Fogwood
Teil 1
Fluch der Wölfe
Von
Sandra Eckervogt
Covergestaltung:
Wolkenart
Marie-Katharina Wölk
www.wolkenart.com
Lektor: Jörg Querner, 75177 Pforzheim
Impressum = Copyright:©2014/2018 Sandra Eckervogt
Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Autors/Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten! Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis des Autors/Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mit Hilfe elektronischer und mechanischer Systeme, inklusive Fotokopien, Bandaufzeichnungen und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.
Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. Die Personen und Handlung des Buches sind vom Autor frei erfunden.
©Sandra Eckervogt 2014/2018
Dieses Buch widme ich all den Leseratten da draußen, die sich, genau wie ich, die Fantasie und die fabelhaften Träume von niemandem rauben lassen.
Sandra
Pembroke
Aller Anfang ist leicht …
Silence
Peinlicher Auftritt
Candy Shop
Bonbons aller Art
Shoppingtour mit Hindernissen
Luis macht blau
Basic Instinct
Der Ausflug
Scarlet und der böse Wolf
Das It - Girl
Hope
Böser Junge
Wer hat Angst vorm bösen Wolf?
Eiswaldfee?
Die bittere Wahrheit
Falsche Fährte
Schattenwolf
Das böse Erwachen
Das Portal
Einen besseren Tag als diesen hätte sie nicht wählen können, um das alles hier hinter sich zu lassen. Der Wetterbericht im Radio verhieß, dass genau heute der heißeste Tag im August werden sollte. Das Thermometer würde somit die magische Grenze von fünfundvierzig Grad knacken. Unvorstellbar.
Sie kniff die Augen zusammen und tastete nach ihrer großen Sonnenbrille, die sie sich in ihre Haare gesteckt hatte. „Oh Mann“, dachte sie. Warum waren die Menschen nur so scharf auf Hitze und Sonnenschein? Schon in ihrer Kindheit hatte sie die Hitze und den Sommer verflucht. Wenn ihre Freundinnen an den See gingen, um sich stundenlang von der Sonne braten zu lassen, zog sie es vor, im Schatten eines voll belaubten Baumes zu hocken. Sie setzte die Brille auf und verspürte sofort eine wohltuende Besserung ihrer Lichtempfindlichkeit.
Das Ergebnis ihrer Sonnenphobie war auch nicht zu übersehen: Ihre kalkweiße Haut war rein wie frisch gefallener Schnee, glatt wie eine von Meisterhand geschaffene Marmorstatue. Sie sah nicht krank aus, nein, sie sah nur… anders aus. Ihre Freundin Steffi sagte immer, das sei die moderne Blässe aus vorigen Jahrhunderten, als es bei den Frauen der Oberschicht als schick galt, eine weiße Haut zu haben. Doch die meisten nannten sie Kalkleiste, krankes Huhn, Freak und Eisprinzessin.
An diese Namen hatte sie sich schnell gewöhnt. Scarlet reagierte gar nicht mehr darauf, so dass ihren Peinigern mit der Zeit die Lust verging, sie mit diesen Schimpfworten zu titulieren, um sie damit zu ärgern.
„Hast du auch wirklich alles eingepackt, Scarlet?“, erklang die Stimme ihrer Mutter.
Scarlet drehte sich um und machte einen genervten Gesichtsausdruck. „Oh, Mom, das hast du mich jetzt schon zwölfmal gefragt.“
Xenia kniff ihrer Tochter sachte in die linke Wange.
„War es nicht schon zum zwanzigsten Mal?“
Scarlet grinste. Xenia war nicht ihre leibliche Mutter. Ihre wahren Eltern kamen kurz nach ihrer Geburt bei einem Autounfall ums Leben. Das Baby Scarlet befand sich mit in dem Unfallwagen und hatte wie durch ein Wunder diesen schrecklichen Crash überlebt.
Xenia und Kevin Halo adoptierten Scarlet im zarten Alter von sechs Monaten. Das Mädchen hatte keine großen Probleme damit, natürlich dachte sie öfter über ihre leiblichen Eltern nach, doch Xenia und Kevin waren die besten Eltern, die sie sich wünschen konnte. Und was man nicht kannte, vermisste man auch nicht.
Das war über siebzehn Jahre her.
„Und du bist dir wirklich sicher, in das kalte Kanada zu ziehen? Und das noch zu deinem Vater, der in einem Kuhdorf lebt?“, fragte ihre Mutter sie und zog zweifelnd eine Braue hoch. „Du warst noch nie dort. Vielleicht gefällt es dir gar nicht?“
„Ich bin mir ganz sicher, glaube mir, da fühle ich mich wohl. Dad hat mir viele Fotos gezeigt und viel von
Pembroke erzählt. Dieses Örtchen muss man einfach mögen. Die Hitze hier ist einfach nichts für mich“, stellte sie ihre Entscheidung klar.
Ihre Mutter seufzte schwer. „Ich hatte Ben gleich davon abgeraten, hier in den Süden zu ziehen, aber Job ist nun mal Job.“
„Ach Mummy, schon in Ordnung, wirklich, ihr braucht beide kein schlechtes Gewissen zu haben. Es ist meine alleinige Entscheidung gewesen, zu Kevin zu ziehen.“
Ein Auto fuhr vor und eine Hupe erklang. „Hey, ihr zwei Hübschen, es geht los!“, rief ihnen Ben aus dem Wagen zu.
Scarlet stieg hinten ein, ihre Mutter nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Die Fahrt zum Flughafen dauerte nur eine knappe Stunde. Sie verabschiedeten sich lange und ausgiebig. Zum Schluss lagen die drei sich in den Armen und weinten.
„Und wir telefonieren so oft es geht und du schickst mir regelmäßig eine E-Mail, hörst du!“, ermahnte Xenia ihre Tochter und schniefte erneut in das Taschentuch.
„Sicher, versprochen! Macht’s gut, ich hab euch lieb!“, waren ihre letzten Worte, bevor sie durch die Passkontrolle verschwand.
Xenia schmiegte sich an Ben. Ein tiefer Seufzer entsprang ihrer Brust. „Ob sie es wirklich schaffen wird? Ich habe Angst um sie, Ben.“
Ben drückte sie an sich und lächelte ihr aufmunternd zu. „Glaube mir, wenn es jemand schafft, dann unsere Scarlet. Und wir werden sie ja schon bald wiedersehen.“
Als sich Scarlet im Flieger an ihren Fensterplatz setzte und nach draußen blickte, erfüllte sie eine unbeschreibliche Freude. Sie konnte es kaum erwarten, in Kanada zu leben. Obwohl sie ihren Vater in Pembroke nie besucht hatte, fühlte sie sich zu dem Ort hingezogen. Die letzten Treffen, die die beiden hatten, verbrachten sie jeweils in Miami.
Irgendetwas hielt sie seit geraumer Zeit in Atem, aber es war ein positives, erwartungsvolles Gefühl, so, als hätte sie dort eine Aufgabe zu erledigen. Aber was sollte dass für eine Aufgabe sein, außer Hausaufgaben zu lösen? Sie kicherte. Nein, etwas anderes tobte in ihr. Seit Wochen hatte sie diese seltsamen Träume.
In ihrem Traum saß sie auf einem schwarzen Hengst und galoppierte durch einen Wald, es war nebelig und totenstill, doch plötzlich wurde diese Stille durch ein grauenhaftes Geräusch unterbrochen. Es hörte sich an, als würde ein Mensch vor Kummer und Schmerz schreien. Als sie zurück blickte, um zu sehen, woher die grauenhaften Schreie kamen, öffnete sich der Horizont. Er verdunkelte sich und ein schwarzes Loch erschien. Aus dem Loch kamen lange, schmutzige Finger, die in spitze, dreckige Fingernägel endeten… dann erschien ein weißes Gesicht, mit rotglühenden Augen.
Scarlet spürte diesen Blick und die davon ausgehende Hitze regelrecht. „Scarlet, wir werden uns schon bald sehen!“
Dann wachte sie jedes Mal schweißgebadet und außer Atem auf. Nun, es war nur ein Traum.
Sicherlich lag es an den vielen Fantasy-Romanen, die sie seit Wochen regelrecht verschlungen hatte.
Der Flieger hob vom Boden ab, stieg in den strahlend blauen Himmel und Scarlet war froh, dass sie der Hitze entkommen konnte. Es war schon seltsam, dass sie die Wärme nicht vertragen konnte. Die Ärzte teilten ihr mit, sich nicht zu sorgen, denn es gab einfach Menschen, die keine Äpfel, Kartoffeln, Alkohol, Milch oder Schokolade vertragen konnten und sie die Hitze nicht. Sie sei ansonsten kerngesund. Sogar mehr als das. Die Ärzte waren stets von ihrer perfekten Gesundheit überrascht. Scarlet hatte auch noch nie in ihrem jungen Leben eine Erkältung gehabt. Was sie manchmal ärgerte, denn so hatte sie in all’ den Jahren nicht einmal die Schule verpasst.
Scarlet fiel nach kurzer Zeit in einen traumlosen Schlaf.
Die Stewardess kontrollierte beim Landeanflug die Passagiere, ob deren Gurte angelegt waren.
Scarlett öffnete schlagartig die Augen und sah zu der Stewardess auf. „Ja, ich bin angeschnallt.“
Die junge Frau sah sie verwirrt an. „Bitte?“
„Na, Sie haben mich doch grad’ gefragt, ob ich angeschnallt bin“, antwortete Scarlet und musste ein Gähnen unterdrücken.
Die Frau lachte. „Nein, habe ich nicht, aber ich wollte dich gerade danach fragen. Ich konnte den Gurt nicht sehen, deine Jacke lag darüber. Dann ist ja alles in Ordnung. In zwanzig Minuten landen wir.“
Scarlet nickte und setzte sich aufrecht in den Sessel.
Hm? Komisch, sie war der festen Meinung, die Stimme der Stewardess gehört zu haben, laut und deutlich.
Ach, das war wohl, als sie sich im Halbschlaf befand und die Stewardess einen Passagier vor ihr angesprochen hatte.
Nach zwanzig Minuten setzte der Flieger sanft auf und rollte zu seiner Parkposition.
Ihre Beine fühlten sich nach dem langen Flug etwas taub an und sie war froh, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen fühlte.
Als sie die Gangway verließ, spürte sie, wie ihre Lunge automatisch einen kräftigen Zug frische Luft einsog. Es war wie ein elektrischer Schlag, der ihren Körper durchfuhr und es tat richtig gut. Endlich keine Hitze mehr! Es war wirklich die beste Entscheidung, nach Kanada zu ziehen. Scarlet lächelte erleichtert, sie freute sich, hier zu sein.
Der Flughafen lag in Ottawa, von dort holte sie ihr Adoptivvater Kevin Halo ab. Ihr Ziel hieß Pembroke, eine hübsche Kleinstadt, die direkt am Ottawa River und eine Stunde Wegzeit vom Flughafen entfernt lag.
Wie immer war auf Kevin Verlass, er wartete mit einem kleinen Blumenstrauß auf seine Ziehtochter.
Sicherlich hatte er die Blumen aus dem eigenen Garten gepflückt und diese mit einem roten Satinband zusammengebunden. Wie niedlich.
Scarlet blieb stehen und betrachtete ihren Adoptivvater aus sicherer Entfernung. Adoptivvater hörte sich immer negativ an, doch in ihrem Fall konnte Scarlet sich nicht beklagen. Er war als Arzt in dem kleinen Krankenhaus in Pembroke tätig.
Vor fast achtzehn Jahren arbeitete Kevin als Arzt im Pittsburger Krankenhaus, in welchem ihre Eltern damals nach dem schweren Unfall eingeliefert worden waren. Leider war jede Hilfe für die beiden zu spät gekommen.
Xenia arbeitete dort als Krankenschwester und war zu dem Zeitpunkt mit Kevin verheiratet. Beide hatten keine Chance, ein eigenes Kind zu bekommen, und so keimte in ihnen der Wunsch, die kleine, verlorene Vollwaise Scarlet zu sich zu nehmen.
Die Ehe hielt leider nicht lange, da Kevin als angehender Arzt Karriere machte und stetig umziehen musste. Xenia fand das sehr anstrengend und wollte Scarlet den häufigen Ortswechseln nicht zumuten, besonders nicht, als sie in das schulfähige Alter kam und Freunde hatte.
Scarlet behielt trotzdem stets einen sehr engen Kontakt zu Kevin. Beide verbrachten so viel Zeit miteinander, wie es sich nur einrichten ließ.
Scarlet seufzte glücklich und ging weiter auf das Gate zu.
Kevin bemerkte sie, worauf sein Gesicht förmlich erstrahlte. Sekunden später lagen sie sich in den Armen und drückten sich ganz fest.
Scarlet spürte seine ganze Liebe, sie spürte seinen erhöhten Puls und …
Argana, ich danke dir von ganzem Herzen, dass meine Prinzessin endlich wieder bei mir ist. Ich werde dich nicht enttäuschen und sie beschützen. Sie alleine kann uns retten.
Sie löste sich verwirrt von ihm und starrte in seine braunen Augen. Hatte sie ihn nicht gerade reden gehört? Retten? Wen sollte sie retten? Und beschützen? Wovor sollte ihr Dad sie denn beschützen? Und wer war Argana? Oh Mann, der Flug hatte sie tatsächlich aus den Socken gehauen!
„Dad, ich bin so froh, dass ich bei dir wohnen darf“, wechselte Scarlet schnell das Thema, bevor sie noch ganz durchdrehte. Sie brauchte ganz dringend ein Bett.
Er hob mit seinem Zeigefinger ihr Kinn und lachte.
„Hey, du wirst, erstens bei mir leben und zweitens finde ich es dick geflasht, dass es dein Wunsch ist.“
Scarlet lachte herzhaft, als sie den Ausdruck von ihm hörte. „Woher hast du denn den Ausdruck?“
Kevin machte ein wichtiges Gesicht. „Nun ja, ich habe extra ein paar Jugendliche gefragt, die auf meiner Station lagen, welchen Ausdruck man heutzutage so benutzt, um ein super cooles Wort anzuwenden.“
Ihre Antwort war, dass sie ihn erneut an sich drückte. Bewegt fühlte sie, wie ihre klaren, grünen Augen sich mit Tränen füllten. „Bestelle den Jugendlichen meine besten Genesungswünsche … der Spruch ist de luxe.“
Arm in Arm schlenderten sie zum Ausgang.
Bei einem schwarzen Pickup blieben sie stehen, Kevin verfrachtete ihr Gepäck und dann ging es los.
Pembroke.
Das Ortsschild tat sich vor ihren Augen auf.
Ein neuer Lebensabschnitt sollte beginnen, würde beginnen und noch vieles mehr…
Als sich Scarlet genau auf der Höhe des Schildes befand, durchfuhr sie ein eiskalter Schauer. Vor ihrem inneren Auge erschienen Personen, die sie noch nie im Leben gesehen hatte. Die Bilder verschwammen in einem feinen, schwarzen Nebel und sie konnte nichts mehr erkennen. „Scarlet! Bald werden wir uns sehen!“, hörte sie wieder die tiefe Männerstimme aus ihren Träumen.
Scarlet schüttelte ihren Kopf und blickte erschrocken in die Augen ihres Vaters. „Was?“
„Was?“, wiederholte er irritiert.
„Oh, ich war wohl für einen kurzen Moment eingenickt. Ich dachte, du hättest mit mir gesprochen“, säuselte sie und rieb sich die Stirn. Hatte sie etwa Kopfschmerzen? Sie verspürte einen leichten Stich im rechten Stirnbereich und die angenehme Kälte hatte sich in eine Art Hitzewelle verwandelt. „Darf ich das Fenster für einen Moment öffnen?“ Dabei klang ihre Stimme wie ein Flüstern, als hätte sie Angst.
Kevin lachte. „Aber sicher, du brauchst doch nicht zu fragen.“ Er machte eine kurze Pause und warf seiner Tochter einen besorgten Blick zu. „Der Tag war sehr anstrengend, gleich kannst du in einem wunderschönen Bett schlafen. Patty hat schon alles vorbereitet.“
Sie öffnete die Scheibe einen schmalen Spalt und spürte die kühle Abendluft, die wie ein kleiner Wirbelwind in das Innere des Wagens sauste, direkt in ihre geschwächten Lungen. Oh Mann, was war nur los mit ihr?
„Patty?“, wiederholte sie.
Ein Lächeln huschte um seine Mundwinkel und er hielt an einer roten Ampel an. „Oh ja, entschuldige bitte. Patty ist meine gute Seele, sie hält meinen Männerhaushalt in Ordnung. Du kannst dir ja sicherlich vorstellen, dass ich sehr viel Zeit im Krankenhaus verbringe.“
Scarlet nickte und schaute sich die Gegend an. Es war schon dunkel. Sie war noch nie in Pembroke gewesen und es gefiel ihr sofort. Die Häuser hatten alle denselben Baustil, alle mit gepflegten Vorgärten, weiße Gartenzäune umsäumten diese Blumenpracht peinlich sauber, so als wäre sie direkt in der Straße von „Desperate Housewives“, den verzweifelten Hausfrauen aus der berühmten Fernsehserie gelandet. Sie kicherte über diese Vorstellung. Aber wirklich, irgendetwas an dieser Kleinstadt war anders. Aber was? Sie gähnte, ach, es lag sicherlich an dem aufregenden Tag, den sie hinter sich gebracht hatte: Der Abschied von ihrer Mutter, der lange Flug nach Kanada und die Vorstellung, dass sie ganz plötzlich ein völlig anderes Leben führen würde, führen musste.
Was kam auf sie zu? Wie waren die neuen Schüler? Würden sie sich ebenfalls über ihre Blässe lustig machen? Würde sie wieder als Streberin gehänselt, weil sie so gute Arbeitsergebnisse vorweisen konnte, ohne groß etwas dafür zu tun? Oder war endlich mal alles anders? Besser?
Die Stunde Fahrt war wie im Fluge vergangen. Vater und Tochter hatten sich viel zu erzählen. Je mehr Scarlet die Nähe Kevins spürte, umso sicherer und wohler fühlte sie sich.
Als sie sein Haus, das nun auch ihr neues Zuhause sein würde, erreichten und sie die kleinen Lichter in den Fenstern sah, den gepflegten Vorgarten und die malerische Umgebung, wusste sie, es war die beste Entscheidung, die sie je getroffen hatte.
Sie fühlte sich - endlich - zu Hause.
Bevor sie das Haus betrat, drehte sie sich um, holte noch einmal tief Luft und spürte, wie sich ihr Körper freute.
Huch – was war das?
Hatte sie nicht etwas in dem Kastanienbaum aufblitzen sehen? So wie funkelnde Augen?
„Komm rein, oder willst du draußen dein Zimmer haben?“, rief Kevin ihr zu.
Scarlet schüttelte verwirrt den Kopf und warf einen letzten Blick zu der Stelle, an der sie das Blitzen gesehen hatte. Doch da war nichts – nichts außer dunkler Nacht. „Ich komme!“
Gerade, als sie die Tür schließen wollte, hörte sie eine Katze miauen. Sie lächelte und seufzte. Das hatte sie wohl gerade im Baum gesehen. Was auch sonst?
„Herzlich willkommen, liebe Scarlet!“, erklang eine feine Frauenstimme hinter Kevin.
Die Frau blieb vor ihr stehen und lachte sie an. Sie war circa fünfzig Jahre alt, hatte schwarzes, langes Haar, welches mit feinen, grauen Strähnen durchzogen war. Sie trug es mit einem Samtband zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Kleidung, die sie trug, erinnerte Scarlet an eine Wahrsagerin vom Rummel. Ihr Schmuck klimperte leise. Scarlet mochte Patty auf Anhieb. Sie strahlte eine Art Wärme und Vertrauen aus. „Hallo Patty, ich bin Scarlet.“
„Es freut mich sehr, dich endlich kennenzulernen. Kevin hat mir schon so viel von dir erzählt.“ Sie machte eine kurze Pause. „Möchtest du noch einen heißen Kakao oder etwas essen? Du warst lange unterwegs.“
„Nein danke, ich bin einfach nur müde und freue mich auf das Bett.“
Patty nickte und zeigte nach oben. „Na dann, ich hoffe, es gefällt dir.“
Sie folgte ihr die knarrende Holztreppe nach oben.
Der Flur war schwach beleuchtet und Scarlet verspürte keine Lust, heute die Tapete und jedes Bild oder Möbelstücke unter die Lupe zu nehmen. Sie würde die nächsten Jahre hier verbringen und hatte Zeit genug, alles zu inspizieren.
Patty öffnete eine weiße Holztür, die mit Schnitzereien versehen war. „So, bitte, dein neues Reich.“ Sie trat zur Seite und blieb in der offenen Tür stehen.
Scarlet ging langsam an ihr vorbei und blieb mitten im Raum stehen. „Wow! Es ist wunderschön…“, sprach sie leise, während ein glückliches Strahlen ihr hübsches Gesicht erhellte.
Kevin strich sich verlegen über den Nasenrücken. „Also die Bettwäsche… die habe ich… also ich habe sie ausgewählt. Gefällt sie dir?“
Sie trat direkt ans Bett. Die Bettwäsche war schneeweiß und moderne, braun-orange Muster waren darauf verteilt. „Sie ist super, Dad, echt spitze“, lobte sie ihn und meinte es aufrichtig.
„Dann lassen wir dich für einen Moment allein, schaue dich in Ruhe um. Du hast auch ein eigenes Bad, hier, direkt gegenüber.“ Patty deutete mit der Hand über den schmalen Flur.
„Ich bin begeistert, ich wollte schon immer ein eigenes Bad, danke!“ Sie lief zu Kevin und umarmte ihn. „Danke, vielen Dank!“
Kevin drückte sie für einen Moment ganz fest an sich und atmete ihren lieblichen Duft ein.
„Es freut mich sehr, dass du bei mir leben möchtest, Scarlet.“
Patty lachte und klopfte Kevin sachte auf die Schulter.
„Nun ist aber gut, jetzt lassen wir dich alleine. Ich schaue nachher noch mal vorbei, okay?“ Sie nickte ihr zu und beide entfernten sich.
Scarlet verharrte noch für einen Moment und ließ ihren Blick langsam und intensiv durch das Zimmer gleiten, so, als müsste sie sich alles haargenau einprägen.
Als Erstes fiel ihr der Traumfänger auf, der direkt über dem Ende des Kopfkissens befestigt war. Den hatte sicherlich Patty angebracht, es würde zu ihr passen. Scarlet ließ sich auf das Bett fallen. Hm, die Bettwäsche roch richtig schön frisch und war so weich. Sicherlich würde sie heute Nacht herrlich darin schlafen.
Und schon musste sie gähnen. Ein Blick auf ihre zierliche Armbanduhr verriet ihr, dass es fast 23.30 Uhr war. Sie stand wieder auf, schlenderte noch einmal durch das Zimmer, öffnete alle Schranktüren und Schubladen. So viele Sachen hatte sie gar nicht mitgebracht.
Es klopfte zaghaft und die beiden standen wieder in ihrem Zimmer. „Und? Alles zu deiner Zufriedenheit?“, erkundigte sich ihr Vater.
Scarlet machte ein grimmiges Gesicht und verschränkte die Arme. „Nö, mir fehlt die Playstation!“
„Play… ? Was fehlt?“, rief er entsetzt und warf Patty einen verwirrten Blick zu.
Scarlet lachte herzhaft. „War nur ein Scherz, nur ein Scherz, ehrlich… es ist alles super schön!“
Er atmete erleichtert auf und wuschelte sich flink durch die Haare. „Deinen Koffer stellen wir ins Zimmer, dann kannst du ihn morgen in Ruhe auspacken. Aber erst einmal schläfst du so lange wie du möchtest, hast du verstanden? Morgen ist Sonntag.“
Kevin hauchte einen Kuss auf ihre Wange. „Gute Nacht, Prinzessin.“
„Hey, du sollst mich doch nicht mehr so nennen, ich bin bald achtzehn Jahre alt!“, ermahnte sie ihn lächelnd und knuffte ihn in die Seite.
„Und das werden wir ganz groß feiern, versprochen, aber nun ab ins Bett!“ Er drückte sie erneut an sich. „Hab dich lieb, Kleines.“
„Ich dich auch, Dad… gute Nacht.“ Sie löste sich von ihm und gab Patty die Hand. „Danke, und dir auch gute Nacht.“
Patty schloss die Tür.
„Was ist eine Playstation?“, flüsterte Kevin.
Patty zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Frage doch deine jungen Patienten, die wissen das ganz bestimmt.“
Sie zwinkerte ihm zu und beide begaben sich nach unten.
Scarlet zog ihren kuscheligen Schlafanzug an und schlüpfte unter die Bettdecke. Sie gähnte herzhaft, wickelte sich in die Bettdecke ein und blickte zu dem Traumfänger hinauf. Er bewegte sich ganz sachte. „Auf dass du mich vor bösen Träumen schützen wirst. Gute Nacht!“ Ihre Hand wanderte zur Nachtischlampe und löschte das Licht.
Es dauerte keine Minute und sie schlief tief und fest.
Langsam öffnete sie die Augen und war im ersten Moment von der fremden Umgebung verwirrt. Dann fiel es ihr wieder ein und der Gedanke zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht. Sie war in Pembroke, bei ihrem Vater.
Als sie den Flur zum Bad überquerte, hörte sie die gedämpften Stimmen von Kevin und Patty. Leckerer Kaffeeduft stieg in ihre Nase.
Das Bad war das niedlichste Bad, das sie je betreten hatte. Alles war in einem feinen Altrosa gestrichen, die Möbel sahen aus, als stammten sie aus den fünfziger Jahren. Kleine Häkeldeckchen verzierten eine Kommode und viele urige Kerzenständer waren im Raum verteilt. An der linken Seite, in der Nähe des Fensters, stand eine weiße Badewanne, auf goldenen, kleinen Füßen. Scarlet ging zum Fenster und warf einen Blick hinaus. Sie konnte den Garten hinterm Haus sehen. Ein kleiner Fischteich war angelegt und ein weißer Pavillon lud zum Lesen ein. Sie seufzte zufrieden, es war wirklich eine super Entscheidung von ihr gewesen, hierher zu ziehen.
Nachdem sie sich im Bad fertig gemacht hatte, erschien sie gut gelaunt unten in der Küche.
„Ah guten Morgen, Prinzessin!“, begrüßte Kevin sie und umarmte seine Tochter.
„Du sollst mich doch nicht Prinzessin nennen“, erwiderte sie ihm freundlich.
Kevin gab ihr einen Stupser auf ihre fein geschwungene Nase. „Es dauert noch einige Monate, bis du achtzehn wirst, also werde ich dich noch so lange Prinzessin nennen.“
Sie verdrehte die Augen und seufzte. „Okay, aber nicht vor meinen neuen Mitschülern.“
„Freust du dich schon auf die Schule?“, fragte Patty und reichte ihr einen Teller mit goldbraunen Pfannkuchen.
„Nun ja, nur wenn die Schüler alle nett sind.“
„Wieso? Waren sie das denn in Miami nicht?“, hakte Patty nach.
Scarlet winkte ihre Bedenken mit der Hand weg. „Ach, solche Spinner gibt es halt überall.“
Kevin nahm ihr gegenüber Platz und nippte an seinem großen Kaffeepott. „Na nun sag schon, was war denn?“
„Hm… sagen wir es mal so. Manche Personen kommen mit meiner Blässe nicht klar.“ Sie schnitt ein Stück vom Pfannkuchen ab.
„Bitte?“, fragte Kevin völlig verwirrt.
„Dabei hast du die wunderschönste Haut, die ich je gesehen habe“, schwärmte Patty und nickte ihr zu.
„Oh, danke Patty. Wie gesagt, es stört mich nicht.“ Sie kaute fröhlich ihren Pfannkuchen. „Die sind doch nur neidisch.“
„Genau, lasse dir bloß nichts anderes einreden, Scarlet, du bist ein wunderschönes Mädchen. Ich schätze mal, die Jungs werden dir reihenweise Anträge machen“, lachte Kevin.
„Anträge!“ Scarlet verschluckte sich fast und hustete.
Patty setzte sich zu ihnen und goss sich Milch in den Kaffee. „Er meint, sie wollen sicherlich alle ein Date mit dir.“ Sie zwinkerte ihr zu.
Kevin kratzte sich am Hinterkopf. „Tja, ich glaube, ich muss meine jungen Patienten noch mehr in Sachen coole Ausdrücke ausfragen.“
Sie sahen sich an und lachten herzhaft los.
Nach dem Frühstück half Scarlet Patty im Garten beim Unkraut jäten und Beete säubern.
Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne schien und es war Gott sei Dank nicht heiß. In Pembroke herrschten sogar im Hochsommer nur um die fünfundzwanzig bis achtundzwanzig Grad.
In Miami kochte sicherlich schon alles.
„Wie wäre es, sollen wir eine kleine Radtour machen, dann kann ich dir Pembroke zeigen“, schlug Patty ihr vor, nachdem Kevin mittags zu seiner Schicht ins Krankenhaus gefahren war.
„Klar, bin dabei.“
Pembroke war wirklich eine malerische Kleinstadt. Circa siebentausend Einwohner lebten hier. Es gab einen großen Supermarkt, einen Baumarkt, viele kleine Geschäfte, drei Kirchen, zwei Kindergärten, ein kleines Krankenhaus, eine Feuerwehr, fünf Polizisten und drei Schulen.
„Auf diese Schule wirst du gehen.“
„Wow, das ist mal eine Schule! Klasse!“, schwärmte Scarlet, als sie vor einem vierstöckigen Gebäude stehen blieben. Das weiße Holzhaus stammte noch aus der Kolonialzeit, es war mit einem weißen Lattenholzzaun umgrenzt, viele bunte Blumen säumten den Steinweg zur Treppe, vier Säulen waren vor der breiten Eingangstür positioniert und große Eichen bildeten eine Allee zu den Parkplätzen.
Ihre Tour ging weiter. Sie schoben ihr Rad durch den Park und Patty traf viele Bekannte. Jedem wurde Scarlet vorgestellt, obwohl die meisten schon wussten, wer sie war. In der Kleinstadt hier sprach sich alles schnell herum.
„Komm, wir holen uns ein Eis“, schlug Patty vor. Sie stellten ihre Fahrräder ab.
Scarlet wartete mit Patty in der Schlange und ließ ihren Blick durch die Eisdiele schweifen. Sie spürte die Blicke der Gäste und dass man sich über sie unterhielt.
Ganz ruhig bleiben, lege ein megacooles Gesicht auf. Es ist ganz normal, wenn die glotzen, immerhin bin ich neu hier.
Dann waren sie an der Reihe. Ein Junge trat zu ihnen.
„Hallo!“
Scarlet schaute zu ihm auf und ihr stockte der Atem.
Hey, ein hübsches Kerlchen!
Der Junge war groß, hatte braunes, kurzes Haar und dunkelbraune Augen. Seine Haut war noch leicht gebräunt vom Sommer und feine Sommersprossen tanzten um seiner Nase.
„Was möchtest du?“, erklang die Stimme von Patty und Scarlet schüttelte den Kopf.
„Äh? Vanille, Vanille“, stotterte sie.
Der Junge grinste ihr süß zu und reichte ihr eine Waffel mit zwei Kugeln Vanille. „Bitte.“
Sie verließen die Eisdiele und nahmen auf einer Bank Platz.
„Ist das lecker!“ Scarlet schleckte an der Kugel und hatte wirklich noch nie so leckeres Eis gegessen.
„Ja, es ist die beste Eisdiele hier und sie machen auch die besten Torten und Süßigkeiten. Leider wird der Candy Shop renoviert, sonst hätte ich ihn dir noch gezeigt, aber da musst du dich noch gedulden.“
„Wenn das Eis schon so lecker ist, möchte ich nicht wissen, wie fabelhaft der Rest schmeckt.“
„Hallo Patty!“, rief jemand von der anderen Straßenseite.
Scarlet staunte nicht schlecht, als ein Mädchen in ihrem Alter und mit grünen Haaren vor ihnen stehen blieb. Sie war auch sonst sehr witzig und ausgeflippt angezogen. Sie trug sogar Schuhe, die unterschiedlich in der Farbe waren. Der linke Schuh war grün, der andere blau.
Das Mädchen blickte voller Neugier auf Scarlet hinunter.
„Ah, Mood, das ist Scarlet. Sie ist die Tochter von Kevin und wohnt seit gestern bei uns. Ihr geht auf dieselbe Schule. Scarlet, das ist Mood.“
„Mood?“ Sie zog fragend eine Braue hoch.
„Eigentlich Alyssa Mood, aber alle nennen mich nur Mood. Ah, und du bist die neue in Pembroke, klasse!“, freute sie sich und reichte Scarlet die Hand.
„Hallo Mood.“
„Freust du dich schon auf die Schule? Du brauchst auch keine Angst zu haben, die sind alle nett. Nun ja, ein paar Idioten gibt es natürlich und so ein paar obercoole Spinner, aber ich werde sie dir gleich am ersten Tag zeigen und dir Tipps geben. Wollen wir uns um viertel vor acht auf dem Parkplatz treffen? Was fährst du denn für ein Auto?“, plapperte Mood lustig drauf los.
„Ich komme mit dem Rad.“
Mood stutzte und sah sie für einen Moment an, als hätte sie Scarlet nicht richtig verstanden.
Patty lachte. „Mood, Scarlet möchte kein Auto.“
„Oh… kein Auto? Wie ungewöhnlich. Da wirst du das Gesprächsthema sein, cool!“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Na, dann treffen wir uns am Radstand, der ist an der linken Seite der Schule, okay?“
„Okay.“ Scarlet sah, dass ihr Eis sich verselbstständigte und schleckte an der Waffel entlang.
„Einen schönen Sonntag noch und wir sehen uns spätestens am Mittwoch, am Radstand, viertel vor acht.“ Sie wollte gerade gehen, als sie sich noch mal an Scarlet wandte. „Und du hast wirklich kein Auto?“
Scarlet schüttelte den Kopf.
„Okay, tschüss!“ Und dann rannte sie wieder zur anderen Straßenseite, stieg in einen Smart, der genauso bunt wie sie war und fuhr hupend los.
„Wer war das denn?” Scarlet betonte jedes Wort.
„Tja, unsere Mood, eine ganz süße Maus.“
„Eine sehr bunte Maus“, stellte Scarlet lachend fest.
„Mit ihr wirst du viel Spaß haben.“ Patty klopfte ihr auf die Schulter.
„Das glaube ich dir aufs Wort.“
Da Kevins Schicht bis zweiundzwanzig Uhr ging, aßen die beiden alleine zu Abend und setzten sich, nachdem sie alles aufgeräumt und gespült hatten, auf die Veranda.
Ein Nachbar gesellte sich nach einiger Zeit zu ihnen. Er stellte sich als Mark Graham vor, er besaß das Haus direkt links neben ihrem.
„Wie kommt es, dass ein so hübsches, junges Mädchen in diese Kleinstadt zieht?“, fragte er.
„In Miami war es mir einfach zu warm und zu hektisch“, antwortete sie höflich.
Mark lachte und nippte an seiner Flasche Bier. „Das nenne ich gleich zwei triftige Gründe. Herzlich willkommen, Scarlet.“ Er prostete ihr zu.
„Ich finde Pembroke niedlich.“ Sie dachte dabei an den süßen Eisverkäufer und grinste innerlich.
„Niedlich?“, wiederholte Mark entsetzt. „Es ist stinklangweilig hier!“
„Ach, Mark, das kann man so nicht sagen. Wir haben doch viel Spaß in Pembroke“, protestierte Patty mit sachter Stimme und zwinkerte ihm zu.
„Na, wenn du das Kürbisfest, das Erdbeerfest und das Apfelfest meinst, super!“ Er zeigte mit dem rechten Daumen nach unten und machte eine Grimasse.
Scarlet lachte. „Kürbis-, Erdbeer-, Apfelfest? Oh Mann, das klingt wirklich sehr aufregend.“
„Aber Halloween ist doch nun wirklich klasse.“ Patty gab noch nicht auf.
„Oh ja, da hast du recht, Halloween ist jedes Jahr das Ereignis!“ Er schaute sich nach allen Seiten um, so als könnte jemand lauschen, dann sprach er mit leiser, rauer Stimme. „Dann kommen die Geister aus den Wäldern und klauen hübsche, junge Mädchen.“ Er sah dabei Scarlet mit funkelnden Augen an.
Patty versetzte ihm einen leichten Knuff gegen die Schulter. „Ach jetzt hör mal auf… es wurde noch nie ein junges, hübsches Mädchen aus Pembroke entführt.“
„Es gibt aber eine Sage, die man sich seit vielen Jahren erzählt“, begann Mark und nahm einen erneuten Schluck aus der Flasche.
Scarlet beugte sich neugierig nach vorne. Sie liebte solche Schauergeschichten. „Oh ja, bitte erzähle sie.“
Patty verdrehte die Augen. „Und nachher kannst du nicht schlafen.“
„Ich habe doch den Traumfänger überm Kopfkissen, was soll da schon passieren?“, neckte sie Patty.
„Eben, was soll da schon passieren?“, wiederholte Mark mit einem spaßigen Unterton und wurde im nächsten Moment wieder todernst.
„Also… vor circa hundert Jahren lebte ein junges, sehr hübsches Mädchen hier in Pembroke. Was sie nicht wusste, sie war eine Prinzessin der Unterwelt und dazu bestimmt, das von dem bösen Herrscher belagerte Fogwood zu befreien. Doch natürlich wusste der böse Herrscher, dass sie die Auserwählte war und somit schickte er aus seiner Unterwelt einen Wolf im Schafspelz. Dieser junge, sehr gutaussehende Mann erschlich sich mit List und Tücke das Vertrauen des Mädchens.“ Er machte eine dramatische Pause und sprach dann weiter. „Das Mädchen verliebte sich in den Wolf, ohne zu ahnen, wer er wirklich war.“
Patty kicherte leise, worauf sie sich einen strafenden Blick von Mark und dann von Scarlet einfing.
„Tschuldigung“, säuselte sie und umklammerte ihr Rotweinglas.
„Und?“, hakte Scarlet nach. Sie spürte, wie sich ihr Puls erhöhte.
„Zum Ärgernis des dunklen Herrschers, verliebte sich der böse Wolf in das Mädchen, er konnte sie nicht töten.“
„Aber der Herrscher hat es doch sicherlich gemerkt.“
„Eine Zeitlang nicht, denn beide besaßen eine Art Kraftfeld, das die wahren Gefühle abschirmte.“
„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, warf Patty dazwischen.
Mark seufzte und lehnte sich zurück. „Man sagt, beide haben sich vergiftet und wären in Fogwood zu einer Stelle gegangen, die der dunkle Herrscher nie betreten könnte, da sie voller Magie und Liebe war.“
„Oh.“ Scarlet war sichtlich bedrückt.
„Es soll die Stelle wirklich geben. Es gab Jäger, die so tief in Fogwood waren und die Grabstätte der beiden gesehen haben.“
„Wo liegt Fogwood?“, fragte Scarlet.
„Nicht weit von hier, die Ausläufer des Waldes beginnen gleich hinter Pembroke.“
Scarlet riss die Augen auf. „Fogwood gibt es wirklich?!“
Mark nickte und drehte die Flasche Bier in seinen Händen. „Ja, aber die meisten trauen sich nicht dort hin. Es ist auch meist nebelig, wie der Name schon sagt. Die Jäger haben die Jagd dort aufgegeben, zu wenig Wild.“
„Eine schöne Geschichte, Mark“, sagte Patty und goss sich einen Schluck Wein nach.
Ein Wagen fuhr vor. Kevin.
„Ah, der Herr des Hauses ist zurück, na dann…“ Er stand auf und blickte zu Scarlet hinunter. „Also nehme dich vor gut aussehenden Wölfen in acht.“ Er zwinkerte ihr zu. „Gute Nacht, Patty, Scarlet.“
„Klar, mache ich. Gute Nacht.“
„Guten Abend, Mark, na, hast du wieder die Wolfgeschichte erzählt?“, neckte Kevin seinen Nachbarn und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
„Du kennst mich doch.“
„Eben, gute Nacht, Mark. Bleibt es bei morgen Abend zwanzig Uhr?“
„Klar, ich komme und bringe das Bier mit.“ Er hob die Hand zum Abschied und verschwand in seinem Haus.
„Hallo Dad!“ Scarlet lief ihm entgegen und umarmte ihn. „Wie war dein Tag?“
„Sehr gut, es ist nichts Schlimmes passiert. Und? Wie war euer Tag?“, erkundigte er sich.
Scarlet begann alles genau zu berichten, während Kevin in der Küche saß und das leckere Abendessen verputzte.
Es war Mittwochmorgen.
Patty war aufgeregter als Scarlet. Sie lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Küche und kippte zweimal ihre Kaffeetasse um.
„Und es ist wirklich in Ordnung, dass du kein Auto hast?“, vergewisserte sie sich, denn die Anspielung von Mood ging ihr nicht mehr aus dem Sinn.
Scarlet stieß lächelnd einen Seufzer aus. „Wirklich, ich liebe es, mit dem Rad zu fahren.“
Patty seufzte und drückte Scarlet an sich. „Ich wünsche dir einen wunderschönen ersten Schultag.“
Scarlet schwang sich auf das rote Damenrad und genoss es, in den frühen Morgenstunden völlig frei und tief einatmend durch die fast leeren Straßen von Pembroke zu radeln. Die Sonne versteckte sich noch hinter der einen Seite der Erdkugel und tauchte den Himmel in wunderschöne, feine Pastellfarben. Die Vögel zwitscherten vergnüglich ihr Morgenlied.
Je näher sie der „Innenstadt“ und den Schulen kam, umso mehr Trubel herrschte auf den Straßen und Gehwegen.
Als sie den Radstand erreichte, war es exakt sieben Uhr dreiundvierzig. Scarlet bremste und blieb abrupt stehen. Der Radstand lag vor ihr und er war – vollkommen leer. Nicht ein Rad war zu sehen, nicht ein einziges.
Oh Mann, Mood hatte recht mit ihrer Äußerung. Wow, mein erster Schultag und ich falle gleich negativ auf. Eine neue Schülerin, die mit dem schnittigen, roten Damenrad angeradelt kam, sicherlich eine Streberin vor dem Herrn. Eine blasse Ökotante. Supi.
Es gab kein Zurück. Wie in all den anderen Jahren hatte sie gelernt, ein cooles Gesicht zu machen. Sie hatte gerade die Kette um das Rad gelegt und den Schlüssel verstaut, als jemand bei ihr stehen blieb.
„Ich glaube es ja nicht! Du bist echt eiskalt mit dem Rad da! Wow!“
Scarlet starrte auf koboldblaue Haare. „Mood?“
„Du bist echt jetzt schon die Attraktion an der Schule, das sei mal gesichert!“ Sie kaute fröhlich auf einem Kaugummi herum.
„Deine Haare… sie sind… so blau?“
Mood kicherte und ließ eine große blaue Kaugummiblase zerplatzen, die Masse verteilte sich bis auf ihre Stirn. Sie schleckte es in Sekunden weg und nickte. „Ja, heute ist mir nach blau, und wie findest du es?“
Scarlet zuckte mit den Schultern und suchte nach den passenden Worten, außer: „Nun ja, halt blau“, fiel ihr nichts Passendes ein.
Mood störte es gar nicht, sondern sie hakte sich bei ihr unter und plapperte die ganze Zeit über die Schule. Wer die Lehrer waren, welche davon bescheuert waren, welche super cool, welche Schüler und Schülerin es gab und so weiter und so weiter. Nach der dritten Stunde liefen die beiden nicht mehr alleine plappernd durch die Schule, sondern die Freundinnen von Mood klinkten sich mit ein.
Das waren Jill, Betty, Susan und Pixie.
In der Mittagspause traten sie in die Kantine. Wie schon den ganzen Tag über wurde Scarlet auch hier von Kopf bis Fuß gemustert.
„Das ist übrigens Rebecca, unser It Girl.“ Mood deutete mit einer Kopfbewegung auf drei Mädchen, die sich gerade an einen Tisch setzten. Eine davon stach Scarlet sofort ins Auge, da sie sehr stylisch angezogen war und sehr hübsch.
„It Girl?“, wiederholte Scarlet.
„Ja, weil sie immer die neusten Klamotten trägt.“
„Ich finde die ist viel zu stark geschminkt, sieht voll unnatürlich aus“, lästerte Pixie.
„Und voll eingebildet“, ergänzte Susan.
Sie nahm an einem Tisch Platz und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, als sie plötzlich einen verstärkten Herzschlag verspürte. Oh Mann, den Jungen kannte sie doch? Es war der Typ aus der Eisdiele. Er ging auf ihre Schule… äh, sie ging auf seine Schule?
Mood bemerkte ihren Blick und lächelte. „Ah, wie ich sehe, hast du unseren niedlichen Eisverkäufer Chris entdeckt.“
Scarlet fühlte sich ertappt und sah verlegen auf ihren Teller. „Stimmt, daher kenne ich ihn“, tat sie unschuldig.
Betty stopfte sich eine Gabel Salat in den Mund. „Niedlisch… abher… totahl… unschnabahr.“
Chris schaute direkt zu ihrem Tisch und merkte, dass Scarlet zu ihm hinüberblickte. Es war so, als hätte er ihr zugezwinkert. Scarlet starrte fix auf ihre Gabel und stach ein Blatt Salat auf. „Ja, niedlich.“
Die Mädels sahen sich gleichzeitig an und lachten dann los.
Scarlet aß zu Ende und hatte es tatsächlich geschafft, nicht zu Chris zu schauen. Zum Schluss riskierte sie doch einen Blick. Sie sah, dass zwei weitere Jungs bei ihm am Tisch saßen. Ebenfalls sehr hübsch, alle hatten dieselben dunklen Haare und gleichen Gesichtszüge, als wären sie Brüder.
„So, wir müssen wieder. Chemie fängt pünktlich an, sonst flippt der Cassidy wieder aus.“ Mood stand als Erstes auf, die Mädels folgten ihr und als Scarlet zu Chris blickte, war der Tisch leer.
Eigentlich hatte Scarlet viele Fragen, doch sie fand es unpassend und peinlich, schon nach drei Stunden an einer neuen Schule, Typen genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie sah das denn wohl aus? Und dann noch ohne Auto zur Schule? Wirklich jeder Schüler und jede Schülerin, kamen mit dem eigenen Auto vorgefahren. Vom GMC, Ford, Mercedes, BMW und was es sonst noch an diversen Automarken gab, war hier alles vertreten, aber sie wollte ja unbedingt ein rotes Damenrad.
Die Chemiestunde verlief langweilig. Ihr direkter Nachbar war Josef Letherman, er trug eine Hornbrille, hatte einen Pisspottschnitt und sehr unmodische Kleidung an. Dazu kam noch, dass er altklug war und Scarlet die ganze Stunde über beweisen musste, wie schlau er doch war, und sie das Glück hatte, ihn als Sitznachbarn in diesem Kurs zu haben. Da es ihr erster Tag war, beschloss sie, ihm erst nach einer Woche das dicke Chemiebuch auf den Kopf zu schlagen.
Nach dieser Stunde hatte sie noch drei weitere, zwei davon waren Mathe und die letzte Stunde Geschichte.
In Mathe war sie wieder mit den Mädels vereint. Die Lehrerin Misses Portman war sehr nett und lustig drauf, im Gegensatz zu den männlichen Kollegen, die Scarlet bis jetzt kennengelernt hatte. Die zwei Stunden vergingen wie im Flug und die Geschichtsstunde zog sich leider wie das Kaugummi von Mood, in die Länge.
Als die Klingel ertönte, rannten alle schreiend aus dem Zimmer.
Scarlet ging mit den Mädels zum Parkplatz und staunte nicht schlecht, als sie fünf Smart sah, jeder mit einer anderen Farbe und die exakt nebeneinander standen.
„Ihr fahrt alle Smart?“, fragte sie überflüssigerweise.
Den von Mood hatte sie schon am Sonntag bewundern können, regenbogenmetallic. Nun ja, jeden Tag einen Smart, der zu ihrer aktuellen Haarfarbe passen würde, wäre wohl zu teuer gewesen. Da war regenbogenmetallic die günstigste Variante.
„Und du hast wirklich ein rotes Rad?“, fragte Susan und schaute sie an, als wäre es ein schlechter Scherz.
Scarlet nickte nur stumm.
„Na und? Sie ist wenigstens um unsere Umwelt besorgt“, versuchte Mood sie in Schutz zu nehmen.
Jill öffnete ihren Wagen und lachte hart. „Pffh, als wenn man hier in Pembroke noch was retten könnte.“
Betty blieb stehen. „Also, ich finde, dass Pembroke sehr schön und grün ist. Vielleicht sollten wir alle mal einen Tag im Monat nicht mit dem Auto fahren?“
Jill und Susan verdrehten die Augen, Pixie und Mood kicherten über den Vorschlag von Betty.
„Na, ich werde dann mal auch losgehen. Mein roter Flitzer wartet.“ Scarlet hob die Hand und ging zum Radstand.
Ihr roter Flitzer stand noch immer ganz alleine dort.
Sie schaute sofort nach, ob die Reifen platt waren, damit hätte sie an ihrem ersten Tag gerechnet, doch zu ihrer Überraschung waren die Reifen stramm und sie radelte nach Hause.
Sie erreichte eine Kreuzung, hielt die Hand rechts heraus und wechselte die Fahrbahn, als es plötzlich schrill und laut hinter ihr hupte. Scarlet wäre fast vom Rad gefallen, so sehr erschrak sie.
Ein silberner Porsche fuhr direkt auf ihrer Höhe, darin saß ein junger Schnösel und fluchte. „Sag mal, hast du blöde Kuh keine Augen im Kopf! Du kannst doch nicht mit deinem scheiß Rad hier auf der Straße fahren!“
„Dir gehört die Straße nicht alleine!“
Der Bengel rang mit seiner Fassung und schimpfte weiter auf sie ein. „Ich glaube, ich ticke nicht richtig! Du alte Ökotante… verpiss dich sofort von meiner Straße!“
Scarlet bremste ab und fuhr nun ganz langsam vor ihm her.
Der Typ kochte vor Wut, das konnte sie regelrecht spüren. Er haute mehrmals auf die Hupe, doch Scarlet dachte nicht im Traum daran, ihm Platz zu machen.
Sie sah die grüne Ampel und schaffte es noch, durchzukommen, der Blödmann leider nicht.
Er stieg voll in die Eisen und fluchte noch zig Schimpfwörter in die Umgebung.
Scarlet radelte weiter. Sekunden später hörte sie, dass ein Wagen mit hohem Tempo angerauscht kam. Sie blickte sich um und der böse Porschefahrer war wieder präsent. „Mist!“
„Ey, ich will deinen Namen wissen!“, rief er.
Scarlet antwortete nicht und setzte mit dem Rad zur Sicherheit auf den Gehweg über.
„Sag mal, hast du schlechte Ohren? Ich rede mit dir, du Schlampe!“
„Aber ich nicht mit dir!“, schallte es zurück.
Der Typ gab plötzlich Gas und hielt einige Meter vor ihr am Straßenrand, stieg aus und versperrte ihr den Weg.
Scarlet fackelte nicht lange und jumpte mit dem Rad vom Gehweg und trat in die Pedale. Das durfte doch nicht wahr sein? Und das an ihrem ersten Schultag!
Nun reichte es dem Jungen und er rannte hinter ihr her. „Bleib sofort stehen!“
Scarlet traute ihren Augen nicht, als sie sah wie schnell der Blödmann ihr folgte und legte ebenfalls an Tempo zu.
„Du sollst gefälligst stehen bleiben!“ Er kam gefährlich näher.
Sie biss die Zähne zusammen und holte alles aus dem Drahtesel heraus. Sie bog haarscharf um die nächste Kurve und wählte erneut den Gehweg. Dann geschah es. Scarlet konnte in letzter Sekunde zwei kleinen Jungs ausweichen, die ihr entgegen kamen. Die Jungs erschraken und sprangen entsetzt zur Seite. Ihr Verfolger konnte nicht so schnell reagieren und stieß mit den beiden zusammen. Alle drei schrien und fielen zu Boden. Beide Jungs hatten jeweils ein Eis in der Hand, welches sie durch den Zusammenstoß fallen ließen. Das erste Eis klatschte auf das teure Shirt des Porschefahrers und das zweite landete in seinem Gesicht. „Ich bring dich um!“, schrie er und stand auf. Dann wandte er sich den Jungs zu und hob drohend den Zeigefinger. „Wehe einer von euch erzählt das herum, dann mache ich euch fertig! Habt ihr mich verstanden?“
Die Jungs schienen Angst zu haben und nickten stumm. Sie kannten Johnny Colby, er war der Sohn des Bürgermeisters und bekannt dafür, dass er Leute schikanierte.
Als sie zu Hause ankam, stürmten sofort Patty und Kevin nach draußen. „Und? Wie war es?“, begann Patty das Fragespiel.
„Alles okay?“, schloss sich Kevin der Fragerei an.
„Sind alle nett zu dir?“ Patty.
„Welche Lehrer hast du denn?“ Kevin.
„Ist das Kantinenessen auch gut genug für dich?“ Patty.
„Hat dich jemand angegriffen?“ Kevin.
„Dir ist doch nichts passiert!“, rief Patty entsetzt.
Scarlet riss die Augen auf. Was war denn hier los?
„Hallo?“, sagte sie zu den beiden.
Beide verstummten.
„Hallo?“, wiederholte Kevin pikiert.
Scarlet lachte schallend los und stellte das Rad in die Garage. Die beiden folgten ihr und sahen sie mit Fragenzeichen in den Augen an.
Scarlet seufzte. „Also… es war sehr gut. Es ist alles okay. Es sind fast alle nett zu mir. Cassidy, Portman, Diego sind meine Lehrer.“
„Cassidy ist doof“, warf Kevin stumpf ein.
„Musst du sie immer unterbrechen“, ermahnte Patty ihn.
„Der Salat aus der Kantine war sehr gut, aber dein Essen ist wesentlich besser.“
„Siehste… sag ich doch, dass die mal einen neuen Koch brauchen, die alte Emma hat doch keine Ahnung von gesunder Kost!“, schnaufte Patty und verstummte augenblicklich, als sie den genervten Blick von Kevin erhaschte. „Tschuldigung.“
„Mich hat auch niemand angegriffen und somit ist auch nichts passiert“, endete Scarlet und pustete laut aus. Das war zwar gelogen, aber den unschönen Zwischenfall mit dem unbekannten Porschetypen wollte sie nicht erwähnen.
„Siehste, habe doch gleich gesagt, du machst dir viel zu viele Sorgen, als wenn meine Prinzessin nicht klarkommen würde!“, rief er entnervt aus.
Scarlet schüttelte den Kopf und ließ die beiden Streithähne an der Garage stehen.
Sie erledigte als erstes ihre Schulaufgaben und schrieb dann ihrer Mutter eine E-Mail.
„Der erste Schultag war klasse. Habe schon ein paar Mädels kennengelernt, die supi nett zu mir sind und jede von ihnen hat einen eigenen Smart, in einer anderen Farbe natürlich. Aber keine Angst, ich will kein Auto haben, ich habe ein rotes Damenrad, es ist zwar nicht mehr das neuste, aber es hat eine schnittige Straßenlage. Habe gerade meine Hausaufgaben erledigt und helfe gleich Patty im Haushalt. Grüße Ben ganz lieb von mir. Ich vermisse euch und bis die Tage. Eure Scarlet.“
Na, mit dem Vermissen log sie ein bisschen, ehrlicherweise musste sie sich eingestehen, in den letzten Tagen kaum an ihre Mutter gedacht zu haben. Aber das lag sicherlich daran, dass alle Eindrücke neu waren und sie es verarbeiten musste.
Gegen späten Nachmittag fuhr Scarlet mit Patty einkaufen und um zwanzig Uhr kam Mark zum Footballspiel schauen herüber.
Als das Spiel zu Ende war und das Team von Ottawa als Sieger das Feld verließen, verabschiedete Scarlet sich und ging zu Bett.
Mal sehen, was mich morgen in der Schule erwartet. Es war eigentlich zu einfach für den ersten Tag.
Sie löschte das Licht und schlief schnell ein. In ihrem
Traum sah sie Mood mit pinken Haaren, die so eine große Kaugummiblase machte, mit der sie zum Himmel flog. Dann zerplatzte die Blase und Mood kam mit einem blauen Kaugummifallschirm auf den Schulhof geflogen. Danach wollten alle Schüler einen blauen Kaugummifallschirm haben.
An diesem Morgen war Patty nicht mehr so aufgeregt. Es wurde nur eine Tasse Kaffee von ihr verschüttet. Sie wünschte Scarlet einen schönen Schultag. Ihr Vater war schon früh aus dem Haus, wie gestern.
Scarlet radelte vergnügt zur Schule und bremste sachte ab, als sie einen silbernen Porsche vorfahren sah, in dem kein anderer saß, als Mister Großkotz von gestern. Da hatte sie ihren Schulsalat! Er ließ die Sache von gestern sicherlich nicht auf sich beruhen. Solche Typen kannte sie nur zu gut.
Sie schloss ihr Rad ab und hoffte sehr, dass sie es nach der Schule in einem Stück vorfinden würde.
Als sie einen Blick zum Parkplatz warf, sah sie die fünf Smart in korrektem Farbverlauf nebeneinander stehen. Und auf einem extra schönen Platz stand der silberne Porsche Cabrio, gleich daneben dasselbe Modell in schwarz. Oh, hatte Mister Großkotz etwa einen Bruder?
Sie schob ihre Bedenken beiseite und sah ihre Mädels winkend am Eingang stehen.
„Guten Morgen, Scarlet!“, begrüßten die fünf sie gut gelaunt.
„Sagt mal, wem gehört denn der silberne Porsche?“ Sie hoffte, die Frage klang beiläufig.
„Ach, dem größten Arschloch in Pembroke“, schoss Susan gleich los.
Na super, genau das wollte ich hören.
„Johnny Colby. Sein Vater ist Bürgermeister von
Pembroke und darauf bildet er sich ganz viel ein“, erzählte Betty mit einer bösen Miene.
Na, das wird doch immer besser! Der Sohn des Bürgermeisters!
Mood kicherte. „Johnny ist doch echt der Meinung, dass sie mit den Colbys aus dem Fernsehen verwandt sind. Verstehste? Denver Clan und die Colbys?“
Mann, ist der blöd. Aber blöde Menschen sind meistens am gefährlichsten, diese Erfahrungen habe ich leider schon öfter gemacht.
„Wieso fragst du eigentlich?“, wollte Susan von ihr wissen.
Scarlet blies die Backen auf und stotterte herum. „Ach nur so, also weil er den einzigen silbernen Porsche hat,… hat mich… einfach so interessiert.“
Mood legte kameradschaftlich den Arm um ihre Schulter.
„Den vergiss mal wieder ganz schnell,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Lektorat: Jörg Querner, Pforzheim
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8184-6
Alle Rechte vorbehalten