Cover

Die gute Seele Lingens

 

 

 

 

Die gute Seele

Lingens

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sandra Eckervogt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten! Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis des Autors/Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopien, Bandaufzeichnungen und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Ähnlichkeiten mit historischen Ereignissen, Personen und Orten sind rein zufällig und sollten als solche behandelt werden.

©Sandra Eckervogt 2020

Kapitel

 

Das Kindermädchen

 

Seemannsgarn

 

Der liebe Stalker

 

Backe, backe Kuchen

 

Finn

 

Der Fluch der Gräfin

 

Der Bote des Teufels

 

Seltsame Ereignisse

 

Das Weinlaubenfest

 

Wilhelmshöhe

 

Fahrt nach Emlichheim

 

Böse Liebe

 

Ein Stein ins Rollen gebracht

 

Der Schlumpf

 

Verlorene Seelen

 

Feuer, das nicht brennt

 

Der Gottesdienst

 

Überraschung

 

Valentin

 

Wenn man vom Teufel spricht

 

Alte Posthalterei

 

Thanatos

 

Die Reise

 

Das Geheimnis der Schatulle

 

Die Insel

 

Der Schlüssel

 

Ende gut. Alles gut?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Kindermädchen

 

Ich öffne langsam meine Augen, ein leichter Schwindel lässt die Umgebung verschwommen wirken. Ich schwanke für einen kurzen Moment. Es hat funktioniert, ich befinde mich im Haus. Ein vermoderter Geruch steigt mir in die Nase. Muffig und abgestanden. Bei meiner Oma im Haus hat es zum Schluss auch so gerochen.

Gott hab’ sie selig. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Hoffentlich geht es ihr im Himmel gut. Von ihr habe ich die kuriose Gabe geerbt. Meine Gabe, mit verstorbenen Personen Kontakt aufzunehmen. Manchmal empfinde ich es eher als Fluch.

Die Serie „Ghost Whisperer“ mit Jennifer Love Hewitt ist gar nicht mal so schlecht gemacht. Das Einzige, was mich an dieser Serie stört, ist: dass Jennifer Love Hewitt immer wie aus dem Ei gepellt aussieht. Wenn mich ein Geist mitten in der Nacht aufsucht, sehe ich wie ein explodierter Wellensittich aus. Aber das ist halt der Unterschied. Ich bin die Wirklichkeit und keine amerikanische Serienproduktion.

Der Nebel, der vor meinen Augen herrscht, löst sich auf. Das Licht im Flur beginnt zu flackern. Ein immer stärker werdendes Dröhnen dringt zu mir durch, als würde sich etwas unaufhaltsames Großes auf mich zubewegen. Ich nehme einen herben Aftershave-Duft wahr, der mich an Moschus und Rauch erinnert. Ich verharre augenblicklich und spüre, wie sich auf meinem ganzen Körper eine Gänsehaut bildet.

Da! Habe ich nicht jemanden vor mir auf dem Gang gesehen? Hier ist etwas, nein, hier ist jemand. Ich kann seine Präsenz regelrecht spüren. Und dieser Jemand ist wütend, traurig und zu allem fähig. Ich nehme einen tiefen Atemzug und wage mich ein paar Schritte voran.

Auf der rechten Seite des Flures steht die Tür zu einem Zimmer offen. Ich bleibe direkt im Rahmen stehen und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Es ist ein Kinderzimmer. Klägliche Überreste zeigen dies.

Altes, kaputtes Spielzeug liegt auf dem vergammelten Holzfußboden. Starre blaue Augen, die zu einem Puppenkopf gehören, sind von Spinnweben überzogen. Der Torso der Puppe liegt unter dem Fenster.

Eine Babyrassel kullert um meine Füße, gibt leise Geräusche von sich und bleibt in einer Ecke liegen.

Ich trete langsam ein und bücke mich, um den Puppenkopf aufzuheben.

In der nächsten Sekunde schlägt hinter mir die Tür lautstark zu. Ich drehe mich erschrocken um.

Plötzlich wird es eiskalt in dem Zimmer. Kleine Atemwolken treten aus meinem Mund und ich fröstle. „Clemens, sind Sie es?“, hauche ich in die beklemmende Stille und umklammere den Puppenkopf.

„Sie hat unsere Tochter vergiftet“, erklingt eine tiefe Stimme.

Ich lasse in der nächsten Sekunde den Puppenkopf fallen. Er ist kochendheiß geworden. „Wer hat Ihre Tochter vergiftet?“, stelle ich die Frage ins Nichts und reibe mir die schmerzenden Finger. Dass manche Geister immer so gemein und brutal sein müssen.

Eine schemenhafte Gestalt baut sich vor meinen Augen auf. Ich kann ein Gesicht erkennen. Es ist tatsächlich Clemens Jansen. Genau mit ihm will ich sprechen.

Ich habe einige Informationen über den damaligen Geschäftsmann in Erfahrung bringen können. Ihm und seiner Frau gehörte 1920 das Warenhaus am Ende der Burgstraße. Ihre gemeinsame Tochter Anna verstarb unter mysteriösen Umständen im zarten Alter von sechs Jahren.

„Isabelle, sie war unser Kindermädchen.“

„Und warum glauben Sie, dass sie es war?“, will ich wissen. Das Schaukelpferd fängt an sich zu bewegen und die Augen glühen wie Feuer. Ich weiche dem bösen Blick aus und konzentriere mich auf den Geist.

„Isabelle hat sich unsterblich in mich verliebt und ich habe ihr klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nichts von ihr will“, beginnt Clemens mir zu berichten. „Ich habe ihr daraufhin zum Ende des Monats gekündigt.“

„Oh? Und das gefiel ihr natürlich nicht“, vermute ich und gebe einen schweren Seufzer von mir. Immer diese krankhaft Verliebten. Die gibt es nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch im Jetzt und Hier. Ich weiß es nur zu gut, denn ich werde bereits seit Wochen von einem Stalker mit Liebe überschüttet.

Ich jobbe neben meinem Psychologie-Studium in einem kleinen Café in Lingen. Er besucht mich in jeder Schicht und labert mir einen Knopf an die Backe. Sein Name ist Andreas. Ich habe ihn inzwischen für mich als mein Versuchskaninchen in Sachen psychische Tricks ausgewählt. Nun ja, immerhin gibt er mir jedes Mal ein ordentliches Trinkgeld.

Aber halt! Meine Gedanken schweifen ab, ich habe hier etwas zu klären. Und in der nächsten Sekunde bin ich auch wieder bei der Sache, da mir sein Gesicht so nah kommt, dass ich seinen verfaulten Atem rieche. Bäh.

Der Holzfußboden unter meinen Füßen beginnt stark zu beben. „Natürlich nicht. Sie hat auf Knien um Vergebung gebettelt!“

„Haben Sie Isabelle denn nicht bei der Polizei angezeigt?“, frage ich ihn.

„Wir konnten ihr nichts beweisen. Außerdem war sie seit dem Tag, an dem unsere Tochter gestorben war, spurlos verschwunden.“

„Aber wie haben Sie dennoch erfahren, dass es Isabelle war?“

„Wir haben nach der Beerdigung im Zimmer von Isabelle die Flasche mit dem Gift gefunden. Der Arzt konnte uns bestätigen, dass daran unsere geliebte Tochter gestorben ist. Isabelle muss ihr jeden Tag das Gift in den Kakao gemischt haben.“

„Das tut mir sehr leid, Clemens“, gebe ich aufrichtig von mir. Es muss schlimm sein, sein Kind durch solch eine grausame Tat zu verlieren.

Die Gestalt wandert zum Fenster hinüber und blickt in den Garten. „Dort hat Anna so gern mit ihrer Puppe gespielt.“

Der zerfledderte Puppentorso und der dazugehörige Kopf heben langsam vom Boden ab und schweben direkt vor meiner Nase umher. Ich kann gerade noch ausweichen, bevor eins der gruseligen Sachen meinen Kopf berührt. Ich möchte mich nicht noch einmal verbrennen.

„Warum verhindern Sie gerade jetzt den Kauf des Hauses? Es war bereits mehrfach im Besitz anderer Personen. Und denen haben Sie sich nie gezeigt.“

Der Torso und der Kopf der Puppe fallen augenblicklich zu Boden.

Der Geist schwebt auf mich zu und verharrt nur wenige Millimeter vor meinem Gesicht. Ich wage nicht mich zu bewegen. Wieder strömen mir unappetitliche Düfte entgegen. Ich kann den Tod riechen und die unendliche Traurigkeit in seinen braunen Augen erkennen.

„Kennen Sie denn nicht den Mädchennamen der Käuferin?“, fragt er mich verwirrt.

Ich schüttle langsam den Kopf. „Nein. Ich wurde von Thomas Beck beauftragt. Seine Frau habe ich nicht kennengelernt.“

„Ihr Name ist Katharina Weber. Das Kindermädchen ist ihre Ururgroßmutter.“

Ich bin sichtlich überrascht. „Katharina ist mit Isabelle verwandt?“

„Genau. Sie stammt von einer eiskalten Mörderin ab. Sie wird mein Haus nie bekommen. Jeder andere darf es kaufen, aber nicht die beiden“, zischt Clemens und verschwindet vor meinen Augen.

„Clemens? Sind Sie noch da?“ Ich schaue mich im Raum um. „Clemens?“

Wie aus heiterem Himmel ist das Kinderzimmer in seinem Urzustand von 1920 zurückversetzt. Alles ist wunderschön und sauber. Sogar der abgestandene muffelige Geruch ist gewichen. Es riecht nach frischen Blumen. Die Tür wird aufgerissen und ein junges, sehr hübsches Mädchen mit blonden Locken stürmt an mir vorbei. Anna lacht und hält ihre Lieblingspuppe in der Hand.

„Na komm her, mein Spatz! Gleich hab ich dich!“ Clemens erfasst die Kleine, nimmt sie in seine Arme und drückt sie ganz fest an sich.

„Papa, Papa … lass mich runter!“, quiekt Anna und schüttelt ihre Lockenpracht.

Dann verändert sich erneut die Umgebung. Es ist inzwischen Abend geworden und ich befinde mich unten im Eingangsbereich. Ich muss echt zugeben, dass die beiden einen sehr guten Geschmack hatten. Alles entsprach dem damaligen Schick. Nun, Jansen war das erste und beste Warenhaus in der Kleinstadt Lingen. Doch was hat ihm all der Reichtum genutzt? Das Leben seiner einzigen Tochter konnte er nicht retten und das alles nur wegen Eifersucht. Einer unerfüllten Liebe.

Clemens und seine Frau tragen elegante Kleidung. Sie wollen anscheinend ausgehen.

„Isabelle, wir werden gegen zweiundzwanzig Uhr wieder zuhause sein“, teilt er dem Kindermädchen mit.

„Jawohl, Herr Jansen.“

„Und vergiss nicht, Anna ihren heißen Kakao zu geben“, erinnert er sie an das abendliche Ritual.

Isabelle nickt. „Das werde ich nicht vergessen, Herr Jansen. Ich wünschen Ihnen und Ihrer Gattin einen angenehmen Theaterbesuch.“

„Tja, das wird sich noch herausstellen. Shakespeare mag nicht jeder. Bis nachher. Und mache niemandem die Tür auf.“ Clemens hebt warnend den Zeigefinger.

Die beiden verlassen das Haus. Isabelle begibt sich in die Küche, setzt Milch auf und bereitet den Kakao zu.

Ich kann ihr folgen und bleibe im Türrahmen stehen.

Dann holt Isabelle eine kleine braune Flasche hervor und träufelt etwas von der Flüssigkeit in die Tasse. Sie bringt das heiße Getränk nach oben und reicht es der ahnungslosen Anna.

Wie in Zeitraffer kann ich den langsamen, qualvollen Tod von Anna mitverfolgen, der sich über Wochen hinauszögert. Clemens und seine Frau verbringen Tag und Nacht am Bett ihrer Tochter. Vergebens.

 

Plötzlich befinde ich mich auf dem alten Lingener Friedhof, auf dem die Beerdigung stattfindet. Hinter einem Baum versteckt, entdecke ich das Kindermädchen. Und dieses zufriedene und boshafte Lächeln, das ihr Gesicht beherrscht, spricht Bände. Am liebsten wäre ich zu ihr gegangen und hätte ihr die Fresse poliert.

Und genau in dem Moment, in dem ich beschließe, meine Gedanken in die Tat umzusetzen, erscheinen grelle Blitze vor meinen Augen. Es ist Zeit, diese Seite zu verlassen. Ich schaffe es gerade noch und erreiche Isabelle.

Sie starrt mich völlig geschockt an. „Es ist wahr, dich gibt es wirklich!“

„Was?“, bringe ich kaum hörbar über meine Lippen, als ich ihre Worte höre. „Du kennst mich?“

Isabelle weicht zurück und gerät ins Taumeln. „Dein Name ist Nike und du bist ein Sacer.“

Ich verspüre einen aufkommenden Schwindel. Das Blut rauscht in meinen Adern und der Druck auf meinem Körper wird stärker. Isabelle steht plötzlich in Flammen und verschwindet mit einem grauenvollen Schrei vor meinen Augen.

Was, was ist das denn jetzt? Ich blicke mich nach allen Seiten um und halte Ausschau nach einem anderen Seelenfreund. Doch ich kann niemanden erkennen. Das Letzte, was ich sehe, ist Clemens. Er lächelt und hebt zum Abschied die Hand.

 

Wie von der Tarantel gestochen schrecke ich auf und ringe nach Atem. Ich befinde mich auf dem unbequemen und kalten Ledersofa, das in der Wohnung von Thomas Beck steht. Schrecklich, dass Leute, die die fette Kohle haben, immer so beschissene Ledersofas besitzen müssen. Hat mit Macht und Besitz zu tun. Immerhin mussten Tiere mit ihrem Leben dafür bezahlen und das geilt diese reichen Pinkel wohl auf.

In meiner rechten Hand halte ich ein verblasstes Foto, das Clemens Jansen mit Frau und seiner Tochter vor seinem wunderschönen Geschäftshaus zeigt. Da war die Welt noch in Ordnung.

„Alles in Ordnung? Was haben Sie herausgefunden? Ist das Haus wirklich mit einem Fluch belegt? Was soll ich jetzt machen?“, prasseln die neugierigen Fragen von Thomas Beck auf mich nieder und er reicht mir ein Glas Wasser.

Ich nehme es dankend an und leere es in einem Zug. Diese spirituellen Sitzungen hinterlassen stets eine trockene Kehle. Und nicht nur das. Sacer? Was hat Isabelle mit dem Namen gemeint? Und, verdammt noch mal, woher kannte sie meinen wahren Namen? Sacer klingt Lateinisch. Sobald ich hier raus bin, schaue ich im Internet nach.

„Ich würde das Haus an Ihrer Stelle nicht kaufen“, gebe ich ohne Umschweife und außer Atem von mir.

„Was? Wie? Warum denn nicht?“, ruft Thomas aufgebracht. „Wir haben den Zuspruch erhalten und der Kredit wurde heute genehmigt. Meine Frau will dort ihr eigenes Geschäft eröffnen.“

„Glauben Sie mir. Clemens Jansen wird Ihnen das Leben in dem Haus zur Hölle machen. Er ist wirklich nicht gut auf Sie zu sprechen beziehungsweise nicht auf Ihre Frau.“

„Wieso auf Katharina? Was ist mit ihr?“

Ich kläre ihn auf und haue ihm eiskalt um die Ohren, dass seine Frau von einer Mörderin abstammt.

Thomas traut seinen Ohren nicht. „Das ist nicht Ihr Ernst?“

„Leider doch. Ihre Frau kann natürlich in keinster Weise etwas dafür, dass ihre Ururgroßmutter eine Sechsjährige umgebracht hat, aber das Risiko würde ich nicht eingehen, vertrauen Sie mir, Herr Beck. Wie ich weiß, haben Sie zwei Kinder, oder?“

Er versteht sofort, was ich mit meiner Aussage übermitteln möchte, und räuspert sich. „Danke. Hier.“ Er reicht mir einen Umschlag mit Geld. „Und zu niemandem ein Wort, ich habe einen Ruf zu verlieren.“

Ich nehme den schweren Umschlag und reiche ihm die Hand. „Und Sie machen sich in keinster Weise über meine Gabe lustig. Ich weiß, wo Sie wohnen.“ Ich zwinkere ihm warnend zu und drücke seine Hand ganz fest.

 

Ich sitze gerade im Auto, als mein Handy klingelt. „Alex Soul.“

„Guten Abend, mein Name ist Bernd Funke. Ich … ich habe ein altes Segelschiff gekauft, aber es geht dort nicht mit richtigen Dingen zu. Ich habe gehört, dass Sie … also … da was machen können. Können Sie sich das Schiff einmal genauer ansehen? Es liegt in Hanekenfähr.“

„Mit dem größten Vergnügen, Herr Funke.“ Ich starte den Wagen. „Ich kann es übermorgen unter die Lupe nehmen. Sagen wir siebzehn Uhr? Wo muss ich denn genau hin?“

„Wir können uns auf dem Parkplatz am Hotel treffen.“

„Einverstanden, Herr Funke. Bis übermorgen dann.“

„Danke, danke …“, stammelt er und beendet das Gespräch.

Ich kann an seiner Stimmlage erkennen, dass es ihm unangenehm war, mit mir zu sprechen. Nun ja, ehrlich gesagt wäre es mir auch. Wer ruft schon gern jemanden an, der angeblich mit Geistern kommunizieren kann?

Ich musste mich selbst erst an die Vorstellung gewöhnen, als mir meine Großmutter am Sterbebett mitteilte, dass auch ich die große Gabe der spirituellen Seite besitze. Ich habe gedacht, sie veräppelt mich noch so kurz vor ihrem Ableben. Meine Oma war so makaber drauf und hatte einen trockenen Humor. Meine Mutter mochte diese Seite nicht und ermahnte Oma Alexandra stets, wenn ihr ein harter Spruch über die Lippen flitzte. Ich fand es klasse und habe diesen Charakterzug ebenfalls von ihr geerbt.

Kurz nachdem meine Oma gestorben ist, standen plötzlich einige Personen um mein Bett und trauerten um sie. Die Geister sagten, sie wären ihre Freunde und Verwandten, und sind bereits vor langer Zeit auf die andere Seite gegangen.

Ich habe nächtelang nicht schlafen können, weil ich diese Toten gesehen habe. Sie haben mit mir gesprochen und mir gesagt, dass es meiner Oma gut geht und ich sie ab und zu sehen und mit ihr sprechen kann. Meine Eltern und mein älterer Bruder Tobias wissen bis heute nicht, dass ich eine Seelenbefreierin bin, und das soll auch so bleiben.

Und mein vollständiger Name lautet: Nike Alexandra Sophie Schmidt. Mein Künstlername ist: Alex Soul.

Ja, ich weiß, ist kitschig, aber die Leute, die mich kontaktieren, haben schon genug Angst und Sorgen, da muss ich nicht noch mit einem dramatischen, völlig schwachsinnigen Namen ankommen.

Nike ist eine griechische Göttin und der Name bedeutet: die Göttin des Sieges. Der Vorschlag kam natürlich von meiner Oma. Immerhin ist sie Griechin und in jungen Jahren mit meiner Mutter, die noch ein Baby war, nach Deutschland ausgewandert. Über den Vater sagt sie lediglich, er sei ein griechischer Gott gewesen. Meine Mutter bezeichnet es heute als One Night Stand und hat sich schnell damit abgefunden, ihren wahren Vater nicht zu kennen. Ich glaube eher, es ist ihr peinlich und sie schweigt das Thema lieber zu Tode.

Deswegen hat meine Mutter sich strikt geweigert, mir den Namen Nike zu geben, doch Oma hat nicht locker gelassen und sie mit irgendwelchen bösen Zukunftsprognosen, die auf mich zukommen könnten, in die Knie gezwungen. Meinem Vater war das alles völlig egal, er hatte zu diesem Zeitpunkt andere Sorgen. Mein Vater ist eh der gelassene und ruhige Typ.

Meine Eltern haben mich in meinen bis jetzt zweiundzwanzig Jahren nicht einmal mit Nike gerufen. Der Name taucht lediglich auf der Geburtsurkunde auf. Mein Vater hatte sehr gute Kontakte zum damaligen Bürgermeister, der den Namen Nike einfach verschwinden ließ.

So bin ich als schlichte Sophie Alexandra Schmidt in Lingen aufgewachsen.

Und: Ich helfe armen Seelen im Namen meiner Oma.

 

 

Seemannsgarn

 

Ich fahre zu meiner Wohnung. Mein Vater hat sie mir zum bestandenen Abi geschenkt. Es ist eine kleine Dachwohnung, die im Stadtteil Laxten liegt. Und zwar direkt an einem ehemaligen Reiterhof. Unter mir ist das Café, in dem ich arbeite, „Das Waffelhäuschen“.

Für mich der ideale Wohnort, denn manchmal besuchen mich Geister zuhause und hier bekommt das keiner mit. Obwohl, manchmal ist es echt gruselig, denn ich bin ab neunzehn Uhr immer allein hier. Das Café hat nur zu bestimmten Tagen und Zeiten auf. Der Reiterhof ist geschlossen und dient dem Besitzer lediglich als Garage für irgendwelchen Pröddel.

„Alexa. Was bedeutet Sacer?“, spreche ich in mein Telefon und schließe den Wagen ab.

„Sacer ist Lateinisch und bedeutet verflucht“, gibt Alexa mir eine knappe Antwort.

Ich verdrehe die Augen. „Na, super. Verflucht. Warum hat Isabelle mich als verflucht bezeichnet?“

Ich gehe die Holztreppe nach oben und überspringe die vorletzte Stufe. Die knarrt immer so schrecklich.

Als ich die Wohnung betrete, fängt mein Magen an laut zu knurren. Geister rauben mir sehr viel Energie und teilweise auch meine letzten Nerven.

Der Blick in den Kühlschrank erinnert mich daran, dass ich vergessen habe einzukaufen. Gähnende Leere starrt mich an. Zum Glück besitze ich einen Schlüssel zum Waffelhäuschen und sitze zehn Minuten später mit einem Glas kalten Weißwein und zwei Stücken Kuchen auf meinem gemütlichen Sofa.

Ich versuche im Internet mehr über den Begriff Sacer in Zusammenhang mit Geistern zu finden. Nichts. Hm, da muss ich wohl meine liebe Oma fragen. Sie war ein Phänomen in dieser Hinsicht und musste leider viel zu früh die Erde verlassen. Krebs nimmt leider keine Rücksicht auf deine Talente und Gaben.

Gegen elf Uhr überkommt mich die Müdigkeit und ich gehe zu Bett.

 

Zwei Tage später

 

Ich fahre auf den Parkplatz vom Hotel „Zum Wasserfall“ und sehe einen älteren Herrn, der sehr nervös wirkt. Er läuft auf und ab und fasst sich stetig an die Nase.

Ich steige aus und gehe auf ihn zu. „Guten Abend, Herr Funke. Wie geht es Ihnen?“ Ich reiche ihm die Hand. Er erwidert den Händedruck, der zu lasch ist für einen Mann. Aber auch das schiebe ich auf seine Nervosität zurück.

„Guten Abend … Frau … ja … schön, dass Sie gekommen sind.“ Er lächelt mich an und räuspert sich.

„Herr Funke, Sie brauchen keine Angst zu haben. Und es muss Ihnen auch nicht unangenehm sein. Es bleibt alles unter uns.“

Er atmet erleichtert auf und reibt sich die Hände an den Hosenbeinen ab. „Ja, danke. Es ist nur so … so …“

„So unnormal, dass Sie mich angerufen haben, weil es angeblich auf Ihrem Schiff spukt. Und Geister gibt es nicht“, sage ich mit einem Lächeln.

„Genau. Sie haben es auf den Punkt gebracht.“

„Dann wollen wir keine Zeit verlieren und Sie bringen mich zu dem Schiff.“

 

Kurze Zeit später stehe ich auf einem schmalen Holzsteg und betrachte das Segelschiff. Es ist ungefähr zwölf Meter lang und hat zwei Masten. Auf den ersten Eindruck sieht es sehr gepflegt und gut erhalten aus. „Wo und wann haben Sie es gekauft?“

„Vor zwei Wochen in den Niederlanden. Es war ein absolutes Schnäppchen. Ich habe es bei eBay gefunden.“

Ich wage mich näher heran und sofort spüre ich Traurigkeit, Trauer und eine präsente männliche Person. „Haben Sie nähere Angaben zum Schiff? Wann es gebaut wurde und besonders wo es gebaut wurde?“

„In der Anzeige stand, dass es vor hundertzwanzig Jahren in England gebaut wurde. Es gehörte einem wohlhabenden Teeplantagenbesitzer, der eigentlich in Ceylon lebte. Das Schiff wurde von Generation zu Generation vererbt.“

„Haben Sie versucht mit dem Verkäufer Kontakt aufzunehmen?“, möchte ich von ihm erfahren.

„Das ist ja das Kuriose. Den Verkäufer hat es laut eBay nie gegeben. Ich habe von einem Geist ein Schiff gekauft, oder wie sehen Sie das?“ Herr Funke wird entspannter und wagt sogar einen Witz.

„Was ist denn Ihrer Meinung nach nicht Ordnung mit dem Schiff?“

Herr Funke seufzt und kratzt sich am Hinterkopf. „Ich habe die Segel gesetzt, die aus heiterem Himmel wild umherschlugen, und das ganze Schiff begann stark zu schwanken, so als sei es in einem schweren Sturm. Es war aber noch am Steg festgemacht.“

„Okay. Und ist Ihnen noch etwas aufgefallen?“

„Nun ja, jedes Mal, wenn ich mich unter Deck befinde, höre ich eine Frau weinen und dann … ja dann …“ Er verstummt. „Sie halten mich jetzt bestimmt für bekloppt.“

„Bekloppt? Nein, wieso sollte ich? Wenn einer hier bekloppt ist, bin ich sicherlich die Person.“ Ich gehe zu ihm. „Herr Funke, wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir vertrauen und mir alles sagen, was Ihnen auf dem Schiff passiert ist.“

Er nickt mehrmals und holt einen tiefen Atemzug. „Ja, Sie haben recht. Entschuldigen Sie bitte meine Nervosität. Ich vertraue Ihnen natürlich, ansonsten hätte ich mich nicht bei Ihnen gemeldet.“

„Dann sagen mir jetzt ganz genau, was Sie noch erlebt haben, und lassen Sie nichts aus, jede Kleinigkeit kann wichtig sein. Sie hören also eine Frau weinen und was noch?“

„Die Schränke öffnen sich und alles, was sich in ihnen befindet, wird von Geisterhand rausgeworfen. Und dann sehe ich die Frau. Es ist ein junges Mädchen, sie ist klitschnass und hat eine Wunde am Bauch. Das Blut tropft auf den Boden und sie streckt die rechte Hand nach mir aus und bittet mich, ihr zu helfen.“

„Wie haben Sie sich verhalten?“ Ich gehe zum Schiff und höre Stimmen, kann sie aber nicht verstehen, da sie sich mit Meeresrauschen vermischen.

„Ich … ich bin das erste Mal herausgestürmt. Einen Tag später bin ich geblieben und habe sie gefragt, wer sie ist.“

„Und? Haben Sie eine Antwort erhalten?“

Er schüttelt den Kopf. „Nein. Sie ist daraufhin verschwunden.“

„Haben Sie es ein weiteres Mal versucht?“

„Ja, eigentlich jeden Tag. Es lief immer gleich ab. Habe ich ihr die Frage gestellt, löste sie sich vor meinen Augen auf.“

„Und diese Sturmsituation, kam die auch öfter vor?“

„Ja, jedes Mal, wenn ich an Bord gegangen bin. Sie hielt circa ein bis zwei Minuten an.“

„Gut. Ich werde jetzt allein an Bord gehen und mir einen ersten Eindruck verschaffen. Sie bleiben hier, egal was Sie hören oder sehen, haben Sie mich verstanden?“, gebe ich ihm mit fester Stimme und einem erhobenen Zeigefinger zu verstehen.

Er geht sofort einige Schritte zurück und nickt mehrmals.

Ich betrete das Schiff, gehe zur Reling und lege meine rechte Hand auf das raue Holz. Meine Atmung wird langsamer und kontrollierter. Ich schließe die Augen, lasse mich innerlich fallen und konzentriere mich auf dieses Schiff. Meine Finger gleiten langsam über das Holz.

Ich kann das Meer riechen. Meine Lippen schmecken nach Salz und es beginnt unter meinen Füßen zu schwanken. Eine steife Brise weht mir ins Gesicht und ich öffne meine Augen. Ich befinde mich irgendwo nachts auf einem Meer. Es stürmt und die Wellen peitschen gegen das Schiff. Mein Blick geht zu den Segeln, die gerade eingeholt werden. Ein junger Mann erledigt diese Arbeit.

„Elisabeth, geh sofort unter Deck, hörst du!“, ruft er und ich schaue mich um, um zu sehen, mit wem er spricht. Hinter mir kauert ein junges Mädchen und hält sich an der Reling fest.

„Er wird mich holen, es kann nur er sein. Er hat die Macht, die See so wütend werden zu lassen! Ich habe dir gesagt, dass er mich finden wird, John“, gibt sie Antwort und wischt sich die Tränen fort.

Wie aus dem Nichts erscheint direkt vor uns ein riesiges Segelschiff. Eine Galionsfigur in Form einer halbnackten Meerjungrau rammt uns seitlich und das kleine Schiff gerät stark ins Wanken. Grünlicher Nebel wabert vom Meer hinauf und bahnt sich langsam einen Weg über das Deck.

Mein Puls beschleunigt sich, denn ich spüre diese männliche starke Person. Sie kommt direkt auf mich zu. Ein lauter Donner lässt mich zusammenschrecken und Blitze durchzucken die stürmische Nacht. Der grüne Nebel wird dichter und ich schaue mich nach den beiden um. Sie sind fort.

Das Deck beginnt unter meinen Füßen zu vibrieren und ich gerate ins Schwanken. Die Blitze werden greller und blenden mich. Schützend halte ich die Hand vor Augen.

„Was verdammt nochmal hast du in der Welt der Toten zu suchen, Nike“, dringt eine tiefe melancholische Männerstimme durch das Gewittergrollen zu mir.

Ich senke die Hand und schaue in dunkelbraune Augen, die mich wiederum sehr finster anblicken. Vor mir steht ein Mann, der Seemannskleidung aus einem anderen Jahrhundert trägt. Aus Sicherheitsgründen gehe ich einen Schritt zurück. „Wer sind Sie?“

„Du bist nicht berechtigt, in unserer Welt Fragen zu stellen. Also? Nike, was hast du hier zu suchen?“, wiederholt er schneidend und beugt sich mir entgegen.

Wieder wage ich mich einen Schritt zurück und stoße an die Reling. „Was wollen Sie von dem Mädchen?“

Er stutzt im ersten Moment über die Frage. „Von dem Mädchen?“

„Ja, Elisabeth, sie ist in meiner Welt auf diesem Schiff gefangen und ich möchte von Ihnen erfahren, warum.“ Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Obwohl ich gerade wirklich schwer damit zu tun habe, nicht auszuflippen. Warum kennt auch dieser Geist meinen wahren Namen?

„Ich will nichts von dem Mädchen.“

„Sie …wollen sie gar nicht töten?“, frage ich verwirrt und schrecke in der nächsten Sekunde zurück.

Der Seemann stützt sich mit beiden Händen auf der Reling ab und ich bin somit in seinen Armen gefangen. Langsam nähert er sich mit seinem Gesicht und ich stelle mich schon auf ekelige Gerüche ein, doch … sie bleiben aus. Ganz im Gegenteil, er duftet herrlich nach Moschus und frischer See.

„Nein, sondern …“

Im nächsten Moment erklingt ein schmerzerfüllter Schrei, der von Elisabeth stammt. Wir starren beide gleichzeitig in die Richtung. Ich nutze die Ablenkung, schlüpfe unter den Armen des Seemanns hindurch und eile unter Deck. Vor mir steht Elisabeth mit blutigen Händen und sieht mich voller Angst und Verzweiflung an.

„Was … was?“ Mein Blick pendelt zu John, der ein Messer in der Hand hält und eine schreckliche Grimasse zieht. „Warum hast du das getan?“, frage ich ihn.

„Sie liebt ihn mehr als mich, und sie hat mich verraten … ich kann es in ihren Augen sehen“, gibt John voller Hass von sich, hantiert mit dem Messer herum und kommt auf mich zu.

Der Seemann erscheint, schubst mich einfach beiseite und zieht seinen Degen. Die silberne Klinge leuchtet für einen kleinen Moment auf und dann sticht er ohne Vorwarnung zu. John spuckt Blut, gibt gurgelnde Geräusche von sich und kippt nach vorn über.

Plötzlich herrscht eine absolute Stille.

Der Seemann wendet sich von John ab und kniet sich zu Elisabeth, die stark verletzt am Boden liegt. Er nimmt sie in seine Arme und streicht zart über ihr Gesicht. „Siehst du, ich habe gesagt, eines Tages wird sie kommen und dich wieder zu mir bringen.“

„Ich liebe dich, Bruderherz, und es tut mir so leid, dass ich dir nicht geglaubt habe“, gibt Elisabeth leise Antwort und schmiegt sich an ihn.

„Ihr seid Geschwister?“ Ich starre beide überrascht an.

„Ja. Elisabeth hat sich leider in den falschen Mann verliebt. John ist nur auf ihr beträchtliches Erbe aus und ich habe sie seit Wochen gesucht, um sie zur Vernunft zu bringen. Leider bin ich zu spät und er hat sie niedergestochen. Aber jetzt, dank dir, Nike … kann ich sie in unsere Welt mitnehmen und sie findet ihren Frieden.“ Der Seemann lächelt mir dankend zu.

Grüner Nebel erscheint in der Kajüte.

„Wie ist Euer Name und warum habt Ihr auf mich gewartet?“ Ich verstehe nur Bahnhof. „Und in welcher Epoche befinde ich mich?“

„Du stellst eindeutig zu viele Fragen, meine Liebe“, gibt er mit einem Lächeln von sich.

„Und du gibst mir eindeutig zu wenig Antworten. Also?“ Ich ziehe eine Braue hoch und wage mich einen Schritt auf ihn zu.

„Dein wahrer Name ist Nike und du bist ein Sacer, somit besitzt du eine der wichtigsten Gaben der Unterwelt. Und wir befinden uns im Jahre 1863, im Atlantischen Ozean, kurz vor Cornwall.“

„Und ich verfüge über bestimmte Gaben?“, wiederhole ich noch immer völlig verwirrt und ich gehe auf seine letzten Worte nicht ein.

„Ja, hörst du mir denn nicht zu?“

„Was für Gaben?“ Da bin ich jetzt aber gespannt wie ein Flitzebogen.

„Das wirst du von ihm erfahren. Es wird Zeit, ich muss gehen.“

Jetzt wird es doch immer bekloppter. „Von wem?“

Der Seemann steht auf und nimmt seine Schwester auf den Arm. „Ich bin übrigens der fliegende Holländer.“

„Das ist Seemannsgarn, den gibt es doch gar nicht. Es ist lediglich eine Sage“, antworte ich frech, weil ich mich über ihn ärgere, dass er mir auf meine vorherige Frage keine Antwort gegeben hat.

„Das ist ja das Schöne an Sagen, man weiß nie, ob nicht doch ein Funken Wahrheit in ihnen liegen. Das Schiff ist übrigens frei … leb wohl, Nike.“ Der grüne Nebel erfüllt die Kabine und die beiden verschwinden.

 

Ich öffne die Augen und stehe noch immer an der Reling. Mein Atem geht viel zu schnell und ich kann nicht glauben, was ich gerade auf der anderen Seite erlebt habe. Mir sausen unendlich viele Fragen durch den Schädel. Meine Kehle fühlt sich völlig ausgetrocknet an.

Ich schlucke gegen aufsteigende Übelkeit an und wanke vom Schiff. Herr Funke ist tatsächlich artig an Land geblieben. „Wasser … ich brauche Wasser.“

Er reicht mir die Flasche, die ich ihm vorher gegeben habe, und ich nehme ein paar ordentliche Schlucke.

„Geht es Ihnen gut?“, erkundigt er sich unsicher.

„Ja, ja. Ihr Schiff ist von dem Geist befreit. Sie können jetzt in Ruhe segeln gehen.“ Ich fühle mich ausgelaugt und könnte eine vorbeigaloppierende Wildsau vertilgen.

„Und? Wer war sie?“ Er sieht mich gespannt an.

Ich nehme einen erneuten Schluck. „Elisabeth, ihr Name war Elisabeth und sie wurde von ihrem Freund auf dem Schiff erstochen.“

„Oh? Das ist schrecklich, und wie konnten Sie Elisabeth zum Gehen bringen?“

„Ich habe sie erlöst. Sie ist jetzt auf der anderen Seite.“ Mehr sage ich nicht.

Ein zufriedenes Lächeln erscheint in seinem Gesicht und er reicht mir einen Umschlag. „Bitte, und vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Gern geschehen, Herr Funke. Bitte entschuldigen Sie mich, aber dieses Geistergedöns nimmt mich immer sehr mit, ich muss dringend nach Hause.“

„Ist wirklich alles Ordnung?“, fragt er aufrichtig und schaut mich besorgt an. „Ich kann Sie auch nach Hause fahren.“

Ich winke seinen netten Vorschlag mit einer laschen Handbewegung ab. „Das ist lieb von Ihnen, aber mir geht es gut.“

 

Mir geht es grottenschlecht, als ich zuhause ankomme und mich umgehend auf meine Couch schmeiße. Ich besitze also eine besondere Gabe und irgendeine Person werde ich treffen und diese wird mich darüber aufklären.

Nachdem ich drei Brötchen vertilgt habe und eine halbe Flasche Coke, verspüre ich etwas Ruhe in meinen Körper einkehren.

„Oma! Komm sofort zu mir! Ich muss dringend mit dir sprechen!“, rufe ich. Doch sie erscheint nicht. Noch nicht mal, als ich ihre Lieblingsduftkerze Erdbeere/Ingwer, anzünde. Verdammt! Dann muss ich mich wohl oder übel gedulden und abwarten, wann, wo und wer mich heimsuchen wird, um die Wahrheit zu erfahren.

Schlecht gelaunt gehe ich zu Bett.

 

 

Der liebe Stalker

 

In den kommenden Tagen erhalte ich keinen Auftrag in Sachen Seelenbefreiung. Worüber ich ganz glücklich bin, da ich zurzeit viel in der Uni um die Ohren habe. Ich pendle jeden Tag mit dem Zug nach Münster.

Freitag bin ich dann immer ab fünfzehn Uhr im Waffelhäuschen. Gegen sechzehn Uhr betritt mein Stalker-Freund Andreas das Café. Ich merke sofort, dass etwas nicht mit ihm stimmt. Er wirkt reserviert und niedergeschlagen. „Hey, Andy, was ist los?“, begrüße ich ihn mit einem Lachen.

Er nickt nur und nimmt an seinem Lieblingstisch Platz.

„Wie immer?“, frage ich.

„Ja, wie immer.“

Diesmal nicke ich und backe ihm zwei frische Waffeln mit einer Kugel Erdbeereis und Sahne. Dazu trinkt er immer eine eiskalte Coke. „So, der Herr. Lass es dir schmecken.“

Ich bediene noch andere Gäste und sehe zwischendurch immer wieder zu Andy. Hm? Es stimmt wirklich etwas nicht mit ihm. Er stochert in der Waffel herum und sein Gesichtsausdruck spricht Bände. Und dann fällt es mir siedendheiß ein. Er hatte ein Vorstellungsgespräch in München. Anscheinend ist es nicht gut gelaufen.

„Ina, ich mach mal fünf Minuten Pause!“, ruf ich meiner Kollegin zu und gehe zu Andy. Ich nehme ihm gegenüber Platz. „Deiner schlechten Laune nach zu urteilen ist dein Vorstellungsgespräch nicht gut verlaufen.“

Andy lacht hart und stochert weiter auf die Waffel ein, die bereits in geschmolzener Eis-Soße schwimmt. „Genau, sieht man mir das etwa an?“

„Was haben sie denn zu dir gesagt?“

Er lässt die Gabel fallen und sieht mich böse an, aber das Böse ist nicht auf mich bezogen. „Ach, diese alten Penner! Meinen, nur weil ich in Religion keine Eins habe, passe ich nicht in ihr Unternehmen.“

„Du musst religiös sein, um als IT in einer Autofirma zu arbeiten?“

„Du vergisst, wie fromm die Batzies sind“, sagt er hasserfüllt.

„Hey, Andy, dann vergiss die frommen Batzies und bewerbe dich in Berlin, da sind viele Heiden unterwegs“, versuche ich ihn aufzumuntern.

Ein sanftes Lächeln huscht um seine Mundwinkel, doch es verblasst sehr schnell. „Das erzähle mal meinem Vater. Der flippt aus, wenn er hört, dass ich schon wieder keine Stelle gefunden habe. Ich kriege einfach nichts geschissen!“

„Das stimmt doch gar nicht, Andy … du bringst mich immer zum Lachen.“

Seine Mimik verändert sich schlagartig und er sieht mich traurig an. „Ja, ganz toll, nur zum Lachen. Aber mit mir ausgehen willst du nicht.“

Oh je … das leidige Thema. Ich rutsche auf dem Stuhl umher und nage an meiner Unterlippe. „Darüber haben wir doch schon gesprochen. Ich möchte dir keine falschen Hoffnungen machen. Ich mag dich sehr, aber mehr …“

„Mehr ist nicht drin. Schon kapiert. Kann ich dann zahlen?“, haut er mir schnippisch um die Ohren.

„Geht aufs Haus.“

Er springt vom Stuhl auf, kramt in seiner Hosentasche und wirft mir zehn Euro entgegen. „Danke, ich brauche keine Almosen und schon gar nicht dein Mitleid.“

Und schwups ist er verschwunden.

 

Ich schließe um halb sieben die Tür vom Café ab und bringe den Müll weg. Seit dem Vorfall mit Andy fühle ich mich mies und schlecht. Aber was soll ich denn machen? Liebe kann nun mal nicht erzwungen werden.

Ich hoffe nur, dass sein Vater ihm keine Szene macht, wenn Andy ihm von seinem Misserfolg berichtet. Seinen Vater finde ich jetzt schon beschissen. Wie kann man seinen Kindern nur so einen immensen Druck auferlegen? Soweit ich weiß, hat Andy das Abi mit 1,2 bestanden und erfolgreich IT studiert. Nur weil eine bayrische Firma so krankhaft gläubig ist, verliert er seinen Glauben an sich selbst.

Ich lerne noch für mein Studium und koche mir gegen zehn Uhr einen Tee. Mein Blick fällt zufällig aus dem Küchenfenster. Ist das grüner Nebel? Ich klebe fast mit der Stirn an der Scheibe. Ja, das ist doch grüner Nebel, der über den Boden wabert.

Ich schrecke im nächsten Augenblick zurück, da ich eine Person sehe, die halb im Nebel, halb im Schatten des Mondlichts steht. Es sieht aus, als würde er einen Zylinder tragen und einen Gehstock in der Hand halten. Das Gesicht kann ich nicht erkennen. Mein Puls schlägt wild und ich eile nach unten.

Der Nebel wird dünner und zieht sich zurück, als ich das Freie betrete. „Wer ist da?“, rufe ich in die Richtung, in der gerade noch die Person stand.

Ich erhalte keine Antwort und wage mich näher heran. „Hallo? Ich habe gefragt, wer da ist? Ich habe Sie gesehen, was wollen Sie von mir?“

„Hier wohnst du also, Nike“, erklingt eine sehr markante und sinnliche Männerstimme.

Ich bleibe stehen und kneife die Augen zusammen, um besser sehen zu können. „Wer um alles auf der Welt sind Sie und woher kennen Sie meinen Namen?“

Der Mann bleibt im Schatten verborgen. „Das wirst du noch erfahren. Ich wünsche dir eine gute Nacht.“

Der grüne Nebel wird intensiver und saust mir entgegen. Ich wedle mit den Händen umher, um wieder sehen zu können, und eile zu der Stelle, von der die Stimme kam. Nichts.

„Oma! Komm sofort zu mir! Wir haben ein ernstes Wörtchen miteinander zu reden!“, rufe ich und schaue gen Nachthimmel. Doch Oma kommt nicht.

Völlig aufgedreht gehe ich zu Bett und kann nicht schlafen. Wer um alles auf der Welt ist dieser Mann? Und wenn er tatsächlich einen Zylinder trug, muss er aus dem 19. Jahrhundert stammen. Hm? Vielleicht hat das was mit dem alten Reiterhof zu tun. Nein, der wurde erst 1953 gebaut und hier ist auch niemand gestorben, das habe ich bereits geprüft.

 

Am Samstag und Sonntag ist Andy nicht ins Café gekommen. Ich mache mir Sorgen, irgendwie beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Und dieses Gefühl wird von Stunde zu Stunde intensiver. Leider habe ich keine Telefonnummer von ihm. Auch unter seinem Nachnamen Volkers finde ich zwar genügend Einträge, aber ich kann schlecht jeden einzelnen anrufen und fragen, ob ein Andy zu ihnen gehört.

 

***

Wie von der Hornisse gestochen schrecke ich Montagmorgen auf. Ich habe verpennt! So ein Mist! Katzenwäsche und ab zum Bahnhof. Nun, dann komme ich halt eine Stunde später zur Uni. Als ich den Bahnhof gegen 07:55 Uhr erreiche, herrscht dort reges Treiben und ich kann schon von weitem die meckernden Sprüche hören.

„Ist wohl ein Zug ausgefallen?“, frage ich ein Mädel, die ich vom Sehen her kenne.

„Ja, der um 06:05 Uhr und 07:05 Uhr sind ausgefallen, jetzt haben sie gerade gesagt, dass der andere auch schon dreißig Minuten Verspätung hat. Ist wohl was an den Gleisen passiert“, gibt mir das Mädel Auskunft und verschmilzt augenblicklich mit ihrem Telefon.

Tja, ist ja auch lange gutgegangen. Ich nutze die Gelegenheit und hole mir ein Brötchen und einen Tee aus dem Kiosk.

Um 08:47 Uhr trudelt die Bahn ein.

Den Rest der Woche geht alles glatt.

 

Am Freitag beginne ich um fünfzehn Uhr meine Schicht im Waffelhäuschen und bin überrascht, als plötzlich Andy an seinem Tisch sitzt. Ich habe ihn gar nicht reinkommen sehen.

„Ah, da ist er wieder“, sage ich zu meiner Kollegin, die mich daraufhin fragend anschaut.

„Wer ist da?“

„Na, Andy.“ Ich deute mit dem Kopf zu ihm.

„Da sitzt niemand. Hast wohl zu viel Stress an der Uni gehabt“, scherzt meine Kollegin und macht sich daran, den frischen Kuchen zu schneiden.

Ich schlucke. Das Blut gefriert mir in den Adern und ich starre zu Andy. Er schaut hoch und winkt mir zu. Ich binde mir die Schürze um die Taille und gehe langsam auf den Tisch zu. Ein Blick zurück, Ina ist in der Küche verschwunden. Ich setze mich und blicke Andy geschockt an. „Du … du bist …“ Ich vermag es nicht auszusprechen und spüre, wie sich Tränen in meinen Augen bilden.

„Ja, ich bin tot. Ich habe mich am Montagmorgen vor den Zug geworfen. Deswegen bist du zu spät zur Uni gekommen.“

Um den Schrei zu unterdrücken, halte ich mir die Hand vor den Mund. „Warum?“, flüstere ich. „Warum hast du das getan, Andy?“

„Wie ich es schon geahnt habe, mein Vater ist völlig ausgerastet. Er hat mich als Versager bezeichnet, nichts würde ich in meinem jämmerlichen Leben zustande bringen.“

Ich schüttle den Kopf und spüre, wie mir die Tränen heiß über die Wangen laufen. Ich wische sie flink weg und schniefe. „Aber … aber wieso gleich umbringen? Ich verstehe das nicht …“

Andy lächelt und nimmt meine Hand. Seine ist eiskalt. „Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut … ich fühle mich endlich frei.“

Ich schluchze laut und werfe einen Blick in die Küche. Ina ist noch dort und bekommt nichts von meiner Geistersitzung mit. „Es tut mir so leid, Andy … du bist so ein liebevoller Mensch und du hättest eines Tages eine wundervolle Frau gefunden.“

„Ich wollte aber nur dich. Du hast mir das Herz gebrochen, als du mich abgelehnt hast. Aber ich bin hier, um mich bei dir zu entschuldigen. Ich habe dich wirklich gestalkt … und du hast mich für deine Studienzwecke missbraucht, nicht wahr?“ Wieder lacht er. Und plötzlich erscheint mir diese Geste so rein und niedlich.

„Ja, du hast mich durchschaut.“

„Ich werde jetzt gehen, aber ich komme wieder, Nike.“

„Woher weißt du, wie ich …“

„Wie du in Wirklichkeit heißt? Er hat es mir gesagt.“

Ich springe vom Stuhl auf und starre ihn an. „Wer ist er? Trägt er einen Zylinder?“

Andy löst sich vor meinen Augen auf.

„Verdammte Scheiße!“, fluche ich laut und haue mit der Faust auf den Tisch.

„Was ist denn los?“, erklingt Inas besorgte Stimme hinter mir.

Ich drehe mich zu ihr um und sehe sie durch verheulte Augen an. „Ich habe gerade erfahren, dass Andy sich am Montag das Leben genommen hat.“

„Was?“ Ina eilt zu mir und nimmt mich in die Arme. „Oh nein! Warum hat er das nur getan? Oh nein, der arme Junge! Er hat dich so gemocht … es tut mir so leid.“

Wir beide setzen uns und trauern, bis die ersten Gäste kommen und uns irritiert ansehen.

Um achtzehn Uhr schließen wir und Ina macht mir den Vorschlag, dass sie noch gern bei mir bleiben würde. Ich lehne dankend ab. Ich muss allein sein. Außerdem will Andy sich ja noch mal blicken lassen.

 

Wie ein aufgescheuchtes Huhn wandere ich im Wohnzimmer auf und ab. Meine Gedanken können sich einfach nicht beruhigen. Inzwischen ist es halb acht. Ich beschließe auf den Balkon zu gehen, um frische Luft zu schnappen, und wundere mich, wie warm die Luft ist. Immerhin haben wir erst Anfang März, der Sommer steht noch vor der Tür. Aber wie sagt eine alte Bauernregel: Der März hat zehn Sommertage oder heißt es Sonnentage?

Ich lehne mich auf das Geländer, schließe die Augen und lausche den Geräuschen, die die herannahende Nacht mit sich bringt. Ich liebe diese lauwarmen Abende. Ich wünsche mir, dass sie niemals enden würden.

Ich habe mit meiner Oma oft im Sommer draußen gesessen und wir haben uns den Sternenhimmel angeschaut. Sie hat mir gesagt, dass jeder einzelne Stern ein Menschenleben auf Erden gewesen ist. Und auch die Seelen all der verstorbenen Tiere sind zu Sternen geworden.

„Wirklich?“,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Marie - Katharina Wölk by Wolkenart
Lektorat: Jörg Querner / Pforzheim
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5431-2

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