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Fremde Weihnacht

„ICH WIIIIILLLLL ABBBBER SCHNEEEEEEE!!!“
Weit aufklaffend der brüllende Kindermund. In der unerträglichen Frühstückshitze sind ihre Tränen kaum von den Schweißperlen zu unterscheiden, die ihr aus den hellblonden Locken über die Stirn perlt.

„Ich sag’s dir jetzt zum allerletzten Mal:
Hier.
Gibt.
Es.
Keinen.
Schnee!“


Eine überspannte Violinsaite ist nichts im Vergleich zu meinen Nerven. Was aber richtet eine Erwachsenenstimme aus gegen den Urschrei der Entrüstung aus der Brust einer Vierjährigen? Seit einer knappen Woche weiß unsere Tochter es jetzt: in diesem Jahr werden wir Weihnachten nicht zuhause in Deutschland verbringen - wir können uns den Interkontinentalflug von Sydney nach Frankfurt nicht leisten.

Stattdessen hat Opa Karlstadt beim letzten Telefonat im Nebensatz fallen gelassen, dass er auf seiner Geschäftsreise nach Japan „den kleinen Umweg über Australien“ gern in Kauf nimmt, um seine geliebte Maus Katha und sein Schnuppelhäschen Anne-Madeleine zu Weihnachten zu besuchen.


Seit seine Frau Elvira letztes Frühjahr ganz unerwartet an einem geplatzten Hirnarterienaneurysma gestorben ist, stürzt sich mein Schwiegervater wieder in seine Arbeit. Die hatte er eigentlich schon mehrere Jahre zuvor aufgegeben, um sich mit Elvira ganz seinem Hobby widmen zu können.

Opa Karlstadt, mein Schwiegervater Marvin, sammelt fossile Baumarten, so wie andere Menschen Briefmarken sammeln. Mit dem einzigen Unterschied, dass der Ex-Banker und jetzige Hobbyarchäologe Marvin dafür im Schnitt neun Monate des Jahres in fernen Ländern verbringt.


Nebenbei häuft er damit genügend Flugmeilen an, um einmal jährlich einer Kleingruppe kriegsgeschädigter Kinder den Hin- und Rückflug zur Spezialbehandlung in Schweizer Kliniken zu spendieren. Soll er, soll er doch, meinetwegen! Katha verdächtigt mich des Sozialneids, wenn ich einfach nur mal erwähne, dass Marvin einen Teil seiner Knete nicht ganz unzweideutigen Börsengeschäften verdankt.

„Willst du damit seine Großzügigkeit in Zweifel ziehen? Musst du Papa immer schlechtmachen, nur weil du selbst kein Bein auf den Boden kriegst mit deiner Kunst?“ Wenn meine Frau über meine „Kunst“ redet, malt sie jedes Mal mit beiden Zeigefingern imaginäre Anführungsstriche in die Luft und zieht einen Mundwinkel zu einem spöttischen halben Grinsen hoch.


Durch solche feinen Spitzen lasse ich mich nicht mehr irritieren. Ich weiß, dass meine nach sorgsam recherchierter Vorarbeit erstellten Kunstwerke sich in Kennerkreisen herumgesprochen haben. Die potenziellen Käufer warten halt nur die derzeitige Wirtschaftsflaute ab, bevor sie zuschlagen.

Dann werden die Preise für meine Installationen selbst für solche Schnösel wie meinen Schwiegervater kaum noch zu zahlen sein! Deutsche Künstler werden zurzeit hoch gehandelt, da werde auch ich früher oder später etwas vom fetten Kuchen abbekommen. Nur jetzt nicht in Panik verfallen, sage ich immer wieder zu Katha.


Mit schwebt schon etwas Bahnbrechendes vor: ich werde die Originalzeichnungen der Aborigines kopieren auf Originalmaterialien, die ich derzeit in ganz Australien sammle. Diese Steinzeitkunst füge ich dann, wenn wir wieder zurück im Taunus sind, in neuzeitlichen Zivilisationsmüll ein. Ein Steinzeitzitat im Keith-Haring-Stil eingebettet in die Anklage der modernen Überflussgesellschaft – das sitzt!

Ich sehe schon die verstohlen angewiderten Blicke der pelzbehängten Perlencolliers auf meiner Vernissage bei Pierre in der Frankfurter Hochstraße. Dazu die verlegenen, aber dennoch wachsam abschätzenden Blicke ihrer Ehegatten, ob aus solchem Schrott vielleicht mal eine Wertanlage à la Damien Hirst werden könnte.


Katha ärgert sich, dass mein Stipendium ausgelaufen ist und wir immer noch in dieser Bullenhitze aushalten müssen. Mir fehlen halt noch ein paar Materialien – Rinde habe ich schon, Steinstaub muss ich noch herstellen. Der Transport größerer Steinplatten zum Auftragen der Aborigine-Zeichnungen würde einfach zu teuer. Mit dem Staub kann ich zuhause Kunststein herstellen, der genau wie die Originalplatten aussieht.

Damit wir drei hier noch ein paar Monate in Down under verbringen können, ist jetzt halt mal Katha dran mit Geldverdienen. Mit ihrer Qualifikation hat sie sofort einen Job bei der German International School in Sydney gefunden. Mit dem, was sie dort in der Preschool verdient, kann sie die Pendelfahrten nach Terrey Hills rein für sich und unsere Kleine bezahlen. Anne-Madeleine darf praktischerweise kostenlos in Kathas Kindergartengruppe mitmachen.


„Jan hat Schnee, Matz hat Schnee, Jenni-fee hat Schnee, Resa hat Schnee – Ann-Maglehn will auch Schnee! Menno, Daddy!“ Anne-Madeleines braungebrannte Füßchen stampfen bei jedem Namen ihrer deutschen Freunde auf den dampfenden Küchenboden. Sie holt mich damit wieder zurück in die australische Vorweihnachtshitze. Mir fällt es immer wieder schwer, ein Lächeln zu unterdrücken, wenn die Kurze alle Namen so süß verballhornt daher plappert.

„Ach Schnuppel, wo sollen wir hier denn Schnee herbekommen? Und außerdem würde der Schnee doch schmilzen, so wie das Vanillllllllleeis, das dir der Daddy jetzt aus dem Kühlfach holt…“ Und schon habe ich meine Tochter von Schnee auf Eis umgepolt. Gleich werden ihre Vanilleeisfinger die Buntstifte verkleben, die einen weiten Bogen um den riesigen Malblock bilden, den sie jeden Morgen vollkritzelt.


Katha lehnt amüsiert in der Küchentür und gibt mir einen Luftkuss. In einer Stunde kommt der Bus, bis dahin haben wir gefrühstückt und die Einkäufe besprochen, die ich zu Opas Ankunft morgen erledigen muss. Anne-Madeleine darf nichts davon mitbekommen, Marvin soll ihre Weihnachtsmärchen-Überraschung werden. Darüber vergisst die Kleine sogar den Schnee. Ach, so ein klein bisschen Abkühlung täte uns hier tatsächlich gut!

„Weißt du was, mein Schatz, wir zeigen deinem Vater die Zeichnung, die mir David Wakamarra geschenkt hat, die mit dem urzeitlichen Baum drauf. Marvin hat sicher Spass daran, uns die botanische Bezeichnung genau zu erklären.“ Katha sieht mich ungläubig an: „Halloh? So weihnachtlich friedlich? Meinst du das im Ernst?“ „Warum nicht?“ antworte ich gelassen und gebe ihr einen verschwitzten Kuss.


Abends im Bett wälzen wir uns schweißgebadet von einer Seite auf die andere. Nach unserem hitzebedingt ultrakurzen Quickie und anschließender Dusche hat es keine 20 Minuten gedauert, bis wir beide wieder im eigenen Saft liegen. Zum Glück landet Marvins Flugzeug erst morgen gegen 20 Uhr, da habe ich Zeit, das Haus auf Vordermann zu bringen und die Betten neu zu beziehen. Anne-Madeleine darf bei Ihrer Freundin Naomi übernachten, so wird sie den Opa erst übermorgen sehen.

Was schenkt man einem Rentner zu Weihnachten, der schon alles hat? Und der sich das, was er noch nicht hätte, locker aus der Portokasse selbst kaufen könnte? Ich habe seit sechs Wochen an einem Stück Eukalyptusrinde gearbeitet, habe in traditionellem Stil Ockerfarbe gewonnen, Hühnerblut und Asche verwendet. Mit diesen Naturmaterialien habe ich ein Aborigine-Motiv auf die Rinde übertragen und mit meinen eigenen Impressionen dieser weiten Traumlandschaft verfremdet.

So wenig ich meinen Schwiegervater schätze, eins weiß ich: wenn ich ihm die Einzelschritte der Vorarbeiten und der Fertigstellung genauestens schildere, wird er meine Mühe und meinen Einsatz ehrlich würdigen, auch wenn das Ergebnis nicht seiner begrenzten Definition von „Kunst“ entsprechen mag.

In seiner Karlstädter Villa hat er mit Elvira nur ausgesuchte Werke bedeutender Künstler aufgehängt. Das gemeinsame Thema natürlich: Bäume, Wälder, Blätter. Aber immerhin: er sammelt Epochen- und Stilmittel-übergreifend. Neben einem frühen Caspar David Friedrich besitzt er auch japanische Kirschbaumfotos, die internationale Auszeichnungen gewonnen haben.

Gegen Anne-Madeleines Kinderzeichnungen kann ich sowieso nicht konkurrieren. Ihr gehört Marvins ganze Liebe. Die Tochter seines einzigen Kindes hat er seit ihrer Geburt mit Geschenken überhäuft, die es uns Eltern unmöglich machten, dagegen anzugehen.

Auch dieses Jahr wird er wieder sein volles Programm auffahren. Katha erträgt diese Bescherungsprozedur seit ihrer Kindheit, als sie selbst noch die Adressatin der Geschenkemassen unterm Weihnachtsbaum war.


Am nächsten Vormittag kaufe ich die typischen australischen Zutaten ein, mit denen wir unsere Kleinfamilie am Heiligabend bekochen werden. Im Hinblick auf kulinarische Spezialitäten und regionale Küche ist Marvin tolerant. Unsere Anne-Madeleine hat diese Toleranz offenbar von ihm geerbt. Mit ihren Spielkameraden in unserer Siedlung teilt sie sich gern Würmer und Käfer. Als „Kuchenteig“ speisen die Kinder gelegentlich mit Wasser vermischtes Erd-Gras-Gemisch.

Schon in Deutschland hatten wir Eltern damit keine Probleme. Unsere Kleine spielt draußen, bekommt alles an Dreck und Keimen ab, was sie für ein gesundes Aufwachsen braucht und ist so gut wie nie krank. Und sie weiß intuitiv, von welchen Tieren und Pflanzen sie die Finger lassen muss. Elvira hat diese Lockerheit im Umgang mit unserer Tochter immer kritisiert.

Dagegen war und ist Marvin in dieser Hinsicht unserer Meinung. Bei seinen archäologischen Erkundungen, auf die er später natürlich in den Ferien auch seine Enkelin mitnehmen möchte, kann er eine „verzogene Stadtgöre“ nicht gebrauchen.


Abends holt Katha ihren Vater am Flughafen ab. Wir gehen gemeinsam pompös essen, natürlich zahlt Marvin – etwas anderes ließe er nicht zu. Katha ist herzlich, aber vorsichtig reserviert.

Ihr graut vor dem morgigen Tag, die ganze Weihnachtszeit war ihr auch in Deutschland immer zu viel: die Hektik, das Feilschen auf dem Weihnachtsmarkt, das falsche Wohlwollen zwischen Schenkern und Beschenkten…


Hier in Down under hatte sie sich auf ein gemütliches Nicht-Weihnachten gefreut. Dieses eine einzige Mal Weihnachten in Urlaubsstimmung unter sonnigen Palmen, so hatte sie sich das vorgestellt. Jetzt hat Marvin ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und Anne-Madeleines Bestehen auf Schnee zu Weihnachten. Später wird sie darüber lachen, wie unmöglich dieser Wunsch war!

Marvin scannt bei der Ankunft in unserem kleinen Vorstadthaus mit raschem Blick die schlichte Umgebung. Auch in unserem Appartement im Taunus war er nicht an Luxus gewohnt. Kathas kategorische Ablehnung finanzieller Hilfe in gelegentlichen Engpässen zwingt Marvin ein wenig Achtung vor ihrer resoluten Hartnäckigkeit ab. Er enthält sich also auch jeder abfälligen Bemerkung über unsere jetzige Lebenshaltung.

Dass er seinen kleinen Liebling erst morgen sehen wird, fällt ihm zwar schwer, aber auch er freut sich auf den besonderen Überraschungseffekt. Wir trinken uns mit einem Shiraz in wohlige Stimmung und tauschen uns über Neuigkeiten aus. Spät in der Nacht erst verschafft ein leichter Wind uns eine kurze Abkühlung und etwas Halbschlaf.

Das Frühstück verläuft in lockerer Stimmung. Marvin berichtet mit glänzenden Augen von seinem letzten Sammler-Coup, einer seltenen Baumfossilie. Sie ist der Grund seiner Reise nach Japan – dort will er sie gegen einen „kleinen Aufpreis“ gegen eine mandschurische Walnussbaum- Versteinerung tauschen.


Ein japanischer Unternehmer hat die Fossilie auf zwielichtigen Wegen erstanden und sie meinem Schwiegervater zum Tausch gegen seine südamerikanische Scheinbuchen- Fossilie angeboten. Marvins Fossilie war - bedingt durch eine lokale geologische Besonderheit - an der Ausgrabungsstelle vollständig in Kalk eingebettet, der Baum hat sozusagen seinen Negativabdruck in den Kalk gelegt.

Am Vormittag bringt der Vater von Anne-Madeleines Freundin auf dem Weg zur Arbeit unsere Kleine nach Hause. Erst als sie auf dem Weg in ihr Zimmer Opas Panamahut am Garderobenhaken sieht, wirbelt sie zur Küche herein: „Wo ist der Opa Karlstadt?“ Wir sehen uns völlig überrascht an und fragen konsterniert zurück: „Wo soll der Opa sein? In Karlstadt natürlich! Aber er schreibt dir bestimmt einen lieben Brief!“


Eltern sind miserabel im Schummeln, noch schlechter im Lügen. Anne-Madeleine rennt sofort wieder die Treppe hoch, reißt die Tür zum Büro auf, das auch als Gästezimmer fungiert. Dort steht Marvin über seine Koffer gebeugt.

Gerade hat er seine sorgfältig in Seidenpapier eingepackte Baumfossilie hervorgekramt, die er beim Frühstück erwähnt hat. Anne-Madeleine fliegt auf ihren Opa zu, wirft sich mit ihrem ganzen Gewicht auf seinen Rücken und jubiliert: “Der Opa ist gekommen, Opa ist da!“

Marvin hat beim Öffnen der Tür eine halbe Drehung geschafft, in der Linken hält er das Seidenpapier und aus seiner Rechten wird genau in dem Augenblick, als wir lachend zur Türe hereinstürmen, die Fossilie in hohem Bogen durch das offene Fenster geschleudert.


Anne-Madeleine läuft ans Fenster, sieht kurz nach unten und schreit durch die ganze Siedlung: „Mein Opa hat mir Schnee aus Deutschland mitgebracht!“

Wir drei Erwachsenen hechten auf die Kleine zu, Katha hält jetzt ihre Tochter im Arm, ich lehne mich gemeinsam mit Marvin aus dem Fenster und wage nicht, ihm ins Gesicht zu sehen.

Unter uns, auf der Veranda, schimmert im gleißenden australischen Sonnenlicht der glitzernde Kalkstaub, zu dem seine jahrtausendealte Scheinbuchenfossilie
beim Aufprall zerschellt ist.




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Tag der Veröffentlichung: 02.01.2011

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