Panacea
Das zweite Abenteuer von Jamie Lee
Sandra Eckervogt
Panacea bedeutet: Wundermittel/Heilmittel
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Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. © Sandra Eckervogt 2015
Dieses Buch widme ich meinen lieben Verwandten,
Familie Dillenberger/Angehörige
in Rotenburg/Wümme.
Die Zeit, die ich als Kind bei euch verbringen durfte,
war einmalig schön! Wir haben viel Spaß gehabt!
Vielen Dank!
Und natürlich meinen lieben Verwandten,
Familie Migos und dessen Angehörige
in Lingen.
Wir haben so viele wunderbare, lustige und verrückte Stunden, Feten und Besuche bei Oma und Opa Migos
erlebt!
Ihr seid super! Das werde ich nie vergessen!
Er hielt inne und lauschte in die nächtliche Stille. Zu dieser Uhrzeit war nur der Sicherheitsdienst des MI6 tätig. Neat schlummerte sicherlich schon tief und fest in ihrem schönen, warmen Bett und träumte vom Kalten Krieg.
Der Bildschirm vor ihm erhellte sich langsam und das Startbild des MI6 baute sich auf. Ob er finden würde, was er seit Wochen vermisste? Seine schlanken Finger huschten flink über die Tastatur und seine stahlblauen Augen spiegelten sich in dem Monitor wider.
Ein leises Piepen unterbrach die Stille und er warf einen Blick auf seine silberne Armbanduhr. Fünf Minuten hatte er noch, bevor der Wachmann diesen Kontrollpunkt erreichte. Da war was, er hatte etwas gefunden.
Eintrag Nummer A: Person verließ mehrmals unerlaubt das Anwesen (er seufzte)
Eintrag Nummer B: Person wurde bei illegalem Autorennen verhaftet (er grinste stolz, sie war es)
Eintrag Nummer C: Person beleidigte mehrmals die Lehrer (sein Grinsen verzog sich - Zicke)
Eintrag Nummer D: Person wurde unehrenhaft vom Anwesen „Roter Zipfel“ entlassen (er grummelte böse)
Es folgte der letzte Eintrag.
Eintrag Nummer E: Person wird seit vier Wochen vermisst (sein Herz verkrampfte sich).
Ungläubig las er diesen Eintrag erneut. Was hatte es zu bedeuten: Person wird seit vier Wochen vermisst? Sein Puls erhöhte sich schlagartig. Ob Neat davon wusste?
Wieder piepte seine Uhr und signalisierte ihm, dass er nur noch zwei Minuten hatte. Er schloss alle Dateien und stand auf.
Der Wachmann ging langsam, vor sich hinflötend, den Gang entlang und blickte in jeden Raum. Sein Schlüsselbund klimperte leise an der rechten Hosentasche umher. Alles war in bester Ordnung. Er begab sich, immer noch leise flötend, zum Lift, trat ein, und die Lifttür schloss sich mit einem hellen Ping.
Vorsichtig trat John aus seinem Versteck. Zur Sicherheit zog er sich die schwarze Maske übers Gesicht. Da er genau wusste, wo sich die Überwachungskameras befanden, war es ein leichtes Spiel, dem für ihn verbotenen MI6 Komplex unerkannt zu entkommen. Dachte er …
Zuhause angekommen, pfefferte er wutentbrannt seine Schuhe in die Ecke und schüttete voller Zorn zwei Whiskys in Sekunden hinunter. Er nahm ein altes Vogelkundebuch aus dem Regal und hielt es zur Seite, zum Vorschein kam ein Foto. Vorsichtig nahm er es in die Hand und als er das darauf abgebildete Mädchenantlitz ansah, machte sein Herz einen schmerzhaften Schlag. „Verdammt, wo steckst du nur, Jamie Lee?“ Es ärgerte ihn, dass er nichts Näheres über ihren Aufenthaltsort in Erfahrung bringen konnte. Seit vier Wochen wurde sie als vermisst gemeldet? War vielleicht jemand hinter ihr Geheimnis gekommen? Wurde Jamie Lee gefangen gehalten? Oder hatte sie mal wieder tolle Angebote erhalten, an illegalen Autorennen teilzunehmen? „Hoffentlich ist dir nichts passiert“, dachte John sorgenvoll. „Wenn ich dich erwische, bekommst du eine gehörige Tracht Prügel, das schwöre ich dir“, zischte er und füllte das Glas erneut auf. Er legte das Bild wieder an seinen alten Platz und stellte das Buch zurück ins Regal. Wenn ich dich erwische …
Toronto/ Kanada
Seine Aura erfüllte das Büro mit einer so immensen, gewaltigen Macht, dass er sich als Professor klein und unwürdig vorkam. Er nahm automatisch eine geduckte Haltung an, so als würde ein Untertan den König bei Hofe begrüßen.
Wie immer erstrahlte Sebastian Mauvais im perfekten Outfit. Seine Gesichtszüge wirkten emotionslos und völlig kontrolliert. Doch das konnte sich blitzschnell ändern und davor fürchtete sich Dr. Prophen. Vor ihm stand ein junger Mann, der für Außenstehende liebenswert, fair, loyal und höflich wirkte. Mauvais besaß eine andere, dunkle Seite und diese Seite veranlasste ihn, dass er sich schlagartig in einen erbarmungslosen, vernichtenden Teufel verwandeln konnte. Ungezähmte Wut, Rechthaberei, erbarmungsloser und fanatischer Größenwahnsinn, prägten seine anderen Charakterzüge. Hinzu kam, dass dieser perfekte Teufel stets seine ungezähmte Höllenbrut dabei hatte: Ein sehr sportlich durchtrainierter, junger Mann mit fast laserartigen, blauen Augen. Sein Name war schlicht und einfach, Face. Eigentlich wusste Dr. Prophen nicht, wer von den beiden Herren der weitaus schlimmere war.
Dr. Prophen räusperte sich und lächelte schüchtern. „Guten Tag, Mister Mauvais, was führt Sie in meine Praxis?“ Er deutete auf die Stühle vor seinem Schreibtisch und warf dem Hellboy einen ängstlichen Blick zu. Seit er Face vor einigen Jahren die erste Version von Panacea gespritzt hatte, war ihm der Typ nicht mehr geheuer.
Der Teufel nahm Platz, der blauäugige Hellboy blieb links neben ihm stehen. „Guten Tag, Dr. Prophen. Ein großes und wichtiges Problem führt mich in Ihre Praxis.“ Seine Stimme klang ruhig und sanft.
Dr. Prophen nickte und schob seine Brille den Nasenrücken hoch. „Um welche Art handelt es sich bei diesem Problem, Mister Mauvais?“
Mauvais überkreuzte elegant die Beine. „Mein Bruder hat, wie Sie ja wissen, eine schlimme Schulterverletzung. Am nächsten Wochenende ist das Endspiel und er muss fit sein, ansonsten verliert seine Mannschaft.“ Er machte eine kurze Pause und beugte sich leicht vor. „Und seine Mannschaft ist meine Mannschaft, die Millionen Dollar wert ist. Sie verstehen, Doktor?“ Er zog eine Braue hoch und lehnte sich wieder zurück.
Dr. Prophen nickte mehrmals und räusperte sich. „Dann werde ich ihm Cortison spritzen, ganz ein…“
„Nein, das werden Sie eben nicht!“
Der Doc schreckte durch den harten Ton zurück und sein Blick pendelte kurz zwischen den beiden Männern hin und her.
„Sie werden ihm das Mittel spritzen, haben Sie verstanden?“, zischte er.
Die laserblauen Augen von Face fixierten den Doktor. Dieser verspürte umgehend einen Druck auf seiner Brust. „Sie wollen, dass ich Ihrem Bruder die neue Version von Panacea gebe?“, erwiderte er sichtlich erschrocken.
Ein Lächeln huschte um Sebastians Mundwinkel. „Genau, das meine ich.“
„Aber, aber es ist doch noch gar nicht ausgereift! Wir haben noch nicht alle Nebenwirkung analysiert. Ihr Bruder könnte dabei, also, er könnte sterben!“, brauste der Doc mutig auf.
„Sie haben vor einigen Jahren bewiesen, dass dieses Mittel funktioniert. Der Krebs von Face, war innerhalb eines Tages verschwunden. Wo ist das Problem? Sie sagten, das neue Mittel wäre wesentlich besser“, hakte Mauvais nach. „Wir haben doch erst letztens darüber ausgiebig diskutiert, oder?“
Ja, an das letzte Treffen konnte Prophen sich nur zu gut erinnern, da hatte er nämlich die andere Seite von Mauvais kennengelernt. Sebastian hatte ihm gedroht, seiner Familie etwas anzutun, wenn er nicht weiter an dem Mittel arbeiten würde. Nun wurde Prophen wütend und stand abrupt auf. „Es waren Schweine! Wir haben es an Schweinen getestet! Die Version, die ich Face vor Jahren gespritzt habe, war eine sehr schwache Substanz, mit der jetzigen überhaupt nicht zu vergleichen.“
Mauvais schnalzte mit der Zunge. „Sie haben vier Tage um die kleinen Probleme mit den Schweinen zu beheben.“
Prophen lachte hart. „Und wenn ich es nicht schaffe?“
Da war es, das andere, teuflische Gesicht, das er am meisten fürchtete. Er wusste, es galt keine Widerrede.
„Okay, geben Sie mir vier Tage.“
Sebastian erhob sich und knöpfte seinen schwarzen Anzug zu. „Sehen Sie, Doktor Prophen, Sie enttäuschen mich nicht. Und richten Sie Ihrer Frau und den Kindern meine herzlichsten Grüße aus!“
Der blauäugige Hellboy verzog keine Miene und wich zur Seite, als sein Meister aufstand.
Als die Tür sich hinter seinem Besuch schloss, kam es Dr. Prophen vor, als würde er schon im Höllenfeuer verbrennen. Vier Tage? Wie sollte er in vier Tagen das Mittel so herstellen können, dass es nicht tödlich sein würde? Unmöglich … doch ein ‚unmöglich’ existierte im Wortschatz dieses Teufels nicht.
Sebastian Mauvais zog das Handy aus der Innentasche, und rief seinen jüngeren Bruder an. „Ich habe gute Neuigkeiten! Doktor Prophen hat in vier Tagen das Medikament für dich, ja … genau, dann steht deinem Endspiel nichts im Wege. Hey, nun mach dir mal keine Sorgen, wir schaffen das schon und denk daran, dass wir heute Abend zu dem Empfang müssen. Nein, keine Widerrede, es geht auch um deine Ehre… um halb acht hole ich dich ab.“
„Der Doc wird langsam komisch“, sagte Face zu ihm.
„Ja, ich bin ganz deiner Meinung. Aber solange wir seine Familie bedrohen, wird er schön weiter an dem Mittel experimentieren. Noch benötigen wir ihn.“
***
„Ja, so ist es gut! Super! Ja, bewege dich mehr nach rechts! Und jetzt nach links! Ja, prima, du bist einfach genial!“ Der Fotograf konnte den Finger nicht vom Auslöser nehmen. „Okay, okay… wir haben die Bilder im Kasten. Feierabend!“, rief er seiner Crew zu und wandte sich vom Set ab.
Jamie Lee fächelte sich mit beiden Händen Luft zu und schritt zu ihrem Stuhl. Eine ältere Dame tätschelte ihr die Schulter. „Du bist einfach der Wahnsinn!“
Jamie Lee strahlte stolz und nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. „Danke, Emma.“
„Und deswegen gehen wir heute Abend auf einen sagenhaften Empfang.“
Sie starrte Emma entsetzt an. „Sagenhaften Empfang? Heute Abend? Ach nein, ich wollte früh zu Bett.“
Emma drehte Jamie Lee mit dem Stuhl zu sich und tippte ihr auf die Nasenspitze. „Nichts mit früh ins Bett, Kindchen. Der Empfang wird von dem reichsten Mann Torontos, Sebastian Mauvais, gegeben und er hasst es, wenn man seiner Einladung nicht Folge leistet.“ Sie machte eine kurze Pause und grinste geheimnisvoll. „Und er sieht unverschämt gut aus.“
Jamie Lee kicherte. „Und wie unverschämt gut genau?“
Emmas Gesichtsausdruck veränderte sich schwärmerisch, als sie ihr Top-Model umarmte. „Einfach teuflisch unverschämt.“
Jamie Lee erwiderte ihre Umarmung. „Dann ist er genau mein Typ, ich liebe nämlich teuflisch unverschämt.“
London
„Guten Morgen, John“, begrüßte Newbie ihn freundlich und saß wie immer hinter ihrem penetrant aufgeräumten Schreibtisch.
John nickte nur.
„Aber John, haben wir etwa schlecht geschlafen?“, hakte sie nach, denn es war mehr als seltsam, dass der liebe Mister Parker keinen passenden Spruch auf den Lippen hatte.
„Guten Morgen“, war seine knappe Antwort und schon war er hinter der geheimen Tür verschwunden.
Newbie schüttelte verwirrt den Kopf. Welche Laus war ihm denn über die Leber gelaufen?
John trat vor die Tür zu Neats Büro und blieb stehen. Er schloss kurz die Augen. Was war mit ihm los? Warum regte er sich über dieses Mädel nur so auf? Sie war alt genug und sie wollte die Anonymität, nicht er. Und jetzt? Seit vier Wochen war sie von der Bildoberfläche verschwunden und er machte sich die größten Sorgen. Die nächtlichen Nachforschungen im MI6 Gebäude hatten ihn nicht weiter gebracht. Er musste höllisch aufpassen, dass die liebe Nelly Neat nichts von seinen nächtlichen Spaziergängen mitbekam.
John räusperte sich, ordnete seine Anzugjacke, drückte auf den Knopf und Sekunden später öffnete sich die Tür.
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen, Parker. Wie geht es Ihnen?“, erkundigte sie sich.
John lächelte über diese Frage, denn wenn sie diese stellte, ahnte die liebe Miss Neat etwas.
Er lehnte sich gegen die Wand und schenkte ihr ein Grinsen. „Mir geht es hervorragend, danke der Nachfrage.“
Nelly lächelte, denn wenn er so antwortete, ahnte der liebe Mister Parker etwas. Sie nahm hinter ihrem großen Schreibtisch Platz. „Das freut mich zu hören. Sie müssen morgen nach Russland fliegen. Bossi hat Probleme mit einem Informanten.“
John zog fragwürdig eine Braue hoch. „Bossi hat ein Problem? Sie meinen wohl, Bossi ist das Problem.“
Sie faltete die Hände und sah ihn streng an. „Genauso ist es. Es sei denn, Sie haben einen anderen Auftrag, Parker?“
„Sollte ich einen haben?“, hinterfragte er.
Neat machte einen Schmollmund. „Sagen Sie es mir.“
Beide schwiegen sich an.
„Es wurden in den letzten Tagen illegal Daten aufgerufen, die nur dem internen MI6 Secret-Service zugänglich sein dürfen“, klärte sie ihn auf.
Er zuckte mit den Schultern. „Um welche Daten handelt es sich?“
„Das konnte die Abteilung nicht herausfinden, nur, dass es illegale Zugriffe gab. Ich möchte, dass Sie sich auf die Suche begeben und denjenigen dingfest machen.“ Ihre Stimme klang ganz ruhig, zu ruhig wie er fand. Sie wusste es, beziehungsweise, ahnte sie es.
„Okay, das werde ich. Haben Sie schon einen konkreten Verdacht, M‘am?“ Er lockerte seine Haltung.
„Nein, tut mir leid, Sie müssen alleine draufkommen. Und... Parker?“
Er drehte sich zu ihr um. „Ja, M’am?“
„Wenn Sie ihn haben, sofort zu mir.“
Parker nickte und verließ das Büro.
Nelly schüttelte verständnislos den Kopf und starrte auf die geschlossene Tür. „Idiot.“
Toronto/Kanada
Er stieß mit dem Kopf gegen die Wand, immer wieder und immer wieder. Diese Schmerzen in seiner Schulter brachten ihn um den Verstand. Nächstes Wochenende war das Endspiel und er wollte es auf jeden Fall spielen und er musste gewinnen. Doch wenn seine Schulter weiterhin diese Schmerzen verursachte, würde er vom Mannschaftsarzt gesperrt werden. Hoffentlich hatte sein älterer Bruder, Sebastian, recht und er würde ein neues Medikament gespritzt bekommen. Ihm war völlig egal was es war: Hauptsache er konnte aufs Eis. Eishockey war sein Leben und er war der beste Spieler Kanadas – noch.
Diese verdammte Schulterverletzung konnte ihm das Genick brechen. Er wäre von heute auf morgen ein Niemand, ein nichts – ein nie dagewesener Spieler. Er wollte endlich beweisen, dass auch er ein Gewinner war. Nicht nur sein Bruder, dem die Bürger dieser Stadt zu Füßen lagen und der mit 100%iger Sicherheit der nächste Bürgermeister von Toronto sein würde. Und das in einem jungen Alter von neunundzwanzig Jahren. Sebastian war der, bis jetzt jüngste Anwärter, den es für dieses hohe Amt je gegeben hatte.
Und zu allem Übel gehörte die Mannschaft auch noch ausgerechnet seinem Bruder, und somit lastete ein immenser Druck auf ihn. Er durfte nicht versagen, die Blamage wäre unerträglich. Die „Snow Tigers“ standen seit vielen Jahren im sportlichen Mittelpunkt des Landes und waren deren ganzer Stolz. Würde er versagen, wäre er der Buhmann der Nation.
Jean Pierre holte einen tiefen Atemzug und warf einen Blick in den Spiegel. „Oh Gott, steh mir zur Seite, nur noch dieses eine Mal.“
Apropos Bruder, er musste sich umziehen, in einer Stunde holte Sebastian ihn zu diesem nervigen Empfang ab.
Mann, hatte er eine Lust dazu! Immer dieses gekünstelte Lachen und freundlich sein zu Menschen, die man auf den Tod nicht ausstehen konnte. Manchmal würde er am liebsten alles hinschmeißen.
„Was gibt es für ein Problem, Mister Investor, dass Sie mich so dringend sprechen möchten?“ Sebastian gab dem älteren Herrn die Hand und lächelte.
„Schön, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten.“ Er machte eine Geste, Platz zu nehmen. „Bitte.“
Sebastian setzte sich, Face blieb an der Tür hinter ihm stehen.
„Ich werde gleich zur Sache kommen. Es gibt Probleme in Bagdad. Alfharat hat gehört, dass Sie Schwierigkeiten haben, ihm die gewünschten Waffen zu liefern.“
Sebastian lachte leise und strich sich über die Nase. „Der Herr scheint sehr ungeduldig zu sein.“
Mister Investor nickte. „So sieht es wohl aus. Ich konnte ihn aber fürs erste beruhigen. Sehen Sie nur zu, dass Sie so schnell wie möglich die Panacea Sache in den Griff bekommen.“ Er beugte sich leicht vor und seine braunen Augen sahen ihn intensiv an. „Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, wie fanatisch die Herrschaften da unten sind, die schrecken vor nichts zurück.“
Sebastian erhob sich und richtete seinen Anzug. „Ich habe schon verstanden und bedanke mich für Ihre ehrlichen Worte. Sehen wir uns heute Abend auf dem Empfang?“
Mister Investor erhob sich ebenfalls und reichte ihm die Hand. „Aber selbstverständlich. Wie geht es Ihrem Bruder, ist er schon wegen nächsten Samstag aufgeregt?“
„Das fragen Sie ihn heute Abend am besten selber.“
Nur einen kleinen Schritt. Er brauchte nur einen kleinen Schritt nach vorne zu gehen und seine Probleme wären gelöst. Der kühle Abendwind zerzauste sein blondes Haar. Ihm zu Füßen lag das atemberaubende Toronto bei Nacht. Millionen von Lichtern erhellten die Metropole und diese Millionen Menschen wollte sein Bruder als Bürgermeister beherrschen. Ja, sein Bruder war eiskalt und bestimmend, alles was er sagte, musste umgesetzt werden. Ein Nein wurde nicht akzeptiert. Jean Pierre musste zugeben, sein Bruder war sehr intelligent, eigentlich schon zu schlau, denn solche Menschen waren gefährlich. Schon immer stand er im Schatten seines Bruders. Jean Pierres Glück war, dass er seit seinem sechsten Lebensjahr ein Ass im Eishockey war und sich somit zum besten Nationalspieler Kanadas hatte hochspielen können.
Aber das war ja nun gelaufen. Vor acht Wochen hatte er bei einem Polospiel, einen schweren Unfall gehabt. Jemand der gegnerischen Seite hatte seinem Pferd den Schläger vor die Läufe geschlagen. Es war zu Boden gefallen und hatte ihn mitgerissen. Das Pferd war direkt auf seine rechte Schulter gestürzt. Sämtliche Muskelfasern waren gerissen.
Sebastian hatte auf dieses verdammte Polospiel bestanden. Eigentlich wollte Jean Pierre nicht mitspielen, doch ein Nein hatte sein Bruder wie immer nicht akzeptiert.
Nun war seine Schulter kaputt wie seine Karriere.
Jean Pierre nahm einen tiefen Atemzug und blickte die fünfzig Stockwerke nach unten – nur einen kleinen Schritt.
Es klingelte. Er schreckte zurück. Verdammt…
Jean Pierre drehte sich um und ging zur Tür.
„Deine Krawatte sitzt schief“, begrüßte Sebastian ihn und fummelte sofort an dem Stoffteil herum.
Jean Pierre schwieg. Wäre er doch den einen, kleinen Schritt gegangen.
Sebastian legte brüderlich den Arm um seine Schulter und ging mit ihm zum Lift.
„Jetzt mach nicht so ein Gesicht. Ich habe dir doch gesagt, in vier Tagen bekommst du die Spritze und alles wird gut. Hey, du bist mein Bruder und ich lasse dich nicht im Stich, hast du verstanden?“
Seit dem Unfall war Sebastian noch fürsorglicher ihm gegenüber. Jean Pierre konnte ihm das schlechte Gewissen regelrecht ansehen und das freute ihn. Etwas.
„Okay… okay“, nuschelte er und blieb am Wagen stehen.
Face hielt ihm die Tür auf. „Guten Abend, Jean Pierre.“
„Hallo, Face. Ich bleibe aber nicht lange“, protestierte er.
Sebastian lachte und zwinkerte ihm zu. „Ich habe tolle Frauen eingeladen.“
Er verdrehte die Augen. „Schon wieder nur Models?“
„Was hast du gegen Models?“, wollte Face wissen, denn er selber hatte vor einigen Jahren als Model gejobbt. Jean Pierre fragte sich, warum sein Bruder sich ausgerechnet diesen Schönling als Bodyguard ausgesucht hatte? Irgendetwas stimmte mit ihm nicht, denn jedes Mal, wenn Face ihn mit seinen laserartigen, blauen Augen ansah, wurde ihm mulmig zu Mute. Und er kannte seinen wahren Namen nicht. Er konnte sich schwer vorstellen, dass er wirklich nur Face hieß. Vielleicht war er ein großer Fan vom A-Team, da gab es ja auch diesen Schönling mit dem schlichten Namen, Face. War ihm eigentlich auch völlig egal, er hatte weitaus größere Probleme.
Jean Pierre blickte ihn aus schmalen Augen an. „Sie sind langweilig und dumm.“
Face beugte sich zu ihm und seine blauen Augen funkelten. „Findest du mich etwa langweilig und dumm?“
„Nein“, sagte er gereizt.
Er schlug die Tür zu und setzte sich hinters Lenkrad.
„Na, da bin ich aber beruhigt.“
Sebastian wandte sich seinem Bruder zu. „Schalte ab und genieße den Abend. Du weißt, dass sehr wichtige Leute da sein werden.“
Jean Pierre verdrehte genervt die Augen. „Für dich werden heute Abend sehr wichtige Leute da sein.“
„Meine wichtigen Leute sind auch deine wichtigen Leute, bitte vergiss das nie. Hast du mich verstanden?“ Seine braunen Augen wurden eine Nuance dunkler und seine Stimme strenger.
Jean Pierre seufzte.
„Ich habe dich gefragt, ob du mich verstanden hast!“
Jean Pierre bemühte sich um Gelassenheit, obwohl ihm der Puls vor Wut bis zum Hals schlug. „Ich habe es verstanden, mein lieber Bruder.“
„Deine Spitzfindigkeit kannst du dir sparen.“
Jean Pierre blickte aus dem Fenster. Nur einen kleinen Schritt – das nächste Mal.
Ihre mandelförmigen Augen starrten in den Spiegel.
Oh Mann, wenn er herausbekommt, dass ich einfach vom Internat abgehauen bin und als Model jobbe, bringt er mich um.
Plötzlich hatte Jamie Lee ein schlechtes Gewissen. Es war unverantwortlich von ihr gewesen, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Es musste nur jemand einen guten Draht zum MI6 haben und herausfinden, dass sie die Tochter eines britischen Geheimagenten war. Aber sie hatte auch nicht vorgehabt, als Model ins Rampenlicht zu gelangen. Sie hatte den Job nur angenommen, um sich etwas Geld zu verdienen. Konnte sie ahnen, dass Emma, die Chefin einer Pariser Agentur, sie von heute auf Morgen, so puschen wollte? Jamie Lee schwor sich, sobald sie den Auftrag hier in Toronto abgeschlossen hatte, würde sie den Model-Job an den Nagel hängen und würde sich ein neues Internat suchen. Das wievielte war es eigentlich? Ach egal, sie hatte nach dem sechsten aufgehört zu zählen.
Jamie Lee streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. Sie war jung, sie war schön und sie hatte einen obercoolen Daddy. „Der dir den Kopf abreißt, wenn er dich in die Finger bekommt, gefolgt von einer alten Jungfer namens Nelly Neat“, dachte sie laut.
Emma klopfte. „Bist du fertig? Wir müssen los.“
„Und ob ich fertig bin“, entgegnete sie und schnappte sich ihre Abendtasche. „Woher kennst du denn diesen Mauvais eigentlich?“
„Ich habe ihn auf mehreren Modenschauen und privaten Partys getroffen.“ Sie tätschelte die Hand von Vanity und zwinkerte ihr zu. „Er wird dir gefallen, mein Schatz.“
„Emma? Du willst mich doch nicht etwa verkuppeln?“, scherzte Vanity.
Emma kicherte und zuckte mit den Schultern. Sie ahnte gar nicht, was sie mit diesem Treffen ins Rollen brachte…
***
Jean Pierres Augen wurden durch die vielen Blitzlichter geblendet. Doch er kannte seinen Part. Jean Pierre strahlte und winkte in die Kameras und war jetzt Kanadas liebster Eishockeyspieler und gefragtester Junggeselle. Die Mädels schrien sich die Kehle aus dem Leib, als er den roten Teppich betrat, sogleich wurden die Blitzlichter stärker. Die Mädels, denen er ein Autogramm gab, fielen vor Glück beinah in Ohnmacht.
Gedankenverloren verharrte Jean Pierre einen Moment. Sein leerer Blick huschte durch die schreiende Menge. Hunderte von Mädchen himmelten ihn an. Ohne mit der Wimper zu zucken, könnte er jede ins Bett bekommen. Doch keiner sah ihn als normalen Menschen. Sah seine Einsamkeit, kannte sein wahres Leben, seinen Kummer und seine Angst, kläglich zu versagen.
Sebastian legte kameradschaftlich einen Arm um seinen Bruder und lachte in die Kamera.
„Wird Ihr Bruder nächstes Wochenende am entscheidenden Spiel teilnehmen?“, wollte ein Reporter wissen.
„Aber sicher doch, warum denn nicht?“, antwortete Sebastian.
„Die Schulterverletzung soll noch nicht auskuriert sein“, hakte der Reporter nach.
Jean Pierre ergriff das Wort und baute sich vor dem Reporter auf. „Ich werde das Endspiel mit bestreiten, und meine Schulter ist gesund. Danke.“
Die beiden Brüder sahen sich an und strahlten voller Stolz in die tobende Menge. Keiner sah sein Leid.
Jamie Lee stieg elegant aus der Limousine und schritt schüchtern über den roten Teppich. Die Allgemeinheit kannte sie noch nicht, trotzdem bombardierten sie Reporter mit Fragen, die sie diskret und höflich beantwortete oder gekonnt abwies.
Emma stellte Jamie Lee zig Persönlichkeiten vor. So viele Namen, die sie zu hören bekam und sogleich wieder vergaß. Ihre Hand war kurz davor zu verkrampfen, so viele Hände musste sie schütteln.
„Darf ich dir Sebastian Mauvais vorstellen, zukünftiger Bürgermeister von Toronto.“ Emma strahlte.
Vor Jamie Lee stand ein Mann, den sie um die dreißig Jahre alt schätzte. Sportliche Figur, eleganter Smoking, braune, intensive Augen. Doch was sie an dieser Person so faszinierte, war nicht sein Aussehen, sondern seine Ausstrahlung.
Pure Macht. Pure Abenteuerlust. Pure Leidenschaft.
Sie reichten sich die Hände. Als Sebastian Mauvais sie berührte, kam es Jamie Lee vor, als würde sie in Sekunden seinen Charakter erfahren. Sie fühlte Schmerzen, Traurigkeit, Stolz, Mitleid, Größenwahnsinn, Liebe, Sehnsucht, Geborgenheit und sie sah sich mit ihm liebend im Bett. Schlagartig ließ sie seine Hand los und ihre großen Augen sahen ihn entsetzt an.
Sebastian ergriff die Hand der Schönheit und erstarrte für Sekunden. Es kam ihm vor, als würde er in Sekunden ihren Charakter erfahren. Er spürte Neugier, Abenteuerlust, Angst, Geheimnisse, er hatte den Wunsch sie zu besitzen, und er sah sich mit ihr liebend im Bett.
Sebastian schüttelte den Kopf und ließ ihre Hand los.
„Ich bin sehr erfreut Sie kennenzulernen, Miss?“ Er stockte und sah sie fragend an.
„Carter. Jamie Lee Carter. Ich danke für Ihre Einladung, Mister Mauvais.“
Sebastian lächelte sie verliebt an. „Aber nein, Miss Carter … ich danke Ihnen. Und, liebe Emma, das mit dem Bürgermeister steht noch in den Sternen.“
Emma grinste ihn charmant an. „Wieso sollte es nicht klappen? Ihnen gehören doch die Sterne, Sebastian.“
Jamie Lee und Sebastian starrten sich weiterhin an.
Sekunden. Sekunden, in denen sich ihre Blicke, ihre Gefühle so stark verbunden hatten. In denen ihr Leben ein neues Schicksal schreiben würde und ihr Leben in seiner Hölle verbrennen würde…
Emmas Blicke pendelten zwischen den beiden hin und her, dann zerrte sie Jamie Lee in der nächsten Sekunde mit sich. „Wir sehen uns, Sebastian.“
Sebastian widmete sich den anderen Gästen zu und doch suchte er immer wieder den Blick zu Jamie Lee Carter. Wer war diese Frau? Sicherlich ein Model von Emmas Agentur, sonst hätte sie Jamie Lee nicht als Gast mitgebracht.
Jamie Lee fühlte sich mit einem Schlag von Liebe erfüllt und gleichzeitig von ihr verlassen. Ihr Blick traf sich mit dem von Sebastian Mauvais – es war die Hölle und der Himmel zugleich. Was war nur los mit ihr?
Face trat zu Sebastian. „Heute Nacht wird die Rakete gestartet“, berichtete er ihm leise.
Sebastian hörte seinem besten Freund nicht zu. „Ich muss sofort erfahren, wer sie ist. Einfach alles.“
Face folgte irritiert seinem Blick. „Von wem? Was alles erfahren?“ Er erzählte ihm, dass heute Nacht die Rakete gezündet wurde, und er wollte alles von einer Frau erfahren? Und dann sah er, wen Sebastian meinte. „Tja, was soll ich sagen? Für so eine Schönheit vergisst man schon mal unsere Operation, oder?“
Sebastian lächelte und seufzte. „Im Moment glaube ich, ist sie die weitaus gefährlichere Operation.“
Ihre Blicke trafen sich erneut und Sebastian spürte, dass etwas in ihm - mit ihm geschah. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, denn er spürte die ungeheure Macht, die von dieser jungen Schönheit ausging. Und er musste sie kennenlernen, egal was es ihn kostete.
Jean Pierre lachte und strahlte für alle Reporter. Als die Meute keine Lizenz mehr hatte und die Festlichkeit verlassen musste, nahm er an der Bar Platz und betrank sich.
Jemand streifte ihn am Arm, worauf er seinen Drink verschüttete. Er fluchte laut auf Französisch und bekam eine freche Antwort. Er stutzte und sah die wunderschönste Frau der Welt.
Jamie Lee schenkte ihm ein aufgesetztes Lächeln, nahm das Getränk und verschwand in der Menge. Blöder Schnösel.
Sie schlenderte durch die Menge. Es herrschte eine tolle Atmosphäre, denn die Reporter hatten keinen Zugang mehr zu dem Empfang. Nun fand die Party statt, jeder Gast konnte einfach Mensch sein und feiern.
Ganz in Gedanken versunken, die sich um Sebastian Mauvais drehten, erschrak sie im nächsten Moment, als jemand sie am Arm berührte.
Der Mann vor ihr hatte wahnsinnsblaue Augen. Die von ihrem Vater waren schon sehr intensiv, doch die, in die sie jetzt blickte, stellten alles Dagewesene in den Schatten.
„Entschuldigen Sie bitte, mein Boss möchte gerne mit Ihnen ausgehen.“
Jamie Lee zog amüsiert eine Braue hoch. „Ach? Und wer ist Ihr Boss?“
„Sebastian Mauvais.“
Ihr Herz pochte aufgeregt. Tja mein Junge, so nicht. Jamie Lee fuhr sich über ihre Lippen und sah den Mann ernst an. „Dann sagen Sie Sebastian Mauvais, ich habe kein Interesse.“
„Das wird er leider nicht akzeptieren, Miss Carter.“ Er fixierte sie mit seinen Augen.
„Da muss er dann wohl durch, einen schönen Abend noch.“ Sie machte auf den Absatz kehrt und ließ ihn stehen.
Face gesellte sich zu Sebastian. „Und? Wann darfst du sie morgen abholen?“, wollte er wissen.
Face seufzte und lehnte sich an die Theke. „Gar nicht.“
„Gar nicht?“, wiederholte er ungläubig.
„Ich habe ihr gesagt, dass du ein Nein nicht akzeptieren wirst.“
„Und ihre Antwort war?“
„Da musst du wohl durch.“
„Da muss ich wohl durch?!“, rief er lachend und verschränkte die Arme.
Face nickte. „Da musst du wohl durch.“
Sebastian entdeckte Jamie Lee, als sie den Raum betrat. Warum löste diese Frau Gefühle in ihm aus, die er nicht kannte? Er konnte jede Frau um den Finger wickeln, er hatte Geld, Charme, er sah gut aus, darauf standen alle Frauen. Aber anscheinend nicht das junge Ding.
Er hatte soeben eine neue Herausforderung gefunden.
„Tja, dann werde ich das mal persönlich in die Hand nehmen.“ Er rückte seine Krawatte zurecht. „Wo ist Jean Pierre?“
„Ich werde ihn gleich nach Hause bringen. Er ist voll.“
„Bringe ihn zu mir. Ich habe das dumme Gefühl, dass er sonst vom Dach springt. Verschließe das Loft und lass all seine Sachen zu mir bringen.“
„Wird gemacht. Ich bin in einer Stunde wieder zurück.“ Er hob die Hand zum militärischen Gruß.
Jamie Lee stand auf der Terrasse und blickte verträumt in den klaren Sternenhimmel. Sie vermisste Parker. Manchmal verfluchte sie den Tag, an dem sie von Jason verlangt hatte, ihren Vater ausfindig zu machen. Jetzt war es für Reue zu spät. Wie immer hatte sie ihr Versprechen nicht gehalten. Als sie Parker schwerverletzt im Krankenhaus gesehen hatte, hatte sie Neat um eine neue Identität gebeten, so dass Parker sie nie finden würde. Aber er war nun mal ein Agent und auch jetzt war es nur eine Frage der Zeit, bis er sie fand, besonders, da sie als Model jobbte. Warum machte sie nur alles falsch?
„Anscheinend muss ich Sie verhaften lassen“, erklang eine Stimme hinter ihr.
Sie drehte sich um. „Bitte?“ Sie war noch ganz in ihre Gedanken versunken.
Sebastian trat mit langsamen Schritten zu ihr. Seine mächtige Ausstrahlung ließ einen kalten Schauer auf ihrer Haut zurück. „Weil Sie mir ein Nein erteilt haben.“
Jamie Lee streckte provozierend das Kinn vor. „Da liegen Sie leider falsch, Sir. Ich habe Ihrem Lakai ein Nein erteilt. Nicht Ihnen.“
Er lachte über ihre Schlagfertigkeit. Alle bisherigen Frauen stimmten ihm sofort zu, gaben nie Widerworte, aber die junge Dame vor ihm hatte eine teuflische Zunge und das amüsierte ihn, machte ihn an. „Und deshalb bitte ich persönlich um ein Treffen.“ Er kam näher.
„Und ich lehne es hiermit persönlich ab, Mister Mauvais.“
Es war wie ein Schlag in den Magen. Er bekam doch immer was er wollte, und verdammt noch mal, er wollte diese Frau! „Sie ahnen nicht, was Ihnen entgeht.“ Nun stand er direkt vor ihr. Seine braunen Augen wirkten wie schwarze, glänzende Edelsteine.
Jamie Lee konnte den feinen Aftershaveduft riechen, der von ihm ausging. Verdammt, er roch so gut… sie kämpfte gegen ihre Gefühle an.
„Mister Mauvais, ich möchte eins klarstellen. Nur weil Sie der mächtigste, reichste und attraktivste Mann Torontos sind, heißt es nicht, dass alle Frauen auf Sie fliegen.“ Sie spitzte verführerisch die Lippen und ihre großen Augen funkelten ihn ebenso an. „Ich bin eine davon und glauben Sie mir, Mister Mauvais, Sie ahnen gar nicht, was Ihnen entgeht. Danke für Ihre Einladung, ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht.“
Sie war seinen Lippen gefährlich nah gekommen und wandte sich schnell von ihm ab. „Oh Gott, was habe ich getan?“, fragte sie sich selbst und lief eilig zum Ausgang.
Sebastian starrte ihr nach und lachte. „Na, immerhin findet sie mich attraktiv, schon mal ein Anfang.“
Zur gleichen Zeit irgendwo im Iran
Tagsüber brannte die Sonne, aber sobald die Sterne am Himmel erschienen, herrschte eine Eiseskälte.
Alfharat verließ das Zelt und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch bildete kleine Nebelwolken. Er lachte bei dem Gedanken, dass er bald drei Atomsprengköpfe besitzen würde, die er für Millionen auf dem illegalen Markt verkaufen konnte. Endlich frei, endlich reich. Der Blödmann in Kanada freute sich über irgendein Pharmazeug, das er aus einem russischen Labor geklaut hatte. Er fragte sich, wozu der Typ diese Suppe brauchte?
Er nahm einen erneuten Zug und die Glut erhellte sein Gesicht. Sollte ihm doch egal sein, er würde in einigen Tagen stolzer Besitzer der Atomsprengköpfe sein, und was der blöde Futzi mit der Chemiesuppe vorhatte, ging ihm am Arsch vorbei.
Ein leises Summen erfüllte die sternenklare Nacht.
Alfharat blickte nach oben, doch ehe er einen erneuten Zug nehmen konnte, wurde er von einer gewaltigen Druckwelle erfasst und verbrannt.
Um ihn herum, in der kalten Wüste, kochte alles.
London
„M’am, wir erhielten gerade die Nachricht, dass in der Wüste von Dasht-e-Kavir ein Zeltlager zerstört wurde“, berichtete Dean Fix aufgeregt.
„Ich hoffe, es waren keine englischen Pfadfinder unter ihnen“, scherzte sie trocken.
„Nein, es gehörte dem Waffenhändler Alfharat“, korrigierte er kleinlaut.
Nelly wurde hellhörig. „Bitte? Seit Monaten suchen wir ihn und plötzlich sprengt eine Bombe ihn zu uns? Was wissen Sie noch?“
„Unsere Scans zeigen, dass die Rakete aus dem Irak kam.“
„Aus dem Irak?“ Sie stutzte.
Dean nickte eifrig. „Ich kann Ihnen ungefähr zeigen, woher.“
Neat folgte Dean in die Zentrale und blickte zum großen Bildschirm. „Na, dann zeigen Sie mal.“
Dean begab sich an den Computer und Sekunden später konnte man die geographischen Umrisse vom Irak sehen. „Anscheinend handelt es sich um die in den achtziger, neunziger Jahren trockengelegten Sumpfgebiete. Man gab ihnen den Namen Antal Operation“, kommentierte er die Bilder.
„Und was ist jetzt mit den Sümpfen?“
Dean summte leise vor sich hin, tippte einige Daten ein und wartete auf das Ergebnis. „Äh… also das Antal Projekt wird derzeit aufgehoben. Es gibt Staaten, die Gelder spenden, um das Sumpfgebiet wieder zu bewässern.“
„Wer sind die drei größten Geldgeber?“
Seine Finger flitzen erneut über die Tastatur. „Hm… auf Platz drei sind die Japaner, gefolgt von den Russen.“ Er machte eine kleine Pause. „Aber das meiste Geld kam aus Kanada.“
„Aus Kanada?“ Nelly war verwirrt. „Können Sie feststellen, von wem genau?“
Er strahlte sie an. „Wenn Sie sich etwas gedulden, sicherlich M’am.“
Neat nahm Platz. „Die Zeit muss sein.“
Es dauerte keine drei Minuten, da erschienen zwei große, Schwarzweißfotos auf dem Monitor.
„Mister Investor und Sebastian Mauvais? Wer sind die beiden Männer und warum gibt ein Land, das auf der anderen Seite der Erdkugel liegt, so viel Geld für vertrocknete Sümpfe aus?“, fragte Nelly laut.
„Glauben Sie etwa, die haben etwas mit dem Anschlag zu tun?“
Neat verschränkte die Arme. „Holen Sie sofort Parker aus Russland zurück! Der soll das herausfinden.“
„Er ist gar nicht geflogen, M’am“, gab er kleinlaut von sich.
Sie lachte hart. „Wusste ich es doch. Dann sehen Sie zu, dass Sie ihn hierherbekommen, Dean“, ordnete sie im strengen Ton an. „Und ich möchte jede erdenkliche Kleinigkeit von Investor und Mauvais in einer Stunde auf meinem Schreibtisch sehen.“
***
Mist! Er konnte sich nicht erneut in das Programm einhacken. Es war zu stark geschützt. Sicherlich hatte Neat dafür gesorgt. Parker schloss alle Programme und musste sich etwas anderes einfallen lassen. Wieder zog er die schwarze Maske übers Gesicht und wagte sich auf den Flur. Hatte er nicht etwas gehört? Er hielt inne und blickte sich nach allen Seiten um. Nichts.
Plötzlich erklangen Schritte, sie wurden lauter, energischer. Wie aus heiterem Himmel traf ihn etwas in den Hals und ehe er reagieren konnte, stürzte er zu Boden. Ein Betäubungspfeil. Mit letzter Kraft zog er ihn heraus, ehe es schwarz um ihn herum wurde.
Langsam öffnete er die Augen. Seine Kehle war trocken. Er hörte Schritte, die wie Donnerschläge in seinen Ohren hallten. Sein Kopf dröhnte und sein verschwommener Blick blieb an schwarzen Lederpumps hängen. John kämpfte gegen den Brechreiz an, der sich in seinem Körper ausbreitete, und versuchte sich aufzurichten. Er schaffte es und lehnte sich gegen eine kühle Wand. Vor seinen Augen baute sich die Gestalt von Neat auf. Ein schwaches Lächeln huschte durch sein Gesicht. „Verdammt, Sie haben mich erwischt.“
Als Antwort warf sie ihm etwas vor die Füße. „Ich habe gefunden, was Sie suchen, Mister Parker.“
Mehr sagte sie nicht und ging.
John schüttelte den Kopf, um endlich klar denken zu können, und griff nach dem Etwas vor seinen Füßen. Es war eine Zeitschrift. Seine Übelkeit verstärkte sich, als er die Frau auf dem Cover sah. Es musste ein Engel sein, so wunderschön. Ihre großen, strahlendblauen Augen blickten ihn direkt von dem Hochglanzmagazin an.
Oh nein, oh mein Gott. Parker kippte zur Seite und kotzte.
„Verdammt Parker! Ich könnte Sie auf der Stelle rausschmeißen!“, ereiferte sich Neat vor Wut und lief völlig aufgebracht hinter ihrem Schreibtisch auf und ab.
Er saß wie ein Häufchen Elend vor ihr. In solch einem schlecht mentalen Zustand hatte sie ihn noch nie gesehen.
Er wurde krankenhausreif zusammengeschlagen, überlebte Vergiftungen, Rippenbrüche steckte er einfach so weg. Sogar den Tod von Sophia hatte er schnell verarbeitet. Doch die Sehnsucht nach seiner Tochter haute ihren besten britischen Agenten einfach um. Sie schüttelte den Kopf. „Was haben Sie sich nur dabei gedacht, in den unerlaubten Sicherheitstrakt einzubrechen!“
„Ich mache mir halt Sorgen, M’am“, gab er gequält von sich.
Neat verschränkte die Arme und sah ihn eiskalt an. „Um diese freche Göre machen Sie sich Sorgen? Ich glaube, die kommt schon alleine klar. Wie man sehen kann.“ Sie warf einen Blick zur Zeitschrift, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag.
„Ich habe seit Wochen nichts mehr von ihr gehört und dachte, also… ich dachte, dass sie jemand…“ Er verstummte und blickte auf den Teppich.
„Ach, dass irgendein Schurke auf der Welt sie entführt hat, um Sie, beziehungsweise das englische Königreich damit zu erpressen?“ Sie lachte hart.
Parker schwieg und starrte noch immer zu Boden.
Neat stützte sich auf dem Tisch ab. „Dass so etwas irgendwann passieren wird, ist Ihnen doch wohl klar, oder etwa nicht! Was meinen Sie eigentlich? Dass Sie schöne, heile Familienwelt spielen können? Sie sind mein bester Agent, das lass ich mir doch von keiner dahergelaufenen Göre vermiesen!“
Parker blickte zu ihr auf. „Ich werde meinen Dienst mit sofortiger Wirkung niederlegen, M’am.“ Seine Stimme klang wie ein Flüstern.
Nelly strich sich über die Stirn und stieß einen sehr lauten und genervten Seufzer aus. „Einen Scheiß werden Sie, Parker! Denn Ihre ach so süße Tochter ist in Kanada.“
„In Kanada?“, wiederholte er und musste sich ein freudiges Grinsen verkneifen.
Sie drückte einen Knopf, worauf die Leinwand aktiviert wurde. „Sie wurde auf einer Party von Sebastian Mauvais gesehen und dieser Mauvais hat eventuell mit einem Bombenanschlag auf den Iran zu tun. Der Waffenhändler Alfharat wurde letzte Nacht in der Wüste gegrillt“, klärte sie ihn auf, „und Ihr dämliches Grinsen können Sie sich sparen.“ Sie machte eine kleine Pause und fuhr fort. „Sie fliegen nach Toronto und forschen nach, ob ein gewisser Mister Investor und dieser Mauvais in die Sache verwickelt sein könnten und wenn, warum. Ihrer Tochter können Sie den Hintern versohlen und sie per Eilexpress nach London zurückschicken. Wenn nicht, sehe ich mich gezwungen Jamie Lee eine ganze Zeitlang wegzusperren“, endete sie emotionslos.
Parker erhob sich und trat zur Tür. Er hatte die Klinke schon in der Hand, als Neat zu ihm sprach.
„Und Parker? Sie wissen, ich scherze nie“, sagte sie mit Nachdruck.
Das Herz schlug hart in seiner Brust und er nickte kurz. „M’am.“
Toronto
„Tschau!“, rief Jamie Lee ihrer Crew zu und begab sich zum Lift. Sebastian… seit zwei Tagen spukte dieser Mann in ihren Gedanken und noch viel schlimmer, er bohrte sich in ihr Herz. Pffh… wenn er sie wirklich so toll fand, warum hatte er sich in den letzten Tagen nicht bei ihr gemeldet? Sie waren alle gleich, die blöden, geilen, reichen Böcke!
Die Lifttüren öffneten sich und sie trat durch die Empfangshalle nach draußen. Ein Polizeiwagen hielt direkt neben ihr. Mehrere Männer in Uniform stürmten zu ihr und ehe sie sich versah, drehte man ihr die Arme auf den Rücken. „Miss Carter? Sie sind verhaftet“, rief ihr ein Polizist zu.
Sie wehrte sich und verstand nur Bahnhof. „Was? Ich… warum? Was wird mir denn vorgeworfen?“
Der andere Polizist entriss ihr die Handtasche und wühlte darin herum. „Was, hey… was soll das! Was suchen Sie in meiner Handtasche!“ Sie hielt inne, denn der Beamte drückte ihr die Arme schmerzhaft zurück. „Sie brauchen einen Durchsuchungsbefehl dafür!“
Der Mann hielt ihr eine kleine Tüte entgegen, in der sich weißes Pulver befand. „Aha, und jetzt sagen Sie sicherlich, das ist das Backpulver Ihrer Oma.“
Jamie Lee stockte der Atem. Das durfte doch nicht wahr sein! „Das… das ist nicht mein Backpulver! Ich hab noch nicht mal eine Oma!“, rief sie außer sich vor Panik.
Der Polizist lachte und wedelte mit der Tüte vor ihrem Gesicht herum. „Klar, ich bin der Weihnachtsmann und in dieser Tüte befindet sich der Schnee für Weihnachten.“
Sie wurde in den Wagen gezerrt. Der Mann drückte ihren Kopf runter, damit sie sich nicht verletzte.
Jamie Lee konnte nicht fassen, was hier gerade geschah. Sobald sie auf dem Revier war, musste sie mit Emma telefonieren. Sicherlich konnte sie das Missverständnis aufklären. Hoffte sie. Oh Mann, warum immer sie!
„Das Zeug gehört mir nicht“, sagte Jamie Lee mit ruhiger Stimme.
Der Polizist glaubte ihr kein Wort, das konnte sie an seiner Mimik erkennen. „Ach nein? Deswegen haben wir es ja auch in Ihrer Handtasche gefunden.“
„Wie oft soll ich es Ihnen denn noch sagen. Ich habe Aufnahmen gehabt und meine Tasche lag die ganze Zeit unbeaufsichtigt in der Garderobe.“
„Kennen Sie Kate Moss?“, fragte er.
„Wen?“
„Sie kennen das berühmte Model Kate Moss nicht?“
„Natürlich kenne ich Kate Moss. Wer kennt die nicht?“ Sie verdrehte genervt die Augen.
„Ha, da haben wir es ja!“
„Ha, da haben wir es ja? Was - es ja?“ Sie sah ihn verwirrt an.
Er zeigte mit dem Finger auf sie. „Kate Moss hat auch schon mal Drogen genommen, also… sicherlich haben Sie den gleichen Dealer“, kombinierte er.
Sie ließ sich seufzend zurückfallen und schloss die Augen. Oh Mann, das durfte doch nicht wahr sein! „Ich möchte gerne telefonieren.“
„Ist verboten.“
„Wieso ist das verboten? Man darf immer telefonieren, das sieht man in jedem Film. Arnold und Sylvester machen das immer!“, protestierte sie lautstark.
„Sind das Ihre Dealer?“
„Was? Dealer? Ich habe keine Dealer. Verdammt noch mal! Ich will endlich telefonieren!“, schrie sie außer sich vor Wut.
Jamie Lee ließ sich auf die Liege fallen und grinste den Wärter durch die Gitterstäbe sarkastisch an. Sie durfte tatsächlich nicht telefonieren. War das zu fassen?
Nein, nein, nein. Wenn Emma davon erfuhr, war sie im Arsch. Ach, wenn die Presse davon Wind bekam, war sie völlig im Arsch. Sie schreckte von der Liege. Und wenn Parker davon erfuhr, war sie mehr als völlig im Arsch!
Drogensüchtige Agententochter! Sie zog eine Grimasse und trat gegen das klapprige Metallbett.
Schritte erklangen und sie hörte Schlüssel rasseln. Jemand donnerte ihr das Tablett mit Essen vor die Füße und ging wieder.
Huch! Was war das denn? Es gab ein leises Knacken und die Tür stand leicht offen. Sie wartete
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Lektorat: Stephanie Miller
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2015
ISBN: 978-3-7396-2645-1
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