Fogwood
Teil 2
„Neue Welten“
Von Sandra Eckervogt
Vergesse nie die Fantasie in dir – ohne sie bist du verloren.
Sandra
Lektor: Jörg Querner, Pforzheim
Covergestaltung:
Wolkenart
Marie-Katharina Wölk
www.wolkenart.com
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Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. Die Personen und Handlung des Buches sind vom Autor frei erfunden. ©Sandra Eckervogt, 2018
Kapitel
Wie alles begann:
Verborgene Schätze
Nimbus Ripa
Die Nachricht
Das Tannenzapfenfest
Malentis’ Racheplan
Überstürzte Abreise
Fogwood
Wie alles weitergeht:
Die Ankunft
Hokuspokus
Fauler Zauber
Eine neue Welt
Shiva
Cantus-Larva
Der erlösende Spruch
Pihela und Nephele
Der Untergang von Desert Rose
Scarlet, die Auserwählte
Drei Mal Langeweile
Verrückte Hühner
Laurence
Vapor-Drache
Schattenwolf & Eiswaldfee
Würmchen hat Geburtstag
Die Befreiung
Luis?
Drachenschuppe
Die Suche kann beginnen
Kadir
Abschied von Wakur
Der Sandtempel von Shazar
Die fehlenden Seiten
Der Fluch des Sandes
Die Rettung
Die Ruhe vor dem Sturm
Der Visum-Fragum-Tee
Träume sind Schäume
Falsche Schlange
Amicus oder Hostis?
Fortuna – Schicksal
Scarlet hat Geburtstag
Wie alles begann …
Der Wind rauschte durch die regenbogenfarbenden Gräser. Die Blätter an den Bäumen wiegten sich im Takt und ein großer Schwarm von bunten, großen Schmetterlingen ließ sich einfach so mitreißen. Ein weißes Großohrreh knabberte vergnügt auf der saftigen Wiese. Zwei Schmetterlinge ließen sich auf das rechte Ohr nieder. Das kitzelte und durch ein sanftes Schütteln beförderte das Großohrreh sie wieder in die warme Abendluft.
Plötzlich spürte das Reh, wie der Waldboden unter seinen Hufen zu beben begann. Schlagartig hob es sein Köpfchen und schaute grasmümmelnd nach vorn. Sein weißes Fell schimmerte im Abendlicht, als sei feiner Diamantenstaub darauf verteilt. Was verursachte dieses Geräusch?
Die Schmetterlinge spürten die Gefahr ebenfalls und suchten schnellstmöglich ein Versteck in den dichten Baumkronen. Sie schmiegten sich ganz nah an die leicht schwingenden Äste, schlossen ihre großen Flügel und nahmen zur Tarnung die Farbe des Astes an. Sogar die feinen Gesänge des Abendpickers verstummten augenblicklich und er eilte in seine Baumhöhle. Er traute sich jedoch und warf einen Blick aus dem Astloch.
Das Dröhnen wurde stärker, es klang wie ein grollender Donner, so, als würde sich ein böses Unwetter zusammenbrauen.
Das Großohrreh setzte mit einem Sprung in den Busch und duckte sich, als plötzlich ein Pferd aus dem Geäst preschte.
Das Pferd galoppierte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Die Reiterin blickte sich stetig um, doch bis jetzt folgte ihr niemand. Sie hatte es geschafft. Sie hatte ihre Verfolger abgehängt. Doch plötzlich bremste das Pferd ab, ging mit den Vorderhufen in die Höhe und wieherte angsterfüllt.
Esmeralda hatte Mühe, sich im Sattel zu halten. „Ruhig, Stormcloud, ganz ruhig.“ Sie tätschelte den Hals des Hengstes und suchte die Ursache für den abrupten Halt.
Schwarzer Nebel stieg aus dem moosbedeckten Waldboden empor. Stormcloud wieherte und tänzelte. Der Nebel um seine Hufe wurde dichter und legte sich wie starke Fesseln um seine Gelenke. Der Hengst versuchte sich von der Stelle zu bewegen, doch die Schattenbänder drückten seine Hufe fest an den Boden. Esmeralda tätschelte Stormcloud erneut und sprach beruhigende Worte.
Langsam formten sich Gestalten aus dem Nebel, die wie große Hunde aussahen. Sie waren schwarz wie die Nacht. Ihre leuchtend roten Augen stachen hervor und silberne Zähne säumten ihre Mäuler. Es waren keine Hunde. Es waren Schattenwölfe.
„Wo ist das Mädchen mit dem Namen Scarlet?“, sprach einer der Schattenwölfe zu ihr.
„Welches Mädchen?“, wiederholte Esmeralda.
„Wo können wir sie finden? Du hast sie doch versteckt!“, knurrte er.
„Tut mir leid, ich weiß nicht, was du von mir willst.“
Der Schattenwolf kam näher. Stormcloud versuchte seine Beine zu bewegen, doch die Fesseln waren zu stark. Er schaffte es nicht, den Zauberbann zu lösen. Der Hengst schnaufte und rief sich selbst zur Ruhe. Er konnte die Kraft seiner Reiterin spüren.
Esmeralda blickte direkt in die glühenden Augen des Schattenwolfes, der die Größe des Pferdes erreicht hatte.
Er kam gefährlich nah. „Du wirst es mir auf der Stelle sagen, ansonsten wird es Krieg in deinem Land geben!“
„Es wird keinen Krieg in Oak Land geben.“ Esmeralda griff langsam in ihre grüne Ledertasche, die sie auf der rechten Seite ihres Umhanges trug.
„Ihr werdet es alle bereuen“, schnarrte der Schattenwolf zornig und fletschte seine spitzen Zähne. Die anderen vier Schattenwölfe ahmten seine Geste nach und brachten sich in Angriffsposition. Bereit zum Sprung.
„Abacinare!“, rief Esmeralda und zog etwas aus ihrer Tasche. Weiße, stark blendende Schnipsel flogen durch die Luft. Sie gaben ein grelles Licht ab, worauf die Schattenwölfe vor Schmerzen jaulten, da es in ihren Augen brannte. Sie konnten nichts mehr sehen.
Die Fesseln, die um Stormclouds Gelenke lagen, lockerten sich augenblicklich. Er wieherte, strampelte die schwarzen Schattenbänder von sich und stellte sich auf seine Hinterbeine.
„Los, Stormcloud, wir müssen schnell weiter.“ Esmeralda schnalzte mit der Zunge und das Pferd galoppierte los.
Der schwarze Nebel verschwand mit kreischenden und windenden Lauten in dem moosbedeckten Waldboden.
Dann herrschte wieder angenehme Stille.
Das Großohrreh wagte sich aus dem Gebüsch. Die Schmetterlinge öffneten ihre bunten Flüge und ließen sich vom Abendwind durch die Lüfte treiben. Der Abendpicker verließ sein Astloch und begab sich auf Futtersuche.
Snow Hills – Stadt Regia
„Und es waren wirklich Schattenwölfe?“, wiederholte Breen Zengaruz überrascht.
Esmeralda nickte mehrmals. „Sie sahen wie welche aus. Und sie waren zu fünft. Einer von ihnen hat mich bedroht. Er wollte unbedingt den Aufenthaltsort deiner Enkeltochter wissen.“
Jetzt blickte Breen die Zauberin ungläubig an. „Aber was wollen denn Schattenwölfe von Scarlet? Außerdem sind Schattenwölfe friedliche Geschöpfe.“
„Diese leider nicht. Sie drohen damit, dass es einen Krieg in Oak Land geben wird. Vielleicht hat es mit dem bösen Zauberer zu tun, den Argana vorhergesagt hat.“
„Dann werden wir sie benachrichtigen, sie wird uns sicherlich über diesen seltsamen Vorfall aufklären können.“ Breen machte eine kurze Pause. „Argana ist die mächtigste Zauberin von Oak Land und sie hilft seit vielen Jahren unseren Völkern. Sie wird Licht in diese mystische Angelegenheit bringen. Teile ihr mit, dass wir zum Tannenzapfenfest nach Abies reisen und wir uns dort mit ihr treffen werden.“
„Gut, dann werde ich Argana eine Nachricht zukommen lassen. Da ich leider noch nicht teleportieren kann, müsste ich einen deiner Lurgen schicken.“
„Selbstverständlich. Ach, und Esmeralda?“
„Ja?“
„Kein Wort zu meiner Tochter oder meiner Gattin. Sie würden sich nur unnötige Sorgen machen. Und Kevinco wird erst zum Wochenende von seiner Ärztetagung zurückkommen. Abigail hat im Moment genug mit der quirligen Scarlet um die Ohren.“ Ein Lächeln huschte um seine Mundwinkel.
Esmeralda erwiderte sein Lächeln. „Scarlet wird einmal ein richtiger Wildfang werden.“
„Oh, das ist sie jetzt schon.“
„Ich werde nichts gegenüber den beiden erwähnen. Ich kümmere mich jetzt um den Lurgen.“
„Danke, Esmeralda. Sicherlich ist nichts an den Gerüchten dran und wir sorgen uns umsonst. Argana wird sich diesmal getäuscht haben. Es gibt keinen bösen Zauberer und schon gar keinen Krieg. Und die Schattenwölfe haben sich bestimmt einen bösen Scherz mit dir erlaubt.“
„Ich hoffe, dass du recht hast, Breen.“ Esmeralda nickte und begab sich zu einer großen Blumenwiese, die direkt im Innenhof des Schlosses lag.
Lurgen waren große, silberne Adler, die auf ihrem Kopf drei prächtige Federn besaßen. Diese Federn leuchteten, je nach Art des Lurgen, in verschiedenen Farben.
Die Vögel konnten ihre Federn auf Menschen oder andere Lebewesen abfeuern. Kurz vor dem Ziel verpufften diese zu Staub. Bei blauen Federn wurde der Getroffene für einige Minuten bewusstlos und somit außer Gefecht gesetzt. Die roten verursachten Blindheit, die mehrere Stunden anhalten konnte, und die orangen Federn ließen den Gegner für eine gewisse Zeit erstarren.
Die schwarzen waren am gefährlichsten, denn wenn der schwarze Staub eingeatmet wurde, war der Gegner binnen weniger Sekunden tot.
Die Lurgen setzten ihre Federwaffen nur ein, wenn es eine für sie unausweichliche bedrohliche Situation gab, wie das Verteidigen ihrer Horste während der Brutzeit oder wenn ihr Leben bedroht wäre.
Breen Zengaruz war stolzer Besitzer von vier Lurgen. Er hatte sie zufällig bei einem Ausritt gefunden. Ein schwerer Sturm hatte ein Horst aus den hohen Wipfeln der blauen Lichtertanne zu Boden gerissen. Vier kleine Lurgen hatten auf dem Waldboden gelegen. Breen hatte sich ihrer angenommen und hatte sie per Hand großgezogen. Seitdem waren die Adler seine treuen Begleiter.
Und das größte Glück, das Breen hatte, war: Jeder der Lurgen hatte eine andere Kammfarbe und somit besaß er alle vier Arten, die es gab. Bis jetzt hatte keiner seiner Vögel auch nur eine kostbare Feder einsetzen müssen. Eine verlorene Feder wuchs nie nach und schwächte zudem den Greifvogel. Verlor ein Lurgen seine drei Federn, bedeutete das seinen Tod.
Esmeralda blieb am Gattertor stehen und hielt sich die Hand gegen die Stirn. Die Sonne blendete sie etwas. Die hohen Sitzstangen der Greifvögel waren leer. Sicherlich tobten die Adler durch die Lüfte von Crystal Mountain auf der Suche nach Nahrung. Da, am endlos blauen Himmel konnte sie einen Punkt erkennen. Er bewegte sich sehr schnell in ihre Richtung.
Esmeralda steckte sich die Zeigefinger in den Mund und gab einen besonderen Pfiff von sich. Es dauerte keine Minute und einer der Lurgen kam im direkten Tiefflug auf die Wiese zugeschossen. Kurz vor seiner Sitzstange bremste der Vogel mit seinen großen Flügeln ab und setzte sich auf die Holzstange. Es war Tamyna, eines der zwei Weibchen. Sie besaß die orangen Kammfedern.
Esmeralda trat zu ihr und musste zu dem Weibchen aufschauen. „Hallo, Tamyna, na wie geht es dir? Hast du Futter gesucht?“ Sie streckte ihre rechte Hand nach dem Vogel aus.
Tamyna bückte sich den Fingern entgegen und schnäbelte diese zärtlich, dann rieb sie ihren Kopf gegen sie. Die Federn waren samtweich und hinterließen einen feinen silbernen Staub auf Esmeraldas Haut.
„Tamyna, du musst ins Elbenland fliegen. Die Nachricht ist für Argana und zwar nur für Argana. Es ist sehr wichtig!“ Esmeralda hielt eine Holzrolle in der Hand, in der sich das Dokument befand.
Das Adlerweibchen nahm die Nachricht in den Schnabel und sofort legte sich ein silbernes Band um die Rolle, so als wäre es gesichert, damit es ihr nicht aus dem Schnabel fallen konnte.
Esmeralda streichelte sanft den Kopf. „Sei vorsichtig und guten Flug, Tamyna.“
Tamyna gab einen pfeifenden Ton von sich, richtete sich zur vollen Größe auf, streckte ihre zwei Meter breiten Flügel aus und hob sich anmutig in die Lüfte.
Esmeralda blickte ihr so lange nach, bis Tamyna als Punkt am Himmel verschwunden war. Sie drehte sich um und erschrak, denn Abigail, die Tochter von Breen stand plötzlich vor ihr.
„Du hast einen Lurgen losgeschickt? Stimmt etwas nicht, Esmeralda?“
„Was? Nein, nein … alles in Ordnung. Ich habe eine Nachricht nach Nimbus Ripa geschickt. Ich habe der Leiterin mitgeteilt, dass ich direkt von hier aus auf das Tannenzapfenfest gehen werde.“ Esmeralda grinste breit.
Abigail betrachtete sie einige Sekunden skeptisch, doch dann lachte sie und tätschelte ihren Arm. „Oh, das freut mich, dann können wir morgen gemeinsam nach Abies ins Elbenland aufbrechen.“
„Genau. Wie geht es Scarlet?“, wechselte sie schnell das Thema und beide begaben sich zurück zum Schloss.
„Kevinco und ich sind so stolz auf Scarlet. Obwohl sie erst sechs Monate alt ist, haben wir das Gefühl, dass sie ihre Umwelt viel genauer erkennt und wahrnimmt.“
„Nun, sie ist auch eine Eiswaldfee.“
Abigail strahlte ihre Freundin glücklich an. „Ja, das ist sie.“
Breen stand unterdessen am Fenster und sah, wie seine Tochter mit Esmeralda zum Schloss zurückkehrte.
Warum wurde Esmeralda auf dem Weg hierher von Schattenwölfen angegriffen? Und was ihn am meisten beunruhigte, war, dass sie unbedingt den Aufenthaltsort seiner Enkeltochter wissen wollten. Das Volk der Schattenwölfe lebte friedlich und zurückgezogen im Elbenland. Er konnte sich wirklich nicht vorstellen, warum sie jetzt ausgerechnet zum Bösen mutierten und was seine Enkeltochter mit alldem zu tun haben sollte.
Ob Argana wirklich recht mit ihrer Vermutung hatte und es gab plötzlich einen bösen Zauberer, der Krieg im friedlichen Oak Land auslösen wollte? Doch warum sollte dieser Zauberer einen Krieg beginnen?
Argana hatte ihm vor der Geburt von Scarlet mitgeteilt, dass es einige verborgene Schätze in Oak Land gebe. Schätze, die nur bestimmte Personen zu bestimmten Zeiten finden konnten.
War nun eine dieser bestimmten Zeiten in Oak Land angebrochen? Wollte der geheimnisvolle Zauberer vielleicht einen dieser verborgenen Schätze finden? Hatte er die Schattenwölfe auf seine Seite gezogen? Gehörte etwa seine Enkeltochter zu den bestimmten Personen? Aber was sollte ein Baby hier in Oak Land schon auslösen können?
Hoffentlich konnte Argana ihn aufklären.
Die Schulglocke erklang, worauf die Schüler und Schülerinnen umgehend in Aufbruchsstimmung verfielen. Sofort erhöhte sich der Geräuschpegel in der Klasse und die Lehrerin Miss Wiz erhob ihre Stimme. „Denkt daran, dass ihr am Freitag keinen Unterricht habt. Ich wünsche euch viel Spaß beim Tannenzapfenfest!“
Vereinzelte Schüler gaben die Wünsche an die Lehrerin zurück, die meisten verließen schnell den Klassenraum.
„Oh Mann, war das wieder eine langweilige Stunde bei Miss Wiz. Ich bin fast eingeschlafen.“ Suzanna seufzte schwerfällig und hängte sich die Schultasche über ihre Schulter.
„Also ich fand die Stunde über die Bang Bees sehr interessant“, sagte Betty.
Suzanna verdrehte die Augen. „Gibt es überhaupt irgendetwas in Oak Land, was du nicht interessant findest? Du magst ja sogar die Smelly Flys.“
Pixie und Mood mussten augenblicklich lachen.
Betty zog eine beleidigte Schnute. „Na und? Auch wenn sie stinken. Es sind Lebewesen und gehören nun mal in unsere Welt.“
Jillow legte kameradschaftlich den Arm um Bettys Schulter. „Und du gehörst genauso in unsere Welt, Betty. Ich finde es toll, dass du alles und jeden akzeptierst. Egal ob es groß, klein, dick, dünn, hässlich oder schön ist. Oder sogar stinkt.“
Diese Worte zauberten wieder ein Lächeln auf das Gesicht von Betty. „Habt ihr überhaupt schon mal Smelly Flys gerochen?“
Die vier Mädchen blickten ihre Freundin aus großen Augen an und schüttelten dann energisch ihre Köpfe.
„Neeee!“
„Bäh, will ich gar nicht!“
„Ist ja ekelig!“
„Sag bloß, du hast schon eine Smelly Fly gerochen?“, fragte Mood sie überrascht.
Betty nickte und verzog dabei das Gesicht, so als hätte sie in eine saure Frucht gebissen. „Ja, mein Vater hat mal eine gefangen und sie geärgert. Daraufhin hat die Fliege gepupst und wir sind fast ohnmächtig geworden. Ich sage euch, das hat vielleicht gestunken. Meine Mutter brauchte Tage, um den verfaulten Geruch aus der Wohnung zu bekommen. Und sie hat drei Tage nicht mit meinem Vater gesprochen.“
Die vier Mädchen schwiegen kurz, dann brachen sie in lautes Gelächter aus.
„Wisst ihr, wie das gerochen hat? Wie vergammelte …“ Weiter kam Betty nicht, da ihr Suzanna ins Wort fiel.
„Oh, Betty! Ich will das nicht hören und schon gar nicht riechen! Allein der Gedanke, boar, ich könnte spucken!“
„Apropos spucken, wir haben Mittag.“ Pixie grinste in die Runde.
Die Mädchen begaben sich in die große Kantine, holten sich an der Essenstheke jeweils ein Gericht und steuerten ihren Lieblingstisch an. Der runde Holztisch stand direkt am Fenster.
Von dort aus hatte man einen bezaubernden Ausblick auf den Icewood Creek. Es war ein breiter, kristallklarer Fluss, der sich durch alle Länder von Oak Land schlängelte. Am Horizont waren die Berge von Crystal Mountain zu erkennen. Es war die Grenze zu der Region der Snow Hills.
Die Gipfel waren das ganze Jahr über mit hohem Schnee bedeckt. In den Snow Hills war die wärmste Temperatur fünfundzwanzig Grad, aber nur vier Wochen lang. Diese Wärmeperiode hieß Vernus. Die kälteste Zeit hieß Frigus und dauerte acht Wochen. Die Temperatur konnte auf bis zu minus dreißig Grad sinken. In den restlichen Monaten überstieg das Thermometer nie die Grenze von zehn Grad. Alle Bewohner, die Pflanzenwelt und die Tiere der Snow Hills waren an die kühlen Temperaturen gewöhnt.
Doch zum Glück lag die Hexenschule im Elbenland, in der Stadt Schola, hier herrschte die ganze Zeit über ein warmes, angenehmes Klima. Was manchen Schülern und Schülerinnen aus den Snow Hills zu schaffen machte. Sie waren meistens daran zu erkennen, dass sie sich einen kleinen Taschenventilator vors Gesicht hielten.
Kurze Zeit später betraten drei Jungs den Saal. Es war so, als würden alle weiblichen Anwesenden für einen Moment den Atem anhalten, deren Blicke schmachtend auf die kleine Jungsgruppe gerichtet.
Die drei kannten bereits ihre Wirkung auf das weibliche Geschlecht und verhielten sich ganz normal. Sie begaben sich an die Theke und bestellten sich ihr Essen. Danach nahmen sie an einem Tisch Platz.
„Weiß eine von euch, ob die Freundinnen haben?“, flüsterte Pixie mit gesenktem Kopf den Mädels zu.
Jillow zuckte mit den Schultern und rührte in ihrer Suppe. „Ich habe noch kein Mädchen bei denen gesehen.“
„Also, ich finde Zeki am niedlichsten“, schwärmte Betty und himmelte den Jungen aus der Ferne an.
Zeki hob seinen Kopf und ihre Blicke trafen sich für einen kleinen Augenblick. Betty lief umgehend rot an und starrte auf ihr Essen.
„Hey, Betty, was wirst du denn plötzlich so rot?“, zog Suzanna ihre Freundin auf.
„Er hat mich angeschaut.“
Suzanna ließ den Blick durch die Menge schweifen und verharrte bei den drei Jungs. „Wer hat dich angeschaut?“ In der nächsten Sekunde blickte Tahir auf und schaute direkt zu Suzanna. „Mist …“
„Mist?“, wiederholte Mood.
Suzanna senkte den Kopf. „Er hat mich auch angeschaut“, gab sie zähneknirschend von sich.
Betty bekam große Augen. „Zeki hat dich auch angeschaut?!“
„Was? Nein. Mich hat Tahir angeschaut.“
Jetzt drehte sich Mood extra auffällig in die Richtung, in der die Jungs am Tisch saßen. Alle drei Jungs schauten zu ihr. Mood hob einfach die Hand zum Gruß. Und was geschah? Die Jungs ahmten ihre Geste nach und lachten sogar dabei. „Mist! Mich haben alle drei angeschaut und zurückgegrüßt.“
Suzanna kicherte los und stopfte sich ein Blatt Spornblume in den Mund.
„Und, was machen die jetzt?“, wollte Betty wissen und vermied es, den Blick zu heben.
„Die essen, genau wie wir“, antwortete Pixie. „Jetzt entspann dich, Betty.“
Betty holte einen tiefen Atemzug und richtete sich wieder auf. „Ja, ist schon gut.“
Es herrschte einige Sekunden lang Stille.
„Wann wollen wir eigentlich zum Tannenzapfenfest?“, warf Jillow die Frage in die Runde.
„Ich muss noch mein Kleid fertig nähen. Vor morgen Abend schaffe ich das nicht“, sagte Suzanna.
„Du nähst dir extra ein Kleid dafür?“ Pixie zog anerkennend eine Braue hoch.
„Natürlich, oder glaubst du, ich trage da unsere Schuluniform?“
„Also, ich finde die Schuluniform sehr schön“, warf Betty ein.
Ein allgemeines Stöhnen erklang, gefolgt von allgemeinem Augenverdrehen. Betty fand einfach alles schön, irgendwie.
„Sind sie ja auch, aber doch nicht, wenn man abends auf ein Fest geht. So findest du nie einen Freund, Betty“, gab ihr Suzanna hart zu verstehen.
„Ich will auch keinen Freund“, brummte sie leicht beleidigt.
„Ach? Und warum schwärmst du so für Zeki?“ Suzanna schenkte ihr ein gespieltes Grinsen.
„Lass sie doch schwärmen. Betty wird schon den richtigen Jungen finden. Wir können ja nicht alle so heiß sein wie du“, nahm Mood ihre Freundin in Schutz.
„Ihr findet mich tatsächlich heiß?“ Ihr Gesicht bekam ein Strahlen.
Die Mädchen prusteten los. Suzanna war schon eine Nummer für sich.
Die Hexenschule Nimbus Ripa besaß viele Wohneinheiten, die direkt am Schulgebäude angrenzten. Da es nur eine Hexenschule in ganz Oak Land gab, die im Elbenland lag, kamen viele Schüler aus einem der anderen vier Länder:
Das Gramer Art Land, dort war Betty aufgewachsen.
Die Boreus Hills, von hier kamen Pixie und Jillow.
Die Fortis Audax Rocks waren das Zuhause von Mood. Die eigentlich mit Vornamen Alyssa hieß, doch so wurde sie seit ihrer Kindheit nicht mehr genannt. Mood war ihr Nachname und passte hervorragend zu ihren Haaren, die sie je nach Gefühl in eine andere Farbe wechseln konnte. Mood stand für Stimmung.
Ja, und es gab die Snow Hills.
Suzanna stammte von hier, doch da ihre Heimatstadt zu weit von der Schule entfernt lag, bevorzugte sie die Möglichkeit, hier zu wohnen.
Die vier Mädchen besaßen eine gemeinsame Wohnung auf dem Schulgelände. Sie war zwar nicht allzu groß, aber es gab eine kleine Kochnische, die in die Wohnstube integriert war, ein Bad und jedes der Mädchen besaß sogar ein eigenes kleines Schlafzimmer.
Vor vier Jahren hatten sie sich in Nimbus Ripa kennengelernt und hatten sich auf Anhieb verstanden. Deswegen gab es auch keine Probleme, als die Schüler sich zu gemeinsamen Wohngruppen finden mussten. Die Mädels schauten sich an, nickten und dann war es beschlossene Sache gewesen. Sie würden die vier Jahre Hexenschule gemeinsam verbringen.
Betty schloss die Tür auf. „Ich werde mein blaues Kleid anziehen, das haben mir meine Eltern dieses Jahr zum Geburtstag geschenkt.“
Die anderen folgten ihr in die Wohnung und verteilten sich in ihre Zimmer.
„Das ist wirklich sehr schick“, stimmte Mood ihr zu.
„Weißt du schon, was du anziehen wirst?“, wollte Betty wissen.
Mood blieb im Türrahmen stehen und verschränkte die Arme. „Nö, noch nicht. Mal sehen, was ich für eine Haarfarbe wähle.“ Wie aus heiterem Himmel veränderten sich die schulterlangen, braunen Haare in saphirblaue.
Betty kicherte. „Die Farbe würde ausgezeichnet zu meinem blauen Kleid passen. Leider kann ich meine Haarfarbe nicht so schnell ändern, wie du es kannst.“
„Ach, weißt du, manchmal nervt das … die Leute sehen dann immer, wenn ich mich aufrege oder sauer bin.“
„Hey, wie findet ihr das?“, rief Jillow den beiden Mädels zu und zeigte ihnen ihre Kleiderwahl.
„Toll, passt hervorragend zu deinen grünen Augen.“
Betty nickte. „Echt klasse, Jillow.“
„Habe ich mir letzte Woche in dem Laden von „Nadel & Faden“ gekauft. War im Angebot, nur fünfzig Silbermünzen.“
Mood pfiff. „Ein wahres Schnäppchen.“
Jetzt tauchte Pixie mit ihrem Exemplar auf. „Und ich werde dieses Kleid tragen, es gehörte meiner älteren Schwester Minny. Sie hat es zu ihrem Abschlussball getragen, und danach hat sie es mir geschenkt.“
Die drei Mädels traten zu Pixie und bewunderten das schöne Kleid.
„Aua!“, kam es aus dem Zimmer von Suzanna.
Jillow öffnete die Tür und lugte durch den Spalt. „Was ist passiert?“
„Ach Mist … ich habe mich an der Nadel gestochen.“ Sie steckte sich den rechten Zeigefinger in den Mund.
Jillow trat näher, als sie das wunderschöne Kleid auf dem Tisch liegen sah. „Wow, Suzanna … du kannst ja richtig toll nähen.“
Die anderen folgten ihr und bewunderten ebenfalls die zauberhafte Robe.
„Meine Großmutter hat mir das Nähen beigebracht.“ Suzanna verzog das Gesicht, da die kleine Einstichstelle an ihrem Finger schmerzte.
„Wir wohnen vier Jahre zusammen und wussten nichts von deinem Talent?“, fragte Pixie überrascht.
Suzanna zuckte mit den Schultern. „Habe nie Lust gehabt, ein Kleid zu nähen, aber ich dachte mir, dieses Jahr wird es unser letztes gemeinsames Tannenzapfenfest sein.“
Die fünf Mädels schauten sich unglücklich an. Nach dem Tannenzapfenfest folgten noch zwei Monate Schule und dann waren sie mit ihrer Hexenausbildung fertig. Jeder würde in seine Heimat zurückkehren, seinen eigenen Weg gehen und die Mädels sich aus den Augen verlieren.
Es herrschte eine bedrückende Stille in dem kleinen Zimmer.
Betty brach die Stille, indem sie seufzte und die Hände von Mood und Jillow ergriff. „Wir dürfen nicht traurig sein. Wir werden das Fest noch einmal richtig genießen. Und wir werden uns wiedersehen.“
Pixie nahm die Hand von Jillow. Suzanna stand auf und schloss den Kreis. Sie straffte ihre Haltung und schaute ihre Freundinnen fest entschlossen an. „Betty hat vollkommen recht. Wir dürfen nicht traurig sein, und wir werden schwören, nach Abschluss der Schule einen festen Tag im Jahr festzulegen, an dem wir uns treffen werden. Einverstanden?“
Die Mädchen drückten ihre Hände zusammen und strahlten sich an. „Einverstanden!“, kam es von allen im Chor zurück.
Suzanna löste sich aus dem Kreis und hob ihre Nähnadel vom Boden auf. „So, meine Lieben, ich habe noch einiges an dem Kleid zu nähen, würdet ich mich bitte entschuldigen.“
Argana öffnete die Türen ihres großen, hölzernen Kleiderschranks und betrachtete ihre Garderobe. Sie überlegte nicht lang und entschied sich für das dunkelgrüne Kleid. Es passte hervorragend zu ihren dunkelgrünen Augen und ihrem blonden, langen Haar. Argana nahm gerade das Kleid aus dem Schrank, als sie etwas fühlte und dieses Gefühl sie auf den Balkon hinausführte. Sie entdeckte in der Ferne einen Adler. Der Greifvogel näherte sich und bevor er das Geländer des Balkons erreichte, bremste er mit seinen großen Flügeln die Geschwindigkeit ab und nahm Platz.
„Ah, Tamyna, was für Nachrichten überbringst du mir von Breen Zengaruz?“ Argana streichelte das Weibchen. Sie kannte die vier Lurgen von Breen. Immerhin hatte sie ihm wertvolle Tipps zur Aufzucht der Jungen gegeben und sie des Öfteren besucht.
Tamyna gab quietschende Geräusche von sich, löste das Band von ihrem Schnabel und überreichte Argana die Holzrolle.
„Warte, Tamyna, ich gebe dir Futter und zu trinken.“ Argana hob die rechte Hand und murmelte einen Zauberspruch. „Fibus dare.“ Sekunden später standen auf dem Balkonboden zwei Schalen. Eine war mit frischen Buckellachsen gefüllt und in der zweiten Schale befand sich frische Baldrian-Milch. Tamyna hüpfte vom Geländer und labte sich an den Leckereien.
Argana begab sich in ihre Räumlichkeiten und las die Nachricht. Sie stammte von Esmeralda. Sie war die Hexe der Snow Hills und eine gute Freundin.
„Liebe Argana,
ich wurde vor einem Tag von Schattenwölfen in den Snow Hills angegriffen. Sie verlangten von mir, dass ich den Aufenthaltsort von Scarlet Halo preisgeben soll. Breen Zengaruz möchte sich mit dir auf dem Tannenzapfenfest treffen, um Klarheit in diese Angelegenheit zu bringen. Wer hat auf einmal so großes Interesse an der Enkeltochter von Breen?
Argana, ist jetzt die Zeit gekommen, die du gesehen hast?
Wird es wirklich Krieg in Oak Land geben?
Wir sehen uns auf dem Tannenzapfenfest am Samstag.
Liebe Grüße, Esmeralda.“
Argana spürte, wie sich augenblicklich ihr Puls erhöhte. Sie eilte zum Schreibtisch, nahm ein Blatt Oak-Papier und tauchte ihre Feder in die Caecus-Tinte. Diese Tinte wurde unsichtbar und konnte nur von dem Empfänger persönlich gelesen werden.
„Liebe Esmeralda,
ich werde dir aus Sicherheitsgründen keine genauen Informationen in diesem Brief mitteilen. Wir treffen uns am Samstag, dort werdet ihr alles erfahren.
Liebe Grüße, besonders an die Familie Zengaruz und Familie Halo. Alles wird gut. Argana.“
Sie rollte das Papier zusammen, steckte es in die Holzrolle und begab sich nach draußen zum Lurgen.
Tamyna hatte inzwischen alles geleert und säuberte gerade ihr glänzendes Gefieder.
Argana reichte dem Lurgen die Rolle. „So, meine Liebe, jetzt bist du gestärkt für den Rückflug. Alles Gute, und pass auf dich auf.“
Tamyna schnappte sich die Rolle, versiegelte sie mit dem Band und hob mit sachten Flügelschlägen vom Boden ab. Sie gab einen schreienden Ton von sich und verschwand im Abendhimmel.
War nun die Zeit angebrochen, die ihre Mutter Shiva vorhergesehen hatte? Kurz bevor ihre Mutter gestorben war, hatte sie ihr mitgeteilt, dass es Zeiten, Personen und Orte in Oak Land geben wird, die sich nur zu bestimmten Zeiten, für bestimmte Personen und an bestimmten Orten zeigen würden. War das Baby Scarlet eine dieser auserwählten Personen? War der böse Zauberer aus dem Sonnenland erwacht?
Kaum einer der Bewohner von Oak Land kannte die wahre Geschichte aus dem Sonnenland Desert Rose. Es war einst ein Teil von Oak Land gewesen. Doch vor vielen Hunderten von Jahren wurde es von Wakur – er war zu der Zeit der mächtigste Zauberer in Oak Land gewesen – in eine Parallelwelt verbannt worden. Doch warum es geschehen war, wusste niemand.
Ihre Mutter Shiva war im stolzen Besitz eines der wertvollsten Bücher von ganz Oak Land gewesen: „Die vergessene Fabula“. Shiva hatte nie preisgegeben, wie dieses wertvolle Buch in ihre Hände gelangte und wie man die Geschichten sichtbar machen konnte. Sie nahm ihr Geheimnis mit ins Grab. Argana besaß zwar das sagenumworbene Buch, aber die Seiten waren leer. Es fehlten sogar einige, deren ausgefranste Papierreste waren nicht zu übersehen.
Seltsamerweise war eine Geschichte in dem Buch noch lesbar. Es war die Geschichte von einer anderen Welt, die Fogwood hieß.
Argana eilte zu ihrem Nachttisch, legte ihre Hand auf das weiße Holz und sprach: „Pandere nidus.“
Ein weißes Licht erhellte für Sekunden das Schränkchen, dann öffnete sich eine Schublade und ein verschlissenes Buch erschien. Der Buchdeckel war mit einem schwarzen Herzen versehen, in dessen Mitte war ein Auge, das eine rote Pupille in Form eines leuchtenden Rubins hatte.
Ihre Mutter hatte gesagt: „Das, meine Liebe, ist das Schicksalsherz von Desert Rose. Es ist ein böses Zeichen der dunklen Zauberer. Sei auf der Hut, wenn du es siehst.“
„Aber ich dachte, es ist das Zeichen von Oak Land?“, hatte Argana ihre Mutter verwirrt gefragt.
„Das glauben alle. Dieses Buch wurde aber in der Welt von Desert Rose geschrieben. Wakur hat es stehlen lassen, bevor deren Heimat von Oak Land verbannt wurde. Und ein böser Zauberer aus Desert Rose wird es eines Tages zurückverlangen, um sein Volk zu befreien.“
Argana seufzte wehmütig bei dem Gedanken an das letzte Gespräch, das sie mit ihrer Mutter kurz vor deren Tod geführt hatte. Sie hob das Buch vorsichtig aus der Lade. „Bitte, Mutter, ich hoffe, die Geschichte um Fogwood ist nicht verschwunden.“
Sie begab sich zu ihrem Schreibpult und legte das Buch behutsam ab. Ganz sanft blätterte sie eine Seite nach der anderen um. Nachdem sie fast hundert leere Blätter umgeschlagen hatte, die eigentlich gar nicht leer waren, stieß sie auf Fogwood. „Vielen Dank, Mutter. Es gibt sie noch.“
Argana las aufmerksam die Geschichte, die sich hinter dem Begriff Fogwood verbarg. Je mehr sie las, umso bewusster wurde ihr, dass sich Scarlet Halo, die Enkeltochter von Breen Zengaruz, in wirklicher Gefahr befand. Sie war tatsächlich eine der bestimmten Personen, die Oak Land einfach so nach Hunderten von Jahren freigab, und diese Person musste eine bestimmte Aufgabe erledigen. „Und dieser Zauberer benötigt sie tatsächlich, um das Tor zu Desert Rose zu öffnen. Jetzt verstehe ich den Zusammenhang.“
Argana wollte das Buch gerade schließen, als plötzlich neue Zeilen sichtbar wurden. „Was … was ist das denn?“ Argana wartete, bis die Zeilen vollständige Sätze bildeten, und las sie laut vor. „Der Zauberer, der nach Oak Land zurückkehren wird, wird den Namen Malentis tragen.“
Tamyna entdeckte einen kleinen See und setzte zur Landung an. Über die Hälfte der Flugstrecke zu den Snow Hills lagen bereits hinter ihr. Der Buckellachs von Argana war sehr lecker, aber auch sehr salzig gewesen. Sie verspürte einen enormen Durst. Da kam ihr der kleine See, der in einer Waldgegend lag, gerade recht. Sie hüpfte zum Ufer und löste die Sicherung in ihrem Schnabel. Die Holzrolle legte sie direkt neben sich. Sie hatte gerade den Schnabel in das köstlich kühle Wasser eingetaucht, als aus heiterem Himmel ein schweres Netz über sie geworfen wurde.
Tamyna gab Warnlaute und Angstschreie von sich, doch das interessierte den Angreifer recht wenig. Ein Mann packte sie mit seinen starken Händen und drückte sie zu Boden. Warum hatte sie die drohende Gefahr nicht bemerkt? Tamyna schnaufte und piepte. Sie wollte eine ihrer Feder abschießen, doch ihr oranger Kamm wurde durch das schwere Netz runtergedrückt. Vor ihren Augen wurde die Luft leicht verschwommen und schimmerte für einen Moment silbern, dann trat ein großer Mann aus diesem feinen Nebel und hob die Holzrolle auf.
Sein Gesicht war schneeweiß, seine Pupillen rot, seine dunklen Haare zu einem Zopf gebunden. Der Zauberer rollte das Papier auseinander. Nichts. Da stand nichts. Nun ja, er wusste ganz genau, dass dort etwas stand. Zaubertinte, wie reizend. „Fatus malus.“ Es dauerte nur einige Sekunden, und der Text baute sich vor seinen Augen auf.
Er las ihn und rollte das Papier sorgfältig zusammen, steckte es in die Holzrolle und wies seinen Partner durch ein Nicken an, den Lurgen freizulassen.
Der Mann nahm das Netz ab und wich einige Schritte zurück. Tamyna schreckte umgehend hoch, kreischte und ging in Angriffsstellung. Der Zauberer warf ihr die Holzrolle zu, die sie im Sprung auffing, im Schnabel sicherte und wie ein Blitz in die Höhe ging. Kurz bevor Tamyna abdrehte, gab sie eine Kammfeder von sich frei und zielte auf den Mann, der sie mit dem Netz gefangen genommen hatte. Die Feder schoss direkt auf ihn zu und verpuffte kurz vor seinem Gesicht. Oranger Staub umgab ihn und plötzlich erstarrte dieser.
Tamyna verschwand und flog so schnell sie konnte nach Hause.
Der Rotäugige betrachtete seinen Kumpanen, der wie eine Statue am Ufer stand und einen verzerrten Gesichtsausdruck hatte.
Er legte seinen rechten Zeigefinger auf die kalte, harte Stirn. „Rigor free.“
Der Erstarrte vor ihm gab knackende Geräusche von sich. Nach nur wenigen Sekunden löste sich die Starre von den Füßen bis zum Haaransatz und der Mann war wieder der Alte. „Diese blöden Lurgen, immer noch so mies drauf“, schimpfte Aznar und reckte seine Gliedmaßen.
Der Zauberer lachte und klopfte seinem besten Kumpanen auf die Schulter. „Komm, … wir schicken einen Zeekdex nach Regia. Er soll die beiden Familien im Auge behalten. Ich schätze mal, dass Argana etwas ahnt, deswegen auch die Zaubertinte. Du darfst nicht vergessen, sie ist die Tochter von Shiva. Sie war einst die mächtigste Hexe in Oak Land und ihre zauberhafte Tochter hat ihre Fähigkeiten geerbt. Außerdem vermute ich, dass Argana in dem Besitz des Buches ‚Die vergessene Fabula‘ ist.“
Aznar zog eine Braue hoch. „Das Buch gibt es wirklich?“
Malentis’ Blick verfinsterte sich und seine roten Augen funkelten einen kurzen Moment in der Abendsonne auf. „Ja, das Buch gibt es wirklich.“
Aznar pfiff anerkennend. „Und? Was steht in diesem Buch so Wichtiges?“
„Das wissen nur ganz bestimmte Personen. Wir müssen diese Scarlet in unsere Gewalt bringen, nur sie wird das Portal zu Desert Rose finden und es öffnen können.“
„Sie ist doch noch ein Baby.“
„Ja, wir müssen achtzehn Jahre warten, bis sie in der Lage sein wird, das Portal zu finden.“
„Du willst achtzehn Jahre lang den Babysitter spielen?“ Aznar blickte seinen Meister pikiert an.
„Was sind lächerliche achtzehn Jahre gegen die Unendlichkeit, die wir dann beherrschen können.“ Malentis griff in seine Mantelinnentasche und hielt einen kleinen schwarzen Vogel in der Hand. Es war ein Kolibri. Der Vogel setzte sich auf seinen Finger und zirpte.
„Fliege nach Regia in den Snow Hills. Beobachte die Familie Zengaruz und Halo. Finde heraus, ob sie tatsächlich zum Tannenzapfenfest reisen werden, mein kleiner Freund.“
Der Zeekdex verneigte leicht sein Köpfchen. „Das werde ich, mein Meister“, teilte der Vogel Malentis per Telepathie mit. Und schwups war der Kolibri verschwunden.
„Tannenzapfenfest?“, wiederholte Aznar.
„Ja, kennst du denn nicht das traditionelle Tannenzapfenfest? Es findet jedes Jahr im Elbenland in der Stadt Abies statt. Dort werden sich Argana und Esmeralda treffen.“
„Und warum soll der Vogel jetzt in die Snow Hills fliegen, wenn wir doch wissen, dass die beiden Hexen sich in Abies treffen werden?“, hakte Aznar weiter nach. Irgendwie verstand er die ganze Aufregung um dieses Baby Scarlet nicht.
Malentis rollte mit den Augen. „Weil ich es einfach wissen möchte. Es ist immer gut, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Und ich hasse böse Überraschungen.“
***
Breen Zengaruz stand auf der Terrasse und starrte seit einer halben Stunde zum Horizont. Sein Lurgen-Weibchen hätte schon längst wieder zurück sein müssen. Hoffentlich ging es Tamyna gut.
Da! Er konnte etwas in der Ferne erkennen. Ein Vogel näherte sich dem Schloss. Es war seine Tamyna, und er ahnte, dass irgendetwas nicht mit ihr stimmte. Er konnte qualvolle Töne hören, die sie von sich gab. Breen eilte die Treppen zum Hof hinaus. Inzwischen tauchte die Abendsonne den Himmel in blutrotes Licht und die Sitzstangen der Lurgen warfen lange Schatten auf die Wiese.
Als die drei anderen Lurgen die Schreie ihrer Schwester hörten, wurden sie wild und gaben laute Pfeiftöne von sich.
„Beruhigt euch, meine Lieben! Seid leise!“ Breen blieb vor den Lurgen stehen und hob beschwichtigend seine Hände. Die drei Lurgen verstummten augenblicklich, tänzelten aber unruhig auf ihren Sitzstangen umher.
Tamyna kam angerauscht und landete auf ihrer Stange. Breen entdeckte sofort, dass ihr eine Kammfeder fehlte. „Oh nein! Tamyna, was ist nur geschehen?“ Er streckte die Hand nach ihr aus, worauf sie ihren Kopf neigte und traurige Pfeiftöne von sich gab. „Warum hast du eine deiner Federn abgefeuert?“ Breen kraulte ihr Köpfchen.
Esmeralda hatte den Krach der Lurgen gehört. „Was ist denn passiert?“
„Tamyna hat eine ihrer Federn abgefeuert! Was bedeutet das, Esmeralda? Wo hast du sie nur hingeschickt?“
„Zu Argana, wie mit dir besprochen …“ Esmeralda spürte ihren erhöhten Puls. „Sie hat die Holzrolle noch im Schnabel.“
Tamyna löste die Rolle, die darauf in die Hände von Esmeralda fiel. Schnell öffnete sie das Papier. Es war nichts zu sehen. „Se praebere, Esmeralda, se Argana.“
Vor ihren Augen baute sich die Nachricht auf, die sie laut vorlas.
„Liebe Esmeralda,
ich werde dir aus Sicherheitsgründen keine genauen Informationen in diesem Brief mitteilen. Wir treffen uns am Samstag, dort werdet ihr alles erfahren.
Liebe Grüße, besonders an die Familie Zengaruz und Familie Halo. Alles wird gut. Argana.“
„Alles wird gut!“, sagte Breen aufgebracht. „Nichts ist gut! Tamyna muss in Lebensgefahr gewesen sein, sonst hätte sie nie, nie in ihrem Leben eine ihrer kostbaren Federn abgefeuert!“
Esmeralda berührte Breens Arm. „Nun beruhige dich. Denk daran, Abigail und Venla dürfen nichts davon erfahren. Morgen reisen wir nach Abies ins Elbenland, und am Samstag wird uns Argana aufklären. Wenn jemand die Nachricht gelesen hat, so kann er damit nichts anfangen.“
Tamyna schnurrte leise und plusterte ihr Gefieder auf. Sie war müde von ihrem Abenteuer und die verlorene Feder schwächte sie.
Breen wandte sich von dem Adlerweibchen ab und blickte Esmeralda besorgt an. „Ich verstehe das nicht. Jemand muss Tamyna bedroht haben, sonst hätte sie nie eine Feder geopfert.“
„Es tut mir leid, aber wir können nur hoffen, dass uns Argana auf dem Tannenzapfenfest aufklären wird.“
„Und was erzähle ich Venla, wenn sie morgen früh sieht, dass Tamyna eine Feder verloren hat?“ Breen schaute zu seinen Lurgen, die sich wieder beruhigt hatten und ihre Köpfe in das Gefieder steckten.
„Wir werden morgen früh alle in Aufbruchsstimmung sein und uns auf das Fest freuen. Es wird niemand bemerken, dass Tamyna eine Feder lassen musste.“
Breen seufzte unglücklich. „Ich hoffe, dass Argana gute Neuigkeiten hat und sich alles nur als Humbug herausstellen wird.“
„Ja, das hoffe ich auch.“ Esmeralda blickte zu Tamyna. Was war ihr nur widerfahren? Wer oder was hatte ihr Leben bedroht, dass das Lurgenweibchen so handeln musste?
Esmeralda hatte recht, keiner achtete am darauffolgenden Morgen auf die Lurgen. Venla, die Frau von Breen war damit beschäftigt, dass die Koffer ordentlich auf die Kutsche verstaut wurden. Abigail kümmerte sich um ihr Baby Scarlet, und Kevinco unterhielt sich angeregt mit dem Kutscher über das Tannenzapfenfest.
In den frühen Morgenstunden war Breen zur Wiese geschlichen und hatte nach Tamyna geschaut. Sie wirkte gelassen und munter. Den Verlust der Feder hatte sie gut überstanden.
„Alles in Ordnung, Breen?“, erkundigte sich Venla, als sie den bekümmerten Gesichtsausdruck ihres Mannes sah.
Er zwang sich zu einem Lächeln. „Doch, danke. Warum fragst du?“
„Nun, weil du seit gestern Abend irgendwie bedrückt wirkst. Hat das etwas damit zu tun, dass du einen deiner Lurgen losgeschickt hast?“
Sein Puls schlug schneller. „Ich habe Tamyna für Esmeralda losgeschickt, sie möchte sich auf dem Fest mit Argana treffen. Es ist wirklich alles in Ordnung.“
Venla lächelte. „Ich freue mich auf das Fest.“
„Ich auch, mein Stern, ich auch.“ Er tätschelte gedankenverloren die schlanke Hand seiner Frau.
***
An dem kleinen See, an dem Tamyna einen Tag zuvor eine ihrer kostbaren Federn gelassen hatte, herrschte ebenfalls Aufbruchsstimmung.
Malentis trat aus dem Zelt und nahm einen tiefen Atemzug der frischen Luft. Die Sonne hatte den Horizont hinter sich gelassen und stieg langsam in den blauen Himmel auf.
Aznar war bereits aufgestanden und hatte eine Brotmahlzeit hergerichtet. „Guten Morgen, Malentis.“
„Guten Morgen, mein lieber Aznar. Ist unser kleiner Freund noch nicht wieder aufgetaucht?“
„Bis jetzt habe ich ihn noch nicht gesehen.“
Kaum hatte Aznar den Satz zu Ende gesprochen, flog etwas Schwarzes, Kleines und sehr Schnelles auf die beiden zu.
„Ah schau an, wenn man vom Zeekdex spricht, kommt er angeflogen.“ Malentis streckte seinen Arm aus und der schwarze Kolibri landete auf seiner Hand. „Und, mein kleiner Freund, was konntest du erfahren?“
„Familie Zengaruz ist heute Morgen aufgebrochen. Sie reisen nach Abies ins Elbenland. Dort findet das Tannenzapfenfest statt. Das Baby ist ebenfalls dabei. Sie werden von Esmeralda begleitet.“
„Es wird also nach so vielen Jahren immer noch gefeiert, wie schön. Hab vielen Dank, mein kleiner Freund. Fliege nach Abies und behalte die Familien im Auge. Wir werden ebenfalls dort eintreffen.“
Der Kolibri zirpte und flog davon.
***
„Hast du endlich dein Kleid fertig!“, rief Mood. „Wir wollen los!“
Suzanna trödelte, wie immer. Die Mädels wollten schon vor einer gefühlten Ewigkeit aufbrechen. Immerhin dauerte der Ritt nach Abies über vier Stunden.
Die Tür öffnete sich und Suzanna erschien mit einem großen Kleidersack in der Hand. „Es kann losgehen.“
„Na endlich!“
Die Mädchen begaben sich nach draußen, wo die anderen bereits reisefertig auf ihren Pferden saßen.
„Na endlich!“, rief Jillow.
„Was hast du denn schon wieder so lange gemacht, Suzanna? Noch ein anderes Kleid genäht?“, zog Pixie sie lachend auf.
Suzanna streckte der Meute die Zunge heraus und verstaute den Kleidersack auf ihrem Pferd. „Ich nähe dir gleich den Mund zu!“
Die Mädchen kicherten.
Suzanna schwang sich in den Sattel. „Los geht’s, worauf wartet ihr noch?“ Sie schnalzte mit der Zunge und ihr Pferd galoppierte wild los.
Allgemeines Augenrollen folgte und dann setzte sich die kleine Reisegruppe in Bewegung.
Nachdem sie über zwei Stunden stramm geritten waren, legten sie eine Pause ein. Es war ein kleiner Park, der gemütliche Bänke und Tische hatte, die an einem kleinen See standen. Wunderschöne Blumen und Pflanzen verzierten die Umgebung. Die Pferde grasten auf einer Wiese und hoben neugierig ihre Köpfe, als sie Geräusche wahrnahmen.
Die Mädels blickten ebenfalls auf, als ihre Pferde leicht unruhig wurden und schnauften. Die Ursache dafür waren drei Reiter, die sich ihnen näherten.
Es waren Namik, Tahir und Zeki, die hübschen Jungs aus ihrer Schule.
Betty wurde sofort nervös und starrte entgeistert zu den Jungs hinauf, als diese direkt bei ihnen am Tisch stehen blieben.
„Hey, wie geht’s euch?“, rief ihnen Namik mit einem freundlichen Lachen zu.
Suzanna erhob sich. „Danke, gut.“
Namik nickte und alle drei ließen sich aus dem Sattel gleiten. „Seid ihr auch auf dem Weg zum Tannenzapfenfest?“
Betty starrte die ganze Zeit über Zeki an, der ihr zuzwinkerte, als er ihre Blicke bemerkte. Zum Glück saß Betty, sonst wäre sie glatt in Ohnmacht gefallen, obwohl es einige Sekunden so wirkte, als würde sie seitlich von der Bank rutschen. Sie nagte an ihrer Unterlippe und schaute schnell auf den Tisch.
„Klar, ihr doch sicherlich auch.“ Und zum Glück war Suzanna die Resolute, Taffe in der Gruppe. Ansonsten würden alle nur stumm die hübschen Bengels anstarren und kein Wort herausbekommen.
„Ja, wir wollten ebenfalls eine kleine Pause einlegen. Dürfen wir?“ Namik deutete auf die freien Plätze an deren Tisch.
„Aber sicher doch.“ Suzanna nahm wieder Platz und tickte Jillow leicht an, da sie ihren Mund offen hielt und es so aussah, als würde ihr jeden Moment die Spucke hinaustropfen. Jillow schluckte und grinste ihre Freundin blöd an.
Die Jungs freuten sich und packten ihre Brote aus.
Tahir biss vergnügt in eine dicke Scheibe. „Ihr seid auch dieses Jahr mit der Schule fertig, oder?“
Keiner der Mädchen gab ihm Antwort. Suzanna seufzte innerlich und gab per Telepathie an ihre Freundinnen weiter: „Hallo? Ist bei euch noch jemand zuhause? Die Jungs sind ganz normale Lebewesen wie wir. Also redet jetzt endlich!“
Mood räusperte sich, nachdem sie die Gedanken von Suzanna gehört hatte. „Ja, sind wir.“
„Wisst ihr schon, was ihr danach machen wollt?“, fragte Zeki in die Runde.
Wieder schwiegen die Mädchen, worauf Suzanna gerade etwas per Telepathie weitergeben wollte, doch Betty brach das Schweigen. „Ich werde mich zum Medicus ausbilden lassen und Ärztin werden, genau wie meine Mutter. Ich finde es toll, anderen zu helfen und für sie da zu sein.“
Die drei Jungs warfen ihr bewundernde Blicke zu.
„Wo kommst du denn her?“, wollte Zeki wissen.
„Aus dem Gramer Art Land, die Stadt heißt Sedum.“
Die vier Mädchen waren überrascht, dass Betty sich so gut im Griff hatte. Eigentlich wurde sie stets rot oder stotterte irgendwelchen Humbug, wenn ein Junge sie ansprach.
„Ich bin übrigens Jillow. Das ist Pixie, Suzanna, Mood und Betty“, stellte Jillow ihre Gruppe vor.
Jetzt war Suzanna für einen Moment sprachlos.
Das Eis war gebrochen und im Nu herrschte eine lockere und lustige Atmosphäre an dem Tisch.
„Und? Was habt ihr nach der Schule vor?“, wollte Jillow jetzt von den Jungs wissen.
Namik ergriff das Wort. „Unsere Väter planen weitere Hexenschulen. Es soll in jedem Teil von Oak Land eine geben, damit die Schüler und Schülerinnen nicht die weiten Wege auf sich nehmen müssen. Außerdem ist Nimbus Ripa völlig überfüllt.“
„Da hast du vollkommen recht. Und, ihr wollt dann einfach vier neue Schulen gründen?“ Jillow blickte Namik interessiert an.
„Ja, unsere Väter stehen schon mit den jeweiligen Oberhäuptern der Länder in Kontakt. Wir drei wollen dann als Lehrer und Ausbilder an den Schulen anfangen“, berichtete Zeki weiter.
Suzanna pfiff anerkennend. „Das hört sich alles recht interessant an.“
„Wo kommt ihr denn eigentlich her?“, fragte Mood.
„Wir kommen aus den Fortis Audax Rocks, aus der Stadt Lunaria.“
„Echt? Ich wohne in Rumex.“
„Das ist ja nur ein Katzensprung von uns entfernt. Witzig, und wir sind uns vorher nie über den Weg gelaufen.“ Namik grinste sie an.
„Die Städte sind ja nun auch nicht gerade klein. Man kann sich sogar auf unserer Schule verlaufen und sich tagelang nicht sehen.“
Namik grinste süß. „Stimmt.“
Suzanna erhob sich. „Ich will unser amüsantes Treffen nicht unterbrechen, aber wir müssen weiter. Wir haben noch zwei Stunden vor uns.“
„Dann können wir ja zusammen weiterreiten“, schlug Tahir vor.
Und so war es auch. Die acht Personen setzten auf und machten sich auf den Weg zur Elbenstadt Abies.
Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen, als die Gruppe die Stadt Abies erreichte.
Es herrschte buntes Treiben und sämtliche Straßen und Gebäude der Stadt waren mit leuchtenden Tannenzapfen geschmückt. Die Tannenzapfen stammten alle von der blauen Lichtertanne, die in ganz Oak Land zu finden war. Einmal im Jahr leuchteten deren Zapfen für einige Tage in einem wunderschönen Blau. Danach sprangen deren Knospen auf und Millionen von Samen verteilten sich in der Luft. Diese Samen glänzten ebenfalls für einige Stunden, und somit war der ganze Abendhimmel von einem wundervollen blauen Glitzerlicht erhellt.
Dieses Fest wurde vor über dreihundert Jahren in der Stadt Abies eingeführt, da ein großes Feuer fast den ganzen Tannenbestand vernichtet hatte. Es haben nur wenige dieser Tannen das Feuer überlebt. Als eines Abends die Zapfen leuchteten und die Samen sich verteilten, wussten die Bewohner von Abies, dass es noch Hoffnung gab.
Es dauerte nicht lange und überall in Abies und der näheren Umgebung schlugen neue Triebe aus dem Boden. Die blaue Lichtertanne hatte das Feuer besiegt.
Und so pilgerten zu dieser Zeit Tausende Bewohner aus ganz Oak Land zu diesem Fest.
Die Reiter stiegen aus Sicherheitsgründen von ihren Pferden und führten sie an den Zügeln durch die vollen Straßen.
Kinder in Tannenzapfenkostümen tobten lachend durch die Menge. An den Straßen entlang waren Buden aufgestellt, die leckere Getränke und Gerichte anboten.
Auf dem Marktplatz der Stadt fand der größte Teil des Festes statt. Mehrere Bühnen waren aufgebaut, Musiker aus den jeweiligen Ländern gaben ihre Lieder zum Besten. Tanzgruppen, Zauberer, besondere Hexen und sogar ein Zirkus gastierte. Weiße Elefanten, weiße Giraffen und weiße Löwen waren die Attraktion. Der Zirkus stammte aus den Snow Hills.
„Wo übernachtet ihr?“, fragte Namik Pixie, die neben ihm lief.
„Wir haben eine kleine Pension am Rande der Stadt gebucht. Sie heißt: Das Zapfen-Zimmer.“
„Wie einfallsreich. Wir sind im Flotten Feger.“
Beide sahen sich an und lachten los.
„Ich weiß, auch nicht viel besser als das Zapfen-Zimmer.“
„Habt ihr Lust, dass wir uns morgen Abend treffen? Ich meine, dann können wir noch weiterreden“, schlug Tahir der Gruppe vor, die an einer Kreuzung anhielt, da sich dort ihre Wege trennten.
Die Mädchen sahen sich glücklich an und nickten gleichzeitig.
„Klar.“
„Gerne.“
„Bin dabei.“
„Aber sicher doch.“
„Ich nehme eure Einladung sehr gerne an.“ Die höfliche Antwort kam natürlich wieder von Betty.
Die Jungs freuten sich. „Gut, dann treffen wir uns morgen Abend am Zirkuszelt, einverstanden?“
„Klar.“
„Gerne.“
„Bin dabei“
„Aber sicher doch.“
„Ich werde pünktlich dort sein. Gute Nacht, zusammen.“ Betty strahlte glücklich und zufrieden.
Die Jungs hoben zum Abschied die Hand und verschwanden in der Menge.
Suzanna, Pixie, Jillow und Mood rollten theatralisch mit den Augen, als Betty wieder ihre nette Antwort gab, und folgten ihr.
Die Pension „Das Zapfen-Zimmer“ war urgemütlich, sauber und die Besitzer lieb und freundlich. Ihnen wurde sogar noch ein Abendessen auf ihrem Gemeinschaftszimmer serviert.
Nachdem die Mädchen sich ihre Schlafanzüge angezogen hatten, hockten sie auf ihren Betten und quatschten. Natürlich nur über Namik, Tahir und Zeki.
„Ist doch echt komisch, da gehen wir seit vier Jahren auf dieselbe Schule, und jetzt, kurz bevor wir sie verlassen, lernen wir die Jungs kennen.“
„Glaubt ihr wirklich, ihre Väter gründen neue Hexenschulen?“ Jillow nahm sich die letzte Weintraube vom Teller.
Suzanna zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Sie haben recht damit, dass unsere Schule völlig überlaufen ist. In Oak Land gibt es immer mehr Personen, die bestimmte Fähigkeiten haben.“
„Ja, und es wäre für die meisten Schüler doch klasse, wenn sie in ihrer Heimat bleiben könnten. Ich vermisse meine Eltern manchmal schon.“ Pixie schaute für einen kleinen Moment traurig aus, dann lachte sie. „Aber wirklich nur manchmal. Meine Mutter kann ganz schön nerven!“
„Ich möchte gerne mal so ein richtiges Abenteuer erleben. In Oak Land ist doch nichts los …“, bemängelte Suzanna.
„Stimmt. Kann nicht mal ein böser Zauberer hier auftauchen und wir müssen Oak Land retten? Das wäre doch mal was!“, spann Mood Suzannas Fantasien weiter.
Betty machte große Augen. „Was? Wir können froh sein, dass es in Oak Land friedlich zugeht. Ich will keinen Krieg.“
„Ach, Betty, wir wollen doch keinen Krieg, sondern ein kleines Abenteuer.“ Suzanna schüttelte den Kopf. Betty malte sich aber auch immer gleich das Schlimmste aus.
„Ich würde sehr gern ein verlorenes Zauberbuch suchen, um damit eine Prinzessin … nein, einen Prinzen aus dem Elbenland zu retten“, träumte Mood.
„Du weißt schon, dass Elbenprinzen sehr groß sind. Der müsste dich hochheben, um dir einen Kuss geben zu können“, brachte Suzanna trocken hervor, worauf allgemeines Gelächter erklang.
„Dann kann er mich auf Händen durch das schöne Elbenland tragen.“ Mood seufzte verliebt und ihre Haare wurden plötzlich kirschrot.
Wieder lachten die Mädchen, als sie ihre Haare sahen.
„Hauptsache, dass passiert dir morgen Abend auf dem Fest nicht, wenn Tahir dir einen Tanz anbietet.“ Pixie zwinkerte ihr zu.
„Als wenn ich morgen Abend mit Tahir tanzen würde. Wir haben die Jungs gerade mal kennengelernt.“ Und schwups waren ihre Haare wieder dunkelbraun.
Betty gähnte. „Also, ich bin sehr müde.“
Das Gähnen steckte an.
„Genau. Lasst uns schlafen, immerhin wollen wir doch hübsch für die drei Jungs aussehen, oder?“ Suzanna reckte und streckte sich und schlüpfte unter die Decke.
„Du kannst sie alle drei haben. Ich habe keine Lust auf einen Freund.“ Mood kuschelte sich in ihre Decke und löschte die Nachttischlampe.
„Stimmt, du willst ja einen großen Elbenprinzen“, seufzte Suzanna.
„Gibt es eigentlich viele von diesen Elbenprinzen hier?“, wollte Jillow wissen.
„Keine Ahnung.“ Suzanna seufzte desinteressiert.
„Du weißt nicht, wie viele Prinzen es in deinem Land gibt?“ Betty war sichtlich geschockt.
Suzanna richtete sich wieder auf und blickte Betty genervt an. „Na und? Sag bloß, du kennst die ganze Geschichte vom Gramer Art Land.“
„Unser Bürgermeister, Kurto Pawelpuw, wurde letztes Jahr zum 104. Mal gewählt und seine Söhne leiten die Bank in unserer Stadt. Seine Frau Ottilie geht regelmäßig zu meiner Mutter und lässt sich untersuchen. Außerdem besitzt die Familie vier Hunde und drei Lurgen.“
Suzanna verdrehte die Augen und ließ sich zurück in die Kissen fallen. „Womit hab ich das verdient.“
„Gute Nacht, alle zusammen!“, rief Pixie.
„Wie kann man nur Kurto Pawelpuw heißen und mit diesem Namen 104-mal zum Bürgermeister gewählt werden?“, äußerte sich Mood laut.
Pixie und Jillow kicherten unter ihren Decken.
„Gute Nacht!“, rief Suzanna, musste dann aber selbst lachen. „Kurto Pawelpuw … ich fasse es nicht.“
„Vielleicht solltest du einen seiner Söhne heiraten. Betty Pawelpuw, ist doch der Knaller, oder, Mädels?“, brachte Pixie mit erstickter Stimme hervor.
Alle lachten – außer Betty. „Ihr seid doof.“
„Gute Nacht, Betty Pawelpuw“, gackerte Suzanna.
Jillow löschte als Letzte das Licht und das Gekicher verstummte allmählich.
„Und? Hat sich Argana bei dir gemeldet?“, wollte Breen am anderen Morgen von Esmeralda wissen.
„Nein, sie hat sich mir noch nicht mitgeteilt.“ Esmeralda legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm. „Sie wird sich melden und alles wird gut werden. Entspanne dich, du fällst mit deinen besorgten Gesichtszügen langsam auf.“
„Ach, tue ich das?“ Er zog eine Braue hoch und blickte sie skeptisch an.
„Genau. Wie jetzt in diesem Moment.“
Breen holte einen tiefen Atemzug, straffte seine Haltung und legte ein Lächeln auf. „Besser?“
„Was ist besser?“, erklang die liebliche Stimme seiner Frau.
Beide schreckten herum und grinsten Venla breit an.
Breen räusperte sich und trat zu seiner Frau. „Ich habe gerade zu Esmeralda gesagt, dass es besser ist, dass wir hier im Hotel frühstücken und dann über das Fest schlendern.“
„Das hört sich gut an.“ Sie gab ihrem Mann einen Kuss. „Ich habe nämlich großen Hunger.“
„Wo stecken Abigail und Kevinco?“
„Die kommen gleich. Abigail musste den Brei für die Kleine noch anrühren.“
„Gut, dann können wir ja schon Platz nehmen, nicht wahr?“ Breen machte eine Geste, dass sie sich an den großen eingedeckten Holztisch setzen sollten.
Es dauerte nicht lang und seine Tochter mit Enkelkind und Ehemann erschienen in dem Frühstücksraum.
„Habt ihr gut geschlafen?“, erkundigte sich Breen.
Abigail führte gerade einen Löffel mit Brei zum Mund ihrer Tochter. „Sehr gut, wie ein Stein. Auch Scarlet hat die ganze Nacht durchgeschlafen.“
„Wir waren wohl alle müde von der Reise.“ Kevinco nahm sich eine Scheibe Roggenbrot aus dem Körbchen.
Esmeralda nickte. „Ich habe auch sehr gut geschlafen. Ich habe gerade mal drei Seiten in meinem Buch geschafft und dann sind mir die Augen zugefallen.“
„Oder lag es an der langweiligen Geschichte?“, zog Kevinco sie auf.
Alle lachten und Esmeralda verneinte. „Nein, es ist ein sehr interessantes Buch, aber die Müdigkeit war stärker.“
„Hoffentlich seid ihr alle heute Abend noch fit, wenn die Tannenzapfen in den Himmel steigen und das zauberhafte Licht erscheint.“ Venla blickte durch die Runde.
Abigail strich Scarlet über die Wange. „Ich glaube, die kleine Maus wird den Abend nicht erleben.“
„Ich werde mit Scarlet hier im Hotel bleiben, dann kannst du dir die Lichter anschauen“, bot Kevinco sich an.
„Wirklich?“
„Ich habe die Lichter letztes Jahr gesehen, da konntest du wegen der Schwangerschaft nicht mit. Also bist du dieses Jahr dran, kein Problem.“
Abigail gab ihrem Mann einen Kuss, worauf Scarlet ein Brabbeln von sich gab, so als freute sie sich, dass Mama und Papa sich geküsst hatten.
„Siehst du, die kleine Maus freut sich auf einen Abend mit dem lieben Vater.“ Kevinco strich seiner Tochter über das dunkle Haar. Für ihr zartes Babyalter hatte Scarlet eine beachtliche Menge an dickem, glänzendem Haar vorzuweisen.
„Schön, dann wäre das auch geklärt.“ Venla strahlte ihre Familie glücklich an. „Wollen wir dann?“
***
„Wollen wir dann endlich mal los!“, rief Jillow.
Hier herrschte morgendliches Chaos. Nur ein Bad für fünf Mädels, die sich alle in Schale werfen wollten, dafür war das Zimmer definitiv zu klein. Überall lagen deren Kleider verstreut. Und wer brauchte wieder einmal die meiste Zeit am Morgen?
„Suzanna! Los, wir können bald zu Abend essen, wenn du nicht aus dem Bad kommst!“, meckerte Pixie.
Sie hörten irgendein Gemurmel, dann blitzte es kurz, dann hörten sie Suzanna fluchen. Die Tür wurde geöffnet.
„Bin ja schon fertig“, gab sie genervt von sich und hatte ihr Haar unter einem Tuch versteckt.
„Warum hat es gerade geblitzt?“, wollte Mood mit hochgezogener Braue wissen.
„Welchen Zauberspruch hast du angewandt?“, fragte Jillow.
„Den Crinis-Zauber … hat aber nicht funktioniert“, seufzte Suzanna.
„Was hattest du denn mit deinen Haaren vor?“ Mood ahnte Böses.
„Na, ich wollte für heute Morgen glattes Haar haben.“
„Du hast den Crinis-Zauber angewandt? Aber den hatten wir doch noch gar nicht im Unterricht.“ Betty war sichtlich schockiert darüber.
Pixie lachte. „Lass mal sehen.“
„Nein, das Tuch bleibt drauf. Wenn wir heute zurückkommen, werde ich die anderen Sprüche testen“, antwortete Suzanna resolut und blickte in die Runde. „Was jetzt? Wollen wir über verbotene Zaubersprüche reden oder das Fest genießen?“ Sie ging erhobenen Hauptes zur Tür und verließ das Zimmer.
Die Mädchen lachten und folgten ihrer verrückten Freundin.
„Tja, da hast du es gut, Mood, du brauchst für deine Haare keinen Crinis-Zauber anwenden.“
Und von einer Sekunde auf die andere verwandelten sich die glatten Haare von Mood in wunderschöne Locken. „Stimmt.“
„Ich hab das gesehen, Mood … ärger mich ruhig mit deinen ausgeflippten Haarwurzeln!“, rief Suzanna von unten zu den Mädels.
Die fünf Freundinnen schlenderten über das Fest. Jede von ihnen hielt Ausschau nach den drei Jungs, doch in der ganzen Besuchermenge hatten sie kein Glück, sie zu finden oder ihnen zufälligerweise über den Weg zu laufen. Außerdem waren sie ja für den Abend verabredet und darauf freuten sie sich.
„Wir hätten gerne fünf Kornelkirsch-Eisbecher“, bestellte Pixie für die Gruppe.
Der Mann hinter dem Stand machte sich umgehend an die Arbeit. „Kommt sofort. Nehmt doch Platz.“
Die Mädchen suchten sich einen Tisch aus, der in der Sonne stand.
Suzanna zupfte an ihrem Kopftuch. „Warum lernen wir Frauen eigentlich erst in den letzten Monaten den wichtigsten Zauberspruch, wenn es um unsere Haare geht?“
„Weil der Schulplan das vorgibt. Die gefährlichen Sprüche haben wir in den ersten Wochen gelernt, damit wir böse Sprüche abwenden können, falls Gefahr droht.“ Jillow wollte unbemerkt an einem Zipfel des Tuches ziehen, doch Suzanna sah es aus dem Augenwinkel heraus. „Ictus Plaga.“
Jillow schrie auf, als sie einen leichten elektrischen Schlag in ihrer Hand spürte. „Aua!“
Die Mädchen lachten.
„Lass die Finger von meinem Tuch“, warnte Suzanna ihre Freundin mit einem freundlichen Grinsen.
Jillow zog einen Flunsch und rieb sich die Hand. So ein Ictus Plaga-Schlag zwickte gemein. „Ja, ich bin halt neugierig, wie es unter deinem Versteck aussieht.“
„Was ist das Gegenteil zu glattem Haar?“
„Krauses Haar?“
Suzanna nickte und seufzte. „Ich könnte mit der Lockenpracht sämtliche Smelly Flys fangen, glaubt mir.“
Alle verzogen bei dem Gedanken an die stinkenden Smelly Flys das Gesicht. Sofort mussten sie an die Geschichte von Betty und ihrer Begegnung mit diesen fliegenden Stinkbomben denken.
„Glaubst du wirklich, du könntest mit deinen Locken Smelly Flys fangen?“ Betty schaute sie gespannt an.
Die Antwort auf diese Frage konnten sich ihre Freundinnen glücklicherweise ersparen, denn der Mann servierte fünf lecker aussehende Kornelkirsch-Eisbecher. „So, meine Damen. Viel Spaß beim Schlemmen.“
Die Mädchen schwiegen die erste Zeit, da jede das leckere Eis genoss.
„Warum lernen wir noch mal die gefährlichen Zaubersprüche in den ersten Wochen?“, nahm Suzanna das Thema erneut auf.
„Na, wegen der Gefahr“, gab Jillow erneut Antwort.
„Wegen welcher Gefahr denn? Hast du schon einmal eine gefährliche Situation erlebt? Also, ich nicht … doch, wartet.“ Sie steckte sich einen großen Löffel Eis in den Mund.
„Du warst schon einmal in Gefahr?“ Betty schaute sie aus großen Augen an.
Suzanna schluckte das restliche Eis hinunter und beugte ihren Kopf zur Mitte des Tisches. Die Mädels folgten ihrer Geste und waren gespannt, was ihre Freundin Gefährliches erlebt hatte. Sie hatte ihnen nie von einer brenzligen Situation erzählt, und sie erzählten sich alles.
„Also, als ich in der ersten Woche auf der Schule war, habe ich mich in eine Ecke des Schulhofes geschlichen und rotes Fingerkraut geraucht.“
„Hä? Und was war daran gefährlich?“, fragte Pixie irritiert.
„Ja eben, das möchte ich auch zu gern wissen.“ Mood schüttelte den Kopf.
„Na, weil der alte Hausmeister, Mister Condus plötzlich auftauchte.“
„Ach, und er wollte dich von der Schule werfen, weil es verboten ist, rotes Fingerkraut zu rauchen“, kombinierte Jillow.
Suzanna winkte die Worte fort. „Nein, das Gefährliche war, dass er auch eine Stange von dem roten Fingerkraut haben wollte.“
Es herrschte kurz Stille und dann stöhnten die Mädels genervt und verdrehten die Augen.
„Ach, du schon wieder, Suzanna!“
„Immer fallen wir auf deine Märchen herein.“
„Du blöde Zicke.“
„Und warum war es jetzt gefährlich, dass der Hausmeister Mister Condus etwas von deinem Kraut haben wollte?“ Betty war mal wieder die Einzige, die nichts verstanden hatte.
Suzanna blieb cool. Sie liebte es, dass Betty so leichtgläubig war und man sie mit allem auf den Arm nehmen konnte. „Mensch, Betty, überleg doch mal. Es war gefährlich für mich, weil ich dann nicht mehr genug Kraut für mich persönlich hatte.“
Mood tickte Betty an. „Betty, Suzanna nimmt dich auf den Arm.“
Betty kniff die Lippen zusammen und wurde leicht rot im Gesicht. „Ich finde es gefährlich, dass du überhaupt rotes Fingerkraut geraucht hast, es ist nicht gesund.“
Suzanna schenkte ihr ein Lächeln und tätschelte Bettys Hand. „Ich habe es danach auch nie wieder getan.“ Das Tolle an Betty war, sie war einem nie böse, jedenfalls nicht lange.
„Aber Suzanna hat recht. Was soll uns denn hier in dem schönen, friedlichen Oak Land schon passieren?“
„Mädels, es ist genau jetzt etwas Schreckliches passiert!“, rief Mood schockiert und schaute genauso ihre Freundinnen an.
„Was denn?“
„Wo?“
„Na endlich.“ Das kam natürlich von Suzanna.
„Wieso? Hier ist doch alles in Ordnung.“ Das kam natürlich von Betty, die sich die Umgebung ansah und nichts Gefährliches entdecken konnte.
„Na, unsere Eisbecher sind leer“, prustete Mood lachend los.
Abigail und Kevinco lagen auf einer Decke im Stadtpark und spielten mit ihrer Tochter.
Venla und Breen hatten es sich auf einer Bank im Schatten gemütlich gemacht und genossen den liebevollen Anblick der kleinen Familie vor ihnen.
„Ich bin so stolz auf Abigail, sie ist eine wundervolle Mutter.“ Venla seufzte glücklich.
„Ja, das ist sie. Und Kevinco ist ein wundervoller Ehemann und Vater. Hätte nie gedacht, dass sie sich in einen Nemoralis aus den Wäldern der Snow Hills verlieben wird.“
„Und zum Glück ist die Generation deiner Familie nicht mehr so streng. Abigail ist zwar eine Eiswaldfee, aber darf am normalen Leben teilhaben. Genau wie Scarlet eines Tages eine Eiswaldfee sein wird. Wer weiß, wem sie ihr Herz schenken wird?“ Sie zwinkerte ihrem Mann zu.
„Nun mal langsam mit den jungen Pferden, sie ist gerade mal ein paar Monate alt.“ Breen hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
Esmeralda erschien mit einem Tablett frischer Getränke.
„So, ihr Lieben … hier ist frischer Glockenwein.“
Breen nahm die Kelche und reichte einen seiner Frau. „Vielen Dank, Esmeralda.“
Kevinco kam ihr entgegen. „Danke dir.“
Esmeralda hob ihren Kelch und prostete der Familie zu. „Tutari viri.“
„Tutari viri“, kam es im Chor zurück.
Venla stand auf und nahm auf der Decke neben ihrer Tochter Platz.
Esmeralda nutzte die Gelegenheit und setzte sich zu Breen. „Argana hat mir mitgeteilt, wo wir sie heute Abend treffen werden.“
Augenblicklich erhöhte sich der Puls von Breen. „Und wo?“
„An dem Glockenweinstand da drüben.“
Er nahm einen Schluck und nickte nervös. „Gut, gut … und hat sie noch mehr gesagt?“
„Nein, nur wo und wann sie uns treffen möchte.“
Venla schaute zufällig zu ihrem Mann und sah dessen bedrücktes Gesicht. Irgendwie hatte sie ein ungutes Gefühl. Worüber machte sich ihr Mann nur Sorgen? Und seit Tagen tuschelte er mit Esmeralda.
Die Kleine gab gurgelnde Geräusche von sich, worauf Venla sich wieder ihrem Enkelkind zuwandte.
Am selben Abend
Argana warf einen Blick zur Standuhr. Es wurde Zeit, zum besagten Treffpunkt zu gehen. Sie griff nach ihrer Handtasche, als es an der Zimmertür klopfte. Wer wollte denn jetzt noch was von ihr?
Argana öffnete die Tür und schreckte augenblicklich zurück. Vor ihr stand ein sehr großer Mann. Sie hatte die Person zwar noch nie in ihrem Leben gesehen, aber der Beschreibung nach, die sie in dem Buch „Die vergessene Fabula“ gelesen hatte, konnte es nur eine bestimmte Person sein.
„Guten Abend, Argana. Ich bin Malentis, aber das weißt du sicherlich, nicht wahr?“
„Was willst du von mir? Und wie bist du aus dem Shadow Land entkommen?“, entgegnete sie ihm resolut.
„Oh, ich habe da so meine Mittel und Wege gehabt. Ich habe mich damals selbst nach Shadow Land teleportiert. Besser dort leben, als in Oak Land zu sterben. Ich musste nur auf den richtigen Zeitpunkt warten, bis sich ein Portal geöffnet hat. Nun ja, wie du siehst … mein Warten hat sich gelohnt.“ Er machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu und seine Augen leuchteten feuerrot auf. „Wo ist mein Buch?“
„Ich weiß es nicht“, gab sie zähneknirschend zurück.
„Du lügst, meine Liebe. Shiva hat es dir sicherlich vererbt. Es ist der kostbarste Schatz, den Oak Land zu bieten hat.“ Malentis blieb direkt vor ihr stehen und hob drohend den Zeigefinger gegen sie. „Argana, wo hat deine Mutter das Buch versteckt?“
Argana kniff die Lippen zusammen und schwieg.
„Muss ich wirklich Gewalt anwenden?“, drohte er ihr.
„Was steht in dem Buch?“ Ihre Stimme klang wie ein Flüstern.
Malentis lachte, als würde er verrückt werden, und hob euphorisch seine Hände. „Die Unendlichkeit, die Macht des Herrschens, das Land der Toten, der Verbannten, das Land der Liebe und …“ Er drehte sich zu ihr. Seine Gesichtszüge wirkten fanatisch. Seine rote Iris glühte förmlich. „Das Land der Unsterblichkeit.“
Argana spürte ihren schnellen Herzschlag und rief sich innerlich zur Ruhe. „Woher kennst du den Inhalt des Buches? Meine Mutter sagte mir, es können nur bestimmte Personen lesen.“
„Tja, und ich bin einer dieser bestimmten Personen. Und weißt du auch warum?“ Er zog eine seiner buschigen Augenbrauen in die Höhe.
Argana schüttelte kaum merkbar den Kopf.
„Weil meine Sippe und ich das Buch geschrieben haben. Und ich will das Buch wiederhaben. Also? Wo hat deine Mutter es versteckt?“
Argana hob stolz ihr Kinn. „Ich weiß es nicht.“
Malentis gab ein Knurren von sich und hob seine Hand. Er wollte gerade einen Zauberspruch über die verzerrten Lippen bringen, als Argana ihm zuvorkam.
„Vexare pectus!“,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Cover: Wolkenart by Marie-Katharina Wölk www.wolkenart.com
Lektorat: Jörg Querner / Pforzheim
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2018
ISBN: 978-3-7438-8832-6
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