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Thanatos Ker

 

Thanatos Ker

 

Das vierte Abenteuer von Jamie Lee

 

 

 

 

 

 

Thanatos: ist der sanfte Tod.

Ker: ist der gewaltsame Tod.

 

(Griechische Mythologie)

 

 

 

Sandra Eckervogt

 

Lektorat: Jörg Querner/Pforzheim

 

Covergestaltung: Vivian Tan Ai Hua

 

 

 

 

 

 

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten! Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis des Autors/Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopien, Bandaufzeichnungen und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. © Sandra Eckervogt 2010/2015/2017

 

Prolog


Die zwölf Meter lange Yacht tanzte wild auf dem Meer und es schien, als würde sie unter den Wellenkämmen versinken.

Der Wind heulte, als würde er sein eigenes, böses Lied singen. Die Nacht war noch nie so schwarz wie heute. Die See grummelte mürrisch und es klang wie ein dumpfes Grollen, bevor die nächste hohe Welle das Schiff ein erneutes Mal traf. Mit letzter Kraft hatte Vanity sich ein Tau geschnappt und sich damit an der Reling festgebunden. Ihre sonst so klaren, blauen Augen waren von feinen, roten Adern durchzogen.

Ihr erster Einsatz als Agentin und alle waren tot. Sie fühlte sich hundeelend und wäre am liebsten mit der Yacht bis zum Meeresgrund gesunken.

Sie hatte die Situation nicht unter Kontrolle gehabt. Verdammt! Sie hatte jämmerlich versagt! Ein dumpfes Grummeln ertönte, so als würde Neptun seinen Dreizack schwingen und die See heraufbeschwören. Das Meer zog sich zusammen, um dann in einer gewaltigen Welle das Schiff an der vollen Breitseite zu erwischen. Es kippte wie eine Nussschale um. Vanity wurde komplett unter Wasser gerissen. Obwohl sie sich mit dem dicken Tau festgebunden hatte, wirbelte sie umher.

Sie hatte sein liebliches Gesicht vor Augen. Oh Gott, wie peinlich, wenn sie vom Einsatz zurückkam und sie Tom Fear Rede und Antwort stehen musste. Ihm mitteilen musste, dass alle Beteiligten tot waren. Die Mission gescheitert!

Dazu kam noch die Blamage vor Parker. Er hatte sie mehrmals gewarnt, dass der Job nichts für sie sei. Und der liebe Daddy hatte sogar recht.

Vanity hielt die Luft an und schloss die Augen.

Ob Maya so den Tod auf See gefunden hatte?

Es blubberte und gurgelte laut um sie herum. Ein starker Sog riss die Yacht wieder komplett an die Wasseroberfläche zurück.

Doch Vanitys Augen blieben geschlossen. Die grausame Nacht war noch nicht zu Ende.

Einer der Masten hielt dem Wind nicht mehr stand und knickte wie ein Streichholz ab. Vanity konnte nicht rechtzeitig zur Seite weichen und wurde schwer vom Holzmast getroffen.

Ihr Blut vermischte sich mit dem kalten Meerwasser.


Nach dem schweren Unwetter war die See noch nie so glatt gewesen wie an diesem Morgen. Die Sonne schien vom endlos blauen Himmel und keine einzige Wolke trübte diesen Anblick.

Ihre Lider waren schwer, so als hätte jemand sie über Nacht mit Sekundenkleber zugeklebt. Es wollte ihr einfach nicht gelingen, sie zu öffnen.

Dumpfe, schwere Geräusche erklangen, als würden neue Wellen das Schiff angreifen. Doch der Aufprall des Wassers blieb aus. Vanity fühlte sich, als würde sie in einer Hängematte liegen und leicht schaukeln. Aber sie hörte doch Stimmen, oder? Das konnte nicht sein, denn es waren alle tot.

Los, mach endlich deine Augen auf!“, sprach das Monster zu ihr.

Es gelang Vanity, das rechte Auge einen kleinen Spalt zu öffnen. Sie konnte Schatten erkennen und hektische Bewegungen wahrnehmen, dann verspürte sie Stiche in ihrem Brustkorb. Hatte Neptun etwa letzte Nacht seinen Dreizack in ihr Herz gestochen? Verdammt, was war denn hier nur los? Warum konnte sie nicht ganz normal ihre Augen öffnen?

Eine dunkle Gestalt kam regelrecht auf sie zugestürmt und bückte sich über sie. Sie fühlte eine fremde Hand unter ihrem Kopf, während die andere Hand die ihre ergriff. Dann hörte sie die Stimme des Schattens.

„Oh mein Gott! Schnell! Schnell! Einen Arzt! Schnell! Sie lebt!“

Eine wunderschöne, erotische Stimme hatte dieser Schatten.

Sie riss förmlich die Augen auf und dann sah sie ihn.

Tom Fear.

Und den Dreizack von Neptun, direkt in ihrem Brustkorb.


1. Kapitel

Wochen zuvor – Cylemore Rock Castle

 

Ein hartnäckiger Kloß steckte ihr im Hals und sie konnte nur stumm nicken. Die anderen gaben ihr die Hand, sogar Jonas nickte ihr aufmunternd zu. Obwohl sie auf seinen Abschied gut und gerne verzichten konnte. War eh ein aufgesetztes Gesicht und gespielter Abschiedsschmerz. Blödmann.

Tom und Jason begleiteten Phoenix bis zum Helikopter. Jason verstaute den pinken Koffer und umarmte sie ein letztes Mal. „Pass auf dich auf“, hauchte er leise in ihr Ohr. Seine Augen schimmerten feucht. Er drückte ihr etwas in die Hand und wich einige Schritte zurück.

Jetzt stand nur noch Tom bei ihr.

„Was soll ich sagen, Phoenix. Sie sind die Beste in meinem Camp gewesen. Sie sind wirklich eine Kampfsau. Treten Sie den Griechen gehörig in den Arsch und kommen Sie gesund wieder.“ Er öffnete ihr die Tür zum Heli.

Es kam Vanity so vor, als würde sie eine unsichtbare Hand zurückhalten. Sie starrte ihn aus großen Augen an und wollte so vieles zu ihm sagen, doch beide wussten, es durfte nicht sein. „Bitte, Sir Fear, vertrauen Sie mir“, flehte sie ihn an, doch seine Antwort war, dass er zurückwich. Die grünen Augen wirkten verloren in seinem traurigen, wunderschönen Gesicht.

Vanity stieg in den Heli, der darauf sofort den Motor anwarf. Die Rotorblätter begannen sich zu drehen und wurden schneller und schneller.

Sie schnallte sich an, setzte die Kopfhörer auf und als der Heli langsam vom Boden abhob, legte sie ihre Hand gegen die Scheibe. Ihre Blicke verankerten sich mit denen von Tom.

Und dann geschah das, was seit Wochen nicht mehr geschah. Ihre Augen funkelten in dem tiefsten Schwarz und schwarzes Blut tropfte aus ihrer Nase. Es tropfte leise auf ihre andere Hand, doch sie ließ es zu. Das Monster und sie trauerten gemeinsam.

„Semper Fidelis“, hauchte sie. Tränen liefen warm über ihre Wangen, die sie flink wegwischte.

Der Heli nahm schnell an Höhe zu und drehte schlagartig ab.

Tom Fear wurde immer kleiner und kleiner. Der Kummer in ihrem Herzen wurde immer größer und größer. Dann war er verschwunden. Einfach weg.

„Alles in Ordnung?“, erklang die Stimme des Piloten über die Kopfhörer.

„Ja, danke. Wo bringen Sie mich hin, Sir?“ Sie nahm ein Taschentuch aus der Packung, die Jason ihr kurz vor dem Abschied in die Hand gedrückt hatte. Spongebob? Na super, er hatte ihr doch tatsächlich eine Taschentuchpackung mit Spongebob-Motiven geschenkt? Die niedliche Geste von Jason zauberte doch tatsächlich ein Lächeln in ihr trauriges Gesicht. Jason war ein herzensguter Mensch, aber

sie liebte ihn nicht.

„Nach London. Miss Neat möchte mit Ihnen sprechen.“

Vanity nickte und starrte nach draußen. Sicherlich wollte Neat vor ihrem ersten großen Einsatz ein paar ernste Worte mit ihr wechseln wollen. Eigentlich konnte sie es noch gar nicht glauben, dass sie jetzt eine richtige Agentin war und wirklich Menschen töten durfte. Nun ja, sogar musste. Ein paar Menschen hatte sie bereits auf dem Gewissen. Aber diese hatte sie… nun ja, wie sollte man sagen, nur im Affekt getötet. Was ist aber, wenn sie schon im Voraus wusste, wem sie gleich das Licht auspusten sollte? War sie dann auch so cool und gelassen? Konnte sie danach ruhig schlafen?

Sie seufzte und wusste es nicht.

 

Der Flug dauerte nicht allzu lang und zu Vanitys Überraschung wurde sie nicht zum MI6-Hauptquartier gebracht. Aber darüber war sie eigentlich ganz froh, denn die Chance, ihrem lieben Herrn Vater dort über den Weg zu laufen, war sehr groß.

Der Hubschrauber landete außerhalb von London. Vor ihr lag ein sehr hübsches Anwesen aus dem Mittelalter. Na, hoffentlich traf sie hier nicht auf bekannte Geister der Vergangenheit. Die Visionen, die sie auf Cylemore Rock Castle erleben durfte, reichten ihr fürs Erste.

Auf der großen Treppe kam ihr eine strahlende Nelly Neat entgegen. „Hallo, Vanity! Wie geht es dir?“ Die beiden umarmten sich und Neat führte sie in das altertümliche Gebäude.

Das Schloss gehörte einem gewissen Earl of Kurlington.

„Der MI6 hat wohl eine Schwäche für Schlösser“, stellte Vanity fest, als Nelly sie zu ihrem Zimmer begleitete. Es lag im zweiten Stock und hatte einen schönen Balkon.

„Das bietet sich in England an. Hier besitzt fast jeder zweite Millionär so ein Häuschen.“ Nelly öffnete die Balkontür. „Und fast jeder zweite Millionär gehört irgendwie zum MI6.“

Vanity folgte ihr. Der Ausblick war atemberaubend. Vor ihr lag ein riesengroßer Garten, der von leichten Hügeln durchzogen und durch einige Baumgruppen aufgelockert wurde. Es tummelten sich viele Personen auf dem Rasen und sie waren fleißig dabei, eine Gartenparty vorzubereiten. Pavillons, Stehtische und Bars wurden aufgebaut. Gartenfackeln wurden verteilt und Feuerkörbe aufgestellt.

„Wow! Was für eine Party findet denn hier statt?“, wollte Vanity wissen.

„Der Earl of Kurlington feiert seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag.“

„Das freut mich. Aber warum bin ich hier? Oder bin ich mit ihm verwandt?“ Sie zog eine Braue hoch und sah Nelly skeptisch an.

Neat lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Er ist auch gar kein echter Earl, alles nur Tarnung. Glaub mir, hier ist nichts so, wie es scheint. Es ist einfach eine Party.“

„Und wer kommt dann? Alles unechte Gäste?“ Sie musste an ihre Beerdigung denken, da gab es auch nur Statisten. Und keinen Butterkuchen.

Tom Fear als Gast hätte ihr vollkommen gereicht. Ein Stich durchzog ihren Brustkorb. Das erste Mal, seitdem sie Irland verlassen hatte, musste sie schmerzhaft feststellen, wie sehr sie ihn vermisste. Vanity hätte augenblicklich in Tränen ausbrechen können.

„Diplomaten, Ärzte, Architekten, Politiker. Es sind alles Personen, die eng mit dem MI6 zusammenarbeiten und deren vollste Verschwiegenheit wir genießen. Man plaudert einfach über Gott und die Welt“, klärte Neat sie auf.

Vanity lehnte sich an das Geländer und ließ ihren Blick über das Geschehen im Garten schweifen. „Also wissen die Gäste, dass ich eine Agentin bin?“ Sie wirkte etwas entsetzt über die Vorstellung.

Neat winkte ihre Bedenken fort. „Ach was, du kannst ihnen erzählen was du willst. Im Endeffekt ist denen dass sowieso egal. Hauptsache die erhalten ihr Geld. Mach dir nicht so viele Gedanken. Lüg einfach, das sich die Balken biegen. Das kannst du doch so gut.“ Sie zwinkerte ihr zu.

 

 

 

***

Vanity hatte bis zum Beginn der Party noch einige Stunden Zeit. Sie nutzte die Gelegenheit und spazierte durch die Parkanlage. Es wurden die letzten Vorbereitungen getroffen und die meisten der Gäste reisten an. Ein dicker Schlitten nach dem anderen fuhr vor und wurde ordentlich auf dem angrenzenden Parkplatz abgestellt.

Vanity schlenderte weiter und erreichte einen kleinen Seerosenteich. Auf einer Bank nahm sie Platz und schloss die Augen.

Was hatte sie nur alles in den letzten Monaten erlebt. Die Ereignisse und Erlebnisse überstürzten sich in ihrem jungen Leben. Das krasseste Erlebnis war, dass sie eigentlich ein Monster war. Oder war sie keins? Was war sie nun eigentlich? Wusste Neat von diesem Wundermittel? Wurde sie nur deshalb zur MI6-Agentin ausgebildet? War sie jetzt tatsächlich unsterblich? Lebte vielleicht Jean Pierre noch? Oder hatte nur sie die neuere Version gespritzt bekommen und deshalb weilte sie noch unter den Lebenden? Wie lange würde sie ihre Kräfte noch verheimlichen können? Vielleicht würden die Kräfte auch eines Tages einfach verschwinden? Fragen über Fragen.

Und dann der Streit mit ihrem Vater auf Hunter Island. Seit Wochen hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Er fehlte ihr. Irgendwie. Ein wehmütiger Seufzer kam über ihre Lippen und sie blickte unglücklich über den Teich. Vielleicht hatte Parker doch recht und sie machte den Fehler ihres Lebens. „Nein, nein… ich bin Agentin und basta!“, fluchte sie leise vor sich hin. „Sobald ich meinen ersten Auftrag erledigt habe und ihm beweisen kann, dass ich dazu fähig bin, werde ich mich bei ihm entschuldigen. Wir fangen von vorne an“, redete Vanity sich in Gedanken Mut zu.

Doch all das belastete sie nicht so sehr wie der Gedanke an den einen Mann, den sie seit Monaten tagtäglich gesehen hat. Der sie tagtäglich gequält, schikaniert und gedemütigt hat. Dieses Gefühl zwischen den beiden war so unbeschreiblich schrecklich und gleichzeitig unbeschreiblich schön. War es wirklich Liebe? Was konnte es sonst sein?

Vanity erhob sich von der Bank und ging näher zum Teich. Sie kniete sich direkt ans Wasser und sah, wie in Ufernähe kleine Fische umherflitzten. Zuerst wirkten diese neugierig, doch als Vanity vorsichtig die Finger nach ihnen austreckte verschwanden sie flink. Ein zaghaftes Lächeln huschte um ihre Mundwinkel. Die waren ja drollig.

Die Wasseroberfläche unter ihren Fingern begann zu zittern. Vanity stutzte für einen Moment, dann konzentrierte sie sich und in der nächsten Sekunde löste sie durch ein Fingerschnippen der Finger, eine kleine Welle aus.

Wahnsinn, was sie für Fähigkeiten hatte. Sie musste lernen, diese besser und kontrollierter einzusetzen. Gerade jetzt als angehende Agentin. Oh ja, sie musste noch eine ganze Menge lernen.

 

***

Die Party war schon im vollen Gange, als Vanity einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel warf. Ein schwerer Seufzer kam über ihre Lippen und als sie ihr unglückliches Gesicht sah. Sie vermisste ihn.

Noch nicht mal einen Tag war sie von Cylemore Rock Castle fort und schon verzehrte sich ihr Herz nach Tom Fear. Sie trat auf den Balkon und blickte zum Garten hinunter. Circa zweihundert Gäste tummelten sich auf dem Rasen und deren Stimmen schallten zu ihr nach oben. Für einen kurzen Moment spielte Vanity mit dem Gedanken, ihre Sachen zu packen und einfach zu verschwinden. Und dann? Und wohin? Etwa zu ihm? Dann würde sie vor Tom Fear stehen und er würde sie mit seinen weißen, perfekten Zähnen auslachen und sie zur Hölle schicken.

Vanity schüttelte den Kopf, ging zur Minibar, holte sich einen Piccolo und kippte die Flasche auf ex hinunter. Es folgte ein lauter Rülpser und die leere Flasche landete im Papierkorb. „Jetzt hör auf zu jammern! Du bist Agentin, du bist unsterblich! Dir gehört dir Welt! Also beweg deinen Arsch und mach Party!“

 

„Ah, da ist sie ja!“, rief Neat begeistert, als Vanity die Treppe hinunterkam.

„Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung.“

„Darf ich dir den Earl of Kurlington vorstellen?“

Vanity reichte dem älteren eleganten Herrn die Hand. „Meine herzlichsten Glückwünsche, Earl of Kurlington. Mein Name ist Vanity Phoenix.“

„Vielen Dank für Ihre Glückwünsche, liebe Vanity. Neat, wo hast du nur wieder diese junge, wunderschöne Dame gefunden?“ Der Mann zwinkerte Phoenix zu.

„Wir haben sie bei einem illegalen Autorennen erwischt. Vanity ist ein As darin und ich konnte sie vor der Polizei retten.“ Neat tätschelte dem Earl die Hand.

Ein Kellner kam und bot ihr Champagner an. Vanity nahm dankend ein Glas und ließ den Blick durch die Menge schweifen. Oh Mann, der erste „Checker-Blick“ verriet ihr, dass sie sich leider auf einer Mumien-Party befand. So alt wie das Schloss waren wohl auch die Gäste. Jetzt vermisste sie Tom Fear noch mehr. Oder wenn wenigstens Jason hier gewesen wäre. Oder Passion. Oder Parker, dann hätte sie jemanden zum Streiten gehabt.

Vanity wechselte noch ein paar Worte über verbotene Autorennen mit dem Earl und begab sich nach draußen. Die Abendluft war herrlich. Da es schon dämmerte, waren inzwischen die Feuerkörbe und Fackeln angezündet. Es wirkte sehr romantisch. Zu romantisch. Wäre Tom hier gewesen, hätten die beiden sich sowieso nur gezofft und sicherlich wäre einer von ihnen in Brand geraten. Sie musste bei der Vorstellung lachen.

„Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mir den Witz auch erzählen? Ich möchte ebenfalls lachen“, erklang eine sehr angenehme Männerstimme neben ihr.

Vanity drehte sich um. Huch? Ein Mann, nicht älter als fünfundzwanzig stand vor ihr und sah sie mit seinen braunen Augen mitleidig an.

„Bitte?“

„Nun ja, wie Sie sicherlich festgestellt haben, sind wir zwei anscheinend die Einzigen, die noch weit unter der magischen Dreißig liegen. Und Sie haben gerade so zauberhaft gelächelt.“ Er machte eine kurze Pause und hielt ihr seine Hand entgegen. „Mein Name ist Tim Freshman.“

„Phoenix, Vanity Phoenix. Ja, mit der magischen Dreißig haben Sie vollkommen recht.“ Sie lachte.

„Also, Vanity Phoenix, worüber haben Sie gerade gelacht?“

Sie nahm einen Schluck von der Blubberbrause und winkte die Frage ab. „Ach, nichts Besonderes. Was machen Sie denn hier so allein?“, wechselte sie flink das Thema.

„Dem guten alten Earl zum Geburtstag gratulieren und nach neuen Kontakten Ausschau halten, und Sie?“

„Nein? Genau das Gleiche habe ich vor. Was machen Sie denn beruflich? Vielleicht kann man da schon die ersten Kontakte knüpfen.“

„Ich bin in der Versicherungsbranche tätig. Es gibt bestimmte Personen hier, die leider dazu neigen, viele Dinge zu demolieren“, flüsterte er vorwurfsvoll und ließ seinen Blick verdächtig durch die Menge schweifen. „Und Sie?“

Vanity zog eine Braue hoch. „Oh, Sie werden es mir nicht glauben, aber ich fahre Autorennen und gehöre somit definitiv zu der besagten Gruppe.“

„Nein? Wirklich?“ Tim machte einen überraschten Gesichtsausdruck und rieb sich das Kinn. „Hm? Stimmt, wo Sie es jetzt erwähnen, Sie sehen so… so schön schnittig aus.“

Vanity lachte herzhaft. Das hatte auch noch kein Mann zu ihr gesagt. Schnittig?

„Ich kann Ihnen da eine ausgezeichnete Autoversicherung anbieten“, brachte Tim überzeugend hervor.

 

2. Kapitel

Cylemore Rock Castle

 

Nur das Mondlicht warf einen schmalen Lichtstrahl durchs Fenster. Tom lehnte im Rahmen der geheimen Zwischentür und starrte seit einiger Zeit einfach nur in ihr Zimmer. Er vermisste sie. Vanity war noch nicht mal einen Tag fort und sein Herz verzehrte sich vor Sehnsucht. Vanity Phoenix beherrschte sein Leben, sein Herz, seine Seele und er verfluchte den Tag ihrer Ankunft auf Hunter Island. Nun war sie weg und er hatte Wochen Zeit sich einzureden, dass er sie hasste. Er hasste Vanity doch. Oder? Wie sollte er nur als Vorgesetzter mit diesem unerträglichen Gefühl umgehen? Ein sehnsüchtiger Seufzer kam über seine Lippen und er hoffte, dass ihr erster Auftrag gut verlaufen würde, dann schloss er die Tür.

 

England

 

Vanity unterhielt sich den Abend über sehr angeregt mit Tim Freshman. Gegen Mitternacht begleitete er sie bis zu ihrem Zimmer. „Ich wünsche dir eine angenehme Nacht. Wir sehen uns bestimmt zum Frühstück.“

„Ja, bestimmt. Danke für den schönen Abend. Ich wünsche dir auch eine angenehme Nacht, Tim.“

Er hob zum Abschied die Hand und verschwand im Treppenhaus. Tim war wirklich sehr nett, witzig und höflich gewesen. Sie hatten sich den ganzen Abend unterhalten und, wie Nelly ihr versichert hatte, über Gott und die Welt gesprochen. Es war völlig ungezwungen. Sie hatte sogar Tom Fear für ein paar Stunden vergessen können. Aber dafür würde Tom gleich hinter dieser Tür, in diesem einsamen Zimmer mehr als präsent sein und davor hatte sie Angst.

Vanity wollte gerade die Chipkarte durchziehen, als sich ihre Nackenhaare sträubten. Sie zog sofort die Karte zurück und verharrte einige Sekunden. Sie spürte ihn.

Vanity zog die Pumps aus und flitzte barfuß die Treppen hinunter.

Die meisten Gäste waren bereits auf ihren Zimmern. Die Einzigen, die hier noch herumgeisterten, waren die armen Angestellten, die aufräumen mussten. Sie eilte nach draußen, von wo aus sie den Balkon ihres Zimmers sehen konnte. Vanity versteckte die Pumps hinter einem Busch, raffte das Kleid hoch und begann wie ein Äffchen an der Mauer hochzuklettern.

„Vanity?“, erklang die Stimme von Tim leise zu ihr hoch.

Sie schloss die Augen. Oh nein? Das hatte ihr gerade noch gefehlt. „Mist“, zischte sie und drehte sich vorsichtig zu ihm hinunter. „Ja?“

„Was machst du da? Hast du deine Karte vergessen?“

Karte vergessen? „Ja, meine Karte ist weg“, flüsterte sie.

„Komm runter, wir gehen zur Rezeption. Die können doch dein Zimmer aufmachen, dafür brauchst du nicht als Akrobatin tätig werden.“ Er lachte. „Obwohl das echt scharf aussieht. So im Abendkleid an der alten Schlossmauer.“

„Weißt du, Tim, geh doch einfach. Ich erklär dir alles beim Frühstück, okay?“ Sie rutschte und konnte sich gerade noch an einem kleinen Vorsprung halten. Oh Mann, jetzt war der Überraschungseffekt eh im Arsch!

„Okay? Na, auf die Erklärung freu ich mich jetzt schon. Übrigens, wir haben auch Gebäudeversicherungen gegen gemeine Diebe in der Nacht. Fall nicht.“ Tim schüttelte lachend den Kopf und verschwand.

„Ich pass schon auf, danke dir.“ Sie schenkte ihm ein krampfhaftes Grinsen und hangelte sich weiter nach oben. Jetzt war ihr ungebetener Gast eh gewarnt. Er war ja nicht dumm – also – neuer Plan. Vanity warf einen Blick zum Balkon und entschied sich anders vorzugehen.

 

Der ungebetene Gast begab sich auf den Balkon. Sie hatte sich leider verraten beziehungsweise einer ihrer Loverboys hatte sie verraten. Berufsrisiko.

Er schlich vorsichtig zum Geländer und spähte hinüber. Er konnte nichts sehen. Hm? Wo steckte sie?

Den ganzen Abend hatte er sie aus der Ferne beobachtet. Seit Wochen hatte er nichts von ihr gehört. Er wollte sie eigentlich zappeln lassen, warten, bis sie den ersten Schritt machen würde. Doch da hätte er wohl vergebens gewartet. Und irgendwie verstand er ihr Verhalten. Er war damals genauso fanatisch gewesen. Sie war halt wie er.

Aber wo steckte sie denn jetzt? Er hatte sie doch gerade noch die Wand hochklettern gehört.

„Eine dumme Bewegung und ich puste dir das Gehirn weg!“

John hob langsam die Hände und grinste.

„Verdammt, du bist über den anderen Balkon gekommen.“

„Nein, ich bin wieder zurück und habe doch einfach stumpf die Tür genommen“, sagte Vanity trocken, dann entriss sie ihm die Waffe. „Einen Schalldämpfer?“, rief sie pikiert.

John zuckte mit den Schultern. „Ich wollte die anderen Gäste nicht wecken.“

Vanity gab ihm die Waffe zurück. „Wie rücksichtsvoll.“

John steckte sie sich in den hinteren Hosenbund. „Wie geht es dir?“, fragte er vorsichtig.

Sie ging ins Zimmer. Er folgte ihr. „Gut.“

„Du ziehst das also wirklich durch?“ Er verschränkte die Arme.

„Wonach sieht es denn aus?“ Sie wirkte eiskalt.

„Ich glaube, dass du das Agentenleben etwas zu leicht siehst, meine Liebe.“

„Ach ja? Und wie leicht sehe ich das Agentenleben deiner Meinung nach?“ Vanity spürte, wie Wut in ihr aufkam. Er versuchte ihr wieder diesen bösen Job auszureden.

„Du warst im Camp die Beste und musstest mit ansehen, wie Kameraden vor deinen Augen starben, doch nicht wirklich. Wie wirst du reagieren, wenn wirklich jemand vor deinen Augen stirbt, besonders wenn er dir etwas bedeutet?“

Vanity schnellte mit drohendem Finger zu ihm und ihre Augen funkelten gefährlich. „Hör auf mir so einen Mist zu predigen! Ich hab diesen ganzen Scheiß mitgemacht! Ich hab gesehen, wie Sebastian vor meinen Augen gestorben ist und Jean Pierre! Wie meine Mutter gestorben ist! Wie du fast gestorben bist! Also erzähl du mir nicht, wie es ist, einen Menschen zu verlieren, den man liebt! Du nicht!“, brauste sie auf.

John wich erschrocken über ihre Worte zurück. „Weißt du eigentlich … weißt du eigentlich, was du da gerade von dir gegeben hast? Oh, mein Gott!“ Er fuhr sich übers Haar und wandte sich von ihr ab.

Sie war so eiskalt. Ihre schönen Augen spiegelten den reinen Wahnsinn wider, den man für diesen Job brauchte. Sie war eindeutig perfekt für diese Art von Beruf. Und das war das Erschreckende.

„Ich liebe dich und ich mache mir Sorgen. Ist das so schlimm?“ Seine Stimme klang besorgt und verletzt.

Sein Blick tat ihr weh. „Ich liebe dich auch, aber wir müssen einen Weg finden, den wir gemeinsam gehen können. Ich werde auf alle Fälle Agentin, da kannst du meckern und schimpfen, was du willst! Ich werde diesen Weg gehen. Und ich werde ihn auch ohne dich gehen“, endete sie leise und betreten.

Sein Gesicht verzerrte sich zu einem schmerzhaften Lachen. „Du bist wirklich eine Kampfsau, wie Tom Fear es mir versichert hat. Aber weißt du, Jamie Lee, du kannst noch so gut sein, vor einem Gegner hast du nicht die geringste Chance: Der Liebe. Du hast deine Gefühle vielleicht im Griff, aber nicht dein Gegner. Dein Boy von heute Abend hat dich ebenfalls verraten. Und weil du eine atemberaubende Schönheit bist, wird die Liebe dein Tod sein, glaube mir. Du wirst jemanden finden, den du über alles liebst, und man wird ihn vor deinen Augen töten. Ich hab das alles schon erlebt und wenn du nicht in mein Leben getreten wärst…“ Er verstummte, ging zur Tür und hatte die Klinke bereits in der Hand, als er sich noch einmal zu ihr umdrehte. „Ich wünsche dir viel Glück, Jamie Lee.“

Er wollte gerade den Raum verlassen, als er ihre Hand auf seinem Arm spürte und sie ihn zurückzog. „Bitte warte.“

John schloss die Tür und sah sie niedergeschlagen an. Seine eisblauen Augen schimmerten feucht.

Vanity holte tief Luft und wich einen kleinen Schritt zurück. „Es tut mir wirklich leid und ich möchte mich bei dir für mein Verhalten entschuldigen. Aber ich bitte dich, gib mir diese eine Chance. Wenn ich es nicht packe, dann verspreche ich dir, werde ich diesen Beruf nicht weiter ausüben. Aber bitte, Parker, gib mir diese eine verdammte Chance.“ Sie sah herzzerreißend zu ihm auf.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schloss für einen Moment die Augen. „Darf ich dich daran erinnern, dass du meistens keine Versprechen einhältst. Also?“ Er neigte den Kopf zur Seite und sah sie hart an. „Warum sollte ich dir ausgerechnet jetzt vertrauen, Jamie Lee?“

„Ich heiße Vanity Phoenix, verdammt noch mal!“, schrie sie voller Zorn und wich von ihm. Ihre Freundlichkeit war schlagartig verschwunden.

„Ach, und nur weil du jetzt einen neuen Namen hast, hältst du deine Versprechen?“, warf er ihr unmissverständlich vor.

Sie schüttelte genervt den Kopf. „Komm mir nicht so! Ich weiß, ich habe Fehler gemacht, aber ich habe mich für eine Agentenausbildung entschieden und ich werde meinen ersten Auftrag durchführen. Mit oder ohne deinen Segen!“

Er stemmte seine Hände in die Hüften und baute sich böse vor ihr auf. „Na, dann? Hast du meinen Segen eben nicht!“

Vanity äffte seine Geste nach. „Na dann: schieb ihn dir doch sonst wo hin!“

John hatte große Lust, ihr eine Backpfeife zu erteilen, konnte sich aber in letzter Sekunde noch bremsen und drehte sich sicherheitshalber von ihr weg. „Wenn du nicht deine freche Zunge hütest, schiebe ich dich bald sonst wo hin, mein Fräulein!“ Oh Mann, konnten Blagen einem die Nerven rauben!

„Mit dir kann man einfach nicht reden! Warum bist du eigentlich hier? Hast du gedacht, jetzt haben wir uns einige Wochen nicht gesehen und die freche Göre hatte nur ein Hirngespinst und will jetzt doch Ärztin werden?“ Ihre Stimme wurde eine Tonlage schriller. Sie spürte, wie das Monster in ihr tobte, und sie musste höllisch aufpassen, dass es nicht mit ihr durchging. Ihr Vater durfte auf keinen Fall erfahren, was sie jetzt war. Würde er nur einmal ihre schwarzen Augen sehen oder bekäme sie dummerweise durch die Aufregung Nasenbluten, wäre sie geliefert. Parker würde sie von einem Ärzteteam auf den Kopf stellen lassen.

John fuchtelte wild mit den Händen durch die Luft und ließ sie seitlich an die Beine klatschen. „JA! Ja, ich habe wirklich gehofft, dass du zur Vernunft kommst!“ Er entdeckte auf dem Boden eine Tüte von dem Textilunternehmen H&M und deutete mit dem Finger hin. „Kannst du nicht da anfangen? Die suchen immer freundliche Verkäuferinnen, du lässt doch eh dein ganzes Geld dort!“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst?“, flüsterte sie völlig schockiert und verdrehte die Augen.

„Mir war es noch nie so ernst wie jetzt, Jamie Lee.“ Er war mit wenigen Schritten bei ihr und seine schlanken Finger umfassten hart ihre Oberarme. Seine blauen Augen suchten in den ihren nach Verständnis, nach Hoffnung. „Ich flehe dich an! Du bist meine einzige Tochter und ich liebe dich über alles. Du bist der wunderbarste Mensch, der je in mein verkorkstes Leben getreten ist. Ich will dich nicht verlieren“, endete er betroffen.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Vivian Tan Ai Hua
Lektorat: Jörg Querner /Pforzheim
Tag der Veröffentlichung: 17.09.2017
ISBN: 978-3-7438-3302-9

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