Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so glatt laufen würde.Das Messer hatte keinen Widerstand gefunden: es glitt in seinen schlaffen Altmännerkörper ebenso glatt hinein wie ich es danach wieder hinausziehen konnte. Er hatte nicht einmal mehr die Zeit gehabt, mir sein Kindergarten-staunendes Gesicht zuzuwenden. Fast zärtlich sanft ließ ich ihn seine Schulter gegen die massivhölzerne Sitzbanklehne lehnen. Sein für die Jahreszeit zu warmer schwarzer Mantel würde das aus der zierlichen Stichwunde austretende Blut noch eine Zeitlang auffangen. Etwa so wie eine der innovativen Küchentuchrollen, die mit ihren Luxus-Vierlagen-Blättern eine halbe Ketchupflasche durstig wegtrinken.
Den Duomo San Ciriaco verließ ich kurz vor Ende der nur schwach besuchten Messe. Noch am Tatort, in der dunklen Nordkrypta, hatte ich das Messer leise zu- geklappt und in meine Manteltasche gleiten lassen. Vorher hatte es sorgfältig an der schon vor Wochen in einer Espressobar mitgenommenen Serviette abgewischt. Beim Hinausgehen strich ich noch einmal dem Portal- löwen über die von Jahrhunderten frommer Berührungen und neuzeitlichen Umweltschäden abgenutzte Mähne.
Während der Messe hatten mir meine feinen Lederhandschuhe den Anstrich eines seriösen Geschäftsmannes verliehen. Eines Mannes, der en passant ein kleines Intermezzo beim Stadtheiligen von Ancona einlegt, sei es zur Beruhigung seines Gewissens oder zur Einlösung eines Versprechens , das er seiner Kinder- und Enkelgesegneten Nonna auf dem Sterbebett gegeben haben mochte . Den für einen solchen Herbstmorgen angemessen wärmenden Mantel knöpfte ich mir jetzt ohne Hast wieder auf. Ich tastete seine groß- zügigen Innentaschen noch einmal vergewissernd nach den gewöhnlichen Supermarktbeuteln ab, in denen ich die Tatutensilien, Messer und Handschuhe, verstaut hatte. Ich würde sie auf hoher See über Bord der Fähre gehen lassen, mit der ich Ancona in Richtung Griechenland verlassen würde. Dass aus meiner Heimatstadt, dem „Arsch von Italien“, regelmäßig Fähren dorthin ablegten, erleichterte mir die Sache ungemein.
Während des Abstiegs zum Hafen entlang der Serpentinen der Via Giovanni XXIII sog ich die leicht salzige, mit einem Hauch Motorenöl und Stahlrost von der Werft gewürzte Morgenluft ein. Meine Sonnenbrille war nicht zu auffällig teuer, aber dennoch farblich geschmackvoll auf mein silbrig-gesträhntes Haar abgestimmt. Ich rückte sie vom mit den Jahren immer weiter zurückgewichenen Haaransatz auf meine durch jugendliche Boxkämpfe nur leicht deformierte Nasenwurzel. Die Palazzi mit ihrer schwarzen Patina warfen in der schrägstehenden Septembersonne lange Schatten, die meine dunkle Gestalt nach jeder Straßenkurve beruhigend vor etwaigen Blicken verschluckten.
Den Mord und die anschließende Flucht per Schiff hatte ich wie alle meine Auftragsarbeiten akribisch geplant. Die Anzahlung hatte ich schon Wochen zuvor von dem mir unbekannten Auftraggeber in Empfang genommen, sodass ich mir ohne Weiteres ein First-class-Ticket hätte leisten können. Dennoch hatte ich vorsichtshalber kein Fährticket gekauft: ich hatte nicht vor, nachvollziehbare Spuren in meiner Heimatstadt zu hinterlassen. Auch das Messer hatte ich aus diesem Grund nicht neu gekauft, sondern aus einer verlassenen Casa canonica genommen. Selbstverständlich nicht ohne vorher zu sicherzustellen, dass das alte Bauernhaus nicht zum Verkauf stand.
Geduldig hatte ich rostige Klinge geschliffen, bis sie die nötige Form und Schärfe für meinen Auftrag hatte. Diese Feinarbeit hatte ich im Schuppen meines von einem Onkel geerbten Landhauses erledigt. Der gute Onkel Massimiliano war zur Schande der Familie ledig geblieben und, was mein Erbe noch pikanter erscheinen ließ, nach jahrelangen homosexuellen Affären an Aids gestorben. Was ihn zu seiner Großzügigkeit mir gegenüber veranlasst hatte, war mir immer ein Rätsel geblieben. Mein Erbe sorgte noch jahrelang in meiner neidzerfressenen missgünstigen Verwandtschaft für ausreichend Gesprächsstoff.
Ich hatte mir die Athinaos Champion als Fluchtschiff ausgeguckt. Unauffällig hatte ich beobachtet, in welchem Zeitraum die Schiffs- und Hafenarbeiter vollkommen beschäftigt mit den Rangier-, Vertäuungs- und Entladungsaufgaben waren. Genau dann würde ich unbe- merkt an Bord gehen. Einmal auf dem Schiff angekom- men, würde es ein Leichtes sein, die Überfahrt nach Igoumenitsa ohne weitere Probleme hinter mich zu bringen.
Bis zur Abfahrt hatte ich noch etwas Zeit. Also schlenderte ich an der Porta Pia vorbei und genehmigte mir in der Bar dello Sport einen Doppio ristretto. In der Backofen-schnell aufgeheizten Vormittagsluft flimmerte der massive Pentagon des Lazzaretto. Das leise aufkommende Nagen beginnender Sehnsucht nach der Heimat, die ich für immer zu verlassen im Begriff war, spülte ich mit einem Corretto hinunter und begab mich wie geplant zur Nordmole und an Bord meiner Fähre. Selbst die sonst geschäftigen und jederzeit eifersüchtig auf einen Leckerbissen lauernden Möven sahen mir dabei nur träge zu und versteckten ihre Köpfe zu einem frühen Mittagsschlaf unter die Flügel.
Mittlerweile begannen die zahlenden Passagiere das Deck zu erkunden. So konnte ich mich unauffällig unter sie mischen. Oxford-englische, näselnd-französische und kaugummibreit-amerikanische Satzfetzen wechselten sich ab mit dem Schnarren der Ankerketten, von denen beim Einziehen das ölige Hafenbecken-Wasser troff. Verhalten brummelnd und vibrierend bewegte sich die Fähre jetzt langsam aus dem Hafenbecken. Dabei warf sie unter den jubilierenden Rufen der Urlauberkinder wirbelnde Schaumkronen im Heckwasser auf. Nach Passieren der Hafen- mole und des Leuchtturms nahm das Schiff zügig unter durchdringendem Brummen Fahrt auf.
Über die Schaumkronen der Bugwelle hinweg blickte ich zurück auf meine in der Mittagshitze flirrende Heimatstadt. Im Hintergrund verschwammen die Umrisse des Monte Conero. An seinen feinen Kiesstränden hatte ich als Jugendlicher mit meinen ersten Mädchen nach halsbrecherischem Abstieg zu den Due Sorelle die früh hinter den Klippen verschwindenden Sonnenstrahlen genutzt, um scheu zaghafte Küsse zu tauschen. Addio, mia bella Ancona, dachte ich mit leiser Wehmut. Zugleich empfand ich jedoch auch eine beinahe diebische Vorfreude auf das Kommende: ich hatte meinen Auftrag perfekt erledigt und war auf dem Weg in meinen wohlverdienten Altersruhestand. In Griechenland würde ich in den nächsten Jahren von dem auf meinen Schweizer Nummernkonten hinterlegten Geld leben können.
So getröstet kehrte ich der im Dunst allmählich verschwindenden Küste den Rücken zu. Ich mischte mich wieder unter die Touristenströme, die jetzt um die Mittagszeit ausschwärmten, um ihren Hunger zu stillen. Vorab hatte ich mir schon einen großen Aufenthaltsraum mit bequemen Sitzen im hinteren Schiffsteil entschieden. In einer gedämpft beleuchteten Ecke setzte ich mich an einen kleinen Tisch. Den in der Hafenbar gekauften Corriere della Sera legte ich nur kurz ab, um dem lustlos schnöselig vorbeischlurfenden Kellner meine Bestellung aufzugeben. Schon eine knappe halbe Stunde später brachte mir der desinteressiert an mir vorbei durch entfernte Fenster traumstarrende Cameriere meine Tramezzini und den Caffè latte.
Ich zahlte sofort und war zufrieden, dass er mich keines Blicks würdig befunden hatte. Kauend verschanzte ich mich hinter meiner Zeitung und drehte meinen Sitz vom restlichen Saal weg, um Niemandem Anlass zu geben, mir einen freundlichen Smalltalk aufzuzwingen. Das gleichmäßig dröhnende Motoren-Stampfen in den Ohren ließ mich nach einiger Zeit wohlig in einen Schlaf wegdämmern. Nach der Anstrengung und den akribischen Vorbereitungen der letzten Wochen hatte ich mir diese Auszeit verdient.
Ein heftiger Ruck weckte mich und ließ meine Zeitungsdecke hektisch knistern. Minutenlang fehlte mir zunächst die Orientierung, so tief hatte mich mein Schlaf in weit entfernte Erinnerungs-Hügellandschaften geführt. Nach einem Blick auf meine Titanarmbanduhr rappelte ich mich aus dem Liegesitz auf. Dabei stieß ich den Rest des Caffè latte um, den mein Freund, der lustlose Kellner selbstverständlich unberührt auf meinem Beistelltisch hatte stehen lassen. Mir entwich ein geknurrtes „Porca miseria“. Ich griff reflexhaft nach meinen Manteltaschen und sah mich sofort blinzelnd nach möglichen Zeugen meines Missgeschicks um. Doch im gedämpften Licht des Raums waren nur schemenhaft die Umrisse anderer Fahrgäste in einiger Entfernung zu sehen. Sie hatten wohl nur eine Überfahrt ohne Schafkabine gebucht und schlummerten nun, vom Schiffsmotorengeräusch eingelullt wie Babies, denen die Schlafmelodie das Hirn umnebelt.
Mich packte die Lust auf einen kleinen Spaziergang an Bord oder zumindest ein kurzes Luftschnappen am Schiffsheck. Außerdem hatte ich ja noch die Tatbeweise zu entsorgen, was nun in der Nacht sicherlich unbemerkt bleiben würde. Mit teppichflorgedämpften Schritten stieg ich die Treppe hoch und öffnete die Lukentür nach außen. Außer dem für die Touristen perfekt entrosteten und tagsüber blendend weißen Aussichtsgeländer war nichts zu sehen. Neben mir konnte ich die Umrisse der Rettungstonne mit dem Zubehör für die Schlauchbootnotlandung erkennen. Meine Augen gewöhnten sich allmählich an das spärliche Umgebungslicht. Kein Mensch schien außer mir an Bord zu sein - ich stellte mir für einen kurzen Moment vor, allein auf einem von Geisterhand betriebenen Schiff zu sein. Ein Schauer überlief mich, den ich mit einem resoluten Ruck meiner Schultern weg von der Metallwand abschüttelte.
Im Schatten der hohen Bordwand bewegte ich mich in Richtung Heck, wobei mir mit jedem Schritt eine gerade aufgekommene Übelkeit stärker bewusst wurde. Ich bemühte mich, den Blick auf einen Punkt in der Ferne zu fixieren, aber es gab keine Ferne: die Nacht war mondlos und bewölkt. Lediglich schemenhaft konnte ich die Schaumkronen der Bugwelle erkennen. Während ich mich weiter vorsichtig tastend zum Heck bewegte, bemerkte ich ein großzügiges Schwanken der Bugwelle. In der Nacht musste der Seegang zugenommen haben, was ich jetzt auch an den Windböen spürte, die meinen Mantel aufzerren wollten, sobald ich aus dem Schatten der Bordwand herausgetreten war.
Die Frischluft brachte mir nicht die erhoffte Erleichterung, die Schiffsbewegungen verstärkten eher noch mein Unwohlsein. Als ich schließlich fast die Heckreling erreicht hatte, waren die Reste meiner mittäglichen Tramezzini schon bis zum Kehldeckel gewandert. Ich hechtete mich würgend den knorrigen Metallstreben entgegen, als mich ein Anfall heftigster Übelkeit nach vorn katapultierte und für eine spritzende Entleerung meines Mageninhalts auf das Hinterdeck sorgte. Mein Schwung wurde durch einen erneuten Ruck im Schiffsrumpf verstärkt. Er ließ mich schliddernd und hektisch mit den Armen rudernd genau in der Kaffee-Weißbrot-Tomaten-Mischung landen.
So rutschte ich immer noch spuckend und würgend auf die Heckreling zu, deren unterste Strebe meiner Stirn gefährlich nahe kam. Instinktiv duckte ich mich darunter hinweg, um noch im selben Augenblick entsetzt und ungläubig festzustellen, dass auch der Rest meines Körpers ohne Probleme durch diesen Engpass gelangte. Verzweifelt griff ich nach den Metallstreben, die mir auf meinem Fall in die Tiefe noch entgegenkamen. Ich bekam auch eine zu fassen, die mir jedoch sofort wieder entglitt, da meine Hände ebenso wie mein Mantel durch meine akrobatische Gleitzeit mit der schleimig hochgedauten Mittagsmahlzeit bedeckt waren.
Der Aufprall auf das septemberwarme Mittelmeer war zu meinem maßlosen Erstaunen eher sanft. Was mir mehr zu schaffen machte, war das rasch zunehmende Gewicht meiner Kleidung. Mein nass-schleimiger Mantel blähte sich majestätisch auf und schlug mir noch einmal ins Gesicht, bevor er salzwassergetränkt neben mir unterging. Das Geräusch der eben noch aberwitzig nahen Schiffsschrauben entfernte sich schneller als die Schaumkronen der Bugwelle, die sich langsam neben mir in die Ferne fächerten.
Ich zerrte hektisch an meinem Mantel, der sich wie eine Krake den Befreiungsversuchen widersetzte. Wasser schlug mir in den weit aufgerissenen Mund, ich verschluckte mich an einer übelriechenden Salzwelle und gab sie würgend und hustend wieder der See zurück. Nach ein paar weiteren Wellen hatte ich mich des Mantels entledigt. Meine in Panik verkrampften Finger klammerten sich um meinen rechten Schuh. Aber erst nach weiteren Salzwasser-Lungenzügen und Hustenanfällen gelang es mir, ihn vom Fuß zu ziehen.
Zuletzt schaffte ich nach minutenlangem Kampf auch noch den anderen Schuh. Ein kurzer Gedanken-Aufblitzer trauerte ärgerlich unangebracht meinen edlen italienischen Lederschuhen hinterher. Dann schlug mich eine gewaltige Welle unter Wasser. Der Wasser-wirbel nahm kein Ende, ich ruderte mit Pseudo-Schwimmbewegungen in eine Richtung, von der ich vermutete, dort sei oben. Nach kurzer Zeit entschied ich mich für die Gegenrichtung. Aber auch hier gab es keine Wasseroberfläche, stattdessen Wirbel, Wasser, Salz, Wisser, Sarbel, Walz …
Jemand schlägt mich, ich will mich wegducken, aber es gelingt mir nicht. Warum kann ich mich nicht bewegen? Ich bin gefesselt und wieder bekomme ich einen Schlag ins Gesicht! „Warum schlägst du mich?“ rufe ich. Doch meine Stimme hört sich an wie das schnarrende Gelächter einer Krähe. Ich will die Augen öffnen, aber sie sind zugeklebt. Jetzt kommt wieder Wasser, salzig spritzt mir wieder das Meer ins Gesicht. Ich will kein Wasser mehr, kein Salz! „Lass mich in Ruhe!“ brülle ich. Jetzt klingt meine Stimme schon wie das rostige Quietschen der alten Kinderfahrradkette von damals, als ich bei Onkel Massimiliano zu Besuch war. Ich höre Onkel Massimiliano, er spricht zu mir und will mich trösten. Aber warum redet er so seltsam, so hastig und irgendwie kehlig?
Ich kneife meine Augen kräftig zusammen und reiße sie mit einem Ruck heftig auf. Jaa, geschafft! Die Augenlider sind wieder auf. Um mich herum ist alles dunkel. Noch einmal diese gutturale Stimme. Sie kommt mir näher mit einer fordernden, ja drohenden Tonlage. Dazu gesellt sich eine Wolke aus Knoblauchgeruch gewürzt mit einer Mischung aus Schweiß und Fischabfällen. Mir wird wieder übel und ich würge. Jetzt wird aus der Stimme ein Knäuel verschiedener, wild durcheinanderschreiender Männerstimmen. In das allgemeine Gebrüll hinein blinzle ich vorsichtig durch meine offenbar geschwollenen Augenlider. Allmählich nehme ich meine Umgebung bruchstückhaft wahr.
Vor mir stehen beziehungsweise knien mehrere salzgegerbte Gestalten in abgewetzter Arbeitskleidung, die wild gestikulierend aufeinander einreden. Der Hinterste, ich kann ihn kaum sehen, scheint sich nicht in das Geschrei einzumischen. Stattdessen beobachtet er mich stumm. Er hat bemerkt, dass ich die Männer anschaue, es hat also keinen Sinn, mich ohnmächtig zu stellen. Nach einer Weile gibt der Schweiger einen einzigen scharfen Laut von sich, der die Männer sich plötzlich umdrehen und gleichzeitig verstummen lässt. Er weist mit einem raschen Kopfnicken in meine Richtung und spricht jetzt ruhig mit dunkler angenehm weicher Stimme zu den Männern.
Während er auf seine Leute einredet, nutze ich die Gelegenheit, mich genauer umzusehen. Wir scheinen uns auf einem Schiffsdeck zu befinden. Im Gegensatz zur Athinaos Champion bietet es aber nur wenig Komfort: das Deck ist aus ungepflegtem Holz, überall liegen verworrene Seile herum. Hier und da erkenne ich verschieden große Haken, die das Ende langer, offenbar handgearbeiteter Holzstangen zu gefährlichen Waffen machen. Plastikeimer in unterschiedlichem Verrottungsgrad, über deren ausgefranste Ränder blutig-schleimige Flüssigkeit schwappt. Im Hinter- grund ein Stapel grobmaschiger Plastikbehälter, in denen das Zucken silbrig glänzender Fischlaiber zu erahnen ist.
All dies macht mir klar, dass ich wohl auf einem Fischkutter der unteren Kategorie gestrandet bin. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die Fesseln, die mich gefangenhalten, als ein sehr grobes Netz, in das ich mich hoffnungslos verwickelt habe. Mit zunehmender Klarheit drängt sich nun auch der alles durch-dringende Geruch nach Fisch in mehr oder weniger lebendigem Zustand in meine lädierte Nase. Von dort wandert er in Geruchs- und Geschmackszentren, auf deren Existenz ich jetzt dankend verzichten könnte.
Ehe mich ein erneuter Würgeanfall in den Griff bekommen kann, wird meine Aufmerksamkeit von dem Anführer der Männer geweckt, der mich in schlechtem Französisch anspricht: „ Tu parlez frances?“ So ein Mist, denke ich, mehr als „Voulez-vous coucher avec moi?“ könnte ich jetzt nicht antworten! Also halte ich vorsichtshalber den Mund und schüttele verständnislos den Kopf. Hätte ich doch bloß damals den Französisch-Nachmittagskurs gewählt! Stattdessen hatte ich wegen der dicken Brüste der von allen Jungs der 7. Klasse angebeteten Mariella für Spanisch gewählt. Als Mariella kurz darauf wegen ihres Vaters, eines Entwicklungshelfers, nach Guatemala auswanderte, hielt es auch uns Jungs nicht mehr im Spanischkurs und wir wurden verschieden Sportkursen zugeteilt.
Der Chef zuckt mürrisch mit den Achseln und zieht sich mit seinen Leuten auf die Backbordseite des Kutters zurück, nicht ohne vorher einen der Männer als Wache für mich abzuordern. Ab jetzt ist nur noch ein leises Hintergrundgurren zu vernehmen. Mein dickfingriger Bewacher dreht sich routiniert und überraschend filigran eine Zigarette. Dann zündet er sie mit einem Gasfeuerzeug an und starrt tief inhalierend über mich hinweg auf das offene Mittelmeer. Ich versuche, ihn durch leises Zischen auf mich aufmerksam zu machen, aber er scheint mich nicht zu hören oder lässt sich zumindest keine Regung entlocken. Also beginne ich, meine Hände in eine günstigere Position zu manövrieren, um mich aus meiner Netz-Gefangenschaft zu befreien.
Konzentriert zerre ich am Netz und vermeide dabei allzu viel Kontakt mit den mich umgebenden Fischleichen. Dabei bemerke ich nicht, wie mein Wächter, nun ohne seine Zigarette, sich über mich beugt und seine Faust drohend in Richtung meiner Nase schwingt. Ich beeile mich, zu rufen „Okay, okay, okay, ich will’s ja bloß ein bisschen bequemer haben, siehst du? Und eine Decke oder sowas in der Art wär jetzt auch nicht schlecht, auch wenn ich eure Gastfreund-schaft nicht überstrapazieren möchte. Im Übrigen …“ Weiter komme ich nicht. Stattdessen krümme ich mich unter dem Fußtritt, den er mir gerade in die Flanke gegeben hat, hustend und spuckend noch tiefer in meine Fischfesseln hinein. ‚Auch gut, verstanden, dann eben keine Decke und weiter Fischmenü‘, denke ich, als mein Hustenanfall vorüber ist, hüte mich aber diesmal, meine Gedanken laut auszusprechen.
Nach einer endlos scheinenden Debatte regt sich plötzlich etwas bei der Mannschaft. Ein hektisches, dabei aber zielgerichtetes Hantieren und Werkeln beginnt, das ich nur teilweise mit verfolgen kann, weil ich dafür sitzen müsste. Das erscheint mir aber in Anbetracht der jüngsten Erfahrungen mit meinem neuen Freund Wurstfinger nicht ratsam. Offenbar hat sich die Besatzung entschlossen, sich erst einmal mit dem eigentlichen Grund ihres Bootsausflugs zu beschäftigen. Alle widmen sich der Sortierung und Verarbeitung des eher spärlichen Fangs dieser Nacht, wobei ich selbst ja im Augenblick der dickste Fisch im Netz zu sein scheine.
Mein Netz muss ich mir aber noch mehr als eine Stunde mit dem restlichen Fang teilen, der seit einer Weile nur noch verhalten oder gar nicht mehr zappelt. ‚Eeendlich‘, denke ich erlöst, als die Reihe an mich kommt. Ich kann nur mit Mühe ein erleichtertes Stöhnen unterdrücken, als gleich vier der Fischer mit geübten Griffen das Netz vom Rand her entwirren. Dabei schleudern sie die Fische scheinbar blind, aber nach einem mir unbegreiflichen Schema wohlsortiert entweder an Deck oder über Bord. Ich kann ihre Salzwasser-Pulloverfetzen mehr riechen als sehen. Ihr durchdringender Schweißgeruch nimmt mir den Atem, je näher sie mir bei ihrer mechanisch wirkenden Entwirrungsarbeit kommen.
Schließlich bin ich, immer noch durchtränkt und sicher nicht besser duftend als meine Gastgeber, von meinen Fesseln befreit. Der Anführer der Männer spricht meinen mittlerweile unbeschäftigten Bewacher leise an, woraufhin der unter Deck verschwindet. Ich versuche ein zaghaftes Lächeln und reibe mir demonstrativ fröstelnd die Arme. In den Augen einiger Fischer meine ich einen Hauch von Schadenfreude zu entdecken, wische diesen Eindruck aber mit einer resoluten Handbewegung von mir. Was sollten diese einfachen Leute gegen mich, einen bemitleidenswerten Schiffbrüchigen, haben?
Inzwischen ist Wurstfinger wieder aufgetaucht und hat dem Chef ein dunkles unförmiges und triefendes Paket überreicht. Kurz darauf nähert sich der Anführer meiner verzweifelt um etwas menschliche Zuneigung buhlenden Gestalt. Er hält mir unter sanft klingenden melodischen Worten ein kleines feuchtes Bündel entgegen. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich mein Porte-monnaie und einen Pass, den der Mann jetzt aufschlägt. Er deutet auf das Foto, anhand dessen ich all meiner jetzigen Mickerigkeit zum Trotz gut identifizierbar bin. Dann reicht er mir wortlos meinen Pass und das Portemonnaie.
Um Zeit für die Ordnung meiner Gedanken zu gewinnen, durchforste ich verlegen lächelnd das Portemonnaie: es ist alles noch vorhanden, nicht ein Cent fehlt! Als ich damit fertig bin, bedanke ich mich strahlend bei meinen Rettern und füge hinzu, wie außerordentlich glücklich ich darüber bin, von so ehrenhaften Menschen gerettet worden zu sein. Immerhin haben sie meine 2000 Euro Bargeld unberührt gelassen, die bestimmt für eine ordentliche Gehaltsaufbesserung oder zumindest einen Satz neue Netze und Eimer gereicht hätten. Meine Lobeshymne untermale ich schauspielerisch gekonnt mit ausladenden Bewegungen, die jedem Analphabeten klarmachen müssen, dass ich vor Glück dahin schmelze.
Seltsamerweise scheint mein Gefühlsausbruch keinen der Männer wesentlich zu beeindrucken. Stattdessen wird mir jetzt ein weiteres Etwas vor die Nase gehalten, das ich ebenso dankbar entgegennehmen will. Aber bevor ich es greifen kann, zieht es mir Wurstfinger vor der Nase weg und überreicht es mit gewichtiger Miene dem Chef. Unter Knistern entnimmt der dem Paket nun ein Paar Lederhandschuhe, eine Tüte mit rötlichbraun gefleckten Tüchern und ein, mein Messer. Mir verschlägt es die Sprache, ich schlucke heftig und täusche einen Hustenanfall vor. Während ich vor mich hin pruste, beobachte ich aus den Augenwinkeln die Männer und überlege mir eine sympathische Aufklärungsstrategie.
‚Ich kann das erklären, Freunde! In Ancona war ich bei einem türkischen Ehepaar zu Besuch, die ihre Hochzeit gefeiert haben. Deshalb habe ich ja auch so feine Sachen an, wie ihr seht. Nun, gegen Abend wurde ein Schaf in den Festsaal geführt und mir als einzigem nicht-türkischen Gast die Ehre zuteil, das Tier zu töten. Also ich will ja nicht behaupten, ich sei ein Naturtalent, aber ich kann euch sagen: das Schaf habe ich mit nur einem einzigen Stich hingerichtet. Der Bräutigam sagte mir, das Messer solle ich als Andenken und Glücksbringer behalten. Seine Brüder haben mir alles so fein verpackt, wie ihr es gefunden habt. Apropos: wo habt ihr den Beutel eigentlich…‘
Auch wenn ich meinen Vortrag wieder sehr anschaulich mit den passenden Gesten untermalt hatte, werde ich jetzt barsch unterbrochen. Der Chef macht mir unmissverständlich klar, dass er genug gehört hat und wendet sich seinen Männern zu. Halblaut scheint er ihnen meinen Sermon zu dolmetschen. Ich glaube wiederholt, das Wort Türkei herauszuhören und bin mir also sicher, verstanden worden zu sein. Es gibt eine kurze Diskussion unter den Fischern, dann kommt ein unscheinbarer zahnlückiger Alter aus dem Hintergrund auf mich zu.
Wurstfinger reicht dem Greis die mittlerweile wieder mit meinen Tatutensilien gefüllte Tüte und nimmt mir das Portemonnaie und meinen Pass aus den widerstandslosen Händen. Der Alte verstaut alles wieder in meinem salzwassertriefenden Mantel, den er über den Arm gelegt hatte. Mit einem kurzen Nicken seines schütter behaarten Schädels fordert er mich auf, mich hinzustellen. Mit steifen Gliedern richte ich mich mühsam auf, während Wurstfinger schon ruppig an meinen Armen zerrt. Ich wage nicht, mich gegen seine Avancen zu wehren, nachdem ich schon einmal seine Faust zu spüren bekommen hatte. Gemeinsam mit dem Alten schafft es mein Ex-Bewacher, mir meinen klammen Mantel anzuziehen. Wenn auch ausgeleiert, macht der Mantel mich direkt wieder zu dem eleganten Hochzeitsgast, als der ich mich eben noch geoutet habe.
Triumphierend will ich gerade zu einer weiteren Dankesrede ansetzen, als mich mehrere Hände an Armen und Beinen greifen und mich zu meinem grenzenlosen Erstaunen nach leicht schaukelndem Schwungholen in einem majestätischen Bogen ins Wasser werfen. ‚Hej, das könnt ihr doch nicht machen! ‘ rufe ich entsetzt, nachdem ich wieder aufgetaucht bin. Inzwischen hatten einige der Männer den Fischkutter wieder in Fahrt versetzt. Die übrigen Männer sehen mich mit verschränkten Armen wortlos an, während die Bugwelle sich unter dem stotternden Tuckern des Schiffs rechts und links von mir aufzuschaukeln beginnt. ‚Ihr habt mich doch nicht gerettet, um mich dann hier draußen…‘ kann ich noch schreien, bevor ich in der gerade einsetzenden Morgendämmerung die Flanke des Schiffs erkenne. Darauf ist deutlich zu lesen: „Ἀθήνη Παρθένος“ und etwas kleiner darunter: „Pallas Athene“.
Hätte ich wissen sollen, dass die Türken in den Zwanziger Jahren auf ihrem Rachefeldzug die gesamte Familie des Greises im damals noch griechischen Smyrna niedergemetzelt hatten? Und, was mich noch mehr beschäftigt, während ich mich ohne Gegenwehr von den schweren Kleidern in die Tiefe ziehen lasse: hättest du, lieber Onkel Massimiliano, mir damals im Dorfschwimmbad nicht eher das Schwimmen beibringen sollen, statt in der Umkleide den Inhalt meiner Badehose zu erkunden?
Texte: Carla Gödel
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Bernd und Teresa, Philipp und Jan