Ich stand am Fenster unseres Wohnzimmers und starrte nach draußen. Es war Mittag, die Sonne schien und es war angenehm warm. Überall um unser kleines Haus standen weitere dicht aneinander gedrängt, und ebenfalls nicht weit entfernt erhob sich eine Reihe Hochhäuser. Grünflächen gab es reichlich wenige, in den bestehenden Parks tummelten sich die Menschen. Aus den Straßen unter mir klangen sogar durch die Scheiben des Fensters die allgemeinen Straßengeräusche, Autos, Busse und Kindergeschrei. Belustigt sah ich ihnen zu, wie sie zwischen den Leuten immer dicht an der Straße entlang rannten und sich gegenseitig fingen.
Ein kleines Beben erschütterte den Raum. Ich dachte mir nichts dabei, bei uns gab es täglich welche, und ließ meinen Blick weiter schweifen. Doch statt aufzuhören verstärkte sich das Erdbeben nur noch. Ein starkes also
, dachte ich. Auch das war nicht unge-
wöhnlich. Die Kinder draußen bemerkten das Wackeln des Bodens ebenfalls, sie liefen zu den Autos, um sich wenigstens ein bisschen schützen zu können. Ich zwängte mich notdürftig unter den kleinen Tisch, während das Beben immer mehr zunahm. Nicht mehr normal, das ist nicht mehr normal!
Die Tassen im Schrank hatten schon lange mehr als nur zu wackeln angefangen, sogar der Tisch, unter dem ich kauerte, setzte sich in Bewegung.
Schnell stand ich auf, durchquerte den Raum und riss die Tür auf. Das Beben wurde zu stark! Ich musste hier raus, so lang es noch ging! Doch als ich die Treppe erreichte und hinunter stürzen wollte, versperrte mir der große Schrank den Weg. Mit einem lauten Poltern fiel er auf meinen Fluchtweg. Entsetzt starrte ich einige Sekunden darauf, dann riss ich mich zusammen und lief zur Dachbodentreppe. Oben angekommen stieß ich das Dachbodenfenster auf und kletterte kurzerhand auf das Dach. Wenn das Haus zusammenbrechen würde, wäre es sicherer, hier oben zu sein, als drinnen verschüttet zu werden.
Wieder ließ ich meinen Blick schweifen, die Hochhäuser wackelten, der Autolärm war verstummt, nur Stimmen wurden laut. Ich hatte Mühe, mich festzuhalten. Ob es wirk-
lich eine so gute Idee war, hier hoch zu kommen? Auf jeden Fall besser als im Haus.
Normalerweise gehen die Erdbeben rasch vorüber, aber dieses hier zog sich. Meiner Einschätzung nach fühlte es sich wie mehr als einen Stunde an. Um mich herum brachen Gebäude zusammen und das Geschrei wurde lauter.
Langsam klang alles wieder ab. Ich sah auf, da ich mich ins Dach gekrallt und den Kopf in den Armen vergraben hatte, und als aller-
erstes verspürte ich Erleichterung. Der Schaden war gar nicht so groß wie ich angenommen hatte. Bis auf drei, vier Häuser stand noch alles, und den Leuten schien es der Lage entsprechend soweit gut zu sehen. Ich entspannte mich ein paar Augenblicke und blieb noch etwas auf dem Dach sitzen. Ich lauschte einfach dem, was zu hören war und nahm immer mehr ein Rauschen wahr. Entgeistert blickte ich dem entgegen, was da auf mich - uns zugerollt kam: eine rießige Welle, ein Tsunami von der Größe unseres Hauses. Ohne nachzudenken erhob ich mich und stürzte zum Rand des Daches. Die Menschen dort unten ahnten ja noch nicht mal, was da angerollt kam. Ich schrie ihnen zu, sie müssten da weg, sich in Sicherheit bringen, ein Tsunami käme, doch nur die wenigsten hörten auf mich und versuchten alles mögliche, um sich in Sicherheit zu bringen. Die meisten anderen lachten nur. Doch dieses Lachen erstarb, als die ersten die Gefahr bemerkten. Mir selbst blieb nichts anderes als mich wieder ans Dach zu klam-
mern und abzuwarten. Die Welle rollte unaufhaltsam weiter und riss alles in ihrem Weg einach mit sich. Als sie mich erreichte kann ich eigentlich von Glück reden, denn das Dach unseres Hauses wurde einfach abgetrennt, mit mir darauf. Es schaukelte, drehte sich und knallte gelegentlich an Wiederstände im Wasser. Aber trotz allem hielt ich mich. Ich hatte mein eigenes kleines Boot, auf dem ich mit allen Mitteln darauf zu bleiben versuchte.
Als sich die Lage einigermaßen beruhigt hatte, blieb ich einfach liegen und schloss die Augen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber irgendwann gegen Abend hörte ich Stimmen. Ich hob meinen Kopf und sah die grellen Lichter und Farben des Rettungsbootes. Ich erhob mich und wedelte wild mit den Armen, um auf mich aufmerk-
sam zu machen. Es dauerte nicht lange und die Helfer waren da, sie holten mich zu sich und wickelten mich in Decken. Ich schloss wieder die Augen und ließ die Welt, meine vernichtete Heimat an mir vorbeiziehen. Irgendwann, als es um mich herum dunkel war, erreichten wir eine Lagerhalle, die auf einer Anhöhe stand und in der sich Men-
schen tummelten. Ich stand auf und wurde von einem Arzt untersucht. Abgesehen von dem Schock ging es mir gut, wobei ich denke, genau dieser Schock bewahrte mich vor dem Durchdrehen. Am Eingang zur Halle wurde ich durch eine weitere Untersuchung geschleust, wobei da meine Kleidung und ich auf radioaktive Strahlen untersucht wurden. Mir wurde gesagt, das Erdbeben und der Tsunami seien nicht das einzige, wovon Japan heimgesucht wurde. Es gab Probleme mit den Atomkraftwerken, eine Kernschmelze sei zu befürchten.
Ich saß auf meiner Decke an der Wand und starrte vor mich hin, um das Erlebte zu verarbeiten. Neben mir räusperte sich jemand, dann wurde mir ein Stück Brot entgegen gestreckt. "Wollen wir es uns teilen?", fragte meine Nachbarin. Ich nickte, und langsam setzte ich mich in Bewegung. Ich blieb noch etwas bei ihr und ihrem kleinen Sohn, der gar nicht verstand, was los war. Nachher würde ich irgendwo mit anpacken.
Texte: Das Copyright des Textes liegt beim Autor, Alina B / feuerfunken. Es darf nicht kopiert, verfielfältigt oä werden.
Buchcover von bookrix.de.
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
In Gedenken an die Opfer in Japan.