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Ich kenne meinen Vater nicht. Und das, obwohl ich schon 15 Jahre alt bin. Meine Mutter redet auch nicht viel über ihn. Ich weiß nur eins: das er ein genauso begeisterter Saxophonspieler ist wie ich. Das ist Mama mal so rausgerutscht.
Das ich sie damit zu sehr an ihn erinnere. Seitdem muss sie immer mal schnell zum einkaufen, wenn ich Saxophon spiele.
„Meli, kommst du mal?“, rief meine Mutter, „Da ist ein Brief für dich.“
Sofort rannte ich die Treppe hinunter. Von wem sollte ich einen Brief bekommen?
Da lag er, auf dem Esszimmertisch. Meine Anschrift und mein Name, Melanie Gruber, stand darauf. Ich hatte tatsächlich einen Brief bekommen. Schnell riss ich ihn auf.

Liebe Melanie,
ich, John, bin dein Vater. Es tut mir leid, dass ich dir nicht schon früher schrieb, aber deine Mutter ließ mich dies nicht tun.
Jetzt gestattete sie es mir, weil ich sehr krank bin.
Komm zu mir nach Hause, dann kann ich dir mehr erzählen.
Bring dein Instrument mit, ich weiß, du spielst gern darauf.
Liebe Grüße,
dein Vater John



Genau so sah der Brief aus.
Zuerst war ich erschrocken, dass mein Vater krank war, dann freute ich mich, dass ich ihn besuchen durfte und dann wurde ich wütend.
Sehr wütend!
Warum hatte meine Mutter John verboten, mir einen Brief zu schreiben?
Ich rannte die Treppe hoch, mit dem Brief in der Hand, und nahm immer zwei Stufen auf einmal.
Das „Melanie!“ meiner Mutter nahm ich kaum wahr.
In meinem Zimmer angelangt packte ich alles, was gerade so rumlag, in meinen Koffer, stopfte noch ein paar Klamotten zusätzlich rein, schnappte ir meinen Saxophonkoffer und den Notenständer, legte meinen Geldbeutel ins Vorderfach des Koffers und stapfte mühevoll mit all den schweren Sachen aus dem Haus.
„Melanie, komm, ich fahr dich, ich weiß was in dem Brief stand!“, rief meine Mutter verzweifelt, doch ich nahm mein Handy und bestellte ein Taxi. Als es endlich da war, sagte ich die angegebene Adresse von dem Brief und setzte mich hinten auf den Rücksitz, weil meine Mutter sich vorne herein quetschte.
„Was machst du denn hier?“, fragte ich.
„Wenn es deinem Vater wirklich so schlecht geht, wie er behauptet, möchte ich ihn auch nochmal sehen, bevor er stirbt!“
„Bevor er stirbt?“, murmelte ich entsetzt.
„Ja, genau.“

Als wir ankamen, standen wir vor einer riesigen, zartgelb gestrichenen Villa mit einem riesigen Garten.
„Da wohnt mein Vater?“, staunte ich.
Meine Mutter lächelte. „Er war ein großer, bekannter Saxophonist, der seine Lieder selbst schrieb. Ich liebe ihn sehr.“
„Dann hat er dich verlassen?“, fragte ich.
„Nein, dass war ich“, sagte Mama, während sie den Taxifahrer bezahlte, der sofort weg brauste.
„Weißt du, er war nie da, weil er eben immer auf irgendwelche Konzerte musste. Da fühlte ich mich auf Dauer ganz schön einsam. Und er wollte keine Kinder. Immer wenn du ihn 'Papa' genannt hast, wurde er sauer und zeigte mir damit, dass er keine Kinder mag. Ich aber unbedingt, verstehst du? Natürlich kann sich das jetzt geändert haben, aber das wusste ich nicht und deshalb habe ich ihm verboten, dir Briefe zu schreiben.“
So, wie sie es erklärte, verstand ich es tatsächlich. Aber jetzt wollte ich zuerst meinen Vater sehen.
Toll! Mein Vater war ein berühmter Saxophonist und schrieb selbst Stücke.
Ich klingelte Sturm, bis die Haustür aufging.
Ein Mann mit weißem Kittel öffnete die Tür, wahrscheinlich ein Arzt.
„Psst, nicht so laut. Du musst Melanie sein, und Sie Frau Gruber. Ich bin Thomas, ein Freund von John. Kommen sie.“
Kein Arzt. Er sieht aber so aus.
Wir gingen hinein und zogen die Schuhe aus, weil wir es nicht über uns brachten, mit den Schuhen auf den blitzblanken Boden zu treten.
„Setze wir uns erst mal an den Tisch.“, sagte der Arzt und deutete auffordernd ad einen großen Ahorntisch.
„Ähm, kann ich nicht zuerst meinen Vater sehen?“
„Natürlich, aber es wäre sinnvoller, wenn ich euch zuerst etwas erklären würde.“
„Na gut“, seufzte ich, „Wenn's sein muss“
Also nahm auch ich , wie die beiden Erwachsenen an dem riesigen Tisch platz, wenn ich auch nicht still sitzen konnte.
Thomas sah uns ernst an.
„John hat akute Leukämie. Ihr wisst bestimmt was das heißt.“
Äh, nein wissen wir nicht.
Thomas schien meine Gedanken lesen zu können.
„Leukämien zeichnen sich durch stark vermehrte Bildung von weißen Leukozyten und vor allem ihrer funktionsuntüchtigen Vorstufen aus. Diese Leukämiezellen breiten sich im Knochenmark aus, verdrängen dort die übliche Blutbildung und treten in der Regel auch stark vermehrt im peripheren Blut auf. Sie können Leber, Milz, Lymphknoten und weitere Organe infiltrieren und dadurch ihre Funktion beeinträchtigen. Durch die Störung der Blutbildung kommt es zur Verminderung der normalen Blutbestandteile. Es entsteht eine Anämie durch Mangel an Sauerstoff transportierenden roten Blutkörperchen, ein Mangel an blutungsstillenden Blutplättchen und ein Mangel an funktionstüchtigen Leukozyten.“
Aha, also doch Arzt. Da konnte ich ihn ruhig so nennen.
„Was heißt das auf deutsch und was sind Leukozyten?“, fragte ich.
Der Arzt wollte mir gerade antworten, als meine Mutter ihn unterbrach.
„Leukozyten sind weiße Blutkörperchen. Und Leukämie wird auch Blutkrebs genannt. “
Tja, meine Mutter kannte mich halt.
Okay, merke: Leukozyten istgleich weiße Blutkörperchen.
„Wichtig ist nur, dass es nicht heilbar ist.“
Mein Mund wurde ganz trocken. Nicht heilbar?
„Was?“
„Doch. Oft kann man Leukämien schon heilen, aber nicht immer. Und John hat keinen passenden Spender. Das heißt, er wird sicher sterben.“
„Ich möchte zu John!“
Jetzt fragte ich nicht mehr, sondern sprach fordernd.
Der Arzt seufzte.
„Also gut, ich zeig dir sein Schlafzimmer.“
Er führte mich durch einen langen Gang mit vielen Türen, dann liefen wir eine breite Treppe hinauf um wiederum in einem Gang mit mindestens ebenso vielen Türen anzukommen. Als wir ganz hinten angelangt waren, deutete der Arzt auf eine Tür.
„Hier sind wir.“, sagte er und ließ mich allein
Ich atmete nochmal tief durch, dachte daran, dass ich jetzt endlich meinen Vater kennen lernen durfte.
Dann öffnete ich die Tür.

Ich sah mich um.
Der Raum war topmodern eingerichtet, mit einem eckigem Bett, einem Schrank und einer Kommode in Ahornholz. Es gab nur ein Fenster, aber das war riesig und hatte Blick auf den Garten, man konnte einen kleinen Teich von hier aus sehen.
Dann sah ich meinen Vater an. Er lag im Bett und hatte die Bettdecke über sich gezogen. Er sah blass aus, was wohl daran lag, dass er bestimmt schon lange nicht mehr draußen in der Sonne war. Das auffälligste war jedoch, dass er eine Glatze hatte, und mir war klar, dass das an der Leukämie lag.
„Ähm, hallo John, ich bin Melanie, deine Tochter.“
Er lächelte mich leicht an.
„Hallo Melanie. Schön dich zu sehen.“
Dann senkte er die Stimme: „Ich habe eine Bitte an dich. Komm heute Nacht, und bring Molanija und dein Saxophon mit.“
„Wo ist Molanija?“, fragte ich.
„Auf dem Dachboden.“
Dann verstummte er, weil in diesem Moment meine Mutter hinzukam.
Ich verabschiedete mich und ging hinaus, um den beiden ein wenig Zeit für sich zu lassen. Dann erst bemerkte ich, dass ich besser gefragt hätte, was Molanija ist, als o es ist. Und warum sollte ich das Saxophon mitbringen? Das Einzige, was ich verstand, war, dass ich in der Nacht kommen sollte, sodass es die anderen beiden nicht erfahren.
Seufzend beschloss ich, dem einzigem Anhaltspunkt zu folgen, den ich hatte.
Den Dachboden.
„Meli? Mach dich bitte gleich fertig, ich möchte noch mit dir einkaufen gehen, wenn wir schon hier sind.“, tönte die Stimme meiner Mutter durch die Türe.
Mist! Wie sollte ich da Molanija finden?
„Äh, Mama, ich glaub nicht, dass ich mitkommen kann, mein Bauch tut so schrecklich weh.“
„Ach komm, wenn du nicht mitwillst, könntest du dir wenigstens eine bessere Ausrede einfallen lassen. Du warst noch nie eine gute Schauspielerin.“,sagte sie, während sie aus Johns Zimmer kam. Dann lächelte sie.
„Aber ich verstehe ja, dass du die Zeit mit deinem Vater verbringen möchtest. Na, von mir aus. Ich will hier jedenfalls raus. Da sind zu viele Erinnerungen in dem Haus. Also dann, bis heute Abend.“, meinte Mama, als sie die Treppe hinunterlief.
Auch ich ging hinunter, um den Arzt zu fragen, wie ich in den Dachboden kam, denn dieses Haus war der reinste Irrgarten mit seiner Größe, und einfach irgendwelche Türen zu öffnen, traute ich mich nicht.
„Wenn du oben bist, nimmst du den linken Gang, und dann die erste Tür rechts, da ist eine kleine Treppe. Aber wieso willst du das überhaupt wissen?“
Ich antwortete im Laufen: „John ha mich gefragt, ob ich ihm etwas holen kann.“
„Was denn?“, fragte der Arzt neugierig, „Vielleicht sollte ich es besser holen.“
„Nein, danke, ich schaff das schon.“, sagte ich und rannte endgültig die Treppe hoch.
Die 'kleine Treppe' entpuppte sich als eine Treppe, die genauso breit war wie die bei uns zuhause. Zum Dachboden haben wir nur eine Art Falltür an der Decke, die man über eine Leiter erreichen kann.
Schnell lief ich die Treppe hinauf.

Durch eine Luke am Dach fiel Sonnenlicht. Es war wundervoll warm hier oben.
Lauter alte Möbel standen da, ein paar Schränke, ein Sessel, zwei Tische, ein Nachtkästchen, ein Bett und ein Schränkchen mit vielen Schubladen.
Ich begann meine suche in den Schränken, in denen viele Kleider hingen. Sie rochen alt und nach Motten, doch sie waren sehr elegant. In den Schubladen des Schränkchens fand ich Schatullen mit Schmuck, alte Füller, Notizblöcke, getrocknete Rosen und einen großen Stapel Briefe, auf denen lauter verschiedene Frauennamen standen, wahrscheinlich von Johns Verehrerinnen. Aber auf den Namen Molanija stieß ich nirgends.
In der untersten Schublade lag eine Kiste aus Holz. Als ich sie öffnete, sah ich einen Ordner. Sein zitronengelber Einband war von einer dicken Staubschicht bedeckt.
Ich setzte mich auf das Bett und blätterte darin. Er war voller Notenblätter, das mussten die sein, die mein Vater erfunden hatte.
Sie hatten fremde, geheimnisvolle Namen wie Tagyllion, Brinajla und Alktubasi.
Auf einem der Blätter entdeckte ich dann auch den Namen Molanija.
Ich schluckte.
Das war es also.
Ein Lied.
Ich schnappte mir den Zettel und stieg wieder hinunter.
Dann holte ich mein Saxophon und ging zurück in den Dachboden.

Dort setzte ich das Saxophon an meine Lippen und begann zu spielen.
Es war eine zarte, verträume Melodie, und als ich das Lied beendet hatte, hing ich ihm nach, als wäre ein Zauber in mir. Ich spielte es wieder und wieder, bis ich es im Gedächtnis hatte.

Danach stieg ich wieder hinunter und ging in das Esszimmer.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich lange gebraucht habe, es waren drei Stunden vergangen. Auch meine Mutter kam gerade wieder.
„Und Meli, war es schön?“, wollte sie wissen.
„Was war schön?“, fragte ich verwirrt zurück.
Meine Mutter guckte komisch. „Na, dein Nachmittag mit deinem Vater!“
„Ach so, klar. Es war einfach wundervoll. Danke, dass ich dableiben durfte.“, log ich ihr ins Gesicht, zwar ohne rot zu werden, aber wohl bewusst, dass sie mich sofort durchschauen würde.
Aber ich machte mir zu viele Sorgen, Mama plapperte eh weiter:
„Ich habe total schicke Klamotten gekauft, für dich auch, schau mal, was hältst du von dem Kleid? Probier es gleich an, dann können wir es noch umtauschen, falls es dir nicht passt.“
Sie hielt ein fliederfarbenes, bodenlanges Kleid mit Spagettiträgern vor sich.
„Sieht schön aus.“, sagte ich abwesend.
„Dann probier es an!“
„Muss das jetzt sein?“
„Ja, natürlich, sonst weiß ich ja nicht, ob es dir passt. Du musstest ja schon nicht mitkommen, dann kannst du jetzt wenigstens...“
„Ja, ja schon gut.“, unterbrach ich sie seufzend, mich meinem Schicksal hingebend.
Nacheinander probierte ich fünf verschiedene Kleider.
„Wofür brauch ich überhaupt ein Kleid?“, fragte ich murrend.
„Es ist immer gut, wenn man etwas ordentliches zum anziehen hat, und du brauchst bestimmt bald wieder ein Kleid, und dann finden wir keins. Außerdem haben deine Großeltern bald ihre Goldene Hochzeit.“
„Was?“
„Ja, im Sommer. Gut, das Kleid nehmen wir. Geh mal in die Küche und schau, ob du dich irgendwie nützlich machen kannst.“
Unwillig ging ich in die Küche, in der ich den Arzt vorfand, der Rührei machte.
Ich erklärte mich bereit, über die Eier zu wachen, während er John etwas zu essen brachte.
Wahrscheinlich bekam John Brei oder so etwas in der Art.
Mein eigenes Abendessen schlang ich so schnell wie möglich hinunter, um Molanija noch ein wenig üben zu können.Als ich fertig war, lief ich so schnell, wie es möglich war ohne aufzufallen, in das Zimmer, in dem ich heute Nacht schlafen sollte.
Es hatte zwei Fenster, vor die rote Vorhänge aufgehängt waren, einen kleinen Schrank und ein französisches Bett.
Ich packte mein Saxophon aus und spielte bis mir die Luft aus ging und ich einen Krampf in den Fingern bekam.
Danach legte ich mich ins Bett. Meine Mutter sah nochmal nach mir, doch ich stellte mich schlafend.
Ich verfolgte den Uhrzeiger, und als es im Haus endlich still war, war es weit nach Mitternacht.
Mit klopfendem Herzen holte ich mein Saxophon und die Noten und ging zu meinem Vater ins Zimmer, indem ich auf Zehenspitzen lief, um niemanden aufzuwecken.
John saß aufrecht in seinem Bett, und seine Augen strahlten.
„Spiel.“, sagte er, „Spiel Molanija. Für mich – und die anderen.“
Da setzte ich das Saxophon an meine Lippen.
Dieses Mal klang die Musik noch zauberhafter und lebendiger als die Male davor.
Die Töne schwebten durch das Fenster, bis zu dem kleinen Teich.
Und dann kamen sie.

Die wundersamen Wesen erhoben sich aus dem Teich.
Sie schwebten hinein in das Zimmer und umkreisten John und mich.
Die Wesen hatten lange Haare und spitze Ohren.
Ihre blassen Gesichter, de im mondlicht glitzerten lächelten und sahen wunderschön aus. Sie trugen lange, fließende Kleider in den Farben des Regenbogens.
Ich spielte Molanija, immer und immer wieder, und die Elfen begannen zu tanzen.
Als ich das Instrument sinken ließ, war der Mond nicht mehr zu sehen.
Die Wesen verschwanden im Teich, ganz lautlos, während die Sonne aufging und der Himmel rötlich wurde.
„Danke John, dass du mir dies gezeigt hast.“, flüsterte ich, noch benommen von der Melodie, „Du hast wundervoll komponiert.“
„Nein, ich bin dein Papa. Denk an mich, Melanie.“
Die Augen meines Vaters schlossen sich.
Er lächelte und sah aus, als ob er schliefe.

Drei Tage später wurde Papa auf dem Friedhof beerdigt.
Es waren wenige Leute da, nur wir und seine besten Freunde, wir wollten kein Drama daraus machen, auch wenn er einmal sehr berühmt war.
Ich wusste jedoch, dass es nicht mehr unter uns war.
Er war bei den Anderen, die ich mit seinem Lied gerufen hatte.
Zumindest wünschte ich mir das.

Impressum

Texte: Alle Rechte des Textes liegen beim Autoren.
Tag der Veröffentlichung: 15.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte meiner Instrumentallehrerin.

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