Hauptargumente. Michael konnte bestens nachvollziehen, dass die Frau angesichts dieser Drohung in die Gemeinschaft zurückkehrte.

Anfangs fragte er sich, wie diese Abtrünnige gefunden worden war. Dann erfuhr er, dass alle bis auf die Mitglieder des Reichsrates, Liara und Fehild die gleichen Armbänder trugen wie er. Man berichtetet ihm, ein großes Fest werde veranstaltet, wenn man es den Kindern an ihrem zehnten Geburtstag anlege. Es sei das Ritual, mit dem sie in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Er musste erkennen, dass, wer sich erst einmal in den Fängen der Gemeinschaft befand, keine Chance hatte, ihr zu entkommen.

Liara versuchte tatsächlich, ihm das Leben in ihrem Haus leicht zu machen. Wenn sie mit ihm sprach, bemühte er sich, weniger bissige Antworten zu geben, ohne aber sein Verlangen, gehen zu können, aufzugeben. Das Personal war angehalten worden, seine Wünsche sofort umzusetzen, sofern es möglich war. Man stellte ihm einen Computer der neuesten Generation zur Verfügung. Er war fast wertlos für ihn, denn er hatte keinen Internetzugang. Als er eine Zeitung auf der Seite aufgeschlagen liegen ließ, die eine mehr als teure Schweizer Uhr zeigte, fand er sie am nächsten Tag auf der Ablage seines Badezimmers vor.

Dachten sie, er sei käuflich und könne so auf ihre Seite gezogen werden? Sollten sie doch. Seine vorgetäuschte Kooperation erschien dadurch glaubhafter. Er zog die Uhr an.

 

Seine Kontrolle brach beinahe weg, als Fehild ihn zu sich rufen ließ. Während er durch die Korridore geführt wurde, dachte er, man bringe ihn zu Liara. Als sich aber die Tür zu ihrem Büro öffnete und er zu seiner höchst unangenehmen Überraschung Fehild im Raum stehen sah, zuckte er zusammen. Er hörte, wie hinter ihm die Tür ins Schloss fiel und wusste, dass er alleine mit ihr im Raum war. Sein Herz donnerte los, er fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach.

„Du siehst aus wie ein Kaninchen in der Falle“, höhnte Fehild.

„Bin ich das nicht?“, antwortete er zu seinem eigenen Erstaunen einigermaßen gelassen.

„Tu nicht so, als wärst du hier im Tal der Tränen.“

„Bin ich das nicht?“

„Nicht, solange meine Schwester über dein Wohlergehen wacht.“

„Ich nehme an, Sie sehen die Sache anders.“

„Vollkommen anders. Wenn es nach mir ginge, würden wir dich benutzen und einfach wegwerfen, nachdem du deine Aufgabe erledigt hast.“

„Dann kann ich ja froh sein, dass Ihre Schwester hier das Sagen hat.“

„Allerdings. Du bist ein Nichts, du bist es nicht einmal wert, dass ich mich mit dir befasse.“

Er wusste, dass sie versuchte, ihn zu provozieren. Sie traute dem Frieden nicht und wollte ihn aus der Reserve locken. Es kostete ihn eine enorme Kraft, seiner Wut und Angst nicht nachzugeben und weiter den Schein zu wahren.

„Warum tun Sie es dann? Haben Sie gerade nichts Besseres vor, als sich mit dem Nichts zu beschäftigen?“

Ihre Augen verengten sich. „Weil ich dir etwas mitzuteilen habe.“

„Bitte.“ Er wunderte sich selbst, mit welcher Arroganz er dieses Wort ausgesprochen hatte. An Fehilds Gesichtsausdruck erkannte er, dass es nicht wirkungslos an ihr vorübergegangen war. Er hing an einem dünnen Seil über dem Abgrund und sie stand kurz davor, es durchzuschneiden.

„Du wirst in meiner Gegenwart knien, bis ich dir erlaube aufzustehen.“

Er glaubte kaum, was er da hörte. Trotzdem antwortete er ihr mit erzwungener Ruhe. „Ich nehme an, ich kann lange auf Ihre Erlaubnis warten.“

„Bis zum St. Nimmerleins-Tag.“

„Ist das auch der Wunsch Ihrer Schwester?“

„Wenn es um deine Erziehung geht, wünscht meine Schwester das Gleiche wie ich.“

„Also nicht.“

In ihrem Gesicht war blanke Gefahr. Aber statt sich einschüchtern zu lassen, machte er einen großen Schritt auf sie zu und drang in ihre intime Distanzzone ein. Seine unerwartete Dreistigkeit ließ sie einen Schritt zurückweichen. In diesem Augenblick zersplitterte ihre Selbstbeherrschung.

„Du verdammter Mistkerl! Ich werde dir zeigen, was es heißt, sich mir zu widersetzen“, schrie sie ihn an.

„Du durchgeknallte Schlampe“, brüllte er zurück. „Du bist hier das Nichts. Mit dir zu reden ist widerlicher, als in ein beschissenes Klo zu kotzen. Du hängst doch nur am Rockzipfel deiner großen Schwester.“

Der Schmerz war vernichtend, riss ihm die Eingeweide auseinander. Er verlor fast das Bewusstsein, als Fehilds Knie seine Weichteile traf. Die Luft wurde pfeifend aus seinen Lungen gepresst. Sich krümmend ging er zu Boden. Der Atem blieb ihm weg. Fast hätte er sich übergeben.

Er bekam nicht mit, dass Fehild über ihm stand und mit Genugtuung auf ihn herabsah. Sie genoss seinen Schmerz. Ihr Tritt war nicht geplant gewesen, aber sie bereute ihn nicht. Vielleicht hatte er Neun sogar unbrauchbar für die Gemeinschaft und das Reich gemacht.

In diesem Augenblick betrat Liara ihr Büro. Mit einem Blick erfasste sie, was geschehen war.

„Raus!“, herrschte sie ihre Schwester an.

Fehild blickte überrascht zurück. So hatte ihre Schwester noch nie zu ihr gesprochen, nicht einmal während ihrer kindlichen Streitereien. Und dann sah sie etwas Gelbes in ihren Augen. Sie hatte eine dumpfe Ahnung von dem, was geschehen könnte, wenn sie Liara weiter reizte. Ohne noch etwas zu antworten, rauschte sie aus dem Zimmer. Sie wusste nicht, wen sie in diesem Augenblick mehr hasste, ihre Schwester oder ihn.

Michael wand sich immer noch auf dem Boden und hielt seine Weichteile. Sein Atem ging stockend. Er war nicht in der Lage, Liara anzusehen oder etwas zu sagen. Sie kniete sich neben ihn und hörte ihn stöhnen, doch sie hatte keine Ahnung, was sie tun konnte.

Liara wusste, dass etwas zwischen ihr und ihrer Schwester gebrochen war. Sie ahnte nur nicht, dass das schon vor langer Zeit geschehen war und auch nicht, wie tief der Bruch ging.

Es dauerte Minuten, bis Michael sich zum Sitzen aufrichten konnte - viele Minuten, die ihr und noch mehr ihm selbst endlos erschienen. Es dauerte noch viele weitere Minuten, bis sie sich in die Augen sahen. Mit Verblüffung erkannte Liara in den seinen, was auch in ihr war, wild, unbezähmbar und gefährlich. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber es machte ihr Angst. Ihr Instinkt sah seinen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf.

Nach einem Wimpernschlag sah sie nur noch den Schmerz in seinen Augen und war trotz seines Leides seltsam erleichtert. Aber sie wusste jetzt, dass sie ihn niemals brechen konnte, ohne ihn zu vernichten. Wenn sie ihn wollte, musste sie ihn zu sich kommen lassen.

 

Niemand sprach mit ihm über das Gespräch mit Aleke. Auch das, was in Liaras Büro geschehen war, wurde nicht mehr erwähnt. Aber er sah Aleke nicht wieder. Er hoffte, dass man sie nicht seinetwegen bestraft hatte.

Manchmal waren Gäste anwesend. Sie gehörten alle zur Gemeinschaft, aber er war froh, dass der tägliche Trott unterbrochen wurde und er sich mit ihnen unterhalten konnte. Sie waren nur bereit, mit ihm über Alltägliches wie Politik oder Sport zu reden. Anscheinend standen jene Personen höher in der Hierarchie der Gemeinschaft und wussten mehr über das, was draußen geschah, als Liaras Personal. Wenn er sie aber auf Vorgänge innerhalb der Gemeinschaft ansprach, wichen sie aus.

Mehrmals sah er, dass einer von ihnen, er hieß Egmont, seinen Arm flüchtig um Liaras Taille legte und sie es zuließ. Manchmal flüsterte er ihr etwas ins Ohr und sie lachte ihn an. Zwischen ihnen herrschte eine intime Vertrautheit. Es gab Michael jedes Mal einen Stich.

Liara rief ihn nicht mehr zu sich, um seine Aufgabe zu erledigen. Er wunderte sich nicht darüber, sicher hatte sie bessere Liebhaber. Zum Beispiel diesen Egmont. Eigentlich hätte er sich darüber freuen sollen. Zu seiner Verwunderung tat er es nicht.

Mit den Personen um ihn herum verband ihn nichts. Er war ein Alien in einem Mikrokosmos, der von Geistesgestörten bewohnt wurde, die sich selbst für Aliens hielten. Sie schienen ihm nur die Abbilder von Menschen zu sein, unwirkliche dienstbare Geister ohne eigenen Willen, oder wie Fehild von einem Wahn getrieben. Alle außer Liara. Sie war als einzige voller Leben. In ihrer Gegenwart fühlte er sich selbst wieder. Er brauchte sie, um existieren zu können. Manchmal stellte er sich die Frage, wie es wäre, ohne sie in sein altes Leben zurückzukehren. Der Gedanke ängstigte ihn. Sie hatte in so kurzer Zeit seine Vergangenheit in sich aufgesogen und ihn an sich gebunden. Schritt für Schritt schaffte sie allein durch ihre Nähe, was Fehild trotz ihrer perfiden Methoden nicht gelungen war. Michael lag im Sterben, um Neun entstehen zu lassen wie Phönix, der aus der Asche steigt. Oder wie jener Liade, der nach dem Zweikampf mit seinem Halbbruder unversehrt der brennenden Ruine einer Goldschmiede entstiegen war und das Geschlecht der Drachen gegründet hat.

Es half nichts, er musste sich selbst eingestehen, dass er gerne in Liaras Nähe war. Er liebte es, ihre Stimme zu hören, genoss ihren Anblick. Nachts und oft auch am Tag sehnte er sich danach, neben ihr zu liegen, sie zu berühren, sie zu lieben. Er wäre schon zufrieden gewesen, wenn es so abgelaufen wäre, wie bei dem einen Mal: kalt und unpersönlich. Sie war die Droge, nach der es ihn verlangte. Er verachtete sich für seine Schwäche.

Es war nicht zu fassen, wie wenig Würde seine Gefühle und ganz besonders das Körperteil zwischen seinen Beinen hatten und wie wenig er sie im Griff hatte. Hoppla. Das Körperteil hatte er oft im Griff, aber anders, einsamer, als er es sich wünschte. Immerhin bewies er sich so selbst seine von Liara nicht mehr in Anspruch genommene Funktionsfähigkeit.

Ansonsten schaute er fern, las oder ging durch den Park. Auch zu viel Ruhe ist Stress.

 

Gelegentlich streifte er noch durch das Haus, obwohl er inzwischen den Teil, in dem er sich aufhalten durfte, bis in den letzten Winkel erkundet hatte. Es schien ihm, als könne er jeden Tisch, jeden Schrank, jeden Stuhl und jede Überwachungskamera beim Vornamen nennen.

Sie hatte einige unerfreuliche Tag hinter sich gebracht. Der heutige war der schlimmste von allen gewesen. Es hatte damit angefangen, dass Neun beim Frühstück seine schlechte Laune an ihr ausgelassen hatte. Egmont hatte sein Auto betrunken in den Graben gefahren und Fehild hatte ihr Vorwürfe gemacht, dass sie ihm überhaupt noch erlaubte, ihren Besitz zu verlassen. Sie war in den Fitnessraum gegangen, um den angesammelten Ärger auf dem Crosstrainer wegzutreten. Während sie vor Anstrengung keuchte und schwitzte, ging ihr Blick durch das große Fenster in die Ferne, ohne auf etwas haften zu bleiben. Ihr Rücken war der offen stehenden Tür zugewandt.

Sie war tagelang kaum im Haus gewesen und wenn, dann hatte sie ihn kaum beachtet. Ihr abweisendes Verhalten hatte ihn viel zu sehr getroffen. Verdammt, er vermisste ihre Nähe, ihre Stimme und ihr Lächeln mehr, als er sich selbst eingestehen wollte.

Er wusste, dass sie im Fitnessraum war. Es drängte ihn dorthin, um sie wenigstens zu sehen. Im Halbdunkeln des angrenzenden Flurs hielt er sich hinter einer großen und dicht wachsenden Birkenfeige verborgen, damit sein Spiegelbild ihn nicht verriet.

Seine Augen glitten über ihren erhitzten Körper. Ihr Schweiß bildete dunkle Flecken auf ihrem Shirt. Der eng anliegende Stoff zeichnete ihre Konturen nach. Er konnte seinen Blick kaum von den festen Rundungen ihres Pos lösen. Das Fensterglas reflektierte ein Abbild ihrer Vorderseite. Es war verschwommen, und doch zeigte es ihm ihre auf- und abwippenden Brüste. Seine Fantasie ließ ihn ihre Brustwarzen sehen, die sich durch das feuchte Shirt drückten.

Er kam sich lächerlich vor, hier zu stehen wie ein verliebter Teenager im Hormonrausch. Trotzdem konnte er seinen Blick nicht von ihr lösen. Er wollte ihren Körper überall berühren, seine Hände über ihre schweißnasse Haut gleiten lassen. Seine Fantasie gaukelte ihm Bilder vor, in denen sie sich nicht vor Anstrengung, sondern vor Leidenschaft schwitzend mit ihm auf der Gymnastikmatte wälzte. Es war eindeutig, wie sehr sein Körper sie gegen seinen Willen begehrte.

Als sie von dem Gerät abstieg, verschwand er eiligst und auf leisen Sohlen. Mit der Zeit hatte er gelernt, den Kameras und dem Personal im Haus auszuweichen.

Auf seinem Bett liegend, ging sein Tagtraum von Liara weiter, viel weiter. So weit, dass er fast glaubte, sie in seinen Armen zu halten, sie zu fühlen, zu riechen, ihren erregten Atem zu hören. Zurück blieb eine schmerzhafte Leere.

 

Über der Stadt lag die frühmorgendliche Ruhe eines kalten Januarsonntages. Sie waren im Park. Die meiste Zeit gingen sie schweigend nebeneinander her. Vereiste Wege knirschten unter ihren Füßen. Zwischendurch zeigte Liara ihm einige der Bäume und Sträucher, die sich im Winterschlaf befanden und aus den unterschiedlichsten Ecken der Erde stammten. Einige standen auch in seinem Garten, erklärte er. Er war immer gerne ein Hobbygärtner gewesen und hatte sie regelmäßig beschnitten und gedüngt. Von seinen Reisen hatte er auch Exemplare mitgebracht, die sich nicht im Park befanden.

„Wenn du willst, können wir ein paar ausgraben lassen und hier einpflanzen“, bot Liara ihm an, obwohl sie wusste, dass das gegen die Regel verstieß, ihn vollständig von seiner Vergangenheit abzutrennen.

„Danke, aber es reicht, dass einer von uns mitsamt seiner Wurzeln ausgerissen worden ist“, lehnte Michael ab. „Nicht jeder überlebt eine solche Verpflanzung in fremde Erde.“ Er sah nicht, dass Liara zusammenzuckte und bemerkte auch nicht, dass ihre Gedanken plötzlich weit weg von hier und in einer vergangenen Zeit waren. Dort, wo das Paradies zu sein schien. Es war zur Hölle geworden. Einsam, unerträglich und tödlich. Alles in ihr verkrampfte sich, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Sie brachte kein Wort hervor.

Als keine Antwort kam, schaute Michael sie schräg an. Er missdeutete ihr verkniffenes Gesicht. Statt des erwarteten schlechten Gewissens glaubte er eine abweisende Überheblichkeit darin zu sehen. Er fühlte sich gekränkt, obwohl zuerst er ihr Angebot abgelehnt hatte, von dem er wusste, dass es ein Friedensangebot hatte sein sollen. Es schien ihm der richtige Moment, eine Frage anzubringen, die er sich schon länger stellte. „Was haben Sie mit Aleke gemacht?“

„Aleke?“, presste Liara mühsam hervor.

Er stieß die Luft verächtlich zwischen den Zähnen aus. „Sie kennen nicht einmal den Namen der Menschen, die für Sie arbeiten. Sie ist die Frau, die mein Zimmer saubergemacht hat.“

Seine verbittert klingenden Worte halfen Liara, ihren Schmerz zurückzudrängen. „Ich weiß, wer Aleke ist“, erklärte sie. Eines Tages würde sie sich ihren Erinnerungen stellen müssen.

„Oder wer sie war?“

„Wie bitte?“

„Haben Sie sie selbst entsorgt oder hat das Ihre kleine Schwester für Sie übernommen?“

Sie runzelte die Stirn. „Was soll das heißen.“

„Sie ist sang- und klanglos verschwunden, nachdem sie mit mir gesprochen hat.“

„Sie wollte das. Sie hat mich gebeten, woanders arbeiten zu dürfen.“

„Warum sollte sie das tun? Immerhin verehrt sie Sie und war stolz darauf, in Ihrer Nähe arbeiten zu dürfen.“

„Ich weiß es nicht. Sie war sehr nervös, als sie mich gefragt hat.“ Liara lächelte biestig. „Ich nehme an, sie hat deine Nähe nicht ausgehalten.“

„Ach wirklich?“, ging es gegen seinen Vorsatz, kooperativ zu erscheinen, mit ihm durch. „Soll ich jetzt Mitleid mit Ihnen haben, weil Sie einen Erzeuger für Ihren Bastard aus Mensch, Drache, Wolf und wer weiß was sonst noch brauchen, und deshalb nicht auf meine Nähe verzichten können?“

Michael sah, wie sie die Fäuste ballte und trotz der Kälte rot anlief. Er hatte erwartete, dass sie ihn anschrie, es geradezu erhofft. Aber sie hatte sich im Griff. Ihre Stimme war scharf wie eine Rasierklinge, aber ruhig, als sie sich ihm zuwandte. „Es wird auch dein Kind sein. Das solltest du nicht vergessen.“

„Dazu braucht es allerdings einen gewissen Zeugungsakt, an dem Sie aber offensichtlich nicht mehr interessiert sind.“

„Bedauerst du das?“

Er schaffte es einfach nicht, sie aus der Reserve zu locken. Sie war so kalt wie Neptun und ihre Seele musste so dunkel sein wie das Weltall dort. Aber er wollte seine eigene Wut und Verzweiflung in ihrem Gesicht widergespiegelt sehen, obwohl er wusste, dass er damit seine Maske fallenließ.

„Bedauern? Pah. Keineswegs. Aber ich befürchte, Sie werden mich trotzdem wieder zu sich rufen.“

Aus ihren Augen schossen grüne Blitze. „Ich werde dich nur dann wieder zu mir rufen, wenn du mich darum bittest.“

„Das werde ich nie!“

„Du wirst tun, was ich will.“

„Wollen Sie denn, dass ich Sie darum bitte? Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Sehnsucht nach mir haben.“

„Wollen? Dich? Das kann nicht dein Ernst sein. Es ist eine Pflicht für mich. Sonst nichts. Bilde dir nicht zu viel ein.“

„Dann sind wir uns ja einig. Lassen wir es einfach sein und ich kann gehen. Ich werde es freiwillig jedenfalls nicht noch einmal mit Ihnen tun.“ Er wusste, wie unwahr seine Worte waren. Wenn sie es gewollt hätte, wäre er auf der Stelle bereit gewesen, seine Aufgabe zu erfüllen, oder wie auch immer sie es nennen mochte.

„Ob du es tun willst oder nicht, ist letztendlich egal. Wir haben Mittel und Wege zu bekommen, was wir brauchen. Soll ich dir ein paar Bücher darüber besorgen? Fehild wird sich freuen, ein paar neue Sachen an dir ausprobieren zu können. Dass du es mögen wirst, wenn sie dich an deiner intimsten Stelle mit Reizstrom behandelt, wage ich allerdings zu bezweifeln.“

Er hatte sie in Rage bringen wollen. Stattdessen hatte er ein Eigentor geschossen. Jetzt ließen ihre brutalen Worte seinen Zorn explodieren. „Du bist so erbärmlich, wenn deine kleine Schwester nicht hinter dir steht.“ Er ließ sie stehen und ging so schnell ins Haus, dass seine Bewacher kaum mitkamen.

Neuns Beleidigung hatte Liara die Sprache verschlagen. Nicht einmal so sehr seine Worte, deren Unverschämtheit allein schon ans Uferlose grenzte, sondern vor allem die Bitterkeit, die sie darin gehört hatte.

Es ist der Lagerkoller, sagte sie sich. Erneut kamen die schmerzhaften Erinnerungen mit voller Wucht hoch und trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie schluckte krampfhaft.

Aber die Erinnerungen ließen sich nicht verdrängen und sie mahnten Liara, nicht den gleichen Fehler zu begehen, der schon einmal tödlich geendet hatte. Sie wusste, Neun hielt es genauso wenig wie ein Tiger im Käfig aus, so lange untätig und eingesperrt zu sein. Sie musste etwas dagegen tun.

Er saß vor Wut kochend in seinem Zimmer. Sicher hatte Liara den Walküren befohlen, ihn zu holen und in der Zelle schmoren lassen. Er bedauerte trotzdem nicht, was er gesagt hatte, und er würde ihnen nicht die Freude machen, sich zu wehren oder reumütig um den Erlass seiner Strafe zu betteln.

Die Zeit schlich dahin. Der Auftritt der Walküren blieb aus. Liara machte sich anscheinend nicht einmal mehr die Mühe, ihn zu bestrafen. Eine Schreibtischlampe bezahlte für seine Wut und Enttäuschung mit ihrem Leben. Er betrachtete die Scherben des Lampenschirms und die herausgerissene Steckdose mit Genugtuung und bedauerte, keinen Vorschlaghammer zur Hand zu haben.

Als die Tür aufging, drehte er sich nicht um, obwohl er wusste, dass es Liara war. „Neun?“

Er antwortete nicht.

„Du wirst zweimal in der Woche laufen können. Draußen. Fehild wird dich begleiten.“

Er antwortete immer noch nicht, weder mit einer Geste noch mit einem Wort oder Blick. Sie ging.

 

4. Begierden

Fehild bahnte sich ihren Weg durch die johlende und tobende Menge. Schrille Farben, unmelodische Geräusche, wilde Gesänge, lautes Trommeln. Menschen stießen gegen sie, ohne sich zu entschuldigen. Der Geruch von Alkohol lag in der Luft.

Sie fand ihren Weg trotzdem. Niemand war ihr gefolgt. Und wenn doch, hatte er sie spätestens hier aus den Augen verloren, obwohl sie als eine der wenigen Normalen inmitten dieses chaotischen Festes der Eingeborenen auffiel.

Sie fand die überfüllte Kneipe auf Anhieb. Niemand beachtete sie, als sie sich ganz nach hinten durchquetschte.

Er war schon dort. Sie lächelte hämisch, als sie ihn sah. Er hatte Hofintrigen überlebt oder selbst geschmiedet und war im Krieg jeder gegen jeden alles andere als untätig gewesen. Seine Ausbildung und sein Wille ließen ihn in Situationen überleben, die für alle anderen hoffnungslos waren. Er kannte kein Mitleid und keine Skrupel, wenn es um seinen Vorteil ging. Jetzt sah sie, dass er mit den Nerven am Ende war.

„Was ist das hier“, fragte er, kaum dass er sie sah.

„Die Einheimischen nennen es Karneval.“

„Ist es ansteckend?“

„Hochansteckend. Die meisten hier werden einmal im Jahr davon befallen.“

„Ist es gefährlich?“

„Viele müssen ins Krankenhaus, manchmal sterben ein paar.“

„Ist es heilbar.“

„Ja.“

„Wie?“

„Es verschwindet von selbst wieder.“

„Wann?“

„Es läuft in verschiedenen Phasen ab. Die heutige wird Rosenmontag genannt. Danach klingt es ab und übermorgen ist es vorbei.“

„Werde ich auch von diesen Wahnsinn befallen werden?“

„Nein. Ich denke, Sie gehören zu denjenigen, die dagegen immun sind.“

„Sind Sie es auch?“, fragte er erleichtert.

„Ja.“

Sie hatten Mühe, gegen den Lärm anzureden. Ihre Münder und Ohren waren dicht beieinander. Kein Richtmikrophon hätte dazwischen dringen, niemand im dämmrigen Licht von ihren Lippen ablesen können. Selbst wer einen einen zweiten Blick auf sie warf, sah nichts anderes als zwei frisch Verliebte, die einander frivole Worte ins Ohr flüsterten.

Ihr Vorhaben nahm feste Formen an. Pläne wurden übergeben, Ort und Zeit abgestimmt. Sie verlangte von ihm, ihr Neun zu überlassen.

 

Statt ihn zu bestrafen, sorgte Liara zu seiner Überraschung tatsächlich dafür, dass er zweimal wöchentlich in einer einsamen Gegend laufen konnte. Es war eine hügelige Heidelandschaft, übersichtlich und kaum besucht. Früher einmal hatten Panzer den Heidesand durchpflügt, jetzt aber hatte man hier die Nachzucht von irgendwelchen Steinzeitrindern angesiedelt. Trotz ihres zottigen Fells und der riesigen Hörner, die ihnen ein urtümliches Aussehen verliehen, weideten sie friedlich hinter Zäunen und hoben kaum den Kopf, wenn er vorbeilief.

Sein Blick fiel auf einen Stier. Man hatte auch ihn in die Heide transportiert, eingepfercht, und er diente dem gleichen Zweck wie er. Allerdings schien der Stier mit seinem Leben zufrieden zu sein.

Zwei Männer fuhren ihn jedes Mal in einem Wagen mit geschwärzten Scheiben dorthin. Fehild saß neben ihm auf dem Rücksitz. Die Fahrt dauerte über eine Stunde und die Hintertüren waren nur von außen zu öffnen. Es gab keine Möglichkeit, während der Fahrt zu flüchten oder sich bei Passanten bemerkbar zu machen.

Fehild begleitete ihn beim Laufen. Seine Wut trieb ihn voran. Er rannte los wie ein Pferd, das im Frühling zum ersten Mal auf die Weide gelassen wird, nur dass er von einer Furie gehetzt wurde.

Auf dem Rückweg zum Auto bremste ihn das Wissen, dass er in sein Gefängnis zurückkehren musste. Seine Füße wurden mit jedem Schritt schwerer. Wenn er langsamer wurde, spornte eine Geste, ein Blick oder ein Wort von Fehild ihn wieder an. Er wusste, wenn sie Liara berichtete, er mache Zicken, wäre es das letzte Mal, dass man ihn laufen ließ.

Michael war erstaunt, wie gut Fehild mithielt. Eigentlich war sie sogar ausdauernder und schneller als er. Es machte ihr Spaß, ihm ihre Überlegenheit zu beweisen. Wenn sie in den Tagen danach aufeinander trafen, erkundigte sie sich schadenfroh nach seinem Muskelkater.

Liara hatte ihm erklärt, welche Folgen ein Fluchtversuch für ihn hätte. Fehild würde in aufhalten und seine anderen Bewacher waren nie weit. Sie konnten ihn jederzeit ins Auto zerren. Er könne sich danach jede Freiheit – er nannte es für sich selbst Hafterleichterung – abschreiben, man werde ihn in der Zelle halten wie ein Tier. Selbst wenn der Versuch gelänge, wäre er dank des Senders im Armreifen schnellstens wieder in ihrer Hand. Auch Personen, denen er sich anvertraut hätte, müssten die Folgen seines Fehlverhaltens tragen.

So verhielt er sich, wie es von ihm verlangt wurde, in der Hoffnung, dass die Wachsamkeit seiner Aufpasser doch einmal nachließe. Immerhin konnte er zweimal wöchentlich vom Auto aus die Landschaft an sich vorübergleiten sehen und sich in der Natur bewegen. Trotzdem hatte er oft das Gefühl, kurz vor vor einer Explosion zu stehen.

Sie fuhren auf unterschiedlichen Strecken, sowohl in die Heide als auch zurück. Nur die letzten Kilometer waren immer gleich. Er fragte nicht warum, es lag einfach an ihrem pathologischen Verfolgungswahn.

Fehild hatte ihn wieder einmal durch den Sand gehetzt. Er war verschwitzt und erschöpft. Diesmal fuhr der Wagen sogar noch auf den letzten Kilometern einen anderen Weg. Ein anderer Stadtteil. Andere Straßen. Bekannte Straßen. Sein Stadtteil. Seine Straße.

Sein Herz raste plötzlich schneller als bei seinem heutigen Lauf. Das Auto näherte sich seinem Haus und hielt dann in der Einfahrt. Er fühlte eine wahnsinnige Hoffnung in sich aufkeimen. Sie zerstob ins Nichts, als er versuchte, die Tür zu öffnen. Es ging nicht. Er riss an dem Griff. Schließlich gab er es auf. Wutentbrannt starrte er Fehild an.

Sie saß genüsslich zurückgelehnt neben ihm und lächelte ihn süffisant an. „Du Narr“, war alles, was sie sagte. Auf ein Zeichen von ihr fuhr das Auto wieder los. Er verdrehte sich den Hals, bis er sein Haus nicht mehr sehen konnte. Sein Hass auf Fehild war stärker als sein Schmerz.

Später erinnerte er sich, dass der Vorgarten nicht verwahrlost war. Alles war gepflegt. Es schien, als wohne jemand in seinem Haus, aber das war definitiv nicht er. Die Suche nach ihm war aufgegeben worden, falls man überhaupt einmal nach ihm gesucht hatte.

In den nächsten Tagen schlief er schlecht. Er nahm ab.

 

Inzwischen ärgerte es ihn maßlos, dass Fehild ihn beim Laufen immer noch ihren Staub schlucken ließ. Natürlich nur bildlich gesprochen, denn sie ließ ihn keinen Moment aus den Augen und hätte es nie zugelassen, dass er hinter ihr her lief.

Er nahm sich vor, den Kampf mit ihr aufzunehmen. Jedenfalls was das Laufen anging. Ihm war klar, dass sie bei fast allen anderen körperlichen Auseinandersetzungen immer die Siegerin bliebe. Mehrmals wöchentlich, wenn er wusste, dass Liara nicht dort war, nutzte er den Fitnessraum.

 

Draußen war es dunkel geworden. Liara hatte ihr Haus schon vor Stunden verlassen, ohne ihm mitzuteilen, wie lange sie abwesend wäre. Er rechnete nicht mehr mit ihrer Rückkehr. Auch im Haus war es dunkel, nur im Fitnessraum brannte Licht. Nichts außer seinem keuchenden Atem und dem monotonen Geräusch des Crosstrainers war zu hören. Die Anstrengung trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Er hörte weder ihre Schritte noch bemerkte er, dass sie im Türrahmen stehen blieb und ihn beobachtete, wie sonst er sie.

Ihre Augen glitten über ihn. Sein durchgeschwitztes ärmelloses Shirt klebte auf seiner Haut. Als er sich das feuchte Haar aus der Stirn strich, traten die Muskeln an seinem Arm hervor. Sein Handtuch fiel auf den Boden. Er hob es auf. Sie starrte seinen Hintern an, als hätte sie noch nie einen gesehen. Er hätte damit Werbung für Toilettenpapier machen können. Ohne sie zu bemerken, richtete er sich auf. Der Geruch seines Körpers drang in ihre Nase und weckte Erinnerungen. Fast hätte sie laut eingeatmet und sich verraten.

Er macht nur Sport, redete sie sich selbst gut zu. Aber vor ihren Augen tauchten andere Bilder auf. Sie fühlte wieder seinen Körper auf dem ihren liegen, seine Bewegungen. In ihrer Körpermitte war eine sehnsüchtige Leere. Irritiert schüttelte sie den Kopf, um diese unpassenden Gedanken und Gefühle zu vertreiben.

Aber sie ließen sich nicht vertreiben. Auch nicht, als man sie am folgenden Morgen in die Stadt chauffierte. Nicht einmal, als sie über wichtige Geschäfte redete. Selbst dem Bankier, einem langjährigen Geschäftspartner ihrer Familie, fiel ihre mangelnde Konzentration auf. Das war unüblich für sie, die sonst immer so exakt funktionierte wie die Schweizer Uhr an seinem Handgelenk.

Auf der Rückfahrt saß sie im Fond und dachte nach. Neun war intelligent und schlagfertig. Sie hatte immer kluge Männer bevorzugt. Selbst mit Egmont hätte sie sich trotz seines guten Aussehens niemals eingelassen, wenn er oberhalb seiner hübschen Nase nur Stroh gehabt hätte. Aber sie fühlte sich nicht nur von Neuns Kopf angezogen, sondern auch von seinem Körper. Und das so stark, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. So einfach war das, und so kompliziert.

Seine Unverschämtheiten und sein mangelnder Respekt brachten sie in Rage, aber sie erregten sie auch weitaus mehr als jede Unterwürfigkeit. Es half nichts, sich etwas anderes vorzumachen. Bei ihrer Erziehung hatte man von klein auf versucht, ihr alles außer Pflichtbewusstsein, Treue und Vernunft auszutreiben. Neben ihm aber fühlte sie sich zum ersten Mal seit sie denken konnte nicht nur für ein kurzes Feuerwerk lebendig, sondern in jedem wachen Moment – und, wenn sie an ihre Träume dachte, auch sonst.

In seiner Gegenwart brannte sie, wenn nicht vor Leidenschaft, dann vor Wut. Sie liebte es zu brennen. Es war das Erbe der Liaden, der Drachen, das aus ihr hervorbrach, und das ihre Faszination für das Feuer erklärte. Und bei all dem sehnte sie sich danach, ihm einfach nur nahe zu sein, seine bloße Gegenwart in aller Ruhe zu spüren und zu genießen, ohne Zwist und ohne böse Worte auszutauschen. Kleine, vertraute Berührungen; Worte, die für kein fremdes Ohr bestimmt sind.

Müde drückte sie ihre Stirn gegen das Fenster. Die winterliche Landschaft wurde mit dem Einfall der Dämmerung noch trister. Sie wollte ihn schützen, vor ihrer Schwester und vor dem, was sie selbst ihm antat. Dabei hatte sie nie den geringsten Zweifel daran gehabt, dass sie das Richtige für ihre Gemeinschaft und für ihre Heimatwelt tat. Sie musste ihre Pflicht erfüllen, und er seine Aufgabe. Nur fühlte sich das Richtige so falsch an. So einfach war auch das, und so kompliziert.

 

In der Nacht hatte sie schlecht geschlafen. Sogar der ganze folgende Tag war verdorben gewesen. Und Neun war schuld daran: Sie hatte jede Minute unter einer unerträglichen Spannung gestanden, er hatte alle ihre Gedanken durcheinandergebracht. Es war bereits zwei Tagen her, dass sie ihn im Fitnessraum beobachtet hatte, aber immer noch spukten die Bilder in ihrem Kopf herum.

Jetzt war es schon spät. Sie ließ ihn zu sich in ihr Schlafzimmer rufen. Er kam und sah sie misstrauisch an. „Haben Sie heute wieder einen Ihrer fruchtbaren Tage?“

Ihr Miene versteinerte sich. „Nein.“

„Sie hatten mir versprochen, mich erst wieder zu sich zu rufen, wenn ich Sie darum bitte. Das habe ich aber nicht getan. Was also kann ich sonst noch für Sie tun?“

Wider alle Vernunft hatte sie gehofft, er freue sich, zu ihr gerufen zu werden. Aber sie sah nur Kälte und Abwehr in seinem Gesicht. Die Enttäuschung bohrte sich wie ein Dolch in ihre Eingeweide „Geh“, sagte sie hart.

Er kehrte auf sein Zimmer zurück, verwundert über die kurze Szene, die sich gerade abgespielt hatte. Wider aller Vernunft hatte sein Herz schneller geschlagen, als Liara ihn zu sich gerufen hatte. Er hatte das aufkeimende Gefühl von Freude abgewehrt, um sich eine Enttäuschung zu ersparen. Anscheinend hatte er damit richtig gelegen. Sie hatte ihn wohl nur um ihre Zuwendung betteln sehen wollen, dieses kalte Biest. Aber diese Freude hatte er ihr nicht gemacht. Frauen, dachte er. Sprunghaft und egoistisch. Da sollte Mann sich über nichts wundern.

Er sah noch ein wenig fern und ging dann ins Bett. Der Schlaf wollte nicht so kommen wie sonst. Die Szene mit Liara ging ihm nicht aus dem Kopf. Er war trotz seiner schon vorher negativen Erwartung so verdammt enttäuscht gewesen, als sie ihn wieder weggeschickt hatte.

Plötzlich wurde die Tür schwungvoll geöffnet. Das Licht flammte auf. Er fuhr hoch. Liara stand nur mit einem kurzen, durchscheinenden Nachthemd bekleidet neben seinem Bett. „Rutsch rüber.“

„Wie bitte?“ fragte er verwirrt, ohne aber den Blick von dem lösen zu können, was sich durch den dünnen Stoff ihres Nachthemdes abzeichnete.

„Rutsch rüber“, vernahm er erneut ihre Stimme über sich. Sie war eindeutig ungeduldig.

Er rutschte auf die andere Bettseite. Liara zögerte noch einmal kurz, als würde sie darüber nachdenken, ob sie das Richtige tat. Sie sah in sein Gesicht. Als sie nur Verwunderung, aber keine Abwehr darin sah, legte sie sich kurzerhand neben ihn ins Bett. Sein Gewicht hatte eine Kuhle in die Matratze gedrückt, die sie zu ihm zog wie ein schwarzes Loch das Licht. Ihre Haut glühte vor Verlangen. Sie streckte einen Arm aus und löschte das Licht. Michaels Zimmer lag im Halbdunkeln.

Er war überrascht, aber sein Körper reagierte äußerst erfreut. Trotz Liaras abweisendem Verhalten in ihrer ersten Nacht wagte er es, seinen Arm um ihre Taille zu legen. Sie stieß in nicht zurück. Mutiger geworden zog er sie an sich. Sie wehrte ihn nicht ab, sondern drückte sich sogar fest an ihn. Ihre Beine rieben sich an seinen. Er hob eine Hand und strich durch ihr Haar. Selbst im Halbdunkeln lockte ihr Mund. Er legte seine Lippen auf ihre und erwartete ihre Abwehr. Selten hatte er sich so sehr getäuscht. Ihre Zunge schoss vor und eroberte seinen Mund mit dem Hunger der vergangenen Wochen. Seine Hand umfasste ihre Brust. Durch den dünnen Stoff des Nachthemdes spürte er ihre harte Brustwarze. Ein Zittern durchlief sie, als er darüber strich.

Trotz seiner aufgestauten Begierde und seiner Erregung wollte er sich und ihr Zeit lassen. Doch er hatte nicht mit ihr gerechnet. Sie setzte ihren Überfall gnadenlos fort. Ihre Hand tastete besitzergreifend nach seiner Körpermitte und fand erfreut, was sie dort suchte. Er war hart und bereit für sie.

Ihr war nicht nach einem langen Vorspiel. Sie legte sich auf den Rücken und zog ihr Nachthemd hoch. Seine Hand tastete über ihren Bauch, ihre Brüste und ihre Scham. Diesmal, so wusste er, war dort unten kein Gleitgel, sondern nur eine Feuchtigkeit, die ihrer Leidenschaft entsprang. Dann verließen ihn seine Gedanken. Sein Verstand wahr lahmgelegt. Er legte sich auf sie und spürte, wie sie ihm fordernd entgegenkam. Sie nahm ihn in sich auf. Ihre Scheide umhüllte sein Glied samtweich und fest und massierte es bei jeder ihrer Bewegungen. Er griff nach dem Ausschnitt des Nachthemdes und zog daran. Kaum nahm er das Reißen des Stoffes wahr, da boten sich ihre Brüste seinen Blicken und Lippen dar. Er legte seine Hände um die Rundungen, während er sich in ihr bewegte. Seine Zunge fuhr über ihre Brustwarze. Sie war so hart wie sein Glied in ihr. Ihre Bewegungen wurden heftiger, ihre Finger rissen an seinen Haaren. Er hob den Kopf. Ihr Mund war weit offen und sog die Luft, die eben noch in ihm gewesen war, tief in sich ein. Sie atmete seinen Geschmack und er berauschte sie. Die Lichtjahre zwischen ihnen schmolzen zu einem Nichts zusammen. Es gab keine Gemeinschaft, keinen weit entfernten Planeten, keine Pflichten und keine Aufgabe mehr, nur noch Fühlen, Schmecken, Hören, Sehen und Riechen. Ihn in seiner ganzen Männlichkeit auf sich und in sich zu spüren, entfachte die Glut des Drachen gepaart mit dem archaischen Instinkt des Wolfes in ihr. Als sie kam, krallten sich ihre Finger in die Haut seiner Brust. Er fühlte den Schmerz kaum, aber er erregte ihn noch mehr. Als er sich in sie ergoss, floss alles Leid der letzten Monate aus ihm heraus, aller Hass war vergessen.

Bevor er wusste, wie ihm geschah, war sie aus dem Bett gesprungen und aus seinem Zimmer verschwunden. Nur noch ihre nackten Füße waren auf dem Boden des Flurs vor seiner Tür zu hören. Er lauschte in die Dunkelheit, bis nichts mehr von ihr zu hören war. Ihr Duft war noch in seinem Bett und auf ihm. Er duschte nicht, wollte ihn nicht abwaschen.

 

Sie hielt sich tagelang von ihm fern. Die Nächte verbrachte sie außerhalb ihres Hauses, ihrer sonst Sicherheit spendenden Burg. Es fiel ihr schwer, an etwas anderes als Neun zu denken. Sie wollte es nicht, aber er nahm fast jeden ihrer Gedanken ein. Seine Nähe fehlte ihr, sein Lächeln und sogar seine Aufsässigkeit. Er gehört mir, sagte sie sich, ich kann ihn mir nehmen, wann und so oft ich will. Es ist sogar meine Pflicht. Aber sie wusste, sie war auf dem Weg, die Kontrolle über sich zu verlieren. Ihre Schwester hatte Recht gehabt. Er war gefährlich, wenn auch anders als Fehild dachte. Nicht Neun verriet sie, sondern ihr Körper und ihr Herz, und sie taten es mit einer unfassbaren Hemmungslosigkeit.

Sie hatte sich entschieden, in ihrem Haus zu übernachten und kehrte am Abend zurück. Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, ließ sie Neun zu sich in den Speiseraum kommen. Sie hatte Appetit, wenn auch nicht so sehr auf das Essen. Voller Ungeduld wartete sie auf ihn.

Bei seinem Eintritt schaute sie ihm erwartungsvoll entgegen. Er trat vor sie und begrüßte sie natürlich ohne die angemessene Verbeugung.

„Ich wollte mit dir zu Abend essen“, erklärte sie und setzte sich hin. Er tat es ihr mit einem zurückhaltenden Nicken nach. In seinen Zügen waren weder Trotz noch Vorwurf zu sehen, aber auch keine Freude. Ihre Anwesenheit erzeugte im Gesicht eines jeden Menschen eine Reaktion. Seines jedoch war kalt und unbewegt. Sie fühlte, wie sich ihr Magen zusammenzog.

Das Essen wurde aufgetragen. Liara versuchte trotz ihrer Enttäuschung ein Gespräch in Gang zu bringen. Er antwortete höflich, aber unbeteiligt. Vielleicht versuchte er, sie für ihre lange Abwesenheit zu bestrafen. Es stand ihm nicht zu.

Ihre Enttäuschung wuchs mit jeder Minute. Schließlich gab sie es auf und sie saßen sich für den Rest der Mahlzeit schweigend gegenüber. Als sie fertig waren, erhob sie sich und warf die Serviette auf den Tisch. Ohne sich umzublicken, ging sie wortlos aus dem Raum. Sie dachte an ihr Gespräch mit Edigna. Ihre vordringlichste Pflicht zu erfüllen und das Erbe ihrer Familie zu erhalten, gestaltete sich schwieriger, als sie gedacht hatte. Dieser verdammte Dickschädel!

Später saß sie an ihrem Toilettentisch und löste ihre schulterlangen Haare. Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild. Sie wusste, dass sie gut aussah. Nicht so schön und exotisch wie ihre Schwester, aber sie hatte schon manchem Mann den Kopf verdreht. Jetzt blickten ihre Augen traurig zurück. Ausgerechnet der Mann, den sie brauchte, sowohl als Reichsherrin, als auch als Frau, verweigerte sich ihr.

Immer noch war da das Gefühl einer Leere in ihrer Körpermitte, wenn sie an ihn dachte.

Sie hatte nie gelernt, um einen Menschen zu werben oder einen Mann für sich zu gewinnen. Es wäre ihrer Stellung nicht angemessen gewesen und die Männer waren auch immer auf sie zugekommen, um sie zu erobern. Wahrscheinlich hatte sie bei Neun alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Sie presste die Lider fest aufeinander und öffnete sie auch nicht, als sie das Öffnen der Zimmertür und leise Schritte hinter sich hörte. Es musste eine ihrer Dienerinnen sein, die gekommen war, um sie für die Nacht vorzubereiten. Die Person blieb hinter Liara stehen und streckte einen Arm aus. Sie sagte nichts. Die Hand griff nach der Bürste, die auf dem Toilettentisch lag.

Der Geruch eines männlichen Aftershaves drang in Liaras Nase. Es war ihr gut bekannt. Abrupt öffnete sie Augen und drehte den Kopf um. Neun stand hinter ihr. Sie zuckte zusammen.

„Habe ich Sie erschreckt?“, fragte er mit ruhiger und tiefer Stimme, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken und ein Stechen durch ihren Unterleib jagte.

„Nein“, antwortete sie, obwohl augenscheinlich das Gegenteil der Fall war, und drehte ihr Gesicht wieder dem Spiegel zu. Ihre Augen fanden die seinen.

Er stand dicht hinter ihr. Sie spürte ihn, obwohl sie sich nicht berührten. Unter dem Aftershave nahm sie den Duft seiner Haut wahr. Erinnerungen kamen hoch. Seine Umarmungen, seine Berührungen, er in ihr. Sie schluckte.

Er legte seine freie Hand auf ihren Scheitel. Mit der anderen begann er, sie vorsichtig zu bürsten. Sie ließ es zu, anfangs unsicher. Es war das erste Mal, dass jemand anderer als früher ihre Erzieherinnen und jetzt eine ihrer Dienerinnen so etwas tat.

Ihre ganze Kopfhaut begann zu prickeln. Sie fühlte seine Wärme. Das Prickeln setzte sich bis in ihren Nacken fort. Die feinen Haare dort stellten sich auf. Ihr Atem ging tief und langsam.

Als er sicher war, dass sich keine Knoten in ihren Haaren befanden, nahm er die Hand von ihrem Scheitel und seine Bewegungen wurden kräftiger. Sie schloss wieder die Augen und genoss seine Zuwendung. Jedes Mal, wenn die Bürste durch ihr Haar fuhr, jagte ein wohliger Schauder ihren Rücken hinunter bis zu ihrem Po. Keiner von ihnen redete. Jeder genoss die Nähe des anderen.

Mit Enttäuschung nahm sie wahr, dass er die Bürste zurück auf den Toilettentisch legte. Sie hätte stundenlang so hier sitzen können. Doch dann legte er die Hände um ihren Kopf und strich mit den Fingern durch ihr Haar. Ein Seufzer löste sich aus ihrem Mund. Auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut. Sie spürte, dass auch er es genoss, wenn ihr Haar wie seidiger, reifer Weizen durch seine Finger glitt.

Er fasste ihre Haare und bog ihren Kopf zurück. Seine Lippen waren dicht über ihren. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut. Ihr Mund öffnete sich.

Die Tür wurde aufgerissen. Erschreckt fuhren sie hoch und drehten sie sich um. Fehild stürmte das Zimmer.

„Ich muss dich sprechen, Liara. Sofort!“ Ihr Blick auf Michael zeigte deutlich, wie sehr sie seine Anwesenheit missbilligte. Mit einer Handbewegung wollte sie ihn aus dem Raum scheuchen.

„Er kann bleiben“, ordnete Liara zu ihrer beider Überraschung an.

Fehild sortierte ihre entglittenen Gesichtszüge. Jetzt war nicht die Zeit, etwas gegen ihn zu unternehmen. Sie würde diese lästige Filzlaus später zerquetschen. „Egmont ist ins Krankenhaus eingeliefert worden“, verkündigte sie.

Liara sprang auf. „Was ist passiert?“

„Er ist mal wieder zu schnell gefahren und mit seinem Auto in den Gegenverkehr geschleudert.“

„Verdammt. Dabei hatte ich ihm so oft verboten, sich auffällig zu verhalten. Ist er verletzt?“

„Ja. Aber er wird es überleben.“

„Hat es weitere Verletzte gegeben?“

„Nur das Übliche. Ein paar Schleudertraumen.“

„War er betrunken?“

„Ausnahmsweise wohl nicht.“

„Es wird trotzdem Ermittlungen geben?“

„Ja.“

„Verdammt.“

Michael staunte über die Inbrunst, mit der Liara geflucht hatte.

„Egmont wird so bald wie möglich zu uns verlegt werden“, erklärte Fehild dagegen überraschend beherrscht. Michael konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie nur mit Mühe eine boshafte Schadenfreude unterdrücken konnte. „Unsere Anwälte sind informiert“, fuhr sie fort. „Das Schmerzensgeld, das wir den Verletzten zahlen, wird sie wie üblich besänftigen und keiner wird seinem Auto nachweinen.“

„Er wird wissen, was auf ihn zukommt, und versuchen, es abzuwenden. Wenn er im Krankenhaus redet, werden wir wirklich Probleme bekommen“, überlegte Liara.

„Falls er sich tatsächlich traut, einen Verrat zu begehen, wird man es für das wirre Gequatsche nach einem Unfall halten. So was kommt vor.“

„Er ist trotzdem ein Sicherheitsrisiko.“

„Das war er schon immer. Ungehorsam und unzuverlässig. Ich werde ihn im Krankenhaus aufsuchen und ihn bei erster Gelegenheit daran erinnern, was passiert, wenn er redet oder versucht, sich abzusetzen.“

„Gut.“

„Er hätte niemals eine solche Verantwortung tragen dürfen“, sagte Fehild vorwurfsvoll.

„Ich weiß.“ Liara zuckte verärgert mit den Schultern. „Aber seit Gerleifs plötzlichem Tod ist er der Einzige, der das Schiff warten kann. Ich hatte keine Wahl.“

Michael horchte auf. Was für ein Schiff? Anscheinend war es wichtig für die Gemeinschaft. Vielleicht lag es unten im Hafen und Liara würde damit bei gutem Wetter einen Ausflug mit ihm machen. Er war schon immer ein hervorragender Schwimmer und Taucher gewesen. Vielleicht gelänge es ihm zu fliehen, auch wenn er jetzt zwangsläufig etwas außer Übung war.

„Wir brauchen möglichst schnell einen anderen Ingenieur“, sagte Fehild nachdenklich.

„Ja. Aber den muss Egmont erst ausbilden, bevor wir ihn ausschalten. Am besten sogar zwei, damit uns so etwas nicht noch einmal passiert. Die volle Funktionsfähigkeit des Schiffes muss unbedingt gesichert sein.“

„Wenn er weiß, welche Probleme auf ihn zukommen, wird er wohl kaum ein bereitwilliger Lehrmeister sein“, gab Fehild zu bedenken.

„Was seine Bereitwilligkeit angeht, bin ich mir sicher, dass du Mittel und Wege kennst, um ihn davon zu überzeugen, seine Pflicht zu erfüllen. Er kann seine Situation nur noch verbessern.“

„Und danach?“

„Er wird den Hangar beziehungsweise seine Zelle nicht mehr lebend verlassen. Er hat meine Nachsicht einmal zu viel herausgefordert. Ich dulde nicht, dass er die Gemeinschaft noch einmal gefährdet.“

„Sollte es zu Äußersten kommen, werde ich das übernehmen“, erklärte Fehild. Sie wusste, wie sehr sie ihre Schwester von sich abhängig machte, indem sie Drecksarbeit für sie erledigte. Dabei fiel ihr das nicht einmal sonderlich schwer.

Bei Egmont wäre es ihr sogar eine besondere Freude. Er hatte versucht, sich auch an sie ranzumachen. Zugegeben, er sah gut aus und konnte ausgesprochen charmant und unterhaltsam sein. Aber er hatte auch durchblicken lassen, sie solle ihm dankbar dafür sein, dass er sich überhaupt für sie interessiere. Es war unglaublich, wie eingebildet er gewesen war. Als sie ihm klargemacht hatte, dass sie ganz bestimmt nicht daran dachte, sich mit dem abgelegten Liebhaber ihrer Schwester einzulassen, war sein ganzer Charme schlagartig in sich zusammengefallen. Er hatte ihr gedroht, sie werde noch zu ihm angekrochen kommen und um seine Liebe betteln. Wenn er zu diesem Zeitpunkt nicht noch unter dem Schutz ihrer Schwester gestanden hätte, wäre der jetzige Vorfall gar nicht erst passiert. Er hätte keine Gelegenheit mehr dazu gehabt. Nun, das, was sie jetzt mit ihm machen würde, wenn Liara ihn ihr erst einmal überließ, wäre die Generalprobe für das Vergnügen, das Neun ihr bereiten sollte.

Die beiden Frauen verließen den Raum, während sie das weitere Vorgehen besprachen. Sie achteten nicht auf Michael. Er blieb zurück, bis sie außer Hörweite waren, um sie nicht an seine Anwesenheit zu erinnern.

Liara war immer bemüht gewesen, ihre Leute zusammenzuhalten. Nur wenige hatten versucht, sich abzusetzen. Sie stellten mit ihrem Wissen eine Gefahr für die Gemeinschaft dar. Wenn es notwendig gewesen war, hatte Liara die Abtrünnigen an ihren Eid und ihre Verantwortung erinnert oder ihnen gedroht. Selten hatte das alles nicht geholfen und es waren auch härtere Maßnahmen nötig gewesen. Neun war nicht der Erste, der eine gewisse Zeit in der Zelle verbracht hatte. Ein paar Tage in völliger Dunkelheit hatte auch die widerspenstigsten überzeugt, dass Verrat nicht geduldet wurde. Die Gemeinschaft durfte nicht auseinanderfallen.

Es war schon jedes Mal schrecklich gewesen, jemanden, mit dem man so eng verbunden gewesen war wie den Mitgliedern der Gemeinschaft, durch Alter, Unfall oder Krankheiten zu verlieren. Bisher hatte sie noch keinen ausschalten lassen müssen, aber allein der bloße Gedanke daran bereitete ihr Bauchschmerzen. Jetzt hoffte sie nur noch, dass Egmont sich als kooperativ erweisen würde und sie nicht bis zum Äußersten gehen musste. Im Gegensatz zu ihr hätte Fehild keine Gewissensbisse dabei, ihn bis aufs Blut leiden zu lassen und dann zu entsorgen.

Michael war wie vom Donner gerührt, als er sich das Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Fehilds Stimme war nicht eiskalt gewesen, als sie angeboten hatte, sich um Egmont zu kümmern, vielmehr hatte er eine Leidenschaft darin gehört, die todbringender war als Gift. Aber ihm war mit einem Mal auch klar geworden, dass Liara genauso hart sein konnte wie Fehild, wenn das Wohl der Gemeinschaft bedroht war - oder die Funktionsfähigkeit dieses Schiffes.

In der nächsten Zeit wurmte ihn eine Frage: Was hatte es mit diesem geheimnisvollen Schiff auf sich?

 

Verrat ist nicht immer eine Angelegenheit des Willens. Schmerzen des Körpers und der Seele können den Widerstand eines jeden Menschen brechen. Der Spion, den Liara auf die monatelange Reise zu ihrem Heimatplaneten geschickt hatte, war in die Hände der aktuellen Regierung geraten, einer von vielen, die sich in so schneller Folge abgelöst hatten, dass kaum noch einer den Überblick bewahrt hatte. Er war tapfer gewesen und hatte seinen Treueeid lange eingehalten. Dann hatte er geredet.

Man hatte einen anderen zurückgeschickt. Er war verschwiegen gewesen und hatte sich eine große Belohnung und eine glänzende Zukunft erhofft.

Niemand, der nicht direkt an seiner Mission beteiligt war, durfte davon wissen, weder hier noch dort. Kein Mensch sollte an die Existenz einer Familie erinnert werden, die den Planeten über Generationen beherrscht und dem Volk für so lange Zeit Sicherheit und Wohlstand geboten hatte. Ihre Rückkehr musste verhindert werden.

Sie hatten dort eine Schwachstelle aufgetan, wo die Kraft der Liaden am stärksten zu sein schien. Eifersucht und Neid gepaart mit Machthunger erschaffen eine mächtige Waffe, wenn sie von den richtigen Händen geführt wird.

Worte, nicht geflüstert, sondern laut und klar genug ausgesprochen, um deutlich gehört zu werden, hatten Fehilds Ohr erreicht. Endlich hatte sich ihr die Möglichkeit geboten, auf die sie so lange gewartet hatte. Eine schwache Regierung, durch mächtige Feinde und die schwelende Erinnerung an bessere Zeiten von einem baldigen Untergang bedroht, hatte sie um Hilfe angerufen. Sie hatte sie ihnen versprochen, um ihr Versprechen nie einzuhalten. Jetzt war die Zeit reif zu tun, was getan werden musste.

Fehild setzte sich in ihr Auto und fuhr zu ihrem Haus. Als eine der wenigen der Gemeinschaft wohnte sie nicht in einem der ummauerten Bezirke, die über die Erde verstreut waren, und Liaras Anhängern Schutz vor einer ihnen fremden Welt boten – und die verhinderten, dass sie auf dumme Gedanken kamen.

Ein zufriedenes, bösartiges Lächeln umspielte ihre Lippen. Dass Egmont die Gemeinschaft gefährdet hatte, störte sie nicht. Im Gegenteil. Die Angelegenheit beschäftigte Liara, während sie sich in aller Ruhe um dieses arrogante Etwas unten in der Zelle kümmern konnte. Egmont musste für seine Unverschämtheit büßen bis er sie anbettelte – nicht um ihre Liebe, sondern um die Gnade eines schnellen Todes. Und wenn sie erst mit ihm fertig wäre, käme Neun an die Reihe. Liara würde ihn nicht mehr schützen können.

 

Es dauerte nur wenige Tage, bis Michael die Antwort auf seine Frage nach dem Schiff bekam. Liara und Fehild hatten Egmont gemeinsam aus dem Krankenhaus abgeholt, wahrscheinlich, um ihn so einzuschüchtern, dass er ohne Gegenwehr mitkam. Vielleicht glaubten die beiden auch, dass diese ominöse Kraft des Wolfes ihn einlullte. Man hatte ihn ohne viel Federlesens in einer Zelle untergebracht. Michael nahm an, dass es die gleiche war, in der man auch ihn festgehalten hatte.

Nachdem sie Egmont eine Nacht in einer Zelle hatte schmoren lassen, begab Liara sich dorthin. Michael folgte ihr heimlich. Er hatte Mühe nachzukommen, denn er musste den Kameras ausweichen. Glücklicherweise gab es im Haus deutlich weniger als im Park. Anscheinend glaubte man, dass jeder, der gefährlich war, schon im Außenbereich abgefangen werden konnte.

Als Liara den Fahrstuhl nahm, ging er zu der danebenliegenden Tür, die zum Treppenhaus führte. Er hatte es eingedenk des neugierig herumschleichenden Personals und der Kameras bisher nicht gewagt, es zu betreten, um die unteren Bereiche des Hauses zu erkunden. Liaras Warnung hatte ihn davon abgehalten.

Jetzt aber war seine Neugier größer als seine Angst. Man hatte das Treppenhaus nicht abgesperrt. Das Zufallen der schweren Eisentür hinter ihm dröhnte wie Kanonendonner in seinen Ohren. Er zuckte zusammen. Keine Alarmsirenen schrien auf. Er lauschte in die Stille. Keine Schritte. Das elektrische Licht warf harte Schatten. Hastig ging er nach unten. Niemand begegnete ihm.

Man hatte ihn mehrmals mit dem Fahrstuhl befördert. Jetzt folgte er seinem Gefühl und verließ das Treppenhaus auch tatsächlich auf der Ebene, auf der Egmont festgehalten wurde. Immer noch war niemand zu sehen, als er auf leisen Sohlen durch den Flur schlich und sich dabei ängstlich umblickte.

Liara betrat gerade mit einer der ihm wohlbekannten Walküren die Zelle, als er sich in den abgedunkelten Vorraum drückte. Durch den Einwegspiegel sah er den Rücken der Frauen, aber Egmont befand sich außerhalb seines Gesichtsfeldes. Sie bemerkten ihn nicht und Michael konnte durch die unverschlossene Tür das Gespräch dahinter belauschen.

Er wusste, dass er etwas streng Verbotenes tat. Sollte er entdeckt werden, konnte ihn das in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Hände waren feucht.

Er bekam mit, dass Egmont seine Schlüsselkarte, die man ihm erstaunlicherweise noch gelassen hatte, an Liara übergeben musste. Sie verlangte von ihm, ihr die Geheimnummer zu nennen, um gleich überprüfen zu können, ob er ihr nicht bloß eine Nachahmung gegeben hatte. Sie traute ihm offensichtlich nicht.

Egmont flehte Liara an, ihn aus der Zelle zu lassen, er werde dafür alles tun, was sie von ihm verlange. Die Antwort verstand Michael nicht, aber der Ton war so kalt wie eine Winternacht am Nordpol.

Dann hörte er wieder Egmont Stimme. „Bitte, sei nicht so grausam zu mir. Wir waren uns doch mal so nahe.“

„Was bildest du dir ein. Glaubst du etwa, nur weil du ein paar Mal in mein Bett durftest, würde ich dir deinen ständigen Ungehorsam durchgehen lassen?“

„Ich dachte, du hättest mich geliebt.“

Liaras Antwort drang schneidend hart aus der Zelle. „Du bist wirklich verrückt, wenn du so etwas von mir denkst. Ich hatte gerade nichts Besseres zu tun und du warst amüsant. Es war ganz nett mit dir. Zugegeben. Aber mehr auch nicht. Und ganz bestimmt nicht gut genug, damit du es wagen konntest, immer wieder gegen eine unserer wichtigsten Regeln zu verstoßen: Unauffälligkeit.“

„Ich habe der Gemeinschaft immer treu gedient.“

„Solange du einen Vorteil davon hattest. Jetzt wirst du tun, was ich von dir verlange, ansonsten …“ Sie ließ den Satz unvollendet. Egmont hatte sicher genug Fantasie, um sich unschöne Dinge auszudenken. Liara sah es jetzt schon seinem Gesicht an. Panik stand darin. Fehild musste nur noch ein wenig nachhelfen und er würde bereitwillig alles tun, was sie von ihm verlangten.

Michael hatte genug gehört und zog sich hinter die nächste Ecke zurück, um nicht entdeckt zu werden. Nachdem Liara und die Walküre gegangen waren, kehrte auch er wieder über das Treppenhaus in den überirdischen Bereich zurück.

Liara ging in ihr Büro. Er folgte ihr immer noch heimlich und sah, wie sie zuerst Egmonts Karte überprüfte. Dann legte sie sie gedankenverloren auf den Schreibtisch.

Später gelang es ihm, sich die Karte zu besorgen. Auf seinem Zimmer betrachtete er sie, unschlüssig, was er damit anfangen sollte. Wenn man den Diebstahl entdeckte und sie bei ihm fand, bekäme er sicher mehr als nur ein paar Schwierigkeiten. Aber die hatte er sich eh schon eingehandelt. Sie konnten dank des Armreifs auch ohne Kameras ziemlich genau zurückverfolgen, wann er wo gewesen war. Aber die Karte bot ihm vielleicht die Möglichkeit zur Flucht. Er musste sich sofort entscheiden. Schweiß brach ihm aus, als er überlegte, was sie ihm wohl antäten, sollte sie misslingen.

Er drehte die Karte unschlüssig in seiner Hand. Dann fiel ihm auf, dass sie das gleiche Logo trug wie eine Tür, die von dem Flur abging, im dem sich die Zelle befand. Seine Neugier und Hoffnung waren größer als seine Angst. Vielleicht gab es von dort eine Möglichkeit, unbemerkt von Liaras Besitz zu entkommen.

Er schlich sich erneut auf die untere Ebene. Niemand begegnete ihm. Trotzdem spürte er, wie ihm der Angstschweiß ausbrach. Schon als Kind hatte er selbst bei der Mutprobe eines Ladendiebstahl versagt und war der einzige seiner Freunde gewesen, der ohne Beute nach Hause gegangen war. Während die anderen stolz ihre geklauten Kaugummis und Schokoriegel verputzt hatten, hatte er sich schlecht gefühlt. Er hätte sich noch schlechter gefühlt, wenn man ihn erwischt hätte. Die Illegalität war noch nie sein Metier gewesen. Wenn sie ihn jetzt erwischten, würde er sich verdammt schlecht fühlen.

Er fand die Tür auf Anhieb und schob die Karte in den Schlitz. Nachdem er sich noch einmal umgesehen und mit zitternden Fingern die Geheimnummer eingegeben hatte, öffnete sie sich automatisch. Er konnte kaum glauben, wie dick sie war. Kein Geräusch außer der Klimaanlage war zu hören. Ein Windhauch, der den Geruch von Metall mit sich trug, legte sich auf sein Gesicht.

Mit butterweichen Knien betrat er den Raum hinter der Tür. Ein helles Licht flammte auf und eine trockene Kühle umfing ihn. Er stand auf einem Gitter über einem Abgrund.

Unter ihm öffnete sich ein riesiger, fensterloser Raum. Er musste sich unter dem größten Teil von Liaras Haus erstrecken. Staunend hielt er sich am Geländer fest. Der Raum war mindestens vier Stockwerke hoch und wurde fast völlig von einem silberglänzenden Koloss ausgefüllt. Jetzt verstand Michael, warum Liaras Haus so weitläufig war. Es diente ihr nicht nur als Wohnsitz, sondern in erster Linie als Versteck für das, was unter ihm ruhte.

Sein hektischer Atem war lauter als die Klimaanlage. Er sah keine blinkenden Lichter und keine Fenster, die die Außenhaut durchbrachen. Und doch wusste er, dass das Raumschiff, das Liaras Großmutter und ihre Anhänger hierher gebracht hatte, dort unten stand. Der Drache prangte deutlich sichtbar auf auf seiner Oberfläche. Aus seinem Maul brach ein Feuerstoß hervor, der jedem, der sich ihm unerlaubt näherte, einen qualvollen Tod in den Flammen androhte. Wahrscheinlich brauchte es nur einen Knopfdruck oder was auch immer, um das Schiff und seinen feuerspeienden Bewacher zum Leben zu erwecken.

Es war unglaublich. Er fühlte sich wie jemand, der einen Schatz entdeckt hat. Aber wie in allen Abenteuergeschichten war auch dieser mit einer tödlichen Waffe gesichert: Fehild. Selbst hier unten hatte sie ihr Gift verspritzt. Er wusste es instinktiv. Egmont hatte ihren Köder bereits geschluckt, um daran sterben oder vielleicht auch Schlimmeres erleiden zu müssen. Jetzt wartete sie darauf, dass Michael es ihm gleichtat.

Liaras verrückte Geschichte war also wenigstens in Anteilen wahr. Es war unfassbar. Er spürte, wie sein Herz noch schneller raste. Was würden sie mit ihm machen, wenn sie erfuhren, dass er hier gewesen war? Ein Anflug von Panik erfasste ihn allein schon bei dem Gedanken, dass ihnen seine Entdeckungstour nicht verborgen blieb. Er würde – wie drückten sie sich noch einmal aus? - den Himmel über sich nicht mehr sehen. Vielleicht wussten sie es sogar schon und waren auf dem Weg hierhin. Er musste schnellstens runter von Liaras Besitz, irgendwie weg, aber seine Glieder waren starr vor Angst.

„Du hättest das nicht sehen dürfen, Neun!“

 

Michaels Herz setzte einen Schlag aus. Er drehte sich um. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Liara stand vor ihm. Nein, ging es ihm durch den Kopf, es wäre noch schlimmer, wenn Fehild mich ertappt hätte. Vielleicht wäre er dann schon tot, und selbst das war noch nicht die schlimmste aller denkbaren oder besser gesagt aller undenkbaren Möglichkeiten.

Liara sah ihn vorwurfsvoll an. Seine Gedanken überstürzten sich.

„Was ist das?“, fragte er mit zitternder Stimme, obwohl er die Antwort schon kannte.

Liaras Blick wanderte geradezu hingebungsvoll über den ruhenden Koloss. „Damit sind wir einst aus unserer Heimat hierher gekommen und damit werden wir dorthin zurückkehren“, bestätigte sie Michaels Gedanken. „Vielleicht sogar schon bald, und du wirst uns begleiten.“

„Kann es fliegen?“

Liara lächelte. „Unter anderem.“

„Ist es bewaffnet?“

„Damit könnten wir die Erde innerhalb von 24 Stunden in die Steinzeit zurückbefördern und keine militärische Macht und keiner eurer Superhelden könnte uns daran hindern.“

„Warum haben Sie es nicht getan?“

„Warum sollten wir es tun?“

„Macht.“

Liara schüttelte den Kopf. „Wir wollen dorthin zurückkehren, wo wir herstammen.“

„Das ist Ihre Religion.“

„Nein. Aber es ist meine Bestimmung, über unsere Heimatwelt zu herrschen, nicht über die Erde.“

Michael betrachtete noch einmal staunend das Schiff. Liara trat einen Schritt vor und stand neben ihm auf dem Gitter. Ihre herabhängenden Arme berührten sich. Mit einer winzigen, annähernd zärtlichen Bewegung nahm sie die Karte aus seiner Hand, ohne ihn anzusehen. Er ließ es widerstandslos geschehen.

„Sag niemandem, dass du hier warst“, warnte sie ihn. Plötzlich wurde ihre Stimme hart. „Und jetzt verschwinde von hier.“

Das ließ er sich nicht zweimal sagen.

 

Fehild hatte nicht vergessen, was sie an jenem Abend gesehen hatte, als sie in Liaras Schlafzimmer gestürmt war, um sie über Egmonts Unfall zu unterrichten: ihre Schwester und diese widerwärtige Filzlaus in seliger Zweisamkeit wie ein verliebtes Paar. Nachdem die Angelegenheit mit Egmont fürs Erste geklärt war, auch wenn Liara sich bisher standhaft geweigert hatte, ihr dieses arrogante Etwas zu überlassen, ließ sie Neun zu sich rufen.

Michaels Herz schlug panisch, als man ihm am Tag nach seiner Entdeckung ihre Anweisung übermittelte. Was wusste sie? Was wollte sie von ihm? Sie musste inzwischen erfahren haben, dass er das Raumschiff entdeckt hatte, das Allerheiligste der Gemeinschaft. Er war sich sicher, dass sie nur darauf wartete, jeden seiner Fehler gnadenlos zu ahnden. Sollte sie es geschafft haben, ihre Schwester davon zu überzeugen, er sei eine Gefahr für die Gemeinschaft, bedeutete das unweigerlich sein Ende. Er mochte nicht daran denken, was Fehild ihm antäte, wenn man ihn ihr auf Gnade und Barmherzigkeit auslieferte. Nur eines war sicher: Sie würde weder Gnade noch Barmherzigkeit kennen.

Sie hatte ihn in einem Raum ohne Fenster und mit gepolsterter Tür befohlen. In ihren Augen erkannte er eine genüssliche Bosheit.

Das Gefühl, alleine mit ihr in einem fast schon schallisolierten Raum zu sein, setzte seinen Nerven zu. Aber selbst wenn sie in einer offenen Halle gestanden hätten, wäre niemand ihm hier zu Hilfe gekommen. Jeder im Haus, ausgenommen vielleicht Liara, fürchtete sie. Er begann zu schwitzen und konnte nicht verhindern, dass sein ganzer Körper zitterte, als sie ihn lange anstarrte.

Sein Verstand konnte seine Reaktion nicht fassen. Sie war eine zarte Frau, kaum mehr als halb so schwer wie er selbst. Und doch hatte er noch kein einzelner Mensch ihm eine solche Angst eingejagt wie Fehild. Aber selbst jetzt kniete er sich nicht, wie sie es vom ihm verlangt hatte, vor sie hin. Er fühlte einen warnenden Druck in seinen Weichteilen. Einen zweiten Tritt wollte er sich dort ganz bestimmt nicht einfangen.

Ein grausames lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. Der Fluss seiner Gedanken stockte. Im künstlichen Licht kalter Lampen waren ihre schönen Gesichtszüge die einer Todesgöttin.

Er hoffte, dass sie seine verräterische Reaktion auf ihre Nähe nicht bemerkte. Wenn sie tatsächlich von einem Wolf abstammte, roch sie seine Angst.

Ihre Miene verdunkelte sich. „Was hattest du letztens im Zimmer meiner Schwester zu suchen?“, fuhr sie ihn an. „Sie hatte dich nicht zu sich gerufen.“

Mit Erleichterung schloss er aus ihren Worten, dass sie nichts von seiner Entdeckungstour im Keller wusste. Liara hatte es ihr verschwiegen. Er hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern, fand aber augenblicklich seine Fassung wieder, jedenfalls teilweise. Sein Puls raste weiterhin in einem mörderischen Tempo. „Es ist mir nicht verboten worden, es zu betreten“, antwortete er mit fester Stimme.

„Du solltest dich der Ersten Herrin nur nähern, wenn sie nach dir verlangt.“

„Es ist mir nicht verboten worden, ihre Nähe zu suchen.“

„Du wirst dich in Zukunft von ihr fernhalten.“

„Diese Entscheidung liegt bei Ihrer Schwester und bei sonst niemandem.“

Am liebsten hätte sie ihm seinen trotzigen Ausdruck aus dem Gesicht geprügelt. Sie freute sich schon darauf, es in aller Ruhe nachzuholen, wenn er nicht mehr unter dem Schutz ihrer Schwester stand. Bei ihr hätte er keine Gelegenheit, sich einzuschleimen.

Er hielt ihrem wütenden Blick stand, wissend, dass sie ein Raubtier war. Ein wildes Tier, dessen Schönheit und Eleganz vergessen lässt, wie gefährlich es ist.

Er vergaß es nicht. „Warum hassen Sie mich so?“, warf er ihr entgegen. „Dabei hätte ich wohl viel mehr Grund, Sie zu hassen.“

„Ich weiß zu viel über dich.“

„Was wissen Sie denn schon über mich!“

„Ich weiß, was du denkst und wie du tickst.“

„Ach ja? Und wie ticke ich Ihrer Meinung nach?“

„Es mangelt dir an Demut, du bist arrogant und unverschämt. Dein Starrsinn ist unerträglich. Mit dir hat Liara sich die Pest ins Haus geholt. Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, kämst du ganz bestimmt nicht mehr in ihre Nähe.“

„Tja. Jeder macht mal Fehler, sogar Sie, Eure Fastvollkommenheit.“

Er war bereit, seine Weichteile im Bruchteil einer Sekunde aus ihrer Reichweite zu bringen. Aber diesmal machte sie keine Anstalten, ihn zu treten.

„Sei vorsichtig, was du sagst. Ich kann dir jeden einzelnen Knochen in deinem gottverdammten Körper brechen, ohne dass es mir auch nur die geringste Mühe bereitet.“

„Seien Sie vorsichtig, was Sie tun. Ihre Schwester wäre sicher nicht begeistert, wenn Sie ihr Eigentum kaputt machen.“

Er drehte sich um und ließ sie vor Überraschung erstarrt stehen. Mit geballten Fäusten sah Fehild ihm hinterher, als er den Raum verließ. Ihre Fingernägel gruben sich fest in ihre Haut, doch sie war zu wütend, um den Schmerz zu spüren. Das Dumme war, dass er mit seiner unverschämten Behauptung Recht hatte. Jedenfalls noch.

Sie war schon immer die wichtigste Vertraute ihrer großen Schwester gewesen, selbst als Kind und trotz ihrer zahlreichen Streiche. Daran hatte sich auch nichts geändert, als sich Liaras Gaben in der Jugend entwickelt hatten und sie feststellen musste, dass Fehild der einzige Mensch außer ihrer Mutter und Großmutter war, dessen innerste Gefühle sich vor ihr verbargen.

Als Kind hatte Fehild Liara ihre besondere Stellung geneidet und sie geärgert, wo sie nur konnte. Es war der Aufstand der kleinen und verwöhnten Schwester gegen die große, die schon früh an ihre Aufgabe herangeführt wurde, gewesen. Ihr Aufbegehren war viel zu offensichtlich gewesen, um irgendeine Hinterlist vermuten zu lassen. Ihre unschickliche Respektlosigkeit gegenüber der Erbin der Reichsherrin hatte ihre Kindermädchen regelmäßig in Bestürzung versetzt. Trotzdem hatte sie ihrer großen Schwester immer wieder nachgestellt und versucht deren eiserne Selbstbeherrschung zu brechen, nur um zu wissen, dass diese trotz ihres Status kein wertvollerer Mensch war als sie selbst. Sie hatte es schon als Kind nicht ertragen können, dass jemand besser war als sie oder gar über ihr stand. Liara hatte ihre Streiche mit mehr oder weniger Gleichmut ertragen. Sie waren einander in schwesterlicher Hassliebe verbunden gewesen.

Auch als sie älter wurden und ihre Eltern starben, unterwarf sich Fehild nicht so demütig wie alle anderen ihrer zur Reichsherrin aufgestiegenen Schwester. Und doch war sie immer und zuverlässig da gewesen, wenn es galt, für sie Probleme aus dem Weg zu räumen. Sie hatte ihr den Rücken freigehalten.

Liara hatte nie auch nur an die Möglichkeit eines Verrates gedacht. Sie war zu weich und zu vertrauensselig, um die Gemeinschaft zu führen, und auch, um und eines Tages über das Reich zu herrschen.

Unerwarteterweise war Neun zwischen sie und ihre Schwester getreten, und das ausgerechnet jetzt, wo sie sich keinen Fehler erlauben durfte. Er war nicht bloß ein hübsches Spielzeug. Liaras Gefühle für ihn waren eine mächtige Waffe, die er gegen sie richten konnte, und sie war sich sicher, dass er es bedenkenlos täte, wenn er erst einmal ihre Macht erkannt hatte. Er könnte ihr und ihren Plänen gefährlich werden, wenn Liaras Gefühle für ihn noch stärker werden sollten und erst recht, wenn ihre Schwester sogar ein Kind von ihm bekäme. Doch ganz besonders Letzteres durfte sie nie zulassen.

Sie musste all dem ein Ende setzen, bevor es richtig begonnen hatte. Seinen Geist hatte sie bereits einmal gebrochen. Das Gleiche mit seinem Körper zu tun, wäre ihr ein Leichtes und ein Vergnügen.

Fehild war sich sicher, dass eine neue Zeit angebrochen war. Immer wieder hatten Spione die riesige Strecke überwunden und Informationen eingeholt. Der Ruf aus ihrer fernen Heimat stand kurz bevor. Sie war bereit, die wichtigste Aufgaben von allen zu übernehmen, wenn man sie ihr antrug.

 

Meist war er allein. Es widersprach seinem bisherigen Lebensstil. Er hatte Freunde gehabt und Kollegen. Mehrmals in der Woche hatte er sich mit anderen getroffen, auf ein Bier oder zum Laufen. Und es hatte Frauen gegeben. Viele. Manche für eine Nacht, manche für länger. Jetzt hatte sein Leben keinen Sinn mehr, außer eine Erbin für eine Horde Verrückter zu zeugen. Er hatte keine Kinder, und das war gut so. Sein wichtigster Lebensinhalt war es jetzt, bei Verstand zu bleiben und Liaras Gehirnwäsche, die sie die Kraft des Wolfes nannten, zu entgehen.

Er sah keine anderen Menschen mehr als seine Entführer. Mit ihnen hatte er nichts gemein, wollte es auch nicht.

Manchmal ließen sie ihn von einem anonymen Handy aus jemanden anrufen, dessen Nummer in seinem Adressbuch stand. Kurz. Und auch nur wenn sie auf dem Weg in die Heide waren, nie von Liaras Besitz aus. Niemand sollte den Anruf zu ihr zurückverfolgen können, falls doch einmal irgendeiner der Angerufenen den Verdacht hegte, etwas sei nicht in Ordnung. Die Nummer gab man ihm vor, er musste das Handy auf Lautsprecher stellen, seine Nummer war unterdrückt. Fehild und seine Bewacher hörten im engen Innenraum des Autos jedes Wort mit, das er oder der Angerufene sagte. Man hatte ihm klar gemacht, was er in Gang setzte, sollte er etwas Falsches sagen. Der andere, der zu diesem Zeitpunkt auch überwacht wurde, hätte keine Zeit mehr gehabt, irgendwen oder sogar die Polizei zu informieren, nie wieder in seinem Leben.

Michael glaubte ihnen. Er hielt sich an die Vorgaben. Eine andere Möglichkeit hatte er nicht. Jedes Mal musste er das Gespräch nach wenigen Sätzen abbrechen und dem anderen sagen, die Verbindung in ein Dorf in den Anden, der Kalahari oder Gott weiß in welchen gottverlassenen Winkel dieser Welt sei schlecht.

Er hasste sie und war ihnen doch dankbar, wenn er jemanden hatte anrufen dürfen. Dankbar. Welch ein Hohn. Sie hatten ihm so viel genommen und er war ihnen dankbar dafür, dass sie ihm einen winzigen Bruchteil davon wiedergaben!

Oft saß er einfach nur am Fenster seines Zimmers und starrte über die Mauer auf die Stadt herunter. Sie war zum Greifen nah und doch unerreichbar. Mit jeder Woche, die er hier verbringen musste, wurde sie unwirklicher. Er sehnte sich danach, dort unten zu sein. Erst hier in seinem Exil stellte er fest, wie viel es ihm bedeutet hatte, in ein funktionierendes soziales Umfeld eingebettet zu leben. Freunde. Heimat. Sicherheit. Seine Wurzeln waren da unten fest im Boden verankert gewesen, bis man ihn gewaltsam herausgerissen hatte. Dort war er ein Eingeborener gewesen, hier war er ein Teil der Inneneinrichtung. Die Stadt jeden Tag zu sehen war, als hielte man einem Hungernden eine Wurst vor die Nase und zöge sie weg, wenn er danach greift. Er träumte oft von ihr. In seinen Träumen erreichte er sie genauso wenig wie im Wachen. Liara oder seine Bewacher kamen darin nicht vor.

Seine Tage hatten keine Struktur außer den Mahlzeiten. Nichts lenkte ihn lange genug von seinen düsteren Grübeleien ab. Es kostete ihn immer mehr Kraft, etwas anderes zu tun, als trübsinnig aus dem Fenster zu starren. Manchmal stellte er sich vor, wie es wäre, in der Heide einfach wegzulaufen. Was machte das schon, wenn sie ihn erschossen. Aber wenn er dann dort war, lief er wie immer vor oder neben Fehild her. Er schämte sich für seine Feigheit und begann, an sich zu zweifeln. Wenn jemand an seine Zimmertür klopfte, zuckte er zusammen. Er fühlte sich ertappt. Bei was? Er wusste es nicht.

Alles hier war fremd, ungewollt, verdorben. Doch eine winzige Geste, ein Wort, ein Blick von Liara konnte alles ändern. Eine Berührung holte ihn ins Leben zurück. Für einen Moment, eine Nacht. Wenn sie ging, dann ging auch sein Leben mit ihr. Er wartete auf sie und hatte Mühe, seine Freude vor ihr und vor sich selbst zu verbergen, wenn sie wieder da war. Es durfte nicht sein und doch war da diese Sehnsucht, sie in den Armen zu halten, ihren Körper neben sich zu fühlen, in sie einzudringen, von ihr aufgenommen zu werden. Je länger sie fort war, desto peinigender war sein Verlangen.

Er stand am Fenster. Der Kalender sagte, dass es Mitte April war. Die Natur wusste noch nichts davon. Kein Geräusch war zu hören außer seinem Atmen. Das Glas wehrte die Kälte ab, nicht aber seine trüben Gedanken. Eine zähe, schmutziggraue Masse hatte sein Leben überzogen.

Er hatte das Licht ausgeschaltet und in seinem Zimmer war es noch dunkler als draußen. Seine Hose und sein Pullover hoben sich kaum vom Vordergrund ab. Er sah, dass wie schon seit Tagen dichter Nebel über allem lag. Kränze in wässrigen Regenbogenfarben umgaben die Lampen im Park. Die Lichter der Stadt unter ihm waren nicht zu auszumachen. Liaras Besitz existierte auf einer weltentrückten Insel, und er saß darauf fest wie ein Schiffbrüchiger. Er wusste, dass dort unten das Leben trotz der frühen Stunde und des Nebels pulsierte, ein Leben, an dem er seit unendlich erscheinenden Monaten keinen Anteil mehr hatte.

Man hatte versucht, ihn mit Luxus zu locken. Und ja, das Essen hier war exquisit. Er konnte sich aussuchen, was er wollte, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wenn ihm danach gewesen wäre, hätte man es in einem der Nobelrestaurants der Umgebung besorgt. Mit den besten Grüßen vom Chefkoch persönlich.

Der Tee, den er hier bekam, war hervorragend. Er kam direkt von einer Plantage aus Sri Lanka und entfaltete ein wundervolles Aroma. Königshäuser und Präsidenten wurden damit beliefert – und Liara. Wenn er danach verlangte, brachte man ihm welchen zusammen mit handwarmer Milch, ganz so, wie er es bevorzugte.

Das Auto, mit dem man ihn in die Heide fuhr, musste mehrere seiner Jahresgehälter – brutto - gekostet haben. Die Einrichtung des Hauses war von namhaften Designern entworfen worden. Er brauchte keinen Handschlag zu arbeiten und seine Kleidung war von bester Qualität. Doch er war ein Gefangener. Kein noch so nobles Gefängnis konnte ihm seine Freiheit ersetzen. Er hätte die Klos auf dem Oktoberfest mit einer Zahnbürste geputzt, nur um hier rauszukommen. Sein Leben war das eines Höhlenforschers in einem Schweizer Käse: sinnlos, aber immer genug zu essen.

Er wollte nur noch weg von hier. Raus aus diesem Haus, weg von all diesen Verrückten, weg von Lia… Nein. Etwas durchbohrte ihn. Trotz allem wollte er nicht weg von ihr, sondern weg mit ihr.

Auch wenn sie gerade erst die Nacht miteinander verbracht hatten, hungerte sein Körper schon nach wenigen Stunden nach ihr. Notfalls hätte er auch als freier Mensch, als einzig Normaler, mit ihr in diesem Haus voller Irrer gelebt. Er wäre freiwillig wiederkommen, wenn sie ihn nur hätte gehen lassen. Das wusste er inzwischen. Liaras Kraft, die des Wolfes, hatte inzwischen auch von ihm Besitz ergriffen.

Ein kurzes, resignierendes Lachen erschütterte Michael. Ihn freiwillig gehen zu lassen, stand wohl außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Sie kannten nur Ehre, Treue und Loyalität, aber tiefe Gefühle zwischen zwei Menschen waren unerwünscht. Vielleicht fürchteten sie auch ihre Macht. Dabei hatte erst eine Liebe, die allen Hass zwischen zwei verfeindeten Blutlinien überwunden hatte, den Krieg der Liaden und Belden beendet. Jedenfalls stand es so in dem Buch über die Geschichte von Liaras Familie. Seit er das Schiff gesehen hatte, erschien ihm diese Legende nicht mehr ganz so unglaublich.

Aber wenn der Preis seiner Freiheit gewesen wäre, Liara nie wiederzusehen, hätte er ihn in Kauf genommen. Die Kraft des Wolfes hatte vielleicht Besitz von ihm ergriffen, aber sie hatte ihn nicht zu einem jener Geschöpfe gemacht, die Liara blind verfallen waren. Oder doch?

Es war Zeit. Er drehte sich um und ging, wie man es von ihm erwartete, zum Frühstück. Liara hatte ihn jede Nacht, die sie im Haus verbracht hatte, zu sich gerufen und er war bereitwillig zu ihr gegangen. Obwohl er seine Gefangenschaft immer noch nicht hinnahm, hatte er inzwischen seinen äußeren Widerstand nahezu vollständig abgelegt. Er hatte aus seinen Fehlern gelernt.

Zwei Wochen zuvor hatte er sich im Park die Beine vertreten. Jemand hatte sich verfahren und am Tor nach dem Weg gefragt. Der Wachhabende hatte höflich Antwort gegeben. Er war wohl an einen Schalter gestoßen und das Tor hatte sich weit geöffnet.

Michael hatte es von der anderen Seite des Parks aus gesehen. Ohne nachzudenken, war er losgerannt. Er hatte geschrien und wild mit den Armen gewunken, um die Aufmerksamkeit des Fahrers zu erregen.

Der Mann, der ihm im Park nicht von der Seite gewichen war, hatte ihn eingeholt und sich auf ihn geworfen. Michael hatte sich gewehrt, getreten, geschlagen, geschrien. Er hatte keine Chance gehabt. Als der Mann und ein zweiter, der ihm zu Hilfe gekommen war, ihn hochgerissen hatten, war das Auto verschwunden und das Tor geschlossen gewesen.

Sie hatten ihn ins Haus gezerrt und in seine Zelle gesteckt. Diesmal hatten sie ihm nicht nur seine Kleidung genommen, sondern ihm auch kein Bett gegeben.

Nachdem er Stunden in der Dunkelheit auf dem Boden gesessen hatte, war es in der Zelle hell geworden. Fehild hatte lächelnd in der Tür gestanden. „Liara ist geschäftlich verreist“, hatte sie ihm mitgeteilt. „Lange. Sie hat mich beauftragt, mich um dich zu kümmern, und das werde ich tun. Ich denke, sie hat mit ihren wirklich wichtigen Verpflichtungen genug um die Ohren. Ich werde sie nicht mit so einer Lappalie wie deinem kindischen Fluchtversuch behelligen. Du weißt, was es heißt, auch nur zu versuchen, von hier zu fliehen.“ Ihr Lächeln hatte ihm einen eiskalten Schauder über den Rücken gejagt.

Sie hatten ihn tagelang in der Dunkelheit gehalten, ohne ihm etwas zu essen zu geben. Er hatte auf dem harten Boden geschlafen. Niemand hatte ihm gesagt, wie lange dieser Zustand andauern sollte. Je mehr Zeit vergangen war, desto dunkler waren auch seine Fantasien und Gedanken geworden. Seine Hoffnung, jemals wieder aus diesem Loch herauszukommen, waren mehr und mehr in sich zusammengeschrumpft.

Liara hatte erfahren, was geschehen war. Sie war zu seiner Zelle gerannt. Als sich die Tür geöffnet hatte und das Licht aufgeflammt war, hatte sie Neun in einer Ecke auf dem Boden sitzend vorgefunden. Er war abgemagert gewesen, ein dichter Bart hatte sein Gesicht bedeckt. Von dem hellen Licht geblendet hatte er ihr seine zusammengekniffenen Augen zugewandt.

Sofort hatte sie neben ihm gekniet. Er hatte ihre Arme um sich gespürt. „Es tut mir leid, Neun, es tut mir so leid. Alles wird gut.“

Liara war zu seiner Rettung gekommen. Er hatte sie schluchzend umarmt.

Man hatte ihn ins Wasser geworfen. Es war so kalt gewesen, dass es ihm den Atem genommen hatte. Aber er würde niemals aufgeben zu versuchen, das rettende Ufer zu erreichen, egal wie lange sie ihn festhielten.

Liara saß schon an ihrem Platz. Er grüßte sie wie jeden Morgen, wenn sie gemeinsam frühstückten, mit einem angedeuteten Nicken und einem sparsamen Lächeln. Jeden äußeren Widerstand hatte er noch nicht aufgegeben. Er war kein Golden Retriever, der denjenigen, der ihn anschreit, auch noch freudig anwedelt. Sie nickte und lächelte deutlich besser gestimmt als er zurück.

Die letzten beiden Tage war sie wieder weg gewesen. Sie hatte ihm nicht gesagt, wohin sie gegangen war und er hatte sie nicht danach gefragt. Trotzdem war er jetzt erleichtert, sie zu sehen, obwohl sie diesmal anscheinend nicht Fehild zu seinem Babysitter bestimmt hatte.

Nur mit Liara konnte er ein paar vernünftige Worte wechseln.

Alle anderen im Haus versuchten immer noch, ihm aus dem Weg zu gehen, und redeten nur mit ihm, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Mehr als eine Begrüßung, ein Ja oder ein Nein brachten sie kaum heraus. Die meisten Stimmen, die er hörte, kamen aus dem Fernseher, der fast schon sein bester Freund geworden war. Er war ein Ausgestoßener unter Menschen, die ihren kollektiven Wahn lebten.

Nie waren sie respektlos. Im Gegenteil. Wenn er jemandem im Flur begegnete, machte ihm der andere den Weg frei und wartete mit gesenktem Kopf, bis er vorübergegangen war. Nie hörte er ein direktes Widerwort, eine laute oder abweisende Stimme. Es war seltsam, unter Menschen zu leben, die einem einen derartigen Respekt entgegenbrachten, um doch jeden Fluchtversuch vereitelten.

Liaras Augen folgten ihm, als er mit festen Schritten auf sie zukam und sich dann ihr gegenüber am Frühstückstisch niederließ. Heute war wieder einer seiner besonders übellaunigen und bockigen Tage. Sie erkannte es an seinen Bewegungen, so als lebten sie schon seit Jahren und nicht erst seit wenigen Monaten zusammen. Dabei hatte er keinen Grund, sich so anzustellen. Es hätte ihm viel schlechter ergehen können, zumindest bei dem Betragen, dass er hier allzu oft an den Tag legte. Er benahm sich wie ein kleiner Junge, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte. Allerdings war er viel zu gutaussehend, um ein Kind zu sein. Ihr fiel auf Anhieb nichts ein, dass ihn hätte milder stimmen können.

Er streckte seine Beine unter dem Tisch aus und sie zog ihre reflexartig zurück, als sie sich berührten. Sie ärgerte sich über sich selbst, ihr Rückzug war unpassend. Er durfte nicht die Kontrolle übernehmen, nicht einmal unter dem Tisch. Als sie in sein Gesicht blickte, sah sie, dass er um ihre Gedanken wusste. Es ist nur ein kleiner Sieg, redete sie sich gut zu, vollkommen unbedeutend.

Dabei hatte man ihr beigebracht, dass sich eine Reichsherrin bei solchen ungewollten Berührungen niemals, absolut niemals! zurückzieht oder gar entschuldigt. Wenigstens Letzteres hatte sie nicht getan. Das wäre ja noch schöner gewesen.

Allerdings hatte dieser kleine Sieg vielleicht seine Laune gehoben. Aber selbst wenn, war er bestimmt auch jetzt nicht bereit, das zu tun, was sie von ihm verlangte. Er war ein unverbesserlicher Trotzkopf.

„Nimm das“, sagte sie und reichte ihm irgendetwas Kleines über den Frühstückstisch.

Er nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger. Ihre betont gelassene Haltung und das noch betontere Lächeln in ihrem Gesicht waren ihm nicht geheuer. „Eine Tablette?“, fragte er erstaunt.

„Ja.“

Er schloss seine ganze Hand darum. „Wofür ist die?“

„Sei nicht immer so misstrauisch, Neun.“ Liara blickte ihn mit gesenktem und zur Seite geneigtem Kopf an. Ein leises, vielversprechendes Lächeln lag auf ihren leicht geöffneten Lippen. Jeder Mann tat augenblicklich, was sie wollte, wenn sie ihn so ansah.

Michael war anders als jeder andere. Er blickte ohne eine Regung zu zeigen über Brot, Butter, Eier, Kaffee und diverses andere zurück und schüttelte den Kopf. War das das Zeug, mit dem sie ihre Anhänger gefügig machte? Wollte sie ihm jetzt doch ihre Droge verpassen, um auch seinen letzten Widerstand zu brechen? Verdammt, dachte er, dabei habe ich tage- und und vor allem nächtelang wie ein dressierter Papagei alles getan, was sie wollte. Okay, sie weiß, dass ich sofort davonfliege, wenn sie die Käfigtür offen lässt. Aber das ist kein Grund, mich unter Drogen zu setzten. Sie hat genug Aufpasser, um mich auch ohne dieses Zeug hier festzuhalten. Er fühlte er eine kalte Enttäuschung in sich aufsteigen.

Liara sah die Ablehnung in seinem Gesicht und seine zur Faust geballte Hand, in der er die Tablette fast zerquetschte. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich eine Haarsträhne, die sich unerlaubterweise aus ihrer Frisur gelöst hatte, aus dem Gesicht. „Du weißt, dass ich dir nichts Böses will, Neun.“

„Das ist relativ.“

Sie zog einen Schmollmund. Einmal abgesehen von seinem Fluchtversuch hatte Neun sich in der letzten Zeit mit seiner Situation arrangiert, so gut es ging. Aber er machte ihr immer wieder klar, dass er alles andere als einverstanden damit war. Er hielt seinen Widerstand starrsinnig aufrecht, obwohl sie nicht nur an ihren fruchtbaren Tagen die Nächte - vergnügliche Nächte - miteinander verbrachten.

Sie sah in sein trotziges Gesicht. Er sah einfach umwerfend aus. Alles wäre leichter für sie gewesen, wenn er es nicht getan hätte. Sie bedauerte es jedoch nicht. Absolut nicht.

„Zieh nicht so einen Flunsch. Du siehst aus wie ein kleines Kind.“ Wie ein Kind, dem man nichts abschlagen kann. Jedenfalls, wenn man die Wahl hat.

„Warum nicht? Immerhin lebe ich hier wie ein Kind an Ihrem Gängelband.“

„Nimm sie einfach“, schmeichelte sie.

Michael sah sie misstrauisch an. Sie war so sanft wie eine Katze. Er roch geradezu die Gefahr, auch der sanfteste Stubentiger hat scharfe und tödliche Krallen. Sie wollte etwas von ihm, und es war ihr wichtig.

„Ganz bestimmt nicht“, lehnte er kategorisch ab. „Ich will nicht einer Ihrer Zombies werden.“

„Niemand hier ist ein Zombie. Sie macht dich nicht willenlos, nur etwas ruhiger.“

„Eine Schlaftablette?“

„Eine ganz schwache.“

„Warum soll ich so etwas nehmen. Ich habe in letzter Zeit erstaunlich gut geschlafen, und jetzt ist es erst Morgen.“

„Wir werden verreisen.“

Er zuckte zusammen. „Wie weit weg?“

„Nur ein paar tausend Kilometer“, beruhigte sie ihn.

„Wohin.“

„Sonne, Strand, Meer, Palmen.“

„Danke, mir ist nicht danach.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass du dieses Aprilwetter hier bevorzugst.“ Sie schaute ihn mit großen Augen an. Auch das war nur aufgesetzt. Er wusste es, und sie wusste, dass er es wusste. Trotzdem gab etwas in im nach – ein ganz kleines bisschen.

Das Wetter war in den letzten Wochen tatsächlich schlecht gewesen. Schnee, Regen, Frost und Tauwetter hatten einander in schneller Reihenfolge abgelöst. Nur der Himmel war beständig grau gewesen. Manchmal hatte Michael sich sogar zwingen müssen, die wöchentlichen Ausflüge in die Heide wahrzunehmen. Aber dass Fehild mit ihm hinaus in dieses Scheißwetter musste, war eine seiner Hauptfreuden gewesen.

„Freiwillig lasse ich mich nicht betäuben“, erklärte er trotzdem nachdrücklich.

„Du wirst nicht betäubt werden, sondern bei Verstand bleiben. Stell dich nicht so an.“

„Warum sonst soll ich sie dann nehmen?“

„Damit du uns am Flughafen keine Schwierigkeiten machst.“

Liara sah einen Hoffnungsschimmer in seinem Gesicht. „Wir werden mit dem üblichen Fahrzeug zum Flughafen fahren und dort direkt in meinen Flieger umsteigen“, enttäuschte sie ihn. „Zwei andere Fahrzeuge werden uns zu unserer Sicherheit begleiten. Die Dame am Zoll erhält eine gewisse finanzielle Unterstützung von uns und das Land, in dem wir landen werden, hat arme, aber korrupte Staatsdiener.“

„Muss ich noch packen?“

„Keine Sorge, deine Koffer werden gerade gepackt. Außerdem brauchst du eigentlich nur Zahnbürste und Badehose.“

„Für wie lange?“

„Für zehn Tage oder zwei Wochen. Es hängt davon ab, wie lange ich mich hier freimachen kann.“

„Und wenn ich mich weigere?“

„Dann bleibst du hier. Ich werde dich nicht zwingen mitzukommen.“

„Wer wird auf mich aufpassen.“

Liara lächelte spitzbübisch. „Fehild.“

Nun, das war ein überzeugendes Argument. Seit Liara ihn aus der Zelle befreit hatte, hatte er sie außer bei seinen Läufen nicht mehr gesehen. Trotzdem stellte sich bei ihm immer noch alles auf Flucht ein, wenn sie in seiner Nähe war. Oft riss es ihn aus Alpträumen hoch, in denen er ihr wieder ausgeliefert war, unfähig wegzulaufen.

Er öffnete seine Hand und betrachtete die Tablette einen Moment. Dann warf er sie ein und schluckte sie mit einem Schluck Kaffee herunter.

Liara nickte ihm erleichtert zu. Sie ließ nicht nachprüfen, ob er die Tablette geschluckt hatte.

Michael bemerkte trotz seines Argwohns zunächst nichts. Er hatte erwartet, erst benommen und dann fast bewusstlos zu werden. Als sie aber das Auto bestiegen, fühlte er sich noch normal. Es war ihm alles egal.

Liara saß neben ihm, der Fahrer und ein weiterer Mann vorne. Vor und hinter ihnen fuhr jeweils ein weiteres Fahrzeug. Er nahm sie nicht wahr und auch nicht, dass es alles unterschiedliche und ganz normale Modelle waren. Auch jetzt wurde tunlichst darauf geachtet, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Eine Kolonne aus drei gleichen Nobelkarossen mit abgedunkelten Scheiben hintereinander wäre viel zu auffällig gewesen.

Die Landschaft glitt an an ihm vorbei. Auch sie nahm er kaum wahr. Er saß neben Liara und fühlte sich zum ersten Mal seit Langem frei und leicht, fast schwebend. Das Leben war schön. Sie drehte sich ihm zu und nahm lächelnd seine Hand in ihre. Er lächelte zurück. Liara wusste, dass die Tablette ihre Wirkung tat.

Der Umstieg vom Wagen zum Flieger geschah ohne Komplikationen. Michael tat bereitwillig, was man ihm sagte. Der Flug dauerte mehrere Stunden. Er saß am Fenster und schaute sorglos in den blauen Himmel. Der Sitz war bequem und das Essen gut. Zeitweise schlief er.

Seine Leber und Nieren taten ihre Pflicht. Das Medikament wurde abgebaut und ausgeschieden. Als sie ihr Ziel erreichten, war er von dem langen Flug schläfrig, aber sonst bei klarem Verstand. Beim Verlassen des Fliegers blendete ihn das Sonnenlicht. Er schirmte die Augen mit der Hand ab und sah sich um.

Sie befanden sich auf einem kleinen und staubigen Provinzflughafen. Weit weg sah er ein paar traurige Palmen. Das Rollfeld war bis auf eine weitere kleine Maschine und einen Hubschrauber leer. Jemand reichte ihm eine Sonnenbrille. Andere trugen Liaras und sein Gepäck zu dem Hubschrauber. Sie folgten ihnen. Zollformalitäten waren hier anscheinend nicht vonnöten.

Michael warf verstohlene Blicke um sich. Die Flagge eines Landes, die er noch nie gesehen hatte, flatterte über dem Flughafengebäude. Menschen, die nicht zu ihnen gehörten, sah er nicht.

Um von hier zu fliehen, hätte er das offene Rollfeld überqueren müssen. Er überlegte, ob er es wagen sollte. Sicher gab es auch in diesem Land eine deutsche Botschaft oder wenigstens ein Konsulat. Und ganz bestimmt Touristen, denen er zumindest von seiner Lage berichten konnte.

„Meine Männer sind vielleicht nicht so schnell wie du“, hörte er Liaras warnende Stimme, „aber bewaffnet. Und selbst wenn du es aus dem Flughafengebäude schaffst, hilft dir da draußen niemand. Hier spricht man weder Deutsch noch ein halbwegs verständliches Englisch. Du wärst vollkommen aufgeschmissen ohne Geld und ohne Papiere. Der stellvertretende Premierminister spricht übrigens ganz gut Englisch. Er hat in London studiert und steht auf unserer Gehaltsliste, wie auch ein paar Rebellenführer. Es gibt genug Gruppen hier, die einem einsamen Europäer gerne ihre Gastfreundschaft angedeihen lassen, gegen ein entsprechendes Entgelt in Dollars oder Waffen natürlich. Deine Unterbringung und Verpflegung würden allerdings jeglichen Komforts entbehren.“

„Ich komme mit einfachen Verhältnissen zurecht.“

„Auch wenn du solche Durchfälle hast, dass du glaubst, das Leben fließt aus dir heraus? Und das tut es letztendlich.“

Michael quittierte ihre Worte mit einem bösen Seitenblick. Dann wendete er sich dem Hubschrauber zu. Seine Bewacher verstauten das Gepäck darin und Liara und er stiegen ein. Der Hubschrauber startete. Die anderen blieben zurück.

Sie waren alleine mit dem Piloten in der Luft, aber Michael war nicht so verrückt, etwas zu unternehmen. Einen Absturz zu riskieren, wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Wahrscheinlich war der Pilot auch bewaffnet.

Er hatte erwartet, dass Hubschrauber wie auf Wolken durch die Luft schweben. Aber der Flug war so rumpelig, als führen sie auf einer schlechten Straße und der Lärm war ohrenbetäubend.

Es dauerte nicht lange und sie näherten sich einer kleinen Insel. Sie entsprach seiner Vorstellung von einem tropischen Paradies. Palmwedel schaukelten im Wind. Ihr sattes Grün wurde von einem Stand eingefasst, dessen blendendes Weiß von malerisch in Sand liegenden dunklen Felsblöcken betont wurde. Das Meer schillerte in allen Blau- und Türkistönen. Die Insel wurde von einem einzelnen weißen Gebäude gekrönt.

Der Hubschrauber setze auf dem Landeplatz auf. Liara rief Michael noch „Zieh den Kopf ein!“ zu, dann öffnete sie die Tür und kletterte ins Freie. Mit vorgebeugtem Oberkörper lief sie unter den noch kreisenden Rotorblättern und durch den aufgewirbelten Staub hindurch auf das flache Gebäude zu. Ihre Haare wurden vom Wind in alle Richtungen gerissen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ungebunden waren.

Ein in einen weißen Stoff gekleideter Mann löste sich aus dem Schatten der Palmen und kam auf den Hubschrauber zu. Ohne Worte und jeden Blickkontakt meidend kümmerte sich der einheimische Diener um das Gepäck.

Obwohl Michael nichts tragen musste, brach ihm schon nach wenigen Metern der Schweiß aus. Seine winterliche Kleidung war für das tropische Klima nicht geeignet. Er war froh, als er in den Schatten des von Palmen umgebenen Gebäudes eintauchte. Ein Ventilator wehte ihm einen kühlenden Lufthauch entgegen.

Als er durch ein Fenster schaute, erblickte er das Festland. Es war fast zum Greifen nah.

Liara beobachtete ihn. „Es sieht näher aus, als es ist, und es gibt starke Strömungen hier. Falls du versuchst rüberzuschwimmen, sag mir vorher bitte, welche Blumen du auf deinem Grab möchtest.“

Fast hätte er sich verraten und damit geprahlt, dass er sich im Wasser wie zu Hause fühlte und früher durchaus schon zehn Kilometer oder mehr am Stück geschwommen war. Das Festland war wesentlich näher und das Wasser sicher so warm, dass man es Stunden darin aushalten konnte. Er hielt sich gerade noch zurück. Anscheinend hatten sie ihre Beobachtung erst begonnen, nachdem er das letzte Mal Schwimmen gewesen war.

„Welche Blumen passend sind, überlasse ich ganz dir“, sagte er lakonisch. „Was das angeht, haben Frauen meist den besseren Geschmack.“

Sie ließ es zu, dass er sie duzte. Alles andere erschien ihr an einem Ort wie diesem und fern aller Verpflichtungen falsch. Außerdem hoffte sie, dass es eine Wende in seiner Einstellung zu seiner Lage und ganz besonders zu ihr ankündigte.

Das Gepäck wurde auf ihr Zimmer gebracht. Liara zog sich eilends um und überzog ihre helle Haut dick mit Sonnencreme. Auch ihr war es zu warm geworden. Sie wollte bloß noch ins Meer.

Nur mit einem Bikini und Sandalen bekleidet lief sie zum Strand. Michael durchsuchte sein Gepäck und fand eine knallbunte Badehose. Nicht ganz sein Geschmack, aber sie passte wie auch die Sandalen. Er cremte sich ebenfalls ein. Dann folgte er ihr. Sie war schon im Wasser, als er ankam.

Am liebsten wäre er gleich ins kühle Nass gesprungen und eine Runde geschwommen. Aber er hatte sich entschieden, Liara glauben zu machen, er könne nicht gut schwimmen. Er wollte erst das Meer und die Winde beobachten und dann seine Entscheidung hinsichtlich einer Flucht treffen.

So stellte er sich ans Ufer und tastete sich dann vorsichtig ins Wasser vor. Liara sah ihm kopfschüttelnd zu.

„Kannst du nicht schwimmen?“, rief sie.

„Doch, schon“, rief er zögernd zurück.

„Dann komm rein. Das Wasser ist fast schon zu warm und der Boden ganz flach.“

„Du hast gesagt, es gibt hier Strömungen.“ Er hatte sich bis zu den Hüften ins Wasser vorgewagt. „Sicher gibt es hier auch Haie.“

„Weiter draußen ist die Strömung recht stark. Aber nahe am Ufer droht dir keine Gefahr. Komm. Es gibt hier nur kleine Fische, die einem schon mal Hautschuppen abnagen, aber sonst ungefährlich sind.“

„Sicher?“

„Ganz sicher. Pass nur auf, dass du auf keinen Stein trittst. Die sind höllisch scharf. Ich hab davon eine Narbe am Fuß.“

Sie lag paddelnd auf dem Meer und ließ sich von den Wellen schaukeln. Er näherte sich ihr. „Hast du keine Angst, dass ich dir was tue?“, fragte er. „Außer uns ist hier niemand, der dir helfen könnte.

Sie stellte sich auf und sah ihn ernst an. „Zum einen kämst du nicht mehr lebend von der Insel runter, wenn du mir etwas antun würdest. Falls dir das überhaupt gelänge. Unterschätze mich nicht“, warnte sie ihn. „Zum anderen hättest du sicher keine Lust, meiner Nachfolgerin zur Verfügung stehen zu müssen.“

„Wer weiß. Wer ist deine Nachfolgerin.“

„Fehild. Unser Erbgut dürfte so ähnlich sein, dass sie dich gleich übernehmen könnte.“

Er schien zu überlegen. „Sie ist hübsch und sehr leidenschaftlich. Wir hätten sicher viel Spaß miteinander.“

Empört bespritzte Liara ihn mit Wasser. Lachend floh er an Land. Sie verfolgte ihn, immer noch Wasser auf ihn spritzend.

Am Strand ließ er sich zwischen ein paar großen Steinblöcken in die Enge treiben. Noch mehr außer Atem als er baute Liara sich mit in die Hüften gestemmten Armen vor ihm auf. „Wage es nicht, was mit meiner Schwester anzufangen“, drohte sie neckisch.

„Nein“, lachte er zurück. „Das wage ich nicht. Alles andere, aber das nicht.“ Sie kam auf ihn zu und umarmte ihn. Ihr Gesicht lag an seiner Brust. Er legte sein Kinn auf ihren Scheitel. Sie wünschte sich, sie hätten sich unter anderen Umständen kennengelernt. Er roch das Meer in ihren Haaren und wünschte sich, sie hätten sich unter anderen Umständen kennengelernt. Sie schwiegen, überwältigt von der Schönheit der Natur und von Gefühlen, die sie sich niemals selbst erlauben durften.

Am Himmel näherte sich die Sonne wie ein roter Glutball dem Horizont und überzog alles mit einem goldenen Licht. Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen. Er sah die gleiche Glut darin wie über dem Meer. Der Drache entstieg dem Feuer und verbrannte ihn. Es gab nur einen Weg, die Glut zu löschen.

Seine Lippen legten sich auf ihre. Diesmal eroberte seine Zunge ihren Mund. Seine Hand schob das Oberteil ihres Bikinis beiseite. Sie stöhnte als seine Finger über ihre Brustwarzen glitten. Im Gegenzug suchte ihre Hand den Bund seiner Badehose und drückte sich darunter. Sie fand ihn bereit und löste ihren Mund von seinem. „Lass es uns gleich hier tun.“

„Der Diener“, flüsterte er mit heiserer Stimme.

„Ist im Haus.“

„Woher weißt du das.“

„Ich weiß es.“

„Woher?“

„Du störrisches Miststück“, sagte sie und zog seine Badehose herab. Sein Glied sprang hervor. „Ich werde dir beibringen, was es heißt, mir zu widersprechen.“

Sie kniete sich vor ihm in den Sand und nahm sein Glied in den Mund. Verwundert sah er auf sie herab. Seine Verwunderung hielt nur einen Moment. Er legte seine Hände auf ihren Kopf und packte ihre nassen Haare, fühlte und führte ihre Bewegungen. Ihr Mund, ihre Zunge und ihre Lippen reizten ihn, bis er jede Müdigkeit nach einer langen Reise vergaß. Jeder Gedanke an eine Flucht verging ihm. Und eigentlich auch jeder andere Gedanke.

Sie löste sich von ihm. „Leg dich hin“, forderte sie ihn auf. Diesmal gehorchte er ihr mit Freuden und legte sich vor ihr auf dem Rücken in den Sand. Sie stieg so hastig aus ihrer Bikinihose, dass sie fast gestürzt wäre und kniete sich dann neben ihn. Sein Glied reckte sich ihr entgegen wie die Palmen hinter ihr. Ihre Augen glitten bewundernd über seinen ganzen Körper. Fast ehrfürchtig strich ihre Hand über seinen Oberschenkel und seinen Bauch. Ihre Augen fanden seine. Sie setzte sich auf seinen Unterleib und nahm ihn in sich auf.

Hinter ihr versank die Sonne im Meer. Der Horizont brannte. Michael wusste, der Drache ritt ihn und er überließ sich ganz seiner Herrschaft.

Seine Haut brannte dort, wo sie sie sich berührten. In ihrem Gesicht erkannte er ihre Erregung. Er hatte nicht genügend Hände, um sie überall dort zu berühren, wo er wollte. Sie beugte sich vor. Er hob den Kopf aus dem Sand und nahm ihre Brustwarze in den Mund. Das Rauschen der Wellen untermalte ihr Stöhnen und Flüstern, während sie sich im von der Sonne noch heißen Sand liebten.

Liara erhob sich. „Wir müssen uns vor dem Abendessen noch fertig machen“, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie ging vor und Michael folgte ihr. An ihrem Gang erkannte er, dass er seine Aufgabe zu ihrer vollsten Zufriedenheit erfüllt hatte und es fühlte sich viel zu gut an.

Der Diener hatte ein Mahl aus tropischem Obst, Reis und Fisch vorbereitet. Dazu gab es gekühlte Getränke.

Während sie auf der Terrasse speisten, bäumten sich schwere Wolken auf. Obwohl der Wind auffrischte, legte sich ihr Scheiß wie ein klebriger Film auf ihre Haut.

Die Dunkelheit war herabgesunken und mit ihr kamen die Mücken. Doch keine näherte sich ihnen, der Wolf hielt sie fern.

Es roch nach Regen. Als die ersten Tropfen fielen, waren sie mit dem Essen fertig und zogen sich auf eine Veranda zurück. Mit ihren Getränken in der Hand saßen sie anfangs schweigend auf ihren Stühlen und sahen im flackernden Schein eines Windlichts dem Regen zu.

„Normalerweise regnet es hier um diese Zeit nicht so viel“, sagte Liara etwas melancholisch.

„Was ist hier schon normal.“

„Wie geht es dir?“ Sie schaute ihn nicht an.

Er starrte auf das Meer hinaus. „Ich sitze hier mit einer schönen Frau auf einer wundervollen tropischen Insel. Mein Getränk ist kühl und hat genau die richtige Menge an Alkohol. Wie soll es mir sein?“

„Du weißt, dass ich auf eine direkte Frage eine direkte Antwort erwarte.“

„Oh ja. Der Tag in der dunklen Zelle war recht … entspannend. Aber ich weiß nicht, ob du die Wahrheit verträgst. Ich wage nicht daran zu denken, was mir blüht, wenn du es nicht tust und ich zu wagemutig bin.“

Sie nahm einen Schluck und legte den Kopf in den Nacken. Irgendwo auf der Insel schrie ein Tier. „Sag es mir. Ich will es wissen.“

Er zögerte noch einen Moment. „Es ist wunderschön hier. Für einen solchen Urlaub würden andere Tausende bezahlen. Aber ich würde jetzt lieber in meinem Haus sitzen und Regen anstarren, der 25 Grad kälter ist, wenn ich nur frei wäre.“

„Alleine?“

„Nicht, wenn ich es nicht wollte.“

Ihr Herz zog sich zusammen. Er erwartete keine Entgegnung. Sie gab ihm keine. Schweigend sahen sie dem Regen beim Fallen zu und hörten, wie er auf Palmwedel prasselte.

Liara streckte eine Hand aus und berührte seinen Unterarm. Er reagierte nicht, zog ihn nicht weg und hielt seine Hand mit dem Glas weiter in seinen Schoß gebettet.

„Du glaubst mir immer noch nicht.“

„Doch. Dank Fehild glaube ich dir deine Geschichte. Sie muss von einem Wolf und einem Drachen abstammen und zudem von einem Giftpilz und einer Nesselqualle.“

„Wenn man dich so hört, könnte man meinen, ihr wärt miteinander verheiratet.“

„Oh nein. Dazu schreit sie mich zu selten an.“ Als er die Hand hob und einen Schluck nahm, sah sie im Schein des Windlichtes den Armreif an seinem Handgelenk und der Anblick beruhigte sie. Er gehörte ihr, was auch immer geschehen sollte. Niemals ließe sie zu, dass irgendjemand ihm ernsthaft Schaden zufügen oder ihn ihr wegnehmen würde, auch nicht ihre Schwester.

Sie atmete tief durch. „Wirst du mir jemals verzeihen.“

„Vielleicht. Aber nicht vor dem Tag, an dem du mich gehen lässt.“

Sie saßen noch eine Weile schweigend auf der Veranda. Liara erhob sich und ging ins Bett. Sie lauschte auf seine Schritte. Er kam nicht nach. Erst als sie fast schon eingeschlafen war, fühlte sie ihn neben sich. Sie umarmte ihn, ohne etwas zu sagen. Er erwiderte ihre Umarmung genauso wortlos, während draußen Blitz und Donner unter dem Applaus des Regens ein tropisches Drama aufführten.

 

Am nächsten Morgen saßen sie sich am Frühstückstisch gegenüber. Michael hatte sich ein gewebtes Tuch wie ein Einheimischer um die Hüften geschlungen. Liara trug einen Bikini. Trotzdem schwitzten sie schon jetzt in der feuchten, tropischen Wärme.

Sie bemühten sich schleppend um ein unverfängliches Gespräch. Die Worte vom Vorabend hingen wie ein nasses, öliges Tuch zwischen ihnen. Gesagtes, das nicht zurückgenommen werden konnte. Gesagtes, das wahr war.

„Wer ist alles hier auf der Insel?“, fragte Michael und beschäftigte sich intensiv mit seinem Ei.

„Nur du und ich. Warum?“

„Nur so. Aber der Diener ist auch hier?“

„Ja, aber der zählt nicht. Er ist sehr diskret. Du wirst Mühe haben, ihn überhaupt zu sehen, wenn du ihn nicht rufst.“

„Menschen zählen für euch nicht, wenn sie nicht zu euch gehören.“

„Er hat im Bürgerkrieg seine rechte Hand und einen Teil seines Gesichtes verloren. Dadurch ist er entstellt und stigmatisiert. Er geht nicht gern unter Menschen. Wenn er hier keine Beschäftigung gefunden hätte, müsste er betteln gehen.“

„Er hat wohl Glück gehabt, dass er überlebt hat.“

„Das ist relativ.“

„Was ist passiert?“

„Sein Dorf gegenüber auf dem Festland wurde von Rebellen überfallen. Er war der einzige, der überlebt hat. Wir fanden ihn zwischen den angekohlten und verstümmelten Leichen seiner Familie und konnten ihn mit dem Hubschrauber in ein Krankenhaus fliegen. Ich will nicht wissen, wie oft er uns dafür verflucht hat. Niemand außer ihm weiß, was er gesehen und gehört hat. Er hat seine ganze Familie verloren. Durch sein Aussehen und den Verlust gerade der rechten Hand ist er ein Ausgestoßener. Kleine Kinder laufen weg, wenn sie ihn sehen, die großen verspotten und beleidigen ihn.“

„Kann man sein Gesicht nicht operieren lassen und ihm eine Prothese besorgen?“

„Das haben wir ihm schon mehrmals angeboten, aber er lehnt es ab. Er glaubt, es sei eine Strafe für eine Sünde in irgendeinem anderen Leben und wenn er sie jetzt nicht absitzt, verfolgt sie ihn bis ins nächste.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Religionen sind oft so was von Scheiße.“

Michael war nicht nur über ihre ungewohnt deftige Ausdrucksweise überrascht. „Du leitest selber eine Sekte.“

Sie sah ihn fest an. „Ganz bestimmt nicht. Wir glauben nicht, wir wissen, wer und was wir sind und welche Bestimmung wir haben.“

„Das behaupten alle Sektenführer von sich.“

Liara hob eine Augenbraue. „Ich trage weder wallende Gewänder noch einen langen Bart. Außerdem gebe ich keine mystischen Gesänge von mir und von Räucherstäbchen bekomme ich Niesanfälle.“

„Moderne Gurus sind eben lern- und anpassungsfähig.“

Liara wurde ärgerlich. „Du hast unser Schiff gesehen.“

„Ob das Ding, das in deiner Tiefgarage parkt, tatsächlich fliegt, muss sich erst noch herausstellen.“

Liara lächelte ihn an. „Du wirst es nicht nur sehen, du wirst sogar in ihm sein, wenn es abhebt.“

„Warst du schon oft hier?“, wechselte er das Thema.

„Ein paar Mal als Kind. In den letzten Jahren immer seltener. Leider fehlt mir jetzt die Zeit, öfters und länger hierher zu kommen.“ Dass es noch einen Grund gab, der sie in den letzten Jahren ferngehalten hatte, sagte sie ihm nicht. Er brauchte es nicht zu wissen – und es auszusprechen hätte ihr nur Schmerz bereitet. Das Paradies, das zur tödlichen Hölle geworden war.

„Wieso fehlt dir die Zeit? Als Guru musst du nicht arbeiten.“

„Ich habe einiges zu tun.“

„Was zum Beispiel?“

„Zum Beispiel wilde Männer zähmen.“

„Übernimmt das nicht deine kleine Schwester für dich?“

„Nur bei den ganz wilden.“

„So wie bei mir?“

„Du warst der wildeste.“

Wider Willen musste Michael lächeln. Dann fuhr er wieder ernst fort. „Hast du schon oft andere Männer mit einem Urlaub auf dieser Insel überrascht?“

Sie sah ihn schräg an. „Nur den wildesten.“

„Verglichen mit deinem Haus lebst du hier ausgesprochen ungeschützt. Keine Bewacher, nur ein Diener.“

„Man kann sich nicht vor allem schützen und das Gefährlichste ist eh das, was man nicht erwartet.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel du.“

„Ich?“

„Mit so etwas wie dir hatte ich bei Gott nicht gerechnet.“

Sie irrte sich. Er war nicht gefährlich für sie. Niemals könnte er ihr etwas antun. Er wusste es.

Später gingen sie wieder an den Strand. Die schmerzhaften Gespräche vom Vorabend und vom Frühstück schlossen sie aus ihren Erinnerungen aus. Was war, ließ sich hier und jetzt nicht ändern.

Obwohl der Sand fast weiß war, hatte er sich unter der hochstehenden Sonnen nahe am Äquator bereits aufgeheizt und verbrannte ihre nackten Fußsohlen. Sie rannten zum Wasser und ließen sich dort, wo das Meer ihn abgekühlt hatte, lachend wie zwei übermütige Kinder fallen. Nebeneinander sitzend starrten sie mit im Sonnenlicht blinzelnden Augen auf das Festland gegenüber.

„Es sieht so friedlich aus“, sagte Liara plötzlich wieder ernst. „Dabei sind dort so viele Menschen ermordet worden.“

„Mit Waffen, die von euren Bestechungsgeldern gekauft wurden.“

„Wenn wir ihnen kein Geld gäben, nähmen sie es aus den Händen anderer. Die hätten dann Einfluss auf das, was hier passiert.“

„Und es ist natürlich besser, wenn ihr über das Schicksal der Menschen in diesen Land bestimmt“, sagte Michael zynisch.

„Wir fordern sie nicht zu Morden, Raub und Vergewaltigungen auf.“

„Nun ja, wer sich im Morast wälzt, macht sich schmutzig. Aber jeder von uns sieht das wohl auf seine Weise. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass deine obskure Gemeinschaft irgendetwas Gutes bewirkt. Ihr seid alles andere als demokratisch oder menschenfreundlich.“

Liara ließ nassen Sand durch ihre Hand ins Meer gleiten. „Wir wollen hier nur unsere Ruhe haben und sicher sein. Es ist eine Notwendigkeit.“

„So wie mich gefangen zu halten?“

„Ich hatte gehofft, du würdest das inzwischen anders sehen.“

„Solange ich bei Verstand bin, werde ich das niemals anders sehen.“

„Ist dir immer noch nicht klar, dass du die Zukunft eines ganzen Planeten in deinen Händen trägst?“

„Wohl eher in meinen Hoden.“

Liara verzog das Gesicht. „Was würdest du tun, wenn ich dich gehen ließe?“

„Leben.“ Sie hörte keine Hoffnung in seiner Stimme.

„Würdest du bei mir bleiben?“

„Das kann ich dir nicht versprechen.“

Sie sprang auf und trat nach dem Wasser. „Warum bist du nur so verdammt ehrlich!“

„Du würdest es wissen, wenn ich dich anlüge, auch wenn du nicht hinter meine Stirn schauen kannst.“

Sie war einen Moment verblüfft. „Woher weist du das.“

„Ich habe es schon lange geahnt.“

„Seit wann weißt du es?“

„Seit dem Abend, als Egmont den Unfall hatte. Du hast in deinen Zimmer gesessen und jemand anderen erwartet, sogar als ich direkt neben dir stand. Du bist richtig zusammengezuckt, als du mich erkannt hast.“ Er grinste spitzbübisch. „Ich hätte nie gedacht, das ich dir einen Schrecken einjagen kann.“

Liara brauchte einen Moment, bevor sie antwortete. „Sag niemandem etwas davon!“

Er sah nachdenklich in die Ferne. „Ich weiß. Fehild würde mich töten oder versuchen, mich zu ihrem Komplizen zu machen.“

„Warum sollte sie dich zu ihrem Komplizen machen?“

„Ich komme näher an dich heran als fast jeder andere Mensch. Was geschieht, wenn du, sagen wir einmal, vorzeitig und kinderlos aus dem Leben scheidest? Sie ist deine Erbin. Aber sie würde dir keine Träne nachweinen.“

Liara stellte sich empört vor Michael und starrte nicht nur wegen der Sonne mit verkniffenem Gesicht auf ihn herab. Er sah, dass sie ihren Zorn nur mühsam beherrschen konnte. „Alleine für deine Worte müsste ich dich für den Rest deines Lebens in die Zelle stecken. Sag so etwas nie wieder, Neun! Meine Schwester würde ihr Leben für die Gemeinschaft und mich geben. Sie würde mich niemals verraten.“

Michael stand gelassen auf. „Du magst ihr vielleicht vertrauen. Aber ich traue ihr keinen Millimeter über den Weg. Ich hoffe für dich und für mich, dass ich Unrecht habe. Wenn nicht, ist es zu spät, wenn du es merkst.“

„Du bist irre. Du bist vollkommen irre. Wie kannst du nur so etwas glauben und sogar vor mir aussprechen.“ Liaras Stimme überschlug sich fast vor Empörung. „Geh mir aus den Augen!“

Michael zuckte mit den Schultern. Er wusste, dass er ihre hohe Meinung über Fehild nicht ändern konnte. Resignierend stapfte durch den feuchten Sand davon. Sie sah ihm hinterher, bis er hinter einem Felsblock verschwand.

Immer noch aufgebracht ging sie in die andere Richtung. Nein. Fehild würde sie nicht verraten. Niemals!

Es hatte angefangen zu blitzen und zu regnen. Donner übertönte das Geschrei der Tiere. Nun sind Inseln rund, mehr oder weniger. Sie dachte nicht daran, als sie mit immer noch klopfendem Herzen die Augen schloss und ihr Gesicht dem verregneten Himmel zuwandte. Es war so verdammt sinnlos mit ihm zu streiten. Regentropfen sammelten sich wie Tränen in ihren Augen. Sie erschrak, als sie sie wieder öffnete. Er stand vor ihr und starrte sie an. Das Tuch, das er um seine Hüften geschlungen hatte, klebte feucht auf seiner Haut und malte die Konturen seines Körpers ab. Nach Sekunden überraschten Schweigens trat er die letzten Schritte auf sie zu.

Er ging vor ihr auf die Knie, packte sie an den Hüften und zog sie dicht an sich heran. Sein Gesicht lag auf ihrer Scham, die nur von einen knappen Bikini bedeckt wurde. Sie zitterte am ganzen Leib. Wut. Erregung. Sie beugte sich vor und fuhr mit ihren Fingern durch sein nasses Haar, während er ihren Duft tief in sich einsog. Er roch ihre Erregung. Hastig zog er den Stoff von ihrer Haut. Sein Atem streifte über die vom Regen nasse Haut unter ihrem Bauchnabel. Sie genoss es, als seine Lippen ihre Scham streichelten und seine Zunge gierig die abperlenden Tropfen, die ihren Geschmack in sich trugen, aufleckte. Das Sonnenlicht tanzte in dem gleichen wilden Rhythmus auf ihrer Haut, in dem auch ihr Herz schlug.

Er hob seinen Kopf zu ihr. Sie lächelte ihn an, wissend, dass ihre Wahl auch auf ihn gefallen wäre, wenn sie unter allen Männern dieses Planeten hätte wählen dürfen. Gleichzeitig verspürte sie einen Schmerz tief in sich drin: So, mit Gewalt erzwungen, war es nicht dasselbe, wie wenn er freiwillig an ihrer Seite gewesen wäre.

 

Nach dem Mittagessen des folgendes Tages besorgte Liara sich eine Taucherbrille und Flossen. „Ich geh Schnorcheln. Kommst du mit?“

„Ich komme gleich nach.“

Sie stand im knietiefen Wasser, spuckte in ihre Taucherbrille und verteilte den Speichel auf dem Glas, damit es unter Wasser nicht beschlug. Nachdem sie die Flossen angezogen hatte, paddelte sie los. Das Sonnenlicht warf tanzende Muster auf den Meeresboden unter ihr. Begeistert über die bunten Fische und üppig bewachsenen Steine, die wie Inseln im glasklaren Wasser unter ihr im Sand lagen, bemerkte die herannahende Gefahr nicht.

Einige Zeit später folgte Michael ihr an den Strand. Am Ufer stehend sah er, dass die Wellen stärker wurden und runzelte die Stirn.

Liara genoss das Auf-und-ab des Meeres. Sie wusste viel. Aber sie wusste zu wenig über den Mond und das Meer.

„Komm raus“, schrie Michael ihr zu.

Sie hörte ihn rufen, verstand ihn aber nicht. „Was?“, rief sie zurück.

Er ruderte mit den Armen und schrie erneut etwas, das sie nicht verstand. Doch dann bemerkte sie das Anschwellen der Wellen. Es war plötzlich gekommen und beunruhigte sie ein wenig. Sie paddelte in Richtung Ufer.

Im Gegensatz zu ihr wusste Michael um die Kraft des Neumondes und das, was sie bewirken kann, wenn sie zusammen mit der Flut kommt. Er stürzte sich ins Wasser.

Nur Minuten später bäumten sich die Wellen auf. Jede brach mit einer breiten Schaumspur und setzte gewaltige Energien frei. Jetzt rissen auch nahe beim Ufer Strömungen alles mit sich, was nicht fest war.

Liara spürte die Kraft der Wellen. Ihre Unruhe wuchs. Nur manchmal noch konnte sie Michaels Kopf wie einen auf dem Wasser tanzenden Ball zwischen den Wellenbergen ausmachen. Als eine Welle Meter über ihr brach, wurde sie mitgerissen. Das Meer wirbelte sie herum wie einen Korken in kochendem Wasser. Sie wusste nicht mehr wo oben oder unten war, hatte die Kontrolle über ihre Glieder verloren. Die Taucherbrille wurde weggerissen und Salzwasser strömte ihr schmerzhaft in Nase und Rachen. Sie strampelte in Todesangst mit ihren Armen und Beinen.

Nachdem die brechende Welle über sie hinweg gerollt war, kam sie prustend und nach Luft schnappend an die Oberfläche. Voller Angst sah sie in Richtung offenes Meer. Die nächste Welle ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken. Diesmal wusste sie wo unten war, als sie auf den Sand gepresst wurde. Sie hatte Glück, dass ihr dort kein Stein die Haut aufschnitt. Wieder fühlte sie Panik, strampelte wild mit Armen und Beinen. Sie riss die Augen auf, aber sie konnte nur diffuses Licht erkennen.

Als sie auftauchte, war Michael neben ihr. Sie wollte in Richtung Ufer schwimmen, paddeln, rennen, was auch immer. Er hielt sie fest. Sie wollte sich losreißen, aber sie hatte keinen Grund unter ihren Füßen und er war stärker als sie. „Du musst so tief tauchen, wie du kannst, wenn die Welle über dir bricht.“

„Was?“

Die nächste Welle war da. „Runter!“, schrie Michael und verschwand unter Wasser. Instinktiv folgte sie ihm und tauchte so tief, wie sie konnte. Die Zeit war kurz, sie kam nicht weit runter. Trotzdem wurde sie nur ein wenig hin und her geworfen.

Sie tauchte gleichzeitig mit Michael auf und sah sich mit vom Salzwasser brennenden Augen um. Das Meer war für einen Moment ruhiger geworden. Die nächsten Wellen waren weniger hoch und brachen erst näher beim Ufer. Sie wollte dorthin schwimmen.

„Wir müssen weiter raus“, rief Michael ihr zu.

Liara glaubte nicht richtig zu hören. „Bist du verrückt! Ich will raus aus dem Wasser.“

„Wir kommen jetzt nicht ans Ufer. Zwischen den Wellen bleibt uns nicht genug Zeit. Wenn du es versuchst, kannst du froh sein, wenn du dir nichts brichst oder ertrinkst. Komm.“

„Die Wellen sind nicht mehr so schlimm.“

„Sie wachsen gleich wieder an.“

„Wieso bist du dir da so sicher?“

„Komm“, antwortete er nur und schwamm weiter hinaus. Sie sah hektisch zwischen ihm und dem Ufer hin und her. Als sie das Gefühl hatte, dass die nächste Welle schon wieder stärker wurde, schwamm sie ihm hinterher.

Nach nur hundert Metern hielt er an.

„Sind wir hier sicher?“ fragte sie skeptisch.

„Ich denke schon, die Wellen brechen weiter drinnen.“

Sie sah, dass er Recht hatte. Obwohl die Wellen wieder anwuchsen, war das Wasser um sie herum relativ ruhig.

Sie war erleichtert. Zu früh. Ein schneidender Schmerz in ihrem Unterschenkel ließ sie aufschreien. „Ich kriege einen Krampf.“

Sie griff nach der Flosse. Grade als sie die Spitze gefasst hatte und daran zog, um den Wadenmuskel zu strecken und den Krampf zu lösen, schien jemand ein Messer in ihren anderen Unterschenkel zu stoßen und es umzudrehen. Der zweite Krampf ließ sie in Panik aufschreien. „Michael.“

Der Schmerz war unerträglich, schlimmer als alles, was sie jemals erlebt hatte. Sie ruderte ohne Sinn und Verstand mit den Armen, schrie, stöhnte. Sie schluckte Wasser, ihr Kopf geriet unter die Oberfläche. Sie schluckte mehr Wasser. Der Schmerz war stärker als alles andere, stärker als der Drang zu atmen.

Michael hatte ihren panischen Hilfeschrei gehört und war sofort bei ihr. Er griff nach unten. Seine Hand fasste ihre Haare und zog sie nach oben, obwohl sie vor Schmerz um sich schlug. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie hustete, spuckte Wasser, keuchte. Sie klammerte sich an ihn. Er hielt sie an sich gedrückt, schluckte selbst Wasser.

Der Schmerz ließ nach. Doch bei jeder Bewegung ihrer Beine drohten die Muskeln ihrer Unterschenkel sich wieder zu verkrampfen. Sie hatte mehr Angst vor dem Schmerz als vor dem Ertrinken.

Michael sprach beruhigend auf sie ein. „Schscht. Bleib ganz ruhig. Ich halte dich. Mach nichts.“ Sie hörte seine Worte, fühlte sich sicher in seinen Armen. Obwohl die Strömung an ihren Flossen zog, bemühte sie sich, ihre Beine nicht zu bewegen. Einander umschlingend schaukelten sie auf den Wellen, bis sich der Aufruhr des Meeres beruhigt hatte. Michael nahm Liaras Hand. „Mach nichts, lass dich treiben.“ Er zog sie durch das Wasser ans Ufer. Als seine Füße den Grund fanden, ging es leichter, und er war froh darüber, denn auch seine Muskeln waren von der doppelten Last überfordert.

Als ihnen das Wasser nur noch bis zu den Hüften reichte, zog Liara die Flossen aus. Von Michael gestützt erreichte sie das Ufer.

An der Grenze zwischen Meer und Strand ließ sie Flossen fallen und sank erschöpft auf die Knie. Wellen umspülten ihre Beine so sanft, als hätte es nie eine Gefahr gegeben. Die Muskeln in ihrem Gesicht zogen sich zusammen. Ein kaum merkliches Zucken lief durch ihre Kehle. Sie versuchte, es zu unterdrücken. Es kam zurück, wurde stärker, erfasste ihren ganzen Körper. Sie heulte, heulte vor Erschöpfung, Erleichterung und überstandener Angst. Ihr ganzer Körper wurde erschüttert. Sie konnte nicht verhindern, dass er ihre Schwäche sah.

Michael setze sich neben sie. Er legte eine Hand auf ihre Schulter und und wartete schweigend, bis sie sich beruhigte. Sie starrte an ihm vorbei in den Sand. „Danke“, sagte sie, ohne ihn anzusehen, und stand mit wackeligen Beinen auf. Mit noch vorsichtigen Schritten ging sie über den Strand und dann hinauf zum Haus. Die Flossen ließ sie zurück.

Michael blieb noch einen Moment sitzen, während sein Blick über das immer noch schäumende Meer glitt. Er griff nach den Flossen. Seine Muskeln schmerzten, als er sich aus dem Sand erhob und Liara ins Haus folgte.

Sie saß auf dem Bett. Sand haftete auf ihrer Haut oder hatte sich auf der Bettdecke verteilt. Sie hatte ihre Knie so eng es ging an sich gezogen und hielt sie mit ihren Armen umschlungen. Den Blick hielt sie auf ihre Füße gerichtet, ohne sie wirklich zu sehen.

Sie sah nicht auf, als er die Flossen unter den Tisch warf. „Es tut mir leid“, sagte sie mit dünner Stimme, ohne ihn anzuschauen.

„Was tut dir leid?“

„Du hast mir heute mindestens einmal das Leben gerettet, wahrscheinlich sogar zweimal, und ich kann dir deines nicht wiedergeben.“

Er biss die Kiefer zusammen und ging hinaus.

 

In den nächsten Tagen schliefen sie morgens so lange, bis das Geschrei der Affen sie weckte. Dann erwachte Michael schon kurz nach Sonnenaufgang und stellte fest, dass Liara bereits aufgestanden war. Er hörte die Schritte ihrer nackten Füße auf der Veranda.

Durch das Fenster konnte er sehen, dass sie nur in ein dünnes Tuch gewickelt zielstrebig ins Landesinnere ging. In der Hand hielt sie eine Blume.

Er folgte ihr ungesehen, bis sie plötzlich stehenblieb und lange auf den Boden blickte. Zu seinem Erstaunen sah er, dass sie niederkniete und die Blume in den Sand legte.

Neugierig näherte er sich ihr. Sie hörte seine Schritte und sah überrascht auf. In ihren Augen standen Tränen. Sie wischte sie verlegen weg und erhob sich. Obwohl er den Grund für ihre Tränen nicht wusste, erwachte sein Beschützerinstinkt. Alles in ihm schrie danach, seine Arme um sie zu legen und ihr den Schmerz, der sie weinen ließ, zu nehmen.

„Was tust du hier?“, fragte sie unsicher.

„Ich bin dir nachgegangen“, erklärte er das Offensichtliche. Er betrachtete eine große Steinplatte, die vor ihnen in den Sand eingebettet worden war. Die Zahl 8 und der Name Marius Liade waren dort eingemeißelt.

Auch Liara sah auf die Platte herab und schluckte. Sie konnte nichts sagen.

„Liegt hier dein Vater?“, fragte Michael.

Sie nickte.

„Warum hier, war das sein Wunsch?“

Liara schüttelte den Kopf. Sie hatte Mühe, sich zu fassen.

„Es hat kein gutes Ende genommen?“, fragte Michael vorsichtig.

Liara schluckte erneut, dann begann sie mit gesenktem Kopf zu sprechen. Anfangs fiel es ihr schwer. Es waren Worte, die sie lange hatte unterdrücken müssen und die in ihrem Innern festzustecken schienen.

„Er war so anders als du.“ Michael unterbrach ihre kurze Pause nicht, hörte nur zu. „Er war so voller Lebenslust und verrückter Zukunftspläne. Wenn er lachte, ging allen das Herz auf.“ Sie hob ihr Gesicht und blickte mit einem traurigen Lächeln in die Ferne. „Er war ein Spieler und hätte seine Schulden nie zurückzahlen können. In den meisten Spielhallen seiner Stadt hatte er Spielverbot. Nachdem er in die Gemeinschaft geholt worden war, fügte er sich schnell ein. Er liebte den Luxus an der Seite meiner Mutter und als er feststellte, dass er ein gerngesehener Gast in den Casinos dieser Welt war, war er zufrieden.“

„Hat er nie versucht, sich abzusetzen?“

„Er bekam nie selbst Geld in die Hände, nur Jetons. Durch die Gemeinschaft konnte er Unsummen verspielen. Er war glücklich.“

„Und vom Spiel und deiner Mutter abhängig.“

„Ja.“

„Hat er er nie versucht, Geld, das er gewonnen hatte, vor euch zu verbergen?“

„Wenn er etwas gewonnen hatte, wurde es gleich wieder verspielt. Im Grunde war er arm wie eine Kirchenmaus, aber die Gemeinschaft zahlte für ihn. Er hatte immer einen Bewacher dabei, aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil, er genoss es, denn es betonte seine Wichtigkeit in den Augen der anderen.“

„Du hast ihn geliebt?“

Liara nickte versonnen. „Er hat meine Schwester und mich abgöttisch geliebt, und meine Mutter.“

„Oder ihr Geld.“

„Beides. Sie war schön und er bewunderte sie. Fehild ist wie er, äußerlich und vom Charakter. Er hatte dunkle Haare und wenn er in die Sonne ging, wurde er sofort braun. Er sah aus wie ein Pirat, wenn er hier in kurzen Hosen über den Stand lief und einem zulachte. Er liebte die Sonne und das Meer. Für ihn gab es nur das Heute, keine Sorgen um die Zukunft. Seine gute Laune war anstrengend, sogar meine Großmutter mochte ihn irgendwann.“ Liara lächelte traurig. „Ich war als Kind oft traurig, wenn ich sah, wie glücklich Fehild und er miteinander waren. Sie steckten immer zusammen und heckten was aus.“

„Und was war mit dir?“

„Meine Mutter überwachte meine Erziehung, selbst wenn sie wie meist weit weg war. Sie war sehr streng. Alle hatten Angst vor ihr. Aber Fehild waren Freiheiten gestattet, die ich nie hatte, und sie hatte einen Vater, der sie immer wieder zu irgendwelchen verrückten Sachen mitnahm, während ich lernen musste, die Gemeinschaft zu führen und später die Geschicke eines ganzes Reiches zu lenken.

Damals konnte ich noch nicht verstehen, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als mich meiner Mutter und meinen Erzieherinnen zu überlassen. Aber wenn wir zusammen waren, versuchte er es wiedergutzumachen. Er spielte mit mir im Park Verstecken. Ich habe ihn jedes Mal gefunden, er mich nie. Ich habe mich toll und so erwachsen gefühlt. Als er mit mir ein Baumhaus gebaut hat, war ich überglücklich.“

Michael erinnerte sich daran, dass eine Dienerin ihm verraten hatte, Liara sei vor seiner Entführung jahrelang nicht mehr in den Park ihres Besitzes gegangen. Jetzt wusste er warum. Genau wie er selbst litt sie Seelenqualen, wenn sie alleine dort war und an die Vergangenheit erinnert wurde. Sie traf dort auf jene Erinnerungen, die von dem erzählten, was sich innerhalb der Mauern abgespielt hatte, und er sah auf seine außerhalb herunter. „Du warst allein.“

„Ich hatte immer viele Menschen um mich herum, die dafür sorgten, dass es mir an nichts fehlte.“

„Aber du warst einsam.“ Er war immer noch versucht, einfach nur die Arme um sie zu legen und sie an sich zu ziehen. Aber er wollte es nicht, nahm sich zusammen. Seit ihrer ersten Begegnung stand zwischen ihnen eine Mauer, die höher war als jene, die Liaras Besitz umgab. Er hatte sich in den letzten Wochen schon zu sehr gehen lassen. Da war kein Platz für noch mehr Nähe und Wärme. Wenn das Eis, mit dem auch er inzwischen seine Seele gepanzert hatte, bräche, würde er in der todbringenden Kälte darunter versinken. Liara hatte sich für dieses Leben entschieden, auch wenn andere sie auf den Weg gebracht hatten. Sie verdiente sein Mitleid nicht.

Liara zuckte mir den Schultern, als wolle sie eine Erinnerung abwerfen. „Mein Vater war der einzige Mensch, der mir nicht dauernd gesagt hat, was ich zu tun und zu lassen habe, sondern dass ich gut sei wie ich bin, geradezu wunderbar, und dass er mich liebe.“

„Was ist passiert.“

„Er hat die Gemeinschaft nicht direkt verraten. Aber eines Tages lernte er eine andere Frau kennen. Er schaffte etwas, das wohl niemand sonst auf dieser Welt geschafft hat. Er wurde ein trockener Spieler, der weiterspielte, um den Anschein zu wahren.“

„Und dann?“

„Seine Bewachung war gelockert worden, er hatte nie einen Fluchtversuch oder gar einen Verrat auch nur angedeutet. Doch dann kam ein Verdacht auf. Man beobachtete ihn mit der anderen Frau im Bett. Er redete mit ihr, begann von seinem Leben zu erzählen. Plötzlich war er ein Sicherheitsrisiko. Als er in den Flieger stieg, dachte er, man würde ihn zu seiner Familie bringen wie immer.“

„Aber er wurde hierher gebracht?“

„Ja. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Meine Mutter, die sonst immer so stark gewesen war, hat sich monatelang die Augen ausgeweint.“

„Hätte sie ihn nicht zurückholen können, immerhin war sie eure Anführerin?“

„Man hätte ihren Befehl ausgeführt. Aber sie war die Erste Herrin und ihr Pflichtbewusstsein stand über allem. Wir durften jahrelang nicht mehr auf die Insel. Als Kinder haben wir nicht verstanden warum, und auch nicht, warum unser Vater nicht mehr da war. Vor drei Jahren kam die Nachricht, dass er gegangen ist.“ Liara schluckte.

„Er ist gestorben?“

„Ja.“

Michael hatte das Zittern in ihrer Stimme gehört. „Wie?“

„Er hat sich mit uraltem Whiskey betrunken und ist einfach aufs Meer hinausgeschwommen. Man hat ihn schnell gefunden, er hat auch einen Armreifen mit einem Sender getragen. Aber seine Leiche war schon vollkommen verunstaltet gewesen, als man sie aus dem Wasser zog. Er hat die jahrelange Einsamkeit nicht mehr ertragen.“

„Er hat es vorgezogen zu sterben, statt so zu leben, wie man es ihm aufgezwungen hat, einsam gefangen auf einer Insel, ohne Hoffnung auf Begnadigung oder Erlösung.“

Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Stimme zitterte immer noch. „Egal was du tust, Neun, denk immer an die Folgen. Tu mir so etwas nicht noch einmal an“, bat sie. Eine Träne lief ihre Wange herab. Seine gerade noch mühsam aufrecht erhaltenen Abwehr zerbrach.Er hob die Hand und wischte die Träne vorsichtig mit dem Daumen ab. Liara schniefte. Es war ihr peinlich, in deiner Gegenwart schon wieder so hilflos und schwach zu sein.

Er erkannte die alten Verletzungen tief unter ihrer Haut. Sie hatten Narben hinterlassen, die härter waren als die Steinplatte, die zu ihren Füßen lag. „Das kann ich dir nicht versprechen“, sagte er. Was er für sie empfand, konnte er ihr nicht sagen. Ihr Vater sollte wohl der einzige Mensch in ihrem Leben bleiben, der diese Worte jemals ausgesprochen hatte.

„Wie war deine Mutter?“

„Sie führte die Gemeinschaft. Es war ihr Leben. Das, und unser Vermögen zu vermehren. Sie hatte Beziehungen zu überall hin.“

„Hast du sie geliebt?“

„Bewundert und gehasst.“

„Wieso das.“

„Sie war majestätisch. Selbst ohne die Kraft des Wolfes hätte sich jeder ihrem Willen gebeugt. Sie hat nie an dem gezweifelt, was sie tat.“

„Du hast sie gehasst?“

„Sie hat meinen Vater umgebracht. Aber sie hat ihn nur um ein Jahr überlebt. Sie, die knallharte Geschäftsfrau und unerbittliche Taktikerin, ist an gebrochenem Herzen gestorben.“ Liara zögerte einen Moment. „Ich hatte ihr den Tod gewünscht und dann ist sie gestorben.“

„Du bist nicht schuld an ihrem Tod. Wünsche können nicht töten.“

„Mein Verstand weiß das, aber auch nur er. Ich war bei ihr, als sie starb. Sie war nach dem Tod meines Vaters plötzlich so klein und gebrechlich geworden. Innerlich und äußerlich geschrumpft. Ich hätte niemals gedacht, dass sie jemals nicht mehr da sein würde. Auch wenn sie streng und oft weit weg gewesen war, habe ich mich unter ihrem Schutz immer sicher gefühlt. Ich schämte mich so sehr für meinen Hass, sie hatte ihn nicht verdient. Erst nach ihrem Tod habe ich erkannt, wie sehr sie meinen Vater geliebt hat, auch wenn sie ihn zu einem langsamen Sterben fortgeschickt hat. Zum ersten Mal habe ich verstanden, welche Stürme in ihr getobt haben. Auch sie war eine Liade. Nur hat sie es meisterlich beherrscht, keine Brise nach außen dringen zu lassen.“

„Und was ist in dir, Sturm, Brise oder Flaute?“

„Mehr als du dir vorstellen kannst.“

„Wirst du mich töten, wenn ich fliehe oder dich verrate?“

„Versuch nie, das herauszufinden.“

Sie kehrten schweigend ins Haus zurück. In den Tagen, die ihnen noch blieben, trat kein Streit zwischen sie. Aber nichts war mehr wie zuvor.

Nachts liebten sie sich wie in Paar, das lange getrennt gewesen war und nicht genug voneinander bekommen kann. Liara zeigte Michael, was sie wollte, wie und wo er sie berühren musste. Sie genoss ihn und er war begeistert von ihrem Verlangen. Ihre Hände und ihr Mund berührten ihn überall. Er lernte Dinge zu tun, von denen er nie gedacht hatte, sie mit einer Frau tun zu dürfen und sie drang in Bereiche seines Körpers und seiner Seele vor, die ihm bisher unbekannt gewesen waren. Sie musste tatsächlich einen sechsten Sinn haben, denn sie wusste genau, wie sie ihn in einen geradezu ekstatischen Zustand bringen konnte und machte ihn zu einem willenlosen Geschöpf in ihren Händen. Scham war ihr ein Fremdwort. Niemals hatte er damit gerechnet, dass so etwas geschehen könne, aber er musste sich ihrer Leidenschaft geschlagen geben. Erschöpft und verlegen lachend bat er sie um Gnade.

Tagsüber jedoch gingen sie förmlich wie ein Ehepaar, das sich auseinandergelebt hat, aber den Schein wahren muss, miteinander um. Liara mied seine direkte Nähe, verbat sich jede Berührung.

Nachts war sie der Drache, leidenschaftlich und unersättlich, tagsüber die Reichsherrin, kühl und beherrscht. Die Luft zwischen ihnen war vergiftet von der Unverträglichkeit ihrer Gefühle für einander und dem, was Liara als ihre vom Schicksal auferlegte Pflicht erachtete. Michael wurde von diesem heißkalten Zwiespalt aufgerieben. Als die Rückreise anstand, war er fast schon froh, die kleine Insel verlassen zu können, auch wenn das bedeutete, in sein Gefängnis zurückzukehren.

Der Tag der Abreise war gekommen. Sie hatten kaum miteinander geredet, seit der Hubschrauber von der Insel abgehoben hatte. Auf dem langen anschließenden Flug saßen sie nebeneinander und waren sich doch so fern. Michael fragte sich, wie es sein würde, wenn sie wieder auf Liaras anderer Insel – ihrem Besitz über der Stadt – wären.

Er hatte erkannt, wie sehr er von ihrem Wohlwollen abhängig war. Sein weiteres Leben hing von ihren Entscheidungen ab, bis er fliehen konnte oder man ihn dort rausholte. Die Götter wussten, wann das sein mochte. Er hatte die Wahl, sich ihr zu unterwerfen oder seinen Stolz zu wahren und sich weiter gegen sie aufzulehnen. Beides gefiel ihm nicht.

Verdammt, warum hatte er sie nicht einfach auf einer Party kennengelernt wie so viele andere auch. Er hätte sie mit zu sich nach Hause genommen und wenn er am nächsten Morgen froh gewesen wäre, ihren Geschmack noch auf seinen Lippen zu schmecken und sie mit verwischtem Make-up und wirrem Haar neben sich aufwachen zu sehen, hätte er gewusst, dass sie die Richtige für ihn war, vielleicht für die nächsten Wochen, Jahre oder den Rest seines Lebens.

Sie bemerkte seinen nachdenklichen Gesichtsausdruck und schaute fragend zu ihm rüber. Bitte, sieh mich an, dachte sie. Er schaute kurz und mit verkniffenen Augen auf. Sein Gesicht verhärtete sich zur Maske. Dann wendete er es ab und starrte durch das Fenster in das klirrend kalte Blau des Himmels.

Seine Zurückweisung traf Liara hart. Sie hatte gehofft, die gemeinsame Zeit auf der Insel hätte ihre Beziehung einfacher gemacht. Aber jetzt erschien ihr alles noch viel schwieriger. Männer hatten ihren Körper berühren dürfen, aber nie ihre Seele. Jetzt hatte sie erkannt, wie viel ihr seine Nähe, seine Berührungen, der Klang seiner Stimme bedeuteten.

Alles, was sie von ihm bekommen konnte, war erzwungen. Doch das war nicht das, was sie sich von ihm erhoffte. Sie wollte, dass er sich aus vollem Herzen zu ihr bekannte. Sie wollte Freude in seinen Augen sehen, wenn er sie anblickte, nicht einen Vorwurf. Sie wollte, dass er sich genauso danach sehnte, einander zu berühren, zu schmecken und zu riechen, wie sie es tat.

Aber sie durfte es nicht wagen, Neun vor die Wahl zu stellen, zu gehen oder zu bleiben. Man hatte lange gebraucht, einen passenden Mann zu finden, sehr lange. Es würde mindestens genauso lange dauern, einen Ersatz für ihn zu finden. Vielleicht zu lange. Und sie wollte keinen Ersatz. Sie wollte ihn. Aber sie wusste, solange sie ihn zwang, bei ihr zu bleiben, konnte sie nur seine Hülle haben, nicht was darin war.

Sie hatte von großen Unruhen auf ihrem Heimatplaneten erfahren. Diejenigen, die ihre Familie vertrieben hatten, waren schon vor langer Zeit gestürzt worden. Eine neue starke Regierung hatte sich nicht etablieren können. Die Zeit ihrer Rückkehr stand bevor. Vorbereitungen wurden getroffen, alte Verbindungen erneuert, neue geknüpft. Der Drache reckte nach einem langen Winterschlaf seine Flügel.

Sie durfte nicht abbrechen, was in Gang gesetzt worden war. Es stand zu viel auf dem Spiel. Nicht nur für sie, sondern auch für ihre Anhänger - hier und auf ihrem Heimatplaneten.

Sie durfte sich durch ihre Gefühle nicht von ihrem vorgezeichneten Weg abbringen lassen. Aber sie brauchte ihn nicht nur als Samenspender, sondern auch als Person. Neun hatte etwas geschafft, was sie nie von einem Mann erwartet hatte: Er hatte sie von ihm abhängig gemacht. Jetzt fühlte sie die ganze Macht, die er über sie hatte. Selbst während sie nur durch die Armlehnen ihrer Sessel voneinander getrennt in einem Flieger saßen, war da dieses brennende Verlangen, ihm noch näher zu sein. Wie ein körperlicher Sog konzentrierte es sich in ihrem Unterleib. Er hatte sie verhext, sie an sich gebunden, und jetzt zeigte er ihr gnadenlos die kalte Schulter. Ihre Augen brannten. Sie hatte Mühe, ihre Tränen zu unterdrücken. Müde griff sie nach einem Glas Wasser, um den gezackten Morgenstern, der tief in ihrer Kehle saß, hinunterzuspülen.

Sie war verliebt gewesen. Oft und gerne. In Egmont und ein paar andere. Manchmal hatte es ein wenig geschmerzt, wenn sie gegangen war. Aber nie hatte sie wegen einem Mann geweint. Keiner war so etwas wert. Keiner! Wenn da nur nicht dieses Brennen in ihren Augen gewesen wäre.

Sie wusste, dass auch die Zeit, die sie gemeinsam auf der Insel verbracht hatten, nichts an seiner Einstellung geändert hatte. Er hatte nie nachgegeben, keinen einzigen Moment lang. Es war ihm hoch anzurechnen, dass er nie versucht hatte, sie anzulügen, obwohl er wusste, dass sie seine Gefühle nicht lesen konnte. Aber er würde ihr den Rücken zukehren, sobald er die Gelegenheit dazu hätte. Sie hatte die Möglichkeit, ihn zu halten, und sie musste es tun, schon um das uralte Erbe ihrer Familie zu erhalten.

Was sie für Neun empfand, übertraf alles Bisherige um ein Zigfaches. Nein. Das stimmte nicht. Es war vollkommen anders als alles, was bisher gewesen war, und das nicht nur, weil Neun ihr von demselben Schicksal gegeben worden war, das sie zur Reichsherrin auserkoren hatte. Sie, Liara, nicht die Reichsherrin, wollte ihn nicht gehen lassen.

Es traf sie wie ein Schlag: Sie hatte Angst, ihn zu verlieren. In ein paar Stunden wären sie wieder in ihrem Haus. Es würde nicht mehr so sein, wie sie es verlassen hatten. Der Morgenstern saß immer noch in ihrer Kehle. Sie nahm einen großen Schluck Wasser.

Ihre Heimkehr verlief so komplikationslos wie ihre Anreise. Diesmal nahm Michael die Tablette kurz vor der Landung ohne Kommentar ein, aber sie sah den Vorwurf in seinen Augen. Den Wechsel vom Flieger zum Auto auf einem windigen und verregneten Flughafen nahm er kaum wahr.

Man brachte ihn auf sein Zimmer. Es war schon dunkel. Er schlief schnell ein.

Liara trat durch das Tor. Ihre in Tarnfarben gehaltene Kleidung ließ ihre Umrisse mit der Umgebung verschmelzen. Instinktiv hob sie ihr Gesicht in die Nacht, um den Wolf zu rufen. Doch da war keine Witterung, die mit ihrem Atem in sie einströmte. Sie lief los, tauchte ein in die Schatten der Bäume, zwischen Büsche und Sträucher. Das Krachen der Äste unter ihr tönte weithin hörbar durch die Dunkelheit, Dornen verletzen ihre Haut. Der Boden war tot und haftete zäh an ihren Füßen. Wieder atmete sie tief ein, doch ihre Nase war taub. Ihre Augen konnten die Finsternis nicht durchdringen, ihre Ohren nahmen bis auf den Lärm, den sie selbst verursachte, nur eine unheimliche Stille wahr. Kein Rausch befreite sie von Verpflichtungen, Schmerz oder Scham. Sie war wie festgefroren. Die Luft war kalt und nass. Ihre Augen waren grün. Kein Glühen war darin. Der Wolf schwieg.

 

5. Verrat

Es war spät am Tag, aber hell. Selbst in die Schatten war noch Licht. Das hohe und massive Tor öffnete sich lautlos. Fehild fuhr ohne jede Eile auf Liaras Besitz. Ein zu früh aus dem Winterschlaf erwachter Marienkäfer landete auf ihrer Windschutzscheibe. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Ein kurzer Druck auf den Schalter der Scheibenwischer beendete sein Leben. Fehild lächelte zufrieden: ein gutes Omen.

Sie sah nicht zu, wie sich das Tor hinter ihr wieder schloss, sondern parkte nahe der Hauswand zwischen dichten Nadelbäumen. Niemand beobachtete sie, ihr Auto wurde nicht durchsucht. Als sie ausstieg, ließ sie den Schlüssel stecken.

Heute war der Tag, an dem sie mit diesem impertinenten 'Gast' laufen gehen musste – zum letzten Mal. Sie wollte ihn bluten lassen, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Wer den Drachen reitet, muss sich gut festhalten.

Doch zuvor musste der Mann aus ihrer nie gesehenen Heimat das Seine tun. Seine Ausbildung hatte ihn für solche Aufgaben prädestiniert.

Sie selbst wäre abwesend, während es geschah. Nie sollte jemand denken, das Blut ihrer vom Schicksal auserkorenen Schwester klebe an ihren Händen. Sie lächelte: Heute wird der Drache, unter dessen Schutz die Liaden stehen, sein Gesicht von Liara ab- und mir zuwenden.

In bester Stimmung ging sie ins Haus. Selbst Michael bemerkte ihre gute Laune. Er ahnte nichts.

Sie fuhren los. Fehild warf keinen Blick zurück. Ihr leises Lächeln fiel niemandem auf. Keiner im Auto wagte es, ihr so genau ins Gesicht zu sehen.

Die Dämmerung war schon fortgeschritten, als sie losliefen. Es war das erste Mal, seit Liara und Michael von der Insel zurückgekehrt waren. Er ärgerte sich, dass er nicht einmal versucht hatte, den Sund zwischen der Insel und dem Festland zu überwinden. Nicht das Wasser oder die Strömungen hatten ihn davon abgehalten, sondern das, was ihn auf dem Festland erwartete. Dabei wusste er nicht einmal, ob Liara die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte ihr einfach so geglaubt, dass ihn am andern Ufer nicht gerade gastfreundliche und hilfsbereite Menschen erwarten würden.

In seinem Ärger achtete er nicht auf den Boden unter ihm. Noch in Sichtweite des Autos trat er auf ein moosbewachsenes Stück Holz und rutschte aus. Sein Fuß knickte weg und sein Knöchel prallte gegen einen Stein. Laut fluchend rappelte er sich auf. Fehilds schaffte es gerade noch, ihren Fluch zu unterdrücken.

Er humpelte zum Auto zurück. Fehild überlegte, ob sie ihre Runde alleine laufen solle, um Zeit zu schinden. Ein Blick in Michaels schmerzverzerrtes Gesicht, das auch die anderen sahen, riet ihr davon ab. Es wäre zu auffällig gewesen, darauf zu bestehen. Außerdem dürfte der Mann bis zur ihrer Rückkehr getan haben, was geplant war. Er war gut ausgebildet und Liara allein im Haus. Das Mittel, das sie in ihr Glas gegeben hatte, wirkte schnell und lange. Ihre Gabe konnte sie nicht mehr schützen.

 

Es war dunkel geworden. Lampen hüllten den Park in ein dämmriges Licht. Dorthin wo Fehilds Auto zwischen den Nadelbäumen stand, kamen nur noch tiefe Schatten.

Niemandem fiel auf, dass die Scheiben von innen beschlugen. Ein weiterer Schatten kam unter einer Decke hervor. Die Autotür öffnete sich lautlos und schloss sich gleich darauf mit einem leisen Plopp. Unter den Nadelbäumen war ein Schatten weniger.

 

Der Abend ohne Neun war einsam. Obwohl die Stimmung zwischen ihnen immer noch gedämpft war, hatte Liara sich in letzter Zeit sehr an seine Gegenwart gewöhnt. Ohne ihn fühlte sie die Leere in ihrem riesigen Haus.

Neun nutzte die Zeit vor der Dämmerung zum Laufen. Es war noch hell gewesen, als sie losgefahren waren. Sie wünschte, die Heide wäre nicht so weit entfernt gewesen. Die zwei Stunden, bis zu seiner Rückkehr, erschienen ihr lang. Sie nahm sich ein anderes Glas als jenes, das Fehild ihr gegeben hatte. Obwohl es ihr Lieblingsgetränk enthielt, war ihr heute nicht danach. Sie hatte einen Anflug von Verderbnis und Ekel gespürt, als sie es aus der Hand ihrer Schwester entgegengenommen hatte. Wahrscheinlich war das Verfallsdatum überschritten.

Die Dunkelheit hatte sich gerade erst über die Stadt gelegt. Sie hörte das Geräusch von Autoreifen auf Kies. Licht flammte vor dem Haus auf. Sie sah aus dem Fenster.

Das Auto, mit dem er fortgefahren war, stand vor der Haustür. Es musste etwas passiert sein, dass sie früher zurückgekommen waren, allerdings nichts Schlimmes, sonst hätte man sie bereits benachrichtigt. Sekunden später stand sie trotzdem in der Haustür und sah mit Erleichterung, wie Neun auf sie zugehumpelt kam.

Fehild schaute Liara mürrisch an. Anscheinend hatte der Mann seine Aufgabe noch nicht erledigt. Wieder unterdrückte sie ihren Fluch. An diesem Abend ging schief, was schief gehen konnte. Es war, als hielte der Drache immer noch seine schützende Hand über Liara, obwohl sie dabei war, ihn an diesen rechthaberischen und arroganten Bücherwurm zu verraten. Sie hoffte nur, dass der Mann doch noch Gelegenheit bekäme, seinen Teil der Abmachung einzuhalten. Es wäre nur schade, wenn er gezwungen sein sollte, auch Neun zu eliminieren. Aber das Wissen, dass die Strafe für solch einen Fehlschlag hart wäre, dürfte ausreichend Ansporn für ihn sein, nicht zu versagen.

Liara begleitete Michael ins Haus. Er lehnte ihre und auch jede andere Hilfe ab. Sie schickte den Fahrer und den zweiten Mann, der mitgefahren war, weg.

„Sie werden hier auch nicht mehr gebraucht“, sagte Michael mit fester Stimme zu Fehild. „Sie können gehen.“

Sie hätte ihn für seine unverschämten Worte auf der Stelle züchtigen müssen. Trotzdem stieg sie in ihr Auto und verließ das Gelände. Er würde für alles büßen. Ein bösartiges Lächeln trat auf ihre Lippen.

Der Schatten sah ihr nach. Er musste seine Pläne ändern.

Weder Liara noch Michael bemerkte, dass jemand, der mehr wusste, als er sollte, in das Haus eindrang und die Alarmanlage außer Kraft setzte.

Michael saß auf seinem Bett. „Zeig mir deinen Fuß“, forderte Liara ihn auf.

„Es geht schon“, lehnte er unwillig ab.

„Vielleicht ist er gebrochen.“

„Das wüsste ich.“

„Ein Band könnte gerissen sein.“

„Das wächst wieder zusammen.“

„Soll ich dir Eis holen?“

Michael sah Liara ärgerlich an. „Ich bin nicht das erste Mal umgeknickt. Es ist nicht so schlimm.“ Seine Stimme wurde hart. „Ich brauche deine Hilfe nicht.“

„Was dann?“

„Lass mich einfach in Ruhe.“

Seine Worte und vor allem der Ausdruck in seinem Gesicht trafen sie herb. Er war jetzt seit Monaten in ihrer Obhut, aber er hatte seine Situation immer noch nicht angenommen, obwohl sie alles Machbare tat, um sie ihm zu erleichtern. Wenigstens beschimpfte er sie nicht mehr und behauptete nicht weiter, alle hier seien verrückt. Aber er wollte einfach nicht akzeptieren, was notwendig war und dass er einen überaus wichtigen Platz in der Geschichte ihres Planeten ausfüllen sollte.

Sie warf einen letzten traurigen Blick auf ihn und ging. Noch lange stand sie am Fenster ihres Zimmers und starrte in den trüben Abend. Dann spürte sie eine Schwingung und wusste sofort um die Gefahr.

Der Schatten war durch den Flur geschlichen. Er hatte den Plan des Hauses mehrfach abgezeichnet und wusste wo jedes Zimmer, jedes Fenster und jede Kamera war. Auf dem harten Boden lag kein Teppich, trotzdem hatten seine Füße kein verräterisches Geräusch hinterlassen. Er war stolz auf seine Erfahrung und sein Können; noch nie war ihm einer jener Patzer unterlaufen, die andere in den Tod reißen.

Seine Augen hatten sich längst an die spärliche Beleuchtung gewöhnt. Jeder, der aus einem hell erleuchteten Zimmer auf den Flur hinausträte, wäre tot, bevor er auch nur einen Schrei ausstoßen konnte.

Er war auf der Jagd und seine Beute so nah. Fast glaubte er, sie zu riechen. Nur schade, dass sie betäubt war. Es war dank ihrer Gabe eine bedauerliche Notwendigkeit. Sonst bevorzugte er es, wenn sich seine Opfer wehrten. Für einen Moment ließ er ihnen die Hoffnung zu überleben. Er genoss den Moment, wenn sie erkannten, dass sie verloren waren, die Panik in ihren Augen und das Entsetzen in ihren Gesichtern, wenn sie starben.

Eigentlich war er sich seiner Sache sicher gewesen. Todsicher. Jetzt aber registrierte er, dass er nervös wurde. Dies war nicht seine Welt. Alles war anders, die Gerüche und Proportionen stimmten nicht. Er folgte Stimmen, hörte eine Tür zuschlagen und davoneilende Schritte. Das, was Fehild ihrer Schwester ins Glas gegeben hatte, wirkte anscheinend weniger stark als erwartet. Er ging aber davon aus, dass sie ihn trotzdem nicht fühlen konnte.

Die Stimmen waren verstummt. Er wartete bewegungslos. Als er kein Geräusch mehr ausmachte, setzte er sich vorsichtig in Bewegung, wich einer Kamera aus und bog um eine Ecke. Noch nie war jemandem ein Attentat auf eine Reichsherrin gelungen. Er war der Erste, der Beste. Dann irrte er sich in der Tür.

Vorfreude ließ sein Innere vibrieren, als er vor ihr stand. Er liebte den kurzen Augenblick, bevor er zuschlug. Sein Herz raste, das Leben pulsierte in seinen Adern. Nur mit Mühe konnte er seinen Atem zur Ruhe zwingen. Er schloss kurz die Augen, um zu hören, ob sich jenseits der Tür etwas tat, vor allem aber um diesen köstlichen Moment auszudehnen. Es war, als stehe er kurz vor einem Orgasmus. Er legte seine Hand auf die Klinke. Sie ließ sich lautlos herunterdrücken. Dann glitt er durch den sich öffnenden Spalt in das Innere des Zimmers.

Er sah sofort, dass er einen Fehler begangen hatte, den er auf der Stelle korrigieren musste. Der Tod hatte an diesem Abend zweimal angeklopft. Darüber, wie er Fehild erklären sollte, dass er ihre Anweisung nicht befolgt hatte, konnte er später nachdenken. zu dumm nur, dass er einen kleinen Tisch umrunden musste, um sein Opfer zu erreichen.

Michael zog seine Socke aus. Der Knöchel war an der Außenseite deutlich geschwollen. Er fluchte und bewegte den Fuß hin und her. Es würde Wochen dauern, bis er wieder laufen konnte. Er hätte ein Krankenhaus aufsuchen müssen, aber das konnte Liara ihm nicht erlauben, und sich in die mehr oder weniger fürsorglichen Hände eines Mitglieds dieser ominösen Gemeinschaft zu begeben, das wollte er nicht.

Als sich die Tür langsam öffnete, schaute er demonstrativ nicht auf. Wenn Liara irgendwelche Probleme hatte, konnte es ihm egal sein. Sie war selbst schuld daran.

Da war eine Bewegung in seinem Augenwinkel. Der Schatten war so schnell bei ihm, dass er gerade noch die Hände heben konnte, um das Messer, das auf seinen Hals gerichtet war, und die Hand, die auf seinen Mund zuschoss, abzuwehren. Instinktiv wusste er, dass der Angreifer ihn töten wollte. Er schrie auf, als die Klinge durch seine Hand schnitt.

Beide hörten ein tiefes Knurren, das sie bis ins Mark erschütterte. Bevor der Angreifer sein Messer ein zweites Mal heben konnte, packte ihn eine Hand um den Hals und schleuderte ihn quer durch den Raum. Er knallte gegen die Wand und rutschte auf den Boden. Von der Wucht des Aufpralls benommen blieb er liegen. Liara war mit einem einzigen Satz über ihm. Sein eigenes Messer lag an seiner Kehle, eine winzige Bewegung hätte ausgereicht, um sein Blut gegen die Wände spritzten zu lassen.

Über sich sah er eine Grimasse, die kaum noch menschlich zu sein schien, und Augen, die gelb glühten. Seine Muskeln verhärteten sich in Panik. Er war zu keiner Bewegung mehr fähig, als er begriff, was gerade geschah. Der Wolf war über ihm. Ein Keuchen kam aus seiner Kehle.

Michael war im ersten Schreck zurückgewichen. Er starrte Liara an, erkannte sie kaum wieder. Sie war eine Frau, doch nichts an ihr war weich oder schwach. Ihre Augen glühten gelb. Sie sah aus, als habe sie den Verstand verloren und doch war jede ihrer Bewegungen konzentriert und zielgerichtet. Mit einem Mal wusste er, dass etwas Besitz von ihr ergriffen hatte, das ihn zutiefst erschreckte, obwohl sie gerade sein Leben verteidigte.

Der Mann unter Liara hatte seine Bewegungsfähigkeit zurückgewonnen. Seine Füße trampelten verzweifelt gegen den Boden, um ihn irgendwie von ihr wegzubringen. Aber hinter ihm war nur die Wand. Seine Hände krallten sich in den Teppich. Das Messer drückte sich tiefer in seinen Hals. Er erstarrte. Nur ein Winseln kam aus seinem Mund.

„Geh in mein Zimmer“, wies Liara Michael mit jetzt wieder normaler Stimme an und ohne den Blick auch nur für eine Millisekunde von dem Mann abzuwenden. „In dem Kasten unter dem Gummibaum findest du eine Pistole. Bring sie mir.“ Das Glühen in ihren Augen war immer noch da.

Michael rannte los. Er fand die Pistole und brachte sie Liara. Als er zurückkam, war die Szene unverändert, abgesehen davon, dass er den Angstschweiß auf dem Gesicht des Angreifers sah und seine Panik roch.

Liara streckte die Hand aus, immer noch ohne den Angreifer aus den Augen zu lassen oder das Messer zurückzunehmen. Der Mann unter ihr zitterte. Sein Atem ging keuchend. Er wusste, dass der Wolf ihn bei lebendigem Leibe in Stücke reißen würde, sollte er auch nur die kleinste falsche Bewegung machen.

Michael reichte Liara die Pistole. Er dachte keinen Moment daran, sich mit ihr einen Weg in die Freiheit freizuschießen. Ohne hinzuschauen, entsicherte Liara sie mit einer geübten Bewegung und richtete sie auf die Stirn des Angreifers.

Liara erhob sich, während sie immer noch auf den Mann zielte. „Steh auf und geh voran“, wies sie ihn jetzt in einer Sprache an, deren Klang Michael noch nie gehört hatte. Liara reichte ihm das Messer. Dann leitete sie den Attentäter mit vorgehaltener Waffe ins Untergeschoss. Michael folgte ihnen, tunlichst darauf bedacht, nicht in die Schusslinie zu geraten. Er wunderte sich, wie bereitwillig der Überwältigte Liaras Anweisungen nachkam, fast so, als hätte sie ihn hypnotisiert.

Nachdem sie die Tür der Zelle von außen hinter dem Mann verriegelt hatte, lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen und schloss für einen Moment die Augen. Sie ließ die Pistole sinken. Michael sah, dass ihre Hand zitterte.

Erst jetzt bemerkte er, wie sehr auch er zitterte. Er sah Liara mit großen Augen an und erinnerte sich an das, was er in seinem Zimmer gesehen hatte. Es konnte nicht menschlich sein. Sie öffnete die Augen. Ihre Blicke begegneten sich. Er sah, dass sie grün waren, nichts Gelbes war mehr darin und auch der Wahnsinn, oder was auch immer er gesehen hatte, war aus ihren Zügen gewichen. Sie wusste, was in ihm vorging und legte die Hand auf seinen Arm, um ihn zu beruhigen. Er zuckte zurück.

Dann nahm er sich zusammen. Nicht ihm war sie gefährlich geworden. Er wusste, dass sie ihn immer beschützen würde, vor allem und jedem, solange es in ihrer Macht lag.

Seite an Seite gingen sie in das obere Geschoss. Liara alarmierte das Personal und sofort strömten Menschen in ihr Haus. Mit noch zitternder Stimme rief sie ihre Schwester an.

Fehild fluchte laut und schleuderte das Telefon durch den Raum. Der Anschlag war fehlgeschlagen und der Angreifer lebte noch! Er stellte eine Gefahr für sie dar. Dank ihrer Gabe wäre es für Liara offensichtlich, dass er nicht log, wenn er sie des Verrates bezichtigte. Sie hätte dann keine andere Wahl, als Fehild auszuschalten, Schwester hin oder her.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie fliehen sollte. Sie trug keinen Armreif, der ihren Aufenthaltsort verriet. Aber sie hatte zu viel zu verlieren. Vielleicht gab es noch eine Möglichkeit, alles wieder ins Lot zu bringen. Sie hastete zu ihrem Auto und raste in halsbrecherischem Tempo durch die Dunkelheit zu Liaras Haus. Nur Minuten später kam sie an.

Hektischer Lärm schlug ihr entgegen, als sie das Haus betrat. Die Menschen dort waren noch in heller Aufregung. Nach einen Blick in Fehilds warnendes Gesicht schwiegen sie auf der Stelle.

Sie eilte sofort zu Liara. Neun stand neben ihr. Der Schrecken stand ihm noch ins Gesicht geschrieben, während Liara zumindest äußerlich ihre Fassung wiedergewonnen hatte. Zu ihrem Leidwesen schienen beide bis auf seine verbundene Hand unverletzt zu sein.

„Wo ist der Attentäter“, fragte sie.

„Unten in der Zelle“, antwortete Liara. Fehild war erstaunt, wie fest ihre Stimme war. Sie blickte in ihre Augen, aber da war nichts Gelbes.

„Komm.“ Fehild wies die anderen mit einer Handbewegung an zurückzubleiben. Mehr brauchte es nicht, um sich bei ihnen Gehorsam zu verschaffen.

Nur Neun überging ihre Anweisung wie üblich. Sie spürte neben ihrer Unruhe jetzt auch wieder ihren Ärger über ihn. Immer musste er querschießen, sein dämlicher Fehltritt hatte die ganze Sache vermasselt.

Sie betraten die Zelle. Der Gefangene fiel vor Liara auf die Knie. „Ich bitte um Gnade, Erste Herrin“, schluchzte er. „Töten Sie mich nicht! Ich werde der niedrigste und ergebenste Ihrer Diener sein.“

Liara sah mitleidlos auf ihn herab. Trotzdem hoffte er, nicht sterben zu müssen. Bevor sie eine Antwort geben konnte, trat Fehild neben den Mann. Mit seinem Genick brachen auch seine Hoffnungen. Sie konnte ein zufriedenes Lächeln kaum unterdrücken. Es gab hier keinen Mitwisser mehr, der von ihrem Verrat berichten konnte.

Michael hatte noch nie gesehen, wie ein Mensch getötet wurde. Fehild hatte mit keiner Wimper gezuckt. Er war fassungslos, mit welcher Präzision sie die Hinrichtung des Attentäters vollzogen hatte.

Liara blickte Fehild verständnislos an. „Warum hast du das getan.“

„Er wollte dich töten.“

„Wir hätten ihn verhören können.“

„Wir wissen auch so, wer ihn geschickt hat.“

„Er muss mindestens einen Komplizen hier gehabt haben, jemanden, dem wir vertrauen. Sonst wäre er nicht ins Haus gekommen.“

Fehild schien einen Moment nachzudenken. „Du hast recht“, täuschte sie Zerknirschung vor. „Es war ein Fehler, ihn zu töten. Wir werden alle verhören müssen.“

Sie gingen schweigend nach oben. Liara ordnete ihre Gedanken. Es gab nur zwei Menschen in ihrer direkten Umgebung, die einen Verrat vor ihr verbergen konnten – und Neun hatte keine Möglichkeit gehabt, so etwas zu planen. Ihr Misstrauen war erwacht. Doch es war undenkbar, dass ihre eigene Schwester sie verraten haben sollte.

Es konnte nicht sein, es durfte einfach nicht sein. Sie fürchtete die Krankheit, die sie zeit ihres Lebens begleitete, und die bisher nur Fehild zu lindern vermocht hatte: Einsamkeit.

Liara verdrängte ihre Zweifel. Dann schickte sie alle fort. Sie wollte keinen um sich haben, nicht einmal Fehild.

 

Nur mit einem um die Hüften geschlungenen Handtuch bekleidet trat Michael aus dem Bad. Sein Haar klebte nass an seinem Kopf. Der dicke Teppich sog die letzte Feuchtigkeit von seinen Füßen. Der Schmerz in seinem Knöchel war erträglich, die Bänder waren bei seinem Sturz wohl nur gezerrt worden, aber nicht gerissen.

Im Haus war es still. Totenstill ist das richtige Wort, dachte Michael. Seine Finger zitterten noch immer, als er mit ihnen durch seine Haare fuhr. Da war genug Adrenalin in seinem Blut, um einen Elefanten wiederzubeleben.

Zwischen seinen Hirnwindungen schossen die Bilder von Liaras Verwandlung und von der Hinrichtung des Attentäters wie Querschläger hin und her. Am schlimmsten aber war das Geräusch des brechenden Genicks. Selbst das heiße Wasser hatte seinen Nachhall nicht fortspülen können.

Er konnte sich glücklich schätzen, noch am Leben zu sein. Wenn alles wie geplant verlaufen wäre, würde man jetzt seine Leiche irgendwo entsorgen, und auch die von Liara. Vielleicht wäre ihm auch Schlimmeres als der Tod widerfahren – mit großer Wahrscheinlichkeit sogar. Ihm war klar, wer hinter dem Attentat steckte: Fehild. Niemand anderer hatte die Möglichkeit gehabt, eine solche Intrige einzufädeln. Nur war Liara immer noch zu verblendet, um die Wahrheit zu erkennen.

Er hatte für einen Moment den Zweifel in ihren Augen erkannt, als sie Fehild angeblickt hatte. Aber er hatte auch gesehen, wie sie ihn zurückgedrängt hatte.

Er hob den Kopf und lauschte. Schritte näherten sich. Er kannte ihren Rhythmus, auch wenn sie schneller und fester waren als sonst. Liaras Erscheinen überraschte ihn nicht. Keine Frage, keine Verlegenheit, keine Angst war in ihrem Gesicht zu lesen, sondern nur ein Fordern, hart und unduldsam.

Er machte jetzt doch überrascht einen Schritt zurück und stand mit dem Rücken an der Wand. Seine noch feuchte Haut zeichnete jeden seiner Muskeln nach. Sie trat mehrere Schritte vor, bis nur noch eine Armlänge zwischen ihnen war. Nichts in ihrem Gesicht erinnerte an das, was er darin gesehen hatte, und doch war alles anders als noch wenige Stunden zuvor. Sein Blick suchte in ihren Augen. Aber auch dort war nichts Fremdes, nichts Beängstigendes. Trotzdem war sein Mund trocken. Er atmete tief durch.

Als ihre Hand das Handtuch mit einem Ruck von seinen Hüften riss, fuhr er zusammen. Sie betrachtete seinen nackten Körper mit ungezügelter Gier, bereit sich zu nehmen, was sie wollte. Doch er hatte keine Angst vor ihr. Er wollte das Gleiche wie sie. Jetzt, hier, sofort. Es war, als hinge sein Leben davon ab, das ihre zu spüren.

Er war ihr ausgeliefert. Sie hätte ihn in der Luft zerreißen können, er wusste es, aber nicht das war es, was ihn erstarren ließ. Es war eine Kraft aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt, animalisch, hemmungslos, und sie übertrug sie auf ihn. Das Körperteil in seiner Mitte jedenfalls war schon allein durch Liaras bloße Anwesenheit und ihr obsessive Verlangen erstarrt. Er wollte nichts anderes, als sich ihr auszuliefern.

Der intensive Blick ihrer Augen, er glaubte jetzt doch etwas Gelbes darin zu erkennen, durchdrang ihn und ließ das mit einer Überdosis Adrenalin vermischte Blut in seinen Adern und in seinem Glied pulsieren. „Warum bist du gekommen?“, fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte.

„Ich will dich!“ Ihre heisere Stimme vibrierte. Mit hektischen und ungeduldigen Bewegungen zerrte sie sich ihr Kleid vom Leib. Stoff zerriss. Das Kleid fiel unbeachtet zu Boden. Kein Kratzer, kein blauer Fleck war zu sehen, so als sei ihre Haut unverletzlich. Ihr Inneres war es nicht. Es schrie gepeinigt von ihrer lebenslangen Krankheit, und nur Michael konnte sie heilen. Fehild hatte sie verraten. Sie wusste es, auch wenn sie sich weigerte, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Zu viel Schmerz war dort.

Er verstand ihren inneren Schrei, ihr Aufbegehren gegen ihre Einsamkeit. Seine eine Hand legte sich um ihren Nacken, die andere auf ihre Brust. Ihr Mund öffnete sich, ihre Augen sahen ihn an wie die einer Katze, die eine Maus beobachtet und weiß, dass ihre Beute nicht entkommen kann. Er stellte sich dem Raubtier, riss es an sich. Sie spürte sein Glied an ihrem Bauch, hart und heiß. Die Hand an ihrer Brust löste sich und krallte sich in ihre Schamlippen. Sie stöhnte vor Lust.

„Du machst keine halben Sachen?“, brachte er hervor.

„Nie!“

Die Finger in ihrem Nacken verfingen sich in ihren Haaren und bogen ihren Kopf zurück. Sein Mund saugte sich an ihrem fest. Die eben durchgemachte Todesgefahr und das Wissen, überlebt zu haben, ließen ihn das Leben stärker fühlen als jemals zuvor.

Jetzt forderte er.

Sie landeten auf dem Boden. Er legte sich über sie. Ihre Hand krallte sich in seine Haare. Sein Gewicht presste sie auf den Boden. Sie wollte ihn haben, voll und ganz und zwar sofort. Mit einer kraftvollen Bewegung drang er in sie ein. Ihre Gier hatte ihn infiziert. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde sie von einem Mann benutzt; es gefiel ihr. Sie spürte seine Stärke an sich und in sich. Es war, als träfen Naturgewalten aufeinander und sie ließen sich jeder von der Kraft des anderen mitreißen. Die Chimäre vereinigte sich mit einem ebenbürtigen Partner. Sie wollten alles vergessen. Sie vergaßen alles.

Er schrie zum ersten Mal in seinem Leben, als er kam, laut und befreit. Sein Sperma setzte ihre Scheide in Flammen.

Nachdem er sich aus ihr zurückgezogen hatte, lag sie in seinen Armen auf dem Boden. Sein Atem strich über ihre Schläfe. Er küsste sie leicht wie eine Feder auf den Mund. Sie roch und schmeckte seinen frischen Schweiß. Ihre Hand rieb ihre Scham, bis sie umhüllte von seiner Nähe und seinem Duft einen Höhepunkt erreichte, der alle ihre Sinne in ein warmes, rotgoldenes Licht tauchte.

Sie blieben eng umschlungen auf dem Boden liegen. Keiner sagte etwas. Sie waren zusammen. Lebendig. Jeder fühlte den noch erhitzten und atmenden Körper des anderen, roch seinen Duft. Nichts zog sie an irgendeinen anderen Ort dieser Welt, so nah oder fern er auch war.

 

Liaras Verdacht schlief nicht ein. Sie ließ ihre Schwester überwachen. Fehild ahnte dies und achtete darauf, ihr Futter für ihre Nachforschungen zu geben. Sie traf sich mit Männer, die nicht zur Gemeinschaft gehörten, Liara aber keinen Anlass zu echter Sorge boten. Oft feierte sie die Nacht durch. Sie achtete tunlichst darauf, ihr Verhalten gegenüber Liara nicht zu ändern. Auch ihre Abneigung gegen diese Filzlaus an ihrer Seite zeigte sie weiter klar und deutlich.

Das Reich wartete nicht mehr auf sie. Kein neuer Gesandter wurde zu ihr geschickt, um sich mit ihr zu verbünden. Das Kriegsglück hatte einen neuen Herren emporgehoben und dieser hatte anderes zu tun, als sich um die versprengten Familienangehörigen einer dem Untergang preisgegebenen ehemaligen Herrscherfamilie zu kümmern. Fehilds Hass auf Neun wuchs stetig. Sie konnte seine Nähe kaum noch ertragen und war froh, wegen seiner Verletzung nicht mehr mit ihm durch die Heide laufen zu müssen.

 

6. Freiheit

Die Wochen gingen dahin. Der April wurde von einem überraschend warmen Mai abgelöst. Michael befand sich schon seit über acht Monaten in der Hand von Liara. Er hatte gelernt, in ihr zwei Personen zu sehen. Mit der einen, die voller Leidenschaft war, ihn aber auch immer öfter um Rat fragte, verbanden ihn Gefühle, die zu benennen er sich trotzig weigerte. Die andere war die pflichtbewusste und bis zur Grausamkeit harte Anführerin einer Gemeinschaft, die davon träumte, in ein anderes, weit entferntes Sonnensystem zurückzukehren, um dort die Macht wiederzuerlangen. Und neben diesen beiden Personen war da etwas aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit. Ein Raubtier, stark und berauschend, beängstigend und doch Sicherheit versprechend. Seine Stärke übertrug sich auf ihn, mehr als auf jeden anderen, aber es bannte ihn auch. Immer seltener dachte er daran zu fliehen. Obwohl er sich immer noch nicht gänzlich in sein neues Leben eingefunden hatte, wusste er, dass er ohne Liara gleichzeitig verdursten und ertrinken würde.

Er hatte sie ein paar Mal nach Egmont gefragt, aber keine Antwort erhalten. Nur das Gesicht von Liara war jedes Mal zu Stein geworden. Nach dem Attentatsversuch waren mehr Kameras im Haus angebracht worden und er hatte keine Gelegenheit gehabt, noch einmal ungesehen in die Untergeschosse zu gelangen.

„Das Wetter ist heute so schön, dass ich ein paar Gäste zu einem zwanglosen Abendessen eingeladen habe“, kündigte Liara Michael gut gelaunt an. „Wir werden sie auf der Terrasse empfangen.“

„Kenne ich sie?“

„Nur Fehild.“

Michael rümpfte die Nase. „Dann wird es ja ein schöner Abend für uns beide werden.“ Er hatte sie lange nicht mehr gesehen, sie aber auch nicht wirklich vermisst.

„Zumindest wird es ein ein interessanter Abend werden. Sie stellt uns ihren Neuen vor.“

„Das hört sich ja nach was Ernsthaftem an. Ist er einer von euch?“

„Nein.“

„Dann weiß er also nichts von eurer erlauchten Gemeinschaft?“

„Bisher nicht.“

„Und dagegen hat niemand etwas einzuwenden?“

„Er wird nicht erfahren, wer und was wir sind. Jedenfalls noch nicht. Er hält uns nur für ein paar reiche Freunde und Verwandte von ihr. Aber wir nehmen gelegentlich auch Außenstehende auf, wenn sie sich als vertrauenswürdig erwiesen haben.“

„Und wenn nicht, werden sie eingesperrt und einer Hirnwäsche unterzogen.“

„Sei vorsichtig, was du sagst oder tust. Jemand könnte sonst auf den Gedanken kommen, dass unsere 'Gehirnwäsche' bei dir nicht erfolgreich war.“

„Du hast doch nicht etwa Angst, dass ich euch gefährlich werden könnte. In deinem Haus wimmelt es von dienstbaren Augen und Ohren, die dir alles zutragen.“

„Vergiss das nicht.“

„Darf ich dem Neuen wenigsten mein Beileid aussprechen? Die Allüren deiner Schwester wären einer Primadonna würdig.“

„Untersteh dich, einen Streit mit ihr vom Zaun zu brechen. Fehild war in den letzten Monaten nicht sehr umgänglich.“

„Das ist mir auch schon aufgefallen.“

Liara überging seine sarkastische Bemerkung. „In letzter Zeit war es besonders arg. Sie ist sicher sauer, dass ich den Attentäter selbst erwischt habe und ihr so der Spaß entgangen ist, ihn zu jagen und zu erlegen.“

„Es ist wirklich schade, dass du ihr die Jagd vermasselt hast, aber erlegt hat sie ihn passenderweise schon.“

„Passenderweise?“, fragte Liara, obwohl sie wusste, was er meinte.

„Es gibt keinen mehr, der dir seinen Komplizen verraten kann.“

Hiergegen fielen Liara keine Argumente ein. Selbst mit Hilfe ihrer eigenen Gabe hatten sie denjenigen nicht entlarven können, der dem Attentäter geholfen hatte. Ihr Verdacht gegen Fehild, den sie anfangs noch weit von sich gewiesen hatte, ließ sich nicht ausräumen und schwelte weiter in ihr wie ein bösartiges Geschwür. „Ich habe sie jedenfalls noch nie so verliebt erlebt“, kam sie etwas gezwungen auf ihr vormaliges Gesprächsthema zurück. „Sie ist alt genug für eine ernsthafte Beziehung.“

„Ich kann sie mir bei bestem Willen nicht als treusorgende Ehefrau und Mutter vorstellen. Da, wo andere ein Herz haben, hat sie einen Flammenwerfer.“

Liara musste bei dem Vergleich lächeln und gab ihm im Stillen recht. “Warte es ab. Vielleicht findest sogar du jetzt Gnade vor ihren Augen.“ Sie stupste ihn gut gelaunt mit der Hand in die Seite.

„Ich wünsche mir nichts sehnlicher als das“, antwortete Michael mit beißender Ironie.

Liaras Lächeln verschwand. „Ihr werdet euch benehmen, alle beide! Ihr seid keine kleinen Kinder mehr. Benehmt euch gefälligst wie zivilisierte Erwachsene.“

„Das kannst du vielleicht mir vorschreiben. Aber ich glaube nicht, dass sich deine kleine und liebenswerte Schwester so etwas bieten lassen wird.“

„Ich denke schon. Sie weiß, dass auch ihr luxuriöses Leben schnell ein Ende haben kann, wenn ich es will.“

Michael schaute sie schräg an. „Du würdest nie etwas gegen sie unternehmen oder ihr etwas wegnehmen.“

„Du jedenfalls wirst dich zurückhalten“, befahl Liara ihm, obwohl sie wusste, dass nicht Neun die treibende Kraft bei diesen ewigen Streitereien war.

„Wie Sie wünschen, Erste Herrin, ich werde Ihr ergebener und mundtoter Diener sein“, konterte Michael. Trotz seiner Wortwahl und einer angedeuteten Verbeugung war keine wirkliche Demut in seiner Stimme oder Haltung. Liara warf ihm noch einen warnenden Blick zu. Es wird wohl einfacher sein, ein ganzes Reich zu regieren, dachte sie, als den Vater meiner zukünftigen Kinder und meine Schwester davon abzuhalten, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Sie seufzte entnervt und ging dann, um sich für das Abendessen vorzubereiten.

Auch Michael musste sich noch umziehen. Der Abend versprach trotz des guten Wetters kühl zu werden und er zog sich einen dunkelroten Pullover über. Die Androhung von Fehilds Erscheinen vermieste ihm trotz des guten Wetters und der Aussicht, mit anderen Menschen zu sprechen, die Stimmung.

Die ersten Gäste, drei Paare, die Michael nicht kannte, trafen ein. Nur Fehild und ihr Bekannter fehlten noch. Es war zu erwarten, dass man jedes Wort von Michael und jede seiner Bewegungen überwachte, wenn er mit dem Neuankömmling sprach. Sicher hätte er nicht einmal Gelegenheit, ihm einen Zettel zuzustecken. Er war auf die Reaktion des Mannes gespannt, wenn dieser mitbekam, mit welch seltsamen Namen er hier angeredet wurde.

Als Letzte traf Fehild ein. Sie schwanke, als sie alleine die Terrasse betrat. Es war offensichtlich, dass sie zu viel getrunken hatte. Zum ersten Mal sah Michael sie mit verschmiertem Make-up. Ihr Kleid war für die herrschenden Temperaturen zu dünn und viel zu weit ausgeschnitten. Es schien sie nicht zu stören.

„Du kommst spät“, warf Liara ihr vor.

„Verzeih, liebste Schwester“, höhnte Fehild lallend und mit einem finsteren Blick auf Michael. „Aber ich war in angenehmer Gesellschaft und hatte es nicht eilig, hierher in dein Liebesnest zu kommen.“

Liara musste sich fast auf die Zunge beißen, um ihr nichts Passendes zu entgegnen. Sie hatte ihre Schwester noch nie in solch einem Zustand gesehen und wusste, dass irgendetwas vorgefallen war. „Kommt dein Begleiter noch oder ist er verhindert?“, fragte sie vorsichtig.

„Der hat es vorgezogen, sich anderweitig zu vergnügen, mit irgend so einer billigen Schlampe. Kluger Kerl.“ Sie warf einen demonstrativ abschätzigen Blick auf Michael. „Was meint ihr?“ rief sie mit verwaschener Sprache in die Runde. „Empfindet ihr es nicht auch als Zumutung, mit diesem …, diesem …, ach Scheiße, mit dem da an einem Tisch zu sitzen?“ Sie drehte sich um sich selbst und wäre fast hingefallen. Es gelang ihr gerade noch, sich an einem der Umstehenden festzuklammern. Die anderen Gäste schauten betreten überall hin und drehten verlegen ihre Gläser in den Händen.

Michael biss die Zähne zusammen. Er wollte auf ihre Provokation nicht eingehen und griff zum Tranchiermesser, um den gerade eben aufgetragenen Braten in Scheiben zu schneiden.

Fehild war über die fehlende Zustimmung der Gäste und seine offensichtliche Missachtung empört. Sie stürmte wütend auf ihn zu. Einen Schritt bevor sie ihn erreichte, stolperte sie. Instinktiv hob er die Hände. In der einen hielt er noch das Tranchiermesser.

Zuerst spürte er einen Widerstand. Dann glitt die Klinge bis zum Heft in Fehilds Körper.

Er sah die Überraschung in ihrem Gesicht. Dann sank sie vor ihm auf den Boden. Das Messer rutschte aus ihr heraus. Er stand erstarrt über ihr und erwartete, das Blut aus ihr heraussprudeln zu sehen. Aber es bildete sich nur ein großer roter Fleck auf ihrem Kleid. Trotzdem war sie leichenblass.

„Fehild“, schrie Liara. Das Messer löste sich aus Michaels Hand und fiel klirrend zu Boden. Liara stürzte neben ihrer Schwester auf die Knie und hielt ihren Kopf. „Bitte Fehild, halte durch.“

Michael sah den Schmerz in Liaras Gesicht. „Holt einen Arzt“, brüllte er den anderen zu. Er kniete sich neben Fehild und drückte seine Hände fest auf das blutige Kleid, um die Blutung in ihrem Innern abzudrücken. In ihren Augen sah er das Entsetzten, dann verschleierte sich ihr Blick.

Es schien unendlich zu dauern, bis er das Martinshorn hörte. Kurze Zeit später trafen der Notarzt und die Sanitäter ein. Sie legten Infusionen und befestigten die Elektroden eines EKG´s auf Fehilds Brustkorb. Ihr Atem ging flach. Sie wurde beatmet auf einer Trage in den Notarztwagen geschoben.

Michael sprang neben dem Fahrer in den Rettungswagen und kauerte sich zu dessen Verwunderung in den Fußraum.

„Fahren Sie los“, zischte er ihm zu. „Sie verblutet. Ich erkläre Ihnen das später. Los, fahren Sie!“

Zu seinem Glück war der Fahrer nicht auf eine lange Diskussion aus. Dazu hatte er in seinem Job schon zu viel Seltsames erlebt.

Niemand hielt das Fahrzeug auf, als es das Gelände verließ. Liara und die anderen fuhren ihm mit ihren eigenen Autos hinterher. Niemand hatte in dem Chaos bemerkt, dass Michael in den Rettungswagen geklettert war.

Sekunden dehnten sich zu Minuten, aus Minuten wurden Stunden. Jeden Moment erwartete er, dass jemand das Fahrzeug anhielt und die Tür aufriss.

Die Fahrt endete vor der Ambulanz des Krankenhauses. Sofort stürmte Personal herbei, um sich um die Verletzte zu kümmern. Der Fahrer sprang von seinem Sitz, um beim Ausladen der Trage zu helfen. Er achtete nicht weiter auf seinen seltsamen Passagier.

Michaels Mitgefühl und seine Sorge um Fehild hielten sich deutlich in Grenzen. Er blieb noch einen Moment erstarrt im Fußraum des Beifahrersitzes hocken. Sein Herz hämmerte. Er lauschte angestrengt, was um das Fahrzeug herum geschah. Immer noch riss niemand die Beifahrertür auf. Als das Geräusch der Rollen der Trage nicht mehr zu hören war und auch keine hektischen Stimmen mehr, öffnete er sie langsam und spähte hinaus. Er sah niemanden. Nur eine Kamera beobachtete ihn. Seine Hände waren schweißnass.

Mit weichen Knien kletterte er aus dem Rettungswagen und sah sich um. Sein Herz ging auf Hochtouren. Er verschwand aus dem Krankenhaus, noch bevor die Polizei es erreichte. Niemand beachtete die Blutflecken auf seiner Kleidung, sie fielen auf dem dunkelroten Pullover nicht auf.

Draußen war es inzwischen dämmrig. Vögel zwitscherten die letzten Strophen des Tages. Das Leben ging weiter.

Er überlegte, was er tun sollte. Sein Blick suchte gehetzt den großen Platz vor dem Krankenhaus ab. Niemand aus der Gemeinschaft war dort. Plötzlich brach es aus ihm heraus. „Michael, ich bin Michael“, rief er so laut, dass die Menschen ihn nun doch anstarrten. Er lächelte zurück. „Ich bin Michael.“

Sicher dachten die meisten, er sei ein Patient der psychiatrischen Abteilung oder ein Betrunkener, der aus der Ambulanz verduftet war.

Verduften ist das Richtige, dachte er und rannte los. Sein Haus war nicht weit entfernt. Nach wenigen Minuten stand er atemlos vor dem Eingang. Sein Blick fiel auf die Hausnummer. Es war die Neun. Er hatte es ganz vergessen. Welche Ironie.

Die Ersatzschlüssel waren noch dort im Garten, wo er sie versteckt hatte. Der Haustürschlüssel passte. Als er die Diele betrat, sah er, dass alles noch so war, wie er es verlassen hatte. Seine Jacke hing an der Garderobe, seine Schuhe standen ordentlich nebeneinander gestellt davor. Niemand anderer hatte das Haus inzwischen bezogen. Kein Papierberg fiel ihm entgegen. Seine Haushälterin hatte sich wohl in der Annahme, er treibe sich bloß auf unbestimmte Zeit in der Weltgeschichte herum, um die Werbeeinwürfe gekümmert. Liaras Worten nach war die übrige Post in ein Postfach umgeleitet worden. Auch eine Palme, die einzige Pflanze in seinem Haus, lebte noch. Man hatte ihn trotz seiner langen Abwesenheit nicht vergessen, ihn nicht aufgegeben. Er nahm vertraute Geräusche und Gerüche wahr. Es war ein großartiges Gefühl, im eigenen Leben anzukommen, obwohl er es kaum fassen konnte.

Er glaubte nicht, dass Liara und ihre Anhänger seine Flucht einfach so hinnähmen. Wie lange brauchten sie wohl, um hierher zu kommen und ihn zu holen? Er fasste nach dem Armreif, der sein Handgelenk umschloss, und den er immer noch als Fremdkörper empfand. Der Gedanke an Liara versetzte ihm einen Stich.

Er fragte sich, ob er die Polizei zu seinem Schutz herbeirufen sollte. Aber sie hatten sicher schon erfahren, auf welche Weise Fehild verletzt worden war. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Uniformierte vor seinem Haus erschienen, um ihm Fragen zu stellen. Wenn er verschwand, würde man an den Grenzen, in Zügen und auf Flughäfen nach ihm suchen. Er war bis zu seiner Entführung ein Durchschnittsbürger gewesen und hatte keinerlei Erfahrung, wie man vor der Polizei oder weit gefährlicheren Verfolgern flieht. Außerdem konnte die Gemeinschaft ihn nicht erneut entführen, solange er im Blickfeld von Ermittlungen stand. Es hätte zu viel Aufmerksamkeit erregt.

Der Gong seiner Haustür ertönte.

 

Im Krankenhaus war sofort eine Notoperation eingeleitet worden, aber der Blutverlust war zu groß. Das Messer hatte Fehilds Leber und die untere Hohlvene verletzt. Keine Medikamente, keine Transfusionen oder Infusionen konnten ihren Kreislauf stabilisieren. Sie starb, während sie noch auf dem OP-Tisch lag.

Liara brach im Warteraum zusammen, als man ihr die Nachricht vom Tod ihrer kleinen Schwester überbrachte. Tröstende Hände griffen nach ihr. „Ich hätte dir verziehen“, flüsterte sie so leise, dass keiner es hören konnte. „Ich hätte dir alles verziehen.“

Sie konnte sich kaum daran erinnern, wie sie in ihr Haus zurückgekommen war. Viele Menschen hatten sich inzwischen dort versammelt, nur der eine, der, den sie jetzt am meisten brauchte, war nicht da. Sie erfuhr, dass es ihm in dem Chaos gelungen war, sich davonzustehlen. Man fragte sie, ob man nach Neun suchen solle. Sie schüttelte leise den Kopf. „Das ist nicht mehr nötig.“

 

Die Polizisten betraten sein Haus. Ihre Fragen und seine Antworten rauschten an ihm vorbei. Er war wie betäubt. Sie dachten, es wäre wegen Fehilds Tod und der Rolle, die er dabei gespielt hatte. Man bot ihm professionelle Hilfe an. Er lehnte ab. Nicht Fehild Tod hatte ihn aus der Bahn geworfen, sondern das, was sie ihm angetan hatte. Er hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen, wenn er daran dachte, dass das Messer in seiner Hand so in ihren Körper eingedrungen war wie ihre Stimme in seinen Kopf.

Die Ermittlungen dauerten nicht lange. Alle, die zum fraglichen Zeitpunkt in Liaras Haus gewesen waren, berichteten das Gleiche wie er. Fehild Liade hatte zu viel getrunken und einen Streit mit einem eben erst von einer langen Reise zurückgekehrten Gast namens Michael Berger angezettelt. Gerade als er mit einem großen Messer einen Braten hatte tranchieren wollen, war sie auf ihn losgestürmt, gestolpert, und in das Messer gefallen. Er hatte den Zeugen nach sogar versucht, Erste Hilfe zu leisten und geschrien, man müsse den Notarzt rufen. Es war eindeutig ein Unfall gewesen.

Er fand alte Fahrkarten im Briefkasten und dazu seinen Reisepass, in dem die Stempel verschiedener Länder waren, mit denen er seine angeblichen Reisen nachweisen konnte. Die Ermittlungen wurden beendet, das Verfahren geschlossen. Alle Akten landeten in muffigen Kellern, um dort die Jahre bis zu ihrer offiziellen Vernichtung zu verstauben.

Michael schwieg über das, was sonst noch geschehen war. Niemand hätte ihm geglaubt. Vielleicht wäre er in der Geschlossenen gelandet und mit Medikamenten vollgepumpt worden. Schlimmstenfalls hätten ein paar selbsternannte UFO-Experten ihn zu ihrem Helden erklärt. Sein monatelanges Verschwinden erklärte er mit einer Auslandsreise und einer schweren Erkrankung, die er sich fernab jeder Zivilisation zugezogen hatte.

In den nächsten Wochen erwartete er jeden Moment, dass sie ihn holten. Bevor er aus dem Haus ins Freie trat, warf er einen langen Blick auf die Straße. Er sah sich ständig um, wenn er unterwegs war. Doch nie schien ihm jemand zu folgen. Jedes Klingeln an der Tür ließ ihn zusammenfahren, obwohl sie sich sicher nicht so auffällig angemeldet hätten. Er lief nicht mehr durch den Park und vermied es überhaupt, außerhalb seiner eigenen vier Wände alleine zu sein. Sein Haus ließ er schnellstens durch eine Alarmanlage und spezielle Schließanlagen sichern, auf dem Grundstück brachte er Kameras an. Sein gesamtes Haus, das Auto und selbst den Garten hatte er nach Wanzen absuchen lassen. Man hatte nichts gefunden. Der Briefkasten war besser gesichert als der des Finanzamtes. Die Nachbarn zerrissen sich die Mäuler über seinen Verfolgungswahn. Es wurde gemunkelt, er sei ein Wissenschaftler, der sich mit der Entwicklung neuer Waffen beschäftige oder er müsse ein von Interpol gesuchter Mafiosi sein. Die Nachbarin, die ihm hinter vorgehaltener Hand und mit verschworenem Blick von dem Gerücht erzählte, er sei ein Verrückter, der jemanden in seinem Keller gefangen halte, ahnte nicht, welchen Gefühlssturm sie in ihm auslöste.

Jedes Mal wenn er seine Adresse nennen oder aufschreiben musste, stockte er für den Bruchteil einer Sekunde bei der Hausnummer. Niemand außer ihm bemerkte den Stich, den allein der Gedanke an die Neun ihm versetzte.

Sie kamen nicht. Er erhielt keine Anrufe, nicht einmal eine SMS, nie wurde er bedroht. Nur der Armreif an seinem Handgelenk erinnerte ihn beständig an das Geschehene. Er hatte nicht einmal versucht, ihn zu entfernen. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte er vielleicht an seinem Verstand gezweifelt und sich gefragt, ob das alles nicht doch nur eine Wahnvorstellung oder ein Alptraum gewesen war.

Im Laufe der Wochen beruhigte er sich. Er erschrak nicht mehr, wenn es klingelte. Immer öfter vergaß er die Haustür zu verriegeln oder öffnete sie, auch ohne vorher durch den Spion zu blicken. Nachts schlief er besser, wenn auch nicht so gut wie früher. Er schreckte seltener hoch, wenn er im Schlaf Geräusche hörte. Mit der Zeit begann seine Seele oberflächlich zu heilen, auch wenn tiefe Narben zurückblieben - und Schmerzen, gegen die es kein Heilmittel gab. Anfangs hatte er gedacht, er trauere um die verlorenen Monate und um das Gefühl der Sicherheit, das er früher jederzeit gehabt hatte, selbst wenn er sich in den hintersten Winkeln der Welt herumgetrieben hatte, und das ihm jetzt abhanden gekommen war.

Doch dann ertappte er sich immer wieder dabei, dass er am Fenster stand und zu dem Berghang herüberblickte, auf dem sich Liaras Besitz erstreckte. Wenn sein Blick auf das Gebäude fiel, fühlte er einen bohrenden Schmerz, obwohl es nur als großer verschwommener Fleck zu erkennen war. Er redete sich selbst ein, das Brennen in seinen Augen stamme von dem angestrengten Versuch, es klar zu sehen. Oft rief er am Computer das Satellitenbild auf, auf dem ihr Haus zu sehen war. Er hätte den Weg dorthin ohne Probleme gefunden. Sogar im Schlaf.

Dabei lief alles andere in seinem Leben bestens. Seine Freunde freuten sich, dass er nach einer langen Reise und überstandener Krankheit wieder gesund und munter im Lande war. Frauen, deren Namen er schon längst vergessen hatte, riefen ihn an, neue lernte er kennen, und er konnte sich auszutoben, so viel er wollte.

Er wollte sich verlieben, Schmetterlinge im Bauch fühlen, wenn er an eine Frau dachte. Aber die einzige, die eine Wirkung auf seinen Magen hatte, war Liara. Er zog sich schmerzhaft zusammen, wenn er die Augen schloss und ihr Bild vor sich sah. Manchmal flüsterte er ihren Namen. Es verging kein Tag, an dem er nicht immer und immer wieder an sie dachte. Er hatte geglaubt, es bessere sich mit der Zeit, dass die Erinnerung an sie in irgendeiner staubigen Ecke seines Gehirns verblassen würde wie ein altes Foto. Aber er hatte sich geirrt. Was er auch tat, er schaffte es nicht, über sie hinwegzukommen. Er war vor ihr geflohen, aber ihr Fluch hielt ihn unentrinnbar in seinen Klauen.

Wenn er früher von Menschen gehört hatte, die sich in einer unerfüllbaren Sehnsucht verloren hatten, war ihm das immer vollkommen abwegig erschien. Wozu sollte das gut sein? Liebeskummer ertränkt man im Alkohol, um sich nach einem anständigen Kater und reichlich Selbstmitleid frisch angezogen und glatt rasiert auf die Pirsch zu begeben. Neues Spiel, neues Glück.

Er hatte nicht glauben können, das Menschen sich deshalb selbst umbrachten. Jetzt verstand er es, auch wenn er selbst keinerlei Todessehnsucht hatte. Die Aussicht, auf ewig so existieren zu müssen, war für manche tödlich.

Er fragte sich, warum sie ihn nicht geholt hatten. Sie hätten trotz seiner Sicherheitsvorkehrungen genug Gelegenheiten dazu gehabt. Er empfand es fast schon als Beleidigung, dass sie nicht einmal versucht hatten, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Als einzige Erklärung nahm er an, dass Liara das Interesse an ihm verloren hatte. Sie hatte sich in den letzten Monaten wohl kaum nach ihm verzehrt. Vielleicht war sie nicht nur aus seinem Leben verschwunden, sondern inzwischen sogar von diesem Planeten. Oder aber sie hatte einen anderen gefunden, einen, der genetisch mindestens so gut zu ihr passte wie er, und der nichts dagegen hatte, sein altes Leben aufzugeben. Vielleicht erholte sie sich auch mit irgendeinem käuflichen Schönling im Gepäck auf ihrer Insel, mit einem, der sie aber sicher nicht bei Gefahr aus dem Meer holte, weil das seine Frisur ruiniert hätte. Michaels Hand ballte sich zur Faust.

Manchmal überlegte er, ob er ihr nicht einfach einen Besuch abstatten sollte, um eine Erklärung für all das, was mit ihm geschehen war, einzufordern. Wenn er vorher seine Freunde informiert hätte, wohin er gehen wollte, konnte sie es nicht wagen, ihm etwas anzutun. Doch dann fiel ihm ein, dass sie ihm längst schon eine Erklärung gegeben hatte, eine, die er ihr inzwischen sogar glaubte. Es gab keinen vernünftigen Grund, sie wiederzusehen. Und das war gut so!

 

Diesmal war der September noch sommerlich warm. Der Tag seiner Entführung jährte sich zum ersten Mal. Bei der Erinnerung an das, was damals seinen Anfang genommen hatte, hätte er wütend sein sollen. Aber alles, was er fühlte, war eine dumpfe Traurigkeit. Der Armreif an seinem Handgelenk trat wieder mehr in sein Bewusstsein. Er hatte ihn in den letzten Wochen nicht mehr beachtet, als seinen kleinen Zeh. Jetzt drehte er daran und versuchte ihn abzuziehen. Er konnte ihn auch dieses Mal genauso wenig abstreifen wie seine Erinnerungen.

Resignierend rannte er in seinem Haus auf und ab, ohne etwas Sinnvolles mit sich anfangen zu können. Dabei hatte er sich für diesen Samstag so viel vorgenommen. Irgendwann stellte er fest, dass er auf seiner Terrasse stand und wieder einmal zu Liaras Haus hochblickte.

Er entschied sich nicht. Es passierte einfach. Sein Computer stand bereit auf seinem Schreibtisch. Er schickte mehreren Freunden die Nachricht, eine Bekannte namens Liara Liade habe ihn um seine Meinung zu einer antiken Uhr, die in ihrer Bibliothek stehe, gebeten.

Dann saß er in seinem Auto. Es fuhr den Weg durch die Stadt wie ein Pferd, dass seinen betrunkenen Reiter sicher nach Hause bringt. Häuserzeilen glitten an ihm vorbei, ohne dass er sie wahrnahm.

Die Stadt blieb hinter ihm zurück. Bäume säumten Alleen, die sich durch Dörfer schlängelten und alle paar Kilometer enger wurden. In dem Dorf, kurz bevor er sein Ziel erreichte, kehrten Frauen die Straße, Männer polierten ihre Autos und Katzen räkelten sich in der Sonne.

Kirchenglocken verkündeten den Mittag. Er hielt an und lauschte dem Geläut. Dann stieg er aus und ging zum Portal. Es ließ sich leicht öffnen, nachdem er die schmiedeeiserne Klinke heruntergedrückt hatte.

Er war seit Jahren in keiner Kirche mehr gewesen, aber er hätte mit geschlossenen Augen gewusst, wo er war, als ihm der Geruch nach Wachs, Blumen und dem Staub der Geschichte in die Nase stieg. Niemand war zu sehen. Langsam und ohne zu wissen, was er eigentlich wollte, ging er durch den Mittelgang und setze sich irgendwo in die Mitte einer Bank. Sein Blick fiel auf den Altar. Alte Erinnerungen an seine Zeit als Messdiener wurden wach. Er lächelte versonnen. Seit damals war er einen weiten Weg gegangen. Er hatte viel gewonnen. Und viel verloren, auch seinen Glauben. Er schloss die Augen und legte sein Gesicht in seine Hände. Seine Lippen formten Worte. „Hilf mir.“

Neben sich bemerkte er eine Bewegung. Er blickte hoch. Ein Mann, der sein Knie und seinen Kopf in Richtung Altar gebeugt hatte, erhob und sich und setzte sich zu Michael in die Bank, ohne ihn anzusehen. Obwohl er normale Kleidung trug, wusste Michael sofort, dass er ein Geistlicher war.

Der Mann hob nach einem langen Moment sein Gesicht und sprach mit gedämpfter Stimme in den geweihten Raum um sie herum. „Sie sind nicht von hier?“

Michael brauchte einen Moment, um zu antworten. „Ich wohne in der Stadt unten, aber ich habe mehr als ein halbes Jahr nicht weit von hier existiert.“

„Im Geisterhaus?“

„Wo?“

„Auf dem Besitz der Liaden?“

Michaels Lippen verzogen sich zu einem schmerzvollen Lächeln. „Sie kennen ihn?“, fragte er erstaunt.

„Jeder hier kennt ihn, und auch alle Gerüchte, die sich darum ranken.“

„Gerüchte?“

„Die Bewohner dort sind anders als wir“, wiederholte er fast Alekes Worte, die sie vor einer Unendlichkeit in der Bibliothek zu Michael gesagt hatte. „Die Menschen hier im Dorf wissen nicht viel über sie, aber sie fürchten sie.“ Der Mann wendete ihm den Blick zu. „Haben sie Recht?“

Michael blickte zurück. „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“

„Sie haben kein Weihwasser benutzt und sich nicht bekreuzigt, als sie hereingekommen sind“, stellte der Mann fest. Kein Vorwurf war in seiner Stimme zu hören.

„Ich bin Atheist. Bitte verzeihen Sie mir.“

„Sie sind nicht das erste Mal in einer Kirche.“

„Nein. Früher musste ich jeden Sonntag zur Messe gehen, während alle meine Freund ausschlafen oder fernsehen durften.“

Der Mann lächelte wissend. „Ein hartes Los für ein Kind.“

„Später wurde ich Messdiener.“ Plötzlich musste er lachen. Der Mann sah ihn fragend an.

„Wir haben einmal eine leere Weinflasche in den Tabernakel gestellt. Sie können sich den Skandal vorstellen, als er in der Heiligen Messe am Sonntag geöffnet wurde. Ihr damaliger Kollege hat sofort gewusst, wer dafür verantwortlich war und dafür gesorgt, dass wir am nächsten Samstag den Platz vor der Kirche kehren mussten, während alle anderen zur Kirmes gingen und uns auslachten.“

„Ich nehme an, Sie und ihre Genossen haben diesen Streich nie wiederholt.“

„Diesen nicht.“

„Gott kann vieles verstehen und verzeihen und er liebt die Kinder.“ Der Mann schwieg einen Moment. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Michael legte den Kopf zurück und sah in die neugotischen Bögen über sich. „Mir ist nicht zu helfen.“

„Warum sind Sie zurückgekommen.“

„Ich werde mich in die Höhle des Löwen, oder besser gesagt, in die des Drachen wagen und dort vielleicht aufgefressen oder zu Asche verbrannt werden.“

„Geht es um Ihren Körper oder um Ihr Seelenheil?“

„Beides.“

„Das hört sich an, als wollten Sie direkt in die Hölle spazieren.“

„Hölle oder Paradies, wer weiß das schon. Aber ich kann nicht anders.“

„Die Liebe ist das größte Geschenk Gottes an die Menschen“, sagte der Mann wissend. „Nehmen Sie es an, wenn es sich Ihnen bietet. Ich wünsche Ihnen Stärke und Glück auf Ihrem Weg.“

Michael erhob sich. Der Mann ließ ihn gehen, ohne Anstalten zu machen, ihn aufzuhalten. „Aber manchmal ist Schwäche der bessere Weg“, setzte er so leise nach, dass Michael seine Worte kaum hören konnte.

Aber er hatte sie verstanden. Er blieb stehen, das Gesicht zum Ausgang gewandt. „Sie meinen die Sache mit der anderen Wange?“

„Ich meine das, was am wenigsten wehtut.“

Michael nickte nur und setzte seinen Weg nach draußen fort. Auch diesmal ging er am Weihwasserbecken vorbei, ohne seine Hand hineinzutauchen, obwohl es ihn in seinen Fingern kribbelte, es zu tun.

 

Ich muss vollkommen irre sein, dachte er. Statt Hals über Kopf von hier wegzulaufen, wie ich es schon einmal getan habe, steuere ich jetzt direkt auf Liaras Haus zu – und vielleicht in eine Katastrophe.

Als er am Tor ihres Besitzes anhielt und ausstieg, kam ihm die Wache entgegen. Der Mann erkannte ihn sofort und starrte ihn ungläubig an.

„Sagen Sie Frau Liade, dass Michael Berger sie sprechen will“, trug er dem Mann auf, der immer noch perplex in seinem Wachhäuschen verschwand.

Wenig später öffnete sich das Tor. Michaels Herz raste mit einem Mal los. Erinnerungen stürmten auf ihn ein, als er über den Kiesweg auf den Haupteingang zuging. Sein Nacken fühlte sich an, als hielte jemand ein Fallbeil darauf gerichtet. Er hörte, wie sich hinter ihm das Tor schloss. Für eine Umkehr war es zu spät.

Eine Frau erwartete ihn an der Haustür. Es erkannte Aleke.

„Bitte kommen Sie herein, Herr. Die Erste Herrin erwartet Sie.“

Michael betrat das Haus. Er musste sich trotz seiner Nervosität ein Lächeln verkneifen, als er sah, dass Aleke sich immer noch ehrfürchtig vor ihm verbeugte. Obwohl auch sie seine Entführung gebilligt hatte, war er erleichtert, sie zu sehen. Liara und Fehild hatten ihr entgegen seiner Befürchtungen nichts angetan.

Bekannte Gerüche, Schatten, Farben. Die einst bedrückende Stille im Haus war jetzt so abweisend, als sei er ein Eindringling hinter fremden Mauern. Es war, als beträte er nach Jahren noch einmal seine alte Schule, in der er jede Ecke wiedererkennt, und trotzdem nicht mehr dazugehört.

Aleke blieb vor Liaras Büro stehen und klopfte an. Als Michael das „Herein“ hörte, tat sein Herz einen Satz. Aleke wollte die Tür öffnen, aber er kam ihr zuvor. Schwungvoll drückte er sie auf und betrat genau so den Raum.

Sie stand vor dem Fenster und wandte ihm den Rücken zu.

„Guten Tag, Liara“, begrüßte er sie mit einer Ruhe, die ihn selbst erstaunte.

Sie drehte sich um. Die gleiche Kälte wie bei ihrer ersten Begegnung unten in der Zelle ging von ihr aus. Es war, als hätte jemand einen Eimer mit Eiswasser über ihm ausgeschüttet. Mit einem Mal wurde sein Mund trocken.

Was hatte er sich nur erhofft? Dass sie ihm um den Hals fiel, ihn um Verzeihung bat und ihn anflehte, bei ihr zu bleiben?

Ja. Genau das. Jetzt hoffte er nur noch, nichts Falsches getan zu haben; verrückt war sein Erscheinen an dem Ort seiner monatelangen Gefangenschaft eh.

„Du bist zurückgekommen, Neun?“

„Mein Name ist weder Neun noch bin ich zurückgekommen. Ich heiße Michael und habe hier nur eine Kleinigkeit zu erledigen.“

Für einen Moment glaubte er etwas Helles und Warmes in ihrem Gesicht zu erkennen. Doch es war sofort wieder verschwunden. Er musste sich getäuscht haben, seine Antwort konnte ihr unmöglich auch nur den Anflug eines Lächelns entlockt haben. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er gedacht, ihr Eis zum Schmelzen gebracht zu haben. Aber es war bloß eine Fata Morgana gewesen. Sie würde nie etwas anderes sein, als eine Eisprinzessin, leidenschaftlich und doch so kalt, dass er in ihrer Gegenwart erfror. Vielleicht nimmt sie ja auch irgendwelche Drogen, dachte er, damit sie es schafft, eine solche Kälte zur Schau zu stellen.

Liara hatte dank des Senders in seinem Armreif gewusst, dass er sich ihrem Haus näherte, aber nicht zu hoffen gewagt, dass er den ganzen Weg heraufkäme. Und erst recht hatte sie nicht damit gerechnet, dass er so dreist wäre, ihr auf ihrem Besitz, umgeben von ihren Anhängern, entgegenzutreten. Als Aleke zu ihr gekommen war und ihr mitgeteilt hatte, dass Neun - sie hatte gestottert und die Erste Herrin mit angstvollen Augen angesehen - Michael Berger … also Neun, sie zu sprechen verlange … wünsche, war sie überrascht gewesen. „Bringen Sie ihn zu mir“, hatte sie Aleke angewiesen und dann mit klopfendem Herzen auf sein Erscheinen gewartet.

Seine Flucht und Fehilds Tod hatten ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Seither hatte sie häufiger als jemals zuvor am Fenster gestanden und auf die Stadt herabgeblickt. Ihre Augen hatten sein Haus gesucht, es aber im Gewirr der Straßen und Gebäude dort unten nicht gefunden.

Wie oft hatte sich in den vergangen Monaten zwingen müssen, nicht zu seinem Haus zu fahren, um zu sehen, ob Licht hinter seinen Fenstern brannte. Dabei wäre das gar nicht notwendig gewesen um herauszufinden, wo er war; ein Blick auf den Monitor ihres Computers hatte gereicht, um zu wissen, wo er sich gerade aufhielt. Der Sender in dem Armreif verriet ihr fast jeden seiner Schritte. Ihr Stolz hatte sie davon abgehalten, dorthin zu fahren – oder war es die Angst gewesen, etwas zu erfahren, das sie nicht hatte wissen wollen, zu sehen, dass es eine andere Frau in seinem Leben gab?

Während er in Begleitung von Aleke durch den Korridor näher gekommen war, hatte sie am Fenster stehend der Tür den Rücken zugedreht, um sich gegen ihn zu wappnen. Doch das kalte Glas hatte ihr keinen Schutz vor ihren eigenen Gefühlen bieten können. Als er ihr Büro betreten hatte, war ihr eben noch heftig klopfendes Herz für einen Moment aus dem Tat geraten.

Jetzt stand er vor ihr. Statt ihr mit dem üblichen Trotz entgegenzutreten, wirkte er gelassen, geradezu überlegen. Seine bewundernswerte Kaltblütigkeit überraschte sie. Obwohl er früher schon schlank gewesen war, hatte er in den letzten fast vier Monaten noch abgenommen und sein Gesicht hatte an Schärfe gewonnen. Seine Augen erstrahlten umgeben von sonnengebräunter Haut in einem tiefgründigen Blau. Die Freiheit stand ihm gut.

„Willkommen in meinem Haus, Neun“, beharrte sie steif und ohne zu lächeln auf dem Namen, unter dem er hier von ihr in Besitz genommen worden war.

„Danke. Mein Name lautet allerdings Michael.“

Sie reagierte nicht auf seine Korrektur. „Wie war deine Fahrt hierher?“

„Bestens.“

Einen Moment blieb sie noch vor dem Fenster stehen. Seine Dreistigkeit war unglaublich! Sie hätte ihn von ihren Leuten ergreifen und für den Rest seines Lebens in die Zelle werfen lassen müssen.

Mit einem Schulterzucken setzte sie sich an ihren Schreibtisch. „Bitte nimm Platz“, forderte sie ihn höflich auf und wies diesmal mit der ganzen Hand, statt nur mit einem Finger, wie sie es sonst immer getan hatte, auf den Stuhl davor. Sie lächelte formell, die Wohlerzogenheit in Person.

Nach einem kurzen Zögern setzte er sich ihr gegenüber hin und sah ihr offen ins Gesicht. Sie wirkte anders, aber er konnte nicht erkennen, was sich verändert hatte.

„Darf ich dir eine Erfrischung anbieten, Neun?“

Es erstaunte ihn nicht, dass sie ihn immer noch nicht mit seinem richtigen Namen ansprach. Aber er wollte sich nicht von ihr provozieren lassen. Wenn er jetzt schon zum Angriff überging, nahm ihr Gespräch keinen guten Anfang. Er schaffte es sogar, sie geradezu mitleidig anzulächeln. Ein Gefühl der Sicherheit oder Überlegenheit kam ihm jedoch nicht auf, dazu war er viel zu sehr auf der Hut vor ihr. „Einen Tee, bitte.“

Liara rief Aleke herein und teilte ihr Michaels Wunsch mit.

„Wie ist es dir in den letzten Monaten ergangen“, unterbrach Liara die Stille zwischen ihnen, ohne dass wirkliches Interesse in ihrer Stimme mitklang.

„Danke. Mein Leben war ein paar Monate aus den Fugen geraten, wie dir sicher bekannt ist, aber inzwischen hat sich alles wieder eingerenkt.“

„Wie schön für dich.“

„Ich nehme an, du weißt recht gut, wo ich in den letzten Monaten war.“

Liara bestätigte seine Worte mit einem distanzierten Nicken. Michael war versucht, sie ebenso nach ihrem Befinden zu fragen. Aber er erinnerte sich, dass ihre Schwester bei ihrer letzten Begegnung in das Messer gestürzt war, das er in der Hand gehalten hatte, und schwieg.

„Was verschafft mir die Freude deines unerwarteten Besuchs?“, setzte Liara das Gespräch fort.

Er horchte auf. Hatte sie tatsächlich Freude gesagt? Doch es war wohl nur eine Floskel, auf die er sich nichts einbilden sollte. „Verzeih mir bitte meine Unhöflichkeit, hier unangemeldet zu erscheinen, aber ich wollte dir etwas wiedergeben, das dir gehört.“ Er legte seine rechte Hand mit dem Armreif auf den Schreibtisch vor ihr. „Ich hatte leider nicht das geeignete Werkzeug, ihn abzunehmen, wie du sicher weißt. Sonst hätte ich ihn dir mit der Post zugeschickt und dich nicht mit meiner Anwesenheit belästigt, obwohl heute unser 'Jahrestag' ist.“

Liara verzog keine Miene. „Deine Anwesenheit hat mich noch nie belästigt. Ich lege im Gegenteil sehr viel Wert darauf.“

„Du weißt, wo ich wohne. Wenn du wirklich Wert auf meine Nähe legst, kannst du mich gerne besuchen. Ich kann sicher einen Termin für dich freimachen.“

„Ich bin die Reichsherrin. Ich besuche niemanden und ich bitte schon gar nicht um einen Termin. Das solltest du inzwischen wissen.“

Michael ließ sich auch jetzt nicht von ihren Worten und ihrer Arroganz zu einer angemessenen Antwort herausfordern. Sie hätte nur wieder zu einem sinnlosen Streit zwischen ihnen geführt. Aber deshalb war er nicht gekommen.

Sie griff in eine Schublade ihres Schreibtisches und holte den Stift hervor, mit dem sie vor fast einem Jahr den Armreif an Michaels Handgelenk verschweißt hatte.

Als sie seine Hand berührte, jagte ein elektrischer, Funken sprühender Strom durch seinen Körper. Erinnerungen kamen, die nicht mit Schmerz beladen waren und die nach einer Wiederholung schrien. Obwohl sie ihn immer noch nicht als Michael Berger anerkannte, musste er sich zusammenreißen, um weder Liaras Hand zu fassen noch sie zu bitten, ihm wieder einen Platz in ihrem Leben zu geben.

Als sie seine Hand berührte, jagte ein elektrischer, Funken sprühender Strom durch ihren Körper. Erinnerungen kamen, die nicht mit Schmerz beladen waren und die nach einer Wiederholung schrien. Sie musste sich zusammenreißen, um weder in Tränen auszubrechen noch ihn anzuflehen, bei ihr zu bleiben.

Ein kurzes blaues Glühen, dann fiel der Armreif mit einem dumpfen Aufprall auf das Holz der Tischplatte. Michael bedauerte es plötzlich genauso, wie dass Liara ihre Hand zurückzog. Für einen Moment starrte er in ihr Gesicht und hoffte, dort etwas zu sehen. Doch da war nichts außer ihrer Kälte. Enttäuscht umfasste er mit der linken Hand sein rechtes Handgelenk. Es war leer, nicht frei.

Aleke kam herein und stellte ein Tablett mit einer Kanne und zwei Tassen auf den Tisch. Zuerst tat sie etwas Zucker in eine Tasse und füllte sie mit Tee auf, um sie Liara zu reichen. In die zweite goss sie einen guten Schluck handwarme Milch, ganz so wie Michael es immer gewünscht hatte, und füllte auch sie. Er nahm sie mit einem „Danke“ und einem freundlichen Nicken entgegen. Ein feines Aroma durchzog die Luft. Er nahm einen tiefen Atemzug davon.

„Etwas von hier habe ich in den letzten Monaten doch tatsächlich vermisst“, stellte er nach dem ersten Schluck fest.

„Das freut mich zu hören“, antwortete Liara. „Ich nehme an, es ist das Einzige, das du vermisst hast.“ Irgendetwas Verrücktes in ihr hoffte, hoffte so sehr, dass er jetzt nicht mit einem „Ja“ antwortete.

„Ja“, antwortete er und wusste, dass er log.

„Wir haben Deine E-Mails abgefangen“, teilte Liara ihm kalt mit. Seine Antwort hatte sie empfindlich getroffen. „Keiner deiner Freund hat deine Nachricht erhalten.“

Zu ihrem Erstaunen nahm er von ihren Worten unbeeindruckt einen weiteren Schluck Tee. „Ach wirklich?“ Der Unglaube in seiner Stimme war deutlich zu hören. Er hatte seine Verbindungen von Spezialisten sichern lassen.

„Wenn du möchtest, kannst du dir die Uhr in meiner Bibliothek noch einmal ansehen. Ich würde mir gerne dein Urteil anhören.“ Zu ihrer Genugtuung sah sie, dass Michael zusammenzuckte. Sie hatte nicht geblufft, sondern seine heutigen E-Mails gelesen und vielleicht sogar deren Versand gestoppt.

„Ich denke, du hast bereits die Expertise eines namhaften Experten eingeholt“, antwortete er aber nur.

Sie registrierte erstaunt, wie schnell er sich von dem Schrecken, den sie ihm versetzt hatte, erholt hatte. „Selbstverständlich habe ich das.“

„Dann verzichte ich darauf. Uhren sind nicht gerade mein Spezialgebiet.“

„Wie du wünschst.“

„Ich hätte mir denken können, dass du dein Hobby nicht so schnell aufgibst.“

„Mein Hobby?“

„In meinem Leben herumzuschnüffeln.“

„Ich achte auf das, was mir gehört.“

„Dann möchte ich dich nicht weiter aufhalten. Du hast sicher noch auf einiges zu achten.“

Zu ihrem Erstaunen hörte sie keine Angst in seiner Stimme, nicht einmal eine Unsicherheit. Er hatte mehr Schneid, als sie es jemals für möglich gehalten hatte. „Ich habe heute allerdings noch Einiges vor: eine Videokonferenz mit den Reichsräten, ein Abendessen mit Geschäftspartnern und ein paar andere Kleinigkeiten.“

„Ich hoffe, mein plötzlicher Besuch bringt dich nicht in Verzug.“

„Das lässt sich regeln.“

Michael stellte die Teetasse hin und stand auf. Wenn sie etwas gegen ihn hätte unternehmen wollen, säße er längst wieder trocken und sicher in ihrer Asservatenkammer tief unter der Erde. „Dann wünsche dir noch einen erfolgreichen Tag und einen angenehmen Abend.“

Liara stand ebenfalls auf. „Ich danke dir für deinen Besuch. Soll ich dich nach draußen begleiten?“

„Danke, ich kenne den Weg.“

„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

„Wenn du nichts tust, reicht mir das schon.“

„Wenn dir danach ist, kannst du mich gerne wieder besuchen“, bot Liara ihm an. „Und sei es nur auf eine Tasse Tee.“

„Oder einen Flug durch den Weltraum?“, forderte Michael sie heraus.

Jede formelle Höflichkeit verschwand plötzlich aus Liaras Gesicht. „Das liegt ganz bei dir“, erklärte sie mit dunkler, ernster Stimme.

„Ich denke nicht, dass ich auf dein freundliches Angebot zurückkommen werde, auf keines von beiden. Aber wie ich dir schon einmal sagte: Wenn du eine spezielle Dienstleistung von mir wünschst, stehe ich dir gerne zur Verfügung.“ Er sah, wie ihre Züge zu Eis erstarrten. „Du weißt ja, wo ich zu finden bin, auch ohne das“, setzte er nach und wies auf den Armreifen, der noch auf dem Schreibtisch lag. Seine Worte hatten sarkastisch klingen sollen, aber das taten sie nicht. Der warme Unterton darin war für sie beide unüberhörbar gewesen.

Liara hatte die ungewollte Botschaft verstanden und sah ihn überrascht an. Doch dann spürte sie eine heftige Empörung in sich aufsteigen. Glaubte er etwa, sie käme zu ihm angerannt, um ihn anzuflehen, ihr seine Gunst zu erweisen!

„Danke für dein selbstloses Angebot“, antwortete sie kalt und voller Ironie. „Aber ich denke nicht, dass ich darauf zurückkommen werde.“

Michael straffte die Schultern und sah sie abschätzend an. Wollte sie ihn wirklich gehen lassen oder war das alles nur ein Spiel für sie?

Liara blickte ihm fragend ins Gesicht und hoffte, er würde Auf Wiedersehen sagen und es so meinen. Er schwieg.

Michael hoffte, sie würde Auf Wiedersehen sagen und es so meinen. Sie schwieg.

Er drehte sich um und ging zur Tür. „Lebe wohl, Neun“, hörte er noch ihre Stimme hinter sich. Ohne eine Entgegnung verließ er das Büro. Vielleicht hätte er ihr geantwortet, wenn sie ihn mit seinem richtigen Namen angesprochen hätte. Wer weiß, was er sonst noch getan hätte, wenn sie ihm nur eine Spur entgegengekommen wäre.

Im Korridor wartete niemand auf ihn. Trotzdem zuckte er zusammen, als hinter ihm die Tür ins Schloss fiel. Kein Mensch begegnete ihm im Haus oder auf dem Weg zum Tor, nur Kameras blickten ihn mit ihren toten Augen an. Wieder fühlte er das Fallbeil in seinem Nacken. Doch niemand hielt ihn auf, weder als er auf das Tor zuging noch nachdem es sich geöffnet hatte und er hindurch schritt. Sein Auto stand an der gleichen Stelle, an der er es geparkt hatte. Er setzte sich hinein und fuhr los, ohne sich umzublicken.

Als er sich wieder in Sicherheit wähnte, erwartete er, von Erleichterung überflutet zu werden. Er hatte sich in sträflichem Leichtsinn in Gefahr begeben und war darin nicht umgekommen.

Doch da war keine Erleichterung. Er war enttäuscht. Zutiefst enttäuscht. Er hätte nie gedacht, dass Enttäuschung körperlich wehtun könnte. Jetzt wusste er es.

Auf seinem ganzen Rückweg durch das Haus und auch noch draußen auf dem Weg zum Tor, hatte er gehofft, Liaras Stimme zu hören, die ihn zurückrief. Die Ernüchterung legte sich kalt über ihn. Er musste sie vergessen, seine Gefühle für sie abtöten. Jetzt sofort.

Er fuhr wie in Trance. Als er vor seinem Haus stand, wunderte er sich, dass er keinen Unfall verursacht hatte. Er sah seine Hausnummer, die Neun, an und verstand plötzlich unter welchem Druck sie stand. Nicht um all ihren Reichtum und ihre ganze Macht hätte er mit ihr tauschen wollen. Niemals hatte er glaubt, jemals Mitleid mit ihr zu haben, doch jetzt hatte er es. Die Einsamkeit ihrer Kindheit hatte sie nie verlassen, sie war immer noch ihr treuester Begleiter.

Er betrat sein Haus. Es erschien ihm fremd und leer. Er hatte sich selbst versprochen, seine Gefühle für sie abzutöten, doch er wusste, dass kein Mensch so etwas kann. Im Wohnzimmer trat er ans Fenster und sah in die Ferne. Das Bild verschwamm vor seinen Augen. Er hob die Hände vor sein Gesicht und wischte die salzigen Tropfen von seiner Haut.

Mit weichen Knien ließ er sich in einen Sessel fallen. Seine Hände krallten sich in die Armlehnen wie die eines Ertrinkenden in die Planke, die ihn über Wasser hält. Er legte den Kopf zurück und starrte die Zimmerdecke über sich an.

Auch nach seiner Flucht war sie immer da gewesen, egal was er getan hatte oder wohin er gegangen war und selbst dann, wenn er mit einer anderen Frau im Bett gelegen hatte. Sowohl vor seiner Entführung als auch nachher hatte er mit vielen gutaussehenden oder sogar schönen Frauen geschlafen. Es war ein Vergnügen gewesen, für ihn und für sie. Aber sie hatten ihren Marktwert gekannt. Und er hatte um seine eigenen Qualitäten gewusst. Zwei Götter in einem Paradies.

Liara hingegen hatte sich ihm vorbehaltlos hingegeben und sich gleichzeitig genommen, was sie wollte, bis sie miteinander verschmolzen waren, eins geworden in Ekstase. Nie zuvor oder danach hatte er so etwas gespürt. Zu wissen, dass er es nie wieder spüren, sie nie wieder sehen, sie niemals mehr in den Armen halten oder ihre Stimme hören würde, erschien ihm unerträglich. Sie war kleiner als er, aber sie hatte ihren Schatten auf ihn geworfen.

Die Geister der Vergangenheit ließen sich wie alle Dämonen nicht so einfach austreiben. Auf seinen Lippen erschien ein bitteres Lächeln. Glaubte sie nicht sogar, von einem Dämonen abzustammen? Seine Schultern zuckten. Ein gepresster Ton kam aus seiner Brust. Die Erkenntnis, dass sie ihn gehen ließ, ihn nicht mehr in ihrem Leben wollte, brachte ihm keine Erleichterung, sondern nur das bittere Gefühl, etwas Unersetzliches verloren zu haben.

 

Die Großstadt bot fast alles, was man mit Geld kaufen kann. Die Nächte waren lang und alkoholreich, die Musik laut. Er war umgeben von Freunden, die in der Nacht mit ihm um die Häuser zogen. Niemand ahnte etwas von dem Kampf, der in ihm tobte. Der Kampf gegen das Gefühl der Einsamkeit inmitten von Menschen. Der Kampf gegen seinen eigenen Körper, der nach ihr schrie. Der Kampf gegen den übermächtigen Drang, etwas vollkommen Verrücktes zu tun.

Er fand Frauen, die ihn für eine Nacht in ihre Wohnung mitnahmen. Es waren viele. Nie ließ er eine zu sich in sein Haus, nie eine nah an sich heran. Alles war auf das Körperliche beschränkt und selbst das war schal.

Tagsüber ordnete er seine schriftlichen Unterlagen, las Fachzeitschriften oder notierte sich Termine in seinem Kalender. Doch nichts was er tat, berührte ihn wirklich. Seine Handgriffe liefen ab wie die eines Roboters. Spätestens dann, wenn er aufstand, um sich eine Tasse Tee zu machen, holte ihn die Vergangenheit ein, und ein Sehnen, dass er zu verdrängen versuchte. Er wartete. Worauf? Auf etwas Unerreichbares.

Er vermied es, viel über sich nachzudenken, über die Zeit, die er verloren hatte – und über die Frau, die er verloren hatte. Oder über das Leben, das er wiedergewonnen hatte und das ihm so leer erschien. Es war ein Fehler gewesen, noch einmal zu ihr zu gehen. Doch wenn sie ihn zu sich gerufen hätte, wäre er zu ihr gerannt, ohne sich umzudrehen. Er hätte sich ohne zu zögern ins Feuer des Drachen gestürzt, er wusste es. Aber sie rief ihn nicht.

Sein Zustand verschlimmerte sich mit jedem Tag. Er konnte nicht einschlafen, und wenn doch, dann riss es ihn aus Alpträumen hoch, an die er sich nicht erinnern konnte. Morgens kam er kaum aus den Federn. Obwohl er sich bemühte, sich zu beherrschen, war er reizbar. Es gab zu viel Zeit in seinem Leben, und zu wenig Schlaf. Nichts machte mehr einen Sinn. Sein Magen rebellierte. Der Mangel an Schlaf und Nahrung, verdünnt mit viel zu viel Tee, ließ sein Gewicht schwinden. Seine kantigen Gesichtszüge und sein zurückhaltendes Wesen zogen Frauen an wie Erdbeermarmelade hungernde Wespen.

Sie spürten seinen Widerstand und versuchten ihn zu brechen, taten in vorauseilendem Gehorsam, wovon sie glaubten, dass er es wollte. Keine Anstrengung war ihnen zu viel, nichts zu abgründig.

Doch sie fühlten sich anders an, fremd, falsch. Sie rochen anders, fremd, verstörend.

 

7. Bekenntnisse

Der Staubsauger röhrte durch das Wohnzimmer. Fast hätte er die Klingel nicht gehört. Als er die Tür öffnete, war er wie vom Schlag getroffen.

Sie ist es.

Erinnerungen stürmten auf ihn ein, Gefühle, von denen er sich eingeredet hatte, er hätte sie längst abgetötet. Aber sie hatten alle seine mörderischen Attacken überlebt.

Herzschläge vergingen, bevor die Erstarrung von ihm abfiel. Als er einen Blick auf die Straße warf, war dort niemand zu sehen. „Ich bin alleine gekommen“, sagte sie mit dünner Stimme. Jede Kälte war von ihr gewichen. Ihre Haare waren offen und sie trug Kleidung, die sie wie eine seiner Studentinnen aussehen ließ. „Darf ich reinkommen?“

Er trat wortlos zur Seite. Sie betrat das Haus und ging ins Wohnzimmer. Dort kletterte sie über den Staubsauger und trat an die Terrassentür. In der Ferne konnte sie die verschwommenen Umrisse ihres Hauses erkennen. Seit Fehilds Tod und seiner Flucht bot es ihr keine Heimat mehr.

Noch nie war sie ihm so verletzlich erschienen, nicht mal am Grab ihres Vater. Er trat dicht hinter sie und schwieg. Sie konnte seinen Atem in ihrem Nacken fühlen. Die Haare dort und auf ihren Armen stellten sich auf.

„Warum bist du gekommen?“, fragte er hart.

„Ich liebe dich.“ Ihre Antwort klang mehr wie eine Frage als wie eine Feststellung. Wieder schwieg er minutenlang.

Zu lang. Die Anspannung ließ sie innerlich zittern. Sie senkte den Kopf. „Wenn ich jetzt gehe, wirst du mich nie wiedersehen.“ Ihre Stimme war kaum zu hören. Er wusste, dass sie ihre Tränen unterdrückte. Was eben noch hart in ihm gewesen war schmolz.

Gerade als sie sich umdrehen wollte, um zu gehen, spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter, warm und stark. Sein Daumen liebkoste ihre Haut.

Sie drehte sich um und sah in seine Augen. Er brauchte keine Worte, um zu sagen, was er empfand. Die Wärme darin gab ihr das Leben, dass sie seit seiner Flucht nur noch ein einziges Mal gespürt hatte: als er gekommen war, um ihr den Armreif zurückzubringen.

Er schloss seine Arme um sie. Da war keine wilde Leidenschaft, kein ungezügeltes Verlangen. Seine Lippen und ihre brannten nicht aufeinander, als sie sich berührten. Nicht einmal die Kraft des Wolfes zwang ihn zu ihr hin. Es geschah einfach und es war richtig. Sie gehörten zueinander, hatten es vom ersten Moment an gewusst. Jetzt war alles so, wie es sein sollte. Was zwischen ihnen war, war stärker als die Kraft des Wolfes, mächtiger als jedes bloße körperliche Begehren.

Sie sahen sich in die Augen. Grün und Blau versanken ineinander. Das Begehren war vielleicht nicht das Mächtigste zwischen ihnen, aber es war da. Seine Hände fasten wild in ihre Haare. Diesmal brannten ihre Lippen aufeinander. Gemeinsam sanken sie auf den gerade eben fusselfrei gesaugten weißen Flokati-Teppich.

„Sei vorsichtig“, sagte sie. „Ich bin schwanger.“

„Wir bekommen eine Tochter?“

„Einen Sohn. Und er wird in unserer Heimat aufwachsen.“

„In eurer Heimat?“

„Man hat uns zurückgerufen. Der Rat des Reiches hat die Regierung in meine Hand gelegt.“

„Darf ich mit euch gehen?“

Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. „Ja, Michael.“

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.09.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /