Die Augen halte ich fest geschlossen.
Ich möchte mein kurzes Leben nicht an mir vorbei laufen sehen, dafür war es schlussendlich zu traurig.
Nun fühle ich lediglich das Gefühl des Fallens, wie in meinen Träumen, nur reeller, und mit Gegenwind, so wie ich es mir gewünscht habe. Ich möchte versuchen diesen Moment zu genießen. Ich breite die Arme ein wenig aus, spüre den Wind in den Haaren und zwinge mich dem entgegenzublicken, was mich erwartet, weil es das Letzte ist, was ich je sehen werde.
Die U-Bahn hielt, noch fünf Stationen und er wäre endlich so gut wie zu hause.
Neben ihm wurde ein Platz frei, er blickte kurz von seiner Zeitung auf. Wie immer stiegen nur halb so viele Leute aus wie ein, und somit wurde es noch voller, als es schon war. Eine Frau mit einem kleinen Kind an der Hand drängte sich hinein und suchte nach einem Sitzplatz. Nun sah er ein Mädchen in seine Richtung kommen. Sie setzte sich auf den gerade frei gewordenen Platz und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Als sie spürte, dass er sie ansah, blickte sie hoch und sah ihn direkt an. Er lächelte ihr kurz zu. Er hörte eine ältere Frau mit jemanden wegen eines Sitzplatzes diskutieren, er selbst wäre sogar aufgestanden, doch konnte er die Dame nicht sehen und widmete sich wieder seiner Zeitung. Die U-Bahn fuhr wieder los.
Kindermord. Flugzeugabsturz. Er seufzte leise. Immer wieder, obwohl es immer wieder hieß, man gehe dagegen vor. Irgendwie schafften sie es dennoch nicht, Dinge wie diese zu verhindern. – Aber wie auch? Er las weiter. Und die Bahn hielt, fuhr wieder los und hielt abermals.
Aus den Augenwickeln bemerkte er, wie das Mädchen wieder aufstand, noch einmal auf seine Armbanduhr sah, und sich zügig durch den vollen Wagen drängelte.
Dann fiel ihm auf, dass sie ihre Tasche stehen gelassen hatte. Er stand auf und rief ihr hinter her. Doch sie lief einfach weiter, auch wenn er das Gefühl hatte, dass sie kurz stockte, nachdem er gerufen hatte. Nun konnte er sie zwischen all den Menschen nicht mehr sehen.
Er wandte sich ihrer Handtasche zu, schüttelte den Kopf, nahm die Tasche ein wenig beiseite, sodass die Mutter sich mit ihrem Kind setzen konnte und setzte sich selbst wieder hin. Morgen würde er die Tasche bei der Fundstelle abgeben.
Die U-Bahntüren schlossen sich wieder und die Bahn setzte sich wieder in Bewegung.
Einige hatten mitbekommen, dass das Mädchen ihre Tasche vergessen hatte und wirkten gleichermaßen verwirrt, nun drehten sie sich wieder weg, sprachen mit Freunden am Telefon, lasen in ihrem Buch weiter oder schauten durch die Scheiben, durch die man nichts weiter sah, als die endlosen dunklen Tunnel.
Auch der Mann mit der Zeitung sammelte sich kurz, faltete die Zeitung sorgfältig auf und las den begonnenen Absatz weiter. Seine Augen folgten den schwarzen Buchstaben auf dem nicht ganz weißen Papier. Wanderten immer hin und her, von links nach rechts, blieben ab und zu an ein, zwei Wörtern hängen und bewegten sich dann weiter.
Das Rauschen der fahrenden Bahn, das Gemurmel einiger Leute und das regelmäßige leise Geräusch im Hintergrund der ganzen Geräuschkulisse.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, was er da eigentlich hörte. Man ignorierte es im Allgemeinen, schließlich war es das normale Summen eines jeden Computers, nur leiser. Doch wenn man genauer hinhörte, wie er nun, war ein leises Ticken im Sekundentakt zu hören. Verwirrt konzentrierte er sich, hörte genauer hin.
Dann wurde ihm klar woran ihn das erinnerte, natürlich.
Es klang wie das Ticken einer Filmbombe, kurz bevor sie explodieren würde und der Held sie in wortwörtlich letzter Sekunde entschärfte.
Seine Augen weiteten sich, für einen Moment blieb er noch reglos sitzen, dann regte er sich, stand auf und schrie laut durch den ganzen Wagen. Eine Bombe, hier in der U-Bahn. Sie mussten alle raus hier. Gerade auf dem Weg zur Notbremse, veränderte sich das Geräusch. Noch ein Schritt und er hätte die Bremse erreicht, sie hätten alle versuchen können zu flüchten, rennen so schnell sie konnten.
Doch war er kein Held. Dies war kein Film. Nun würden sie alle sterben, wegen dieses Mädchens, das so freundlich und zugleich so traurig gewirkt hatte, würden sie alle sterben.
Das Letzte was er wahrnahm, war die Druckwelle, die ihn mitriss, und der Knall. Er spürte nicht mehr wie sein Trommelfell zerriss und spürte nicht mehr den Aufprall auf die U-Bahntür, gegen die er gedrückt wurde. Er sah nicht mehr, wie mit all den Menschen um ihn herum Ähnliches geschah.
Dabei hatte es sogar zurück gelächelt.
Angefangen hatten sie natürlich mit dem Videoaufnahmen der U-Bahnstation. Der Täter hatte sich schließlich wohl kaum mit Hochsprengen lassen, sondern war vermutlich vorher ausgestiegen.
Den Tatort selbst hatte man bereits untersucht, der entsprechende Wagen war vollständig auseinander geflogen. Zwar konnte man den Standort der Bombe ausmachen, aber die Bestandteile musste man zunächst ausfindig machen.
Zumindest gab es eine positive Nachricht diesbezüglich: Der hintere Teil der Bahn war nicht nur vollständig, sondern auch die Fahrgäste hatten keine bzw. lediglich kleinere Verletzungen erlitten. Die Druckwelle der Bombe hatte die Wagen ausgebremst, so dass jene an Geschwindigkeit verloren hatten und bald zum Stillstand gekommen waren.
Auf dem Video sah man zur gegeben Zeit lediglich eine Menge Leute aussteigen, und einige einsteigen, wie auch im normalen Nachmittagsverkehr.
Da war ein Mädchen, welches aus dem vorderen Wagen trat und hoch rannte. Das könnte allerdings genauso gut die Täterin sein, wie jeder Andere, der dort ausgestiegen war. Vielleicht wollte sie nur nicht die nächste Bahn verpassen.
Das Videomaterial in der U-Bahn war bei der Explosion zerstört worden und somit natürlich nicht mehr aufrufbar.
„George, wir müssen gleich los!“
Ihr Kollege kam aus ihrem gemeinsamen Büro und blickte sie fragend an.
„Wohin? Müssen wir - ?“
„Befragung, wegen der U-Bahn.“
„Oh.“ Jetzt wusste er nicht mehr was er sagen sollte, der Anschlag auf die U-Bahn hatte alle mitgenommen. Etwas Derartiges war schon lange, sehr; sehr lange, nicht mehr vorgekommen.
Sie nickte nur noch einmal zur Bestätigung, ging an ihm vorbei und legte eine Liste mit Namen auf den Schreibtisch.
„Hier, das sind alle die wir in nächster Zeit aufsuchen werden.“
George trat näher heran und ließ seinen Blick über die Liste schweifen.
„Das sind ganz schön viele.“
Joanna zuckte nur mit den Schultern und zeigte auf die nebenstehende Adresse des ersten Namens.
„Dorthin zuerst. Auf geht’s. Wir haben viel zu tun.“
Sie nahm ihre hingeworfene Jacke und die Liste vom Tisch und machte sich auf den Weg. George folgte ihr und kurze Zeit später waren sie auch schon unterwegs.
Sie gingen den von trockenen, braunen Blättern bedeckten Weg entlang. Es war Ende September und der erste kühle Tag seit Monaten.
Die beiden fröstelten und beeilten sich zum Wagen zu kommen. George öffnete die Fahrertür und ließ sich in den Sitz plumpsen, während Joanna auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
Jeder, den sie bisher befragt hatten, hatte nur vom normalen Betrieb an den U-Bahnstationen zu erzählen gewusst. Niemandem war etwas Bestimmtes aufgefallen, auch wenn drei sich an das schwarzhaarige Mädchen vom Videoband, welches sich wohl beeilt hatte die Treppe hinauf zu kommen, erinnerten. Ansonsten wurde betont, dass alles ganz normal gewesen sein soll. Niemand hatte etwas Bedeutsames gesehen.
Nun mussten sie nur noch zu Zweien, dann waren sie für heute fertig.
Joanna holte die Liste aus ihrer Tasche und suchte den Namen unter ‚Landgraf, Joseph’. Ein älterer Herr, der auf eine Bahn aus entgegengesetzter Richtung, welche allerdings nicht mehr gekommen war, da das Gebiet rund um die explodierte U-Bahn gesperrt worden war, gewartet hatte.
„Lichtblau, Lea. Schöner Name, nicht? Wir müssen in die Linienstraße, Nummer 34.“
„Auf geht's“, erwiderte George seufzend. „Haben wir dann endlich Feierabend?“
„Nein, danach müssen wir noch zu einer Katja Merzen, aber das überstehst du schon noch.“
Das Auto war bereits aus der kleinen Seitenstraße herausgefahren und sie fuhren nun eine mehrspurige Hauptstraße entlang, auf der sich die Autos des Nachmittagsverkehrs stauten.
Nach nur zehn weiteren Minuten erreichten sie trotz Stau die Linienstraße und fanden glücklicherweise auch schnell einen Parkplatz.
Joanna zog ihre Jacke fester um sich und stieg aus dem Wagen.
Zusammen gingen sie zur Eingangstür und wurden auch nach einmaligem Klingeln hineingelassen. Hintereinander stiegen sie die schmale Treppe hinauf bis in den dritten Stock.
Ein Mädchen von ungefähr 17 Jahren stand in der Tür.
Vermutlich hatte sie auch so schon einen hellen Teint, doch als sie die beiden Polizisten kommen sah, schien sie noch bleicher zu werden und ihre nun fast elfenbeinfarbene Haut stand in starkem Kontrast zu ihren schwarzen langen Haaren.
Schneewittchen, musste Joanna denken, während sie das junge Mädchen musterte, und lächelte belustigt über diesen Gedanken.
Sobald sie den Treppenabsatz erreicht hatten, ergriff George das Wort: „Guten Tag, bist du Lea Lichtblau?“
Das Mädchen nickte stumm, schien sich ansonsten aber keinen Millimeter zu bewegen.
„Wir müssen dir ein paar Fragen bezüglich des Bombenanschlags stellen“, versuchte Joanna sie mit einem, wie sie hoffte, sowohl traurigem als auch nachdrücklichem Unterton zum Sprechen zu bringen. „Dürfen wir dazu kurz rein kommen?“
„Natürlich.“ Es war nur ein Murmeln gewesen, aber man hatte jede einzelne Silbe dieser klaren hohen Stimme deutlich gehört.
Sie trat unsicher beiseite und machte den zwei Beamten Platz.
Beide lächelten ihr im Vorbeigehen freundlich zu und gingen ihrer Geste nach in ein gemütliches, mittelgroßes Wohnzimmer.
Die Tür wurde leise geschlossen und Schritte folgten ihnen.
Als sie hinter ihnen eintrat, fiel ihnen auf, wie mitgenommen die Kleine wirkte, sie schien lange geweint zu haben und die Augenringe zeugten von mindestens einer schlaflosen Nacht.
Nachdem sich alle vorgestellt und gesetzt hatten, hatten sie mit der Befragung begonnen.
Lea Lichtblau war wohl zu einer Verabredung mit einer Freundin ins Kino gegangen und war bereits spät dran und somit im Stress gewesen, darum hatte sie ihre Handtasche liegen gelassen und hatte auch nur mit Rennen den oben stehenden Bus noch bekommen.
Geweint hatte sie wegen des Schocks. Als sie wieder zu hause gewesen war, hatte sie es in den Nachrichten gesehen. Wäre sie eine Station länger mitgefahren, hätte sie kurz darauf tot in den Trümmern gelegen.
Wir verließen die Wohnung mit dem Versprechen, dass wir unser bestes geben würden, den Täter zu fangen.
„Dessen bin ich mir sicher.“
„Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen“, antwortete sie mit ihrer feinen leisen Stimme.
Man hatte mich hergebeten. Irgendetwas hatte ich noch zu tun.
Man hatte mir gesagt, dass ich mit drin stecken würde, ich käme nicht so schnell da raus. Nun gut. Ich hoffe nur, dass das nicht all zu schlimm für mich endet. Sie meinten, sie würden ihnen sagen, wer es war, ich würde im Knast landen, wenn ich ihnen nicht weiterhin helfen würde.
Jetzt stand ich hier, in dieser Straße. Ziemlich einsam. Bis auf ein paar wenige Passanten war niemand zu sehen. Hier sollte ich warten, auf wen auch immer, auf was auch immer ich tun sollte.
Ich weiß nicht wie sie mich gefunden haben. Ich habe nur einmal einen von ihnen getroffen. Soweit ich weiß, hab ich ihnen nichts über mich gesagt, nur, dass ich eine Freundin von Leon bin. Nichtmal meinen Nachnamen hab ich genannt.
Jedenfalls hatten sie es irgendwie geschafft, meine Nummer rauszukriegen.
Langsam wurde ich nervös. Ich kramte ungeduldig in meiner Jackentasche und holte mein Handy heraus. 9:38. Der Display verdunkelte sich wieder und ich ließ das Telefon wieder zurück gleiten. Sie verspäteten sich. Ich stand bereits mindestens zehn Minuten hier und ich fror immer mehr.
Kurz nachdem ich losgegangen war, hatte der leichte Nieselregen eingesetzt und trotz der lediglich winzigen Tropfen, waren meine Klamotten bereits klamm.
Wenn sie nicht bald kommen, werde ich einfach wieder gehen, beschloss ich, ohne es wirklich ernst zu nehmen.
Wir werden ihnen verraten, wer es war, wenn du nicht kommst, hatten sie gesagt.
Es gab keine Motive.
Zumindest waren ihnen bis jetzt keine eingefallen.
Im Allgemeinen wurde ein derartiger Anschlag von einer Drohung begleitet, oder der Grund dafür war in irgendeiner Form auch nur annähernd erkennbar. Doch in diesem Fall schien es keinen zu geben. Die Polizei wartete nur noch auf eine Regung von Seiten der Attentäter.
Man hatte die Leichen alle überprüft, keine der Leichen war irgendwie besonders gewesen. Es war kein lohnendes Ziel vorhanden gewesen. Man hatte durchaus in Betracht gezogen, dass es etwas Persönliches gewesen war, doch soviel Aufwand für den Mord an einem einzelnen Menschen? Da gab es einfachere Wege.
Nein, man bezweifelte, dass es um den Mord von Jemandem bestimmten ging. Es war davon auszugehen, dass die Täter spezielle politische Ziele verfolgten, auch wenn man noch nicht wusste in welche Richtung diese gingen.
Eine Form des Amoks war auch auszuschließen, da Amokläufe stets plötzlich und kurzentschlossen von Statten gingen.
Es war klar erkennbar, dass das Ganze, geplant gewesen war. Schon allein die Bombe selbst musste schließlich erst gebaut werden.
Also ein politisches Ziel, nur welches?
Das Auto hatte eine silbergraue Farbe gehabt. Sein Vater war sehr penibel gewesen, wenn es um seinen Wagen ging. Darum hatte er uns extra noch einmal ermahnt langsam zu fahren. Es war eine Ausnahme gewesen, sonst verlieh er seinen Wagen nicht, nicht mal seiner Frau überließ er ihn, wenn es nicht sein musste. Doch es war ja nur für eine Fahrt und wir waren außerdem spät dran gewesen.
Wir hatten dagesessen und Musik gehört. Und geredet. Über die Schule, das was wir danach machen wollten oder eben nicht, und über das, was uns dabei eben alles gerade so einfiel.
Doch dann hatte ich plötzlich aufgehört zu sprechen. Ich hatte ein Auto auf uns zukommen sehen. Es kam immer näher und wir fuhren auch noch.
Ab da hatte ich alles wie in Zeitlupe gesehen. Nein, anders. Es war nicht alles verlangsamt, sondern mein Auge konnte alles einfach schneller war nehmen. In gewisser Weise war es so, wie wenn man ein Daumenkino Seite für Seite umblättert. Ich habe beinahe jedes Detail wahrgenommen.
Ich habe geschrien. Habe gerufen, dass er bremsen soll.
Habe auf das immer näher kommende Auto gezeigt.
Leon hatte gebremst und hatte versucht ein wenig auszuweichen ohne auf die Spur mit den entgegenkommenden Autos zu gelangen. Doch es war zwecklos gewesen.
Der andere Wagen hatte sie mit beinahe voller Wucht angefahren.
Wir beide waren nach rechts geschleudert worden und ich bin gegen die kalte Fensterscheibe geknallt.
Erstaunlich wie genau man sich doch an solche Dinge erinnert.
Verwirrt blickte ich auf, ich war in Gedanken versunken gewesen. Gedanken, die ich eigentlich hatte vergessen wollen.
Nun konzentrierte ich mich wieder auf mein Umfeld.
Vor mir stand ein Mann. Er schien mit mir sprechen zu wollen. Verwirrt sah ich ihn an und runzelte die Stirn. Ich hatte mir den Überbringer der 'schlechten Nachricht' anders vorgestellt. Wie genau konnte ich nicht sagen, aber anders. Nicht so … normal.
Wortlos holte er eine CD mit der dazugehörigen Hülle aus seinem Rucksack und drückte sie mir in die Hand.
„Du solltest nicht länger warten, mach dich am besten gleich auf den Weg.“
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Worauf warten? Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt damit machen soll.“
Er schien überrascht. „Das weißt du nicht?“
Ich schüttelte nur den Kopf. So etwas sollte eigentlich besser organisiert sein.
„Nun gut, dann hör mir zu. Du weißt doch, was das dort ist, oder?“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der CD. Als er meinen noch verständnisloseren Gesichtsausdruck sah, beantwortete er sich seine Frage selbst und sprach weiter: „Okay, auf dieser CD sind sämtliche Forderungen. Es ist äußerst wichtig, dass diese schnell weitergetragen werden und auch ankommen. Das ist deine Aufgabe.“
In meinem Magen breitete sich Unbehagen aus. Die werden mich finden. Wenn ich das überbringe, wissen sie, wer es war.
Er schien meine Reaktion zwar wahrzunehmen, sprach jedoch unbeirrt weiter. „Am besten wäre es, auch für deine Sicherheit, wenn du...“
Und so erklärte er mir alles, was ich wissen sollte. Genau das, was ich tun würde.
Eine Viertelstunde später hatte ich das nächstbeste Internetcafé aufgesucht und startete gerade den Computer.
Es war immer noch früh am Morgen, sodass nicht viele Gäste da waren.
Ich konnte einen jungen Mann erkennen, der irgendetwas suchte und offenbar nicht fand, denn er wirkte immer gestresster. Außerdem sah ich eine Frau die offensichtlich mit jemandem chattete.
Ich öffnete das Laufwerk und legte behutsam die CD ein.
Auf meinen Wunsch hin, wurde sie überspielt und befand sich nun im System des Computers.
Der Mann hatte offenbar nicht gefunden, was er gesucht hatte und verließ das Geschäft.
Ich richtete mir im Internet einen neuen E-Mailaccount ein und verschickte eine Nachricht ohne Text und nur mit dem Video an die gewünschte Adresse.
Fertig.
Ich hatte mir das Video nicht angesehen und hatte auch nicht vor es noch zu tun. Erst recht nicht in einem Internetcafé.
Ich überlegte, ob ich diese neue Mailadresse löschen sollte, doch ich entschied mich dagegen, da ich mir nicht sicher war, dass die E-Mail dann noch ankommen würde.
Nur das Video entfernte ich aus dem Speicher.
Hoffentlich finden sie mich nicht.
Dann ging ich wieder und setzte mich in mein Lieblingscafé. Ich wollte endlich davon wegkommen und ein wenig Entspannung brauchte ich sowieso.
Mit einem lauwarmen Latte Macchiato setzte ich mich nach draußen, auf die Terrasse. Trotz, oder gerade wegen, des Nieselregens, welcher noch immer alles wie durch einen dünnen Schleier verschwimmen ließ. Obwohl ich es nicht wollte, wanderten meine Gedanken in meinem Gedächtnis um her und wühlten Dinge auf, die ich eigentlich schon längst vergessen haben sollte.
Ich hatte gespürt, wie unser Auto weggedrückt wurde. Konnte sehen, wie sich eine riesige Delle in dem Blech des Autos in der Fahrertür bildete. Immer noch hatte ich so etwas, wie 'geschärfte Sinne', und war in der Lage, alles um mich herum wahrzunehmen. Mich erinnerte das verbeulte Metall an eine Plastikflasche, die man ein wenig eingedrückt hatte. Allerdings war das begleitende Geräusch bei meinem Erlebnis deutlich lauter, als das Knistern einer Flasche, und der Schaden deutlich größer.
Die ersten Augenblicke nach dem Aufprall reagierte ich gar nicht weiter, ich starrte lediglich auf die, mir gegenüberliegende, Wagentür, wenn man sie überhaupt noch als solche verwenden oder bezeichnen konnte, und die darüber liegende Scheibe, welche zerbrochen war. Auch ohne den Blick schweifen zu lassen bemerkte ich, dass im vorderen Teil des Wagens überall kleinere und größere Splitter des eigentlich ziemlich robusten Glases lagen. Es war kaum noch Glas am Rahmen hängen geblieben. Leon hätte problemlos hindurch fassen und das andere Auto, welches natürlich immer noch, halb in, halb neben unserem Auto, stand, berühren können.
Obwohl. Vermutlich hätte er das nicht.
Er schien sein Bewusstsein verloren zu haben.
Als ich mich langsam von dem seltsamerweise fesselndem Anblick löste und mich nach vorn lehnte um zu sehen, was mit ihm passiert war, blieb mir für einen Moment die Luft weg und ich fing an vor Angst zu zittern. Ich hätte nie gedacht, dass solche Sachen auf dem normalen Weg nach hause passieren konnten. Nicht uns. Nicht heute. Wir waren einfach da gewesen, im Weg.
Er blutete, so viel konnte ich erkennen. Irgendetwas schien ihn getroffen zu haben. Seine ganze linke Seite sah demoliert aus. Sein Bein war aufgeschlitzt, etwas muss es geschrammt haben, der Schnitt wirkte jedenfalls sehr tief. Doch das nächste, was ich sah, war noch schlimmer. An seiner linken Seite war etwas anders. Ich konnte nicht sagen, was genau, aber es sah schrecklich aus und wenn ich es mir recht überlegte, wollte ich gar nicht wissen, was es wirklich war.
Auch ansonsten sah er nicht gerade okay aus:
Die Glassplitter hatten sich, wie Staub, auf seine Kleidung gelegt. Er war beinahe vollends von ihnen bedeckt. Außerdem schien ich nicht die einzige zu sein, die zitterte.
Dann rissen Sirenen mich aus meinen Gedanken.
Vorsichtig rappelte ich mich auf und schnallte mich ab, wobei ich versuchte möglichst nicht in die spitzen Scherben zu fassen.
Langsam öffnete ich die Tür und wollte mit einem mehr als nur mulmigem Bauchgefühl aussteigen.
Um uns herum war Chaos ausgebrochen. Zumindest sah es für mich zunächst danach aus.
Krankenwagen kamen näher, und da wo sie lang fuhren stob die Menge auseinander. Passanten waren auf den Gehwegen stehengeblieben und beobachteten, was als nächstes geschehen würde, ich konnte sogar eine alte Frau erkennen, die verschlafen aus dem Fenster blickte und nach draußen gaffte.
Vor drei Wochen war das gewesen. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass mindestens ein halbes Jahr vergangen war. Es war einfach zu viel passiert seitdem, es hatte zu viel Aufregung gegeben, viel zu viel. Außerdem hatte ich mich damit abfinden müssen. Ich glaube, es hat mein Leben zerstört. Er hat mein Leben zerstört. Und ich habe es zugelassen.
Gedankenverloren kritzelte ich mit meinem Kuli auf einer Serviette herum. Lauter große und kleine e's, denn die hatte ich aus irgendeinem Grund noch nie wirklich schön schreiben können.
Ich musste mich ablenken und auf etwas anderes konzentrieren.
Vielleicht kann ich vergessen, wie ich die e's schreibe und nur noch solche zeichnen, dachte ich mir und betrachtete ein besonders schön gelungenes Schriftzeichen auf der hellgelben, gefalteten Serviette.
Ja, oder du vergisst einfach zu atmen.
Ihm kam es vor als säßen sie schon seit Stunden in ihrem Büro.
Aber sie fanden trotzdem keine Lösung.
Sie wussten ja nicht mal, wo sie suchen sollten. Die einzige Aufgabe, die sie vom Abteilungsleiter bekommen hatten, war „Findet eine Lösung. Oder den Täter“. Ha ha, sehr lustig. Resignierend war das. Man hatte sie schon am Montag zur zerstörten Bahn beordert. Das war kein schöner Anblick gewesen. Wirklich nicht. Wie oft sieht man schon, so viele Tote und Verbrannte auf einmal? Er hatte dutzende von Menschen blutüberströmt und zum Teil verkohlt gesehen. Noch immer ging ihm dieser Anblick nicht mehr aus dem Kopf. Die eine Frau war kaum noch als solche erkennbar gewesen, sie war völlig verbrannt.
Wer tut so etwas? Es war mindestens das hundertste Mal, dass er sich das fragte. Und warum?
Er saß in seinem Stuhl, mit seinen Gedanken ganz woanders und das Gesicht in den Händen vergraben. So konnte er immer noch am besten nachdenken, und dabei alles um sich herum ausblenden. Nur, dass er weniger gut sehen konnte, ob jemand in den Raum kam, oder den Raum verließ.
„George! Wach auf!“
Er brauchte nicht mal aufzusehen. Er wusste wer dort stand, obwohl er nicht mal mitbekommen hatte wie sie gekommen, geschweige denn gegangen war.
„Du weißt ganz genau, dass ich nicht schlafe“, erwiderte er ruhig.
„Ja, ja. Ich weiß, du denkst nach, und es tut mir auch furchtbar leid, dich stören zu müssen. Aber jetzt steh auf, es ist wichtig, das musst du dir ansehen.“ Es klang wirklich dringend. Joanna wirkte gestresst.
Als er aufsah, sah er sie vor sich stehen mit verschränkten Armen und unruhig auf ihrer Lippe kauend. Er sah ihr an, was passiert war.
„Haben sie sich gemeldet?“
Sie erwiderte nichts, machte aber eine Kopfbewegung zur Tür.
Er seufzte kurz und folgte ihr zum Büro des Abteilungsleiters.
Vor der Milchglastür blieb sie stehen.
„Er ist nicht gerade gut gelaunt.“
Er nickte nur kurz. Er konnte das durchaus verstehen, auch wenn er ihn eigentlich nicht besonders mochte, schließlich stand er noch mehr unter Druck, als sie beide. Da ist man schon mal gestresst.
Als Markus Foster sie reinkommen sah, blickte er nur kurz in ihre Richtung und klickte dann kurz auf seinem Bildschirm herum. Er wies mit einer Hand auf die zwei Stühle vor seinem Schreibtisch, die dort schon immer standen, sie wirkten sogar so, als hätten sie schon dort gestanden bevor dieses Gebäude überhaupt zu einem Polizeirevier wurde. Sobald sie saßen, klickte er noch einmal und drehte ihnen danach den Bildschirm zu.
George wandte sich Letzterem zu. Er bemerkte aus dem Augenwinkel, dass ihr Chef sich zurücklehnte und die Finger verschränkte.
Der Bildschirm war schwarz bis auf die schmale Wiedergabeleiste am unteren Bildschirmrand.
Deprimiert schaute ich auf den Wecker.
00:37
Ich stöhnte genervt auf und ließ meinen Kopf mit meinem Gesicht nach unten zurück in die Kissen fallen.
Seit mittlerweile zwei Stunden hatte ich mein schweres Buch beiseite gelegt. Danach hatte ich eigentlich schlafen wollen. Aber im Endeffekt war ich nur in meinen Gedanken versunken und hatte mich in meinem Bett herum gerollt. Ein paar Mal war ich sogar in den Halbschlaf gesunken, doch hatte ich jedes Mal das Bedürfnis gehabt, meine Position zu ändern, hatte mich gedreht und war wieder hellwach gewesen. Ich hatte schon versucht einfach so liegen zu bleiben und das Gefühl zu unterdrücken, aber jenes hatte schlussendlich jedes Mal gesiegt. Ich lag also wiedermal hellwach, total erschöpft und entnervt auf der Seite und starrte die Wand an bzw. durch sie hindurch.
Vor meinem inneren Auge spielte sich ständig alles nochmal ab.
Zwar war das Einzige, was ich von der Explosion mitbekommen hatte, ein dumpfes Dröhnen gewesen, welches so leise gewesen war, dass ich es mir genauso gut eingebildet haben könnte, doch habe ich selbstverständlich die Nachrichten gesehen.
Die riesige Staubwolke in dem dunklen U-Bahntunnel hatte sich immer weiter ausgebreitet und schien sich kaum zu lichten. Wobei das vermutlich gut so war, denn ich hatte wenig Lust gehabt, auch den Rest noch sehen zu müssen. Das, was man erkennen konnte, war schon schlimm genug.
Etliche Tote und Verletzte.
Viele mit Brandwunden.
Der am Boden liegende Mann zum Beispiel ging mir nicht mehr aus dem Kopf, sein Rücken schien gebrannt zu haben, auch seine Haare, die vollständig abgebrannt waren, er hatte neben mir gesessen. Auch die Mutter und das Kind hatte ich im Bild gefunden. Das kleine Mädchen war völlig schwarz und verrußt gewesen.
Schniefend kramte ich in meiner Schublade nach Taschentüchern. Die Tränen ließ ich einfach laufen. Das Öffnen der Packung erwies sich als schwerwiegendes Problem, da meine Finger hemmungslos zitterten und ich kaum etwas sehen konnte, wegen der ganzen Tränen die mittlerweile aus meinen Augen quollen. Die Tatsache, dass sich das Bild des Mädchens immer wieder in meine Gedanken schob und dabei sämtliche Aufmerksamkeit auf sich zog, machte es auch nicht leichter.
Diese Momentaufnahme des toten Kindes wirkte auf mich, wie ein Ausschnitt aus einem Horrorfilm oder aus einem Albtraum, den Kinder nach Sehen eines solchen manchmal haben. Ich biss mir auf die Lippe.
Selbst schuld.
Heute wünschte ich mir, ich hätte 'nein' gesagt, oder wäre am Montag einfach sitzen geblieben, mit dem Wissen jeden Moment zu sterben. Sobald es 16:00 Uhr ist.
Wie sollte man nach so einem Tag schlafen können?
Sie wurde immer schlechter gelaunt. So langsam wollte sie einfach nur noch so lang durch sie Wohnung rennen, bis sie so müde war, dass sie ins Bett fallen und sofort einschlafen konnte.
Ihre Gedanken schwirrten immer noch um die Nachricht. Bisher war sie nie bei der Ermittlung eines Falls solcher Größe dabei gewesen. Und jetzt, wo sie so drüber nachdachte, wünschte sie sich in der Zeit zurück.
Sie gähnte. Da! Hast du das gesehen Hirn? Ich bin müde. Jetzt lass mich schlafen. Doch es klappte nicht. Sie stand auf, sie wusste, wenn sie länger im Bett liegen würde, würde sie auch nicht einschlafen.
Also taumelte sie in die Küche, nahm sich eine Tasse, goss Milch ein und stellte sie so in die Mikrowelle. Vergebens bemühte sie sich an etwas anderes zu denken, denn eigentlich hatte sie genug Anderes zum Grübeln. Über die Arbeit nachdenken soll der Kopf während der Arbeit, nicht zu hause. Doch sie wusste, nicht immer lässt sich das so gut trennen. Die Mikrowelle gab ein leises 'Pling' von sich und Joanna nahm die Tasse heraus und rührte sich ein wenig Honig darunter.
Entnervt setzte sie sich auf ihr Bett und schlürfte an ihrer Milch.
Eigentlich liebte sie ihre Arbeit, zumindest in sofern, dass sie sich ausgelastet füllte, gefördert, doch so was liebte sie ganz und gar nicht.
Die Botschaft hatte zusammengefasst besagt: „Seht, was wir tun können, nun gebt uns, was wir wollen, damit wir es nicht nochmal tun.“ - Und was wollten sie?
Die Antwort war, wie so oft,: Geld. Viel Geld.
Die Tasse war leer. Gedankenverloren stellte sie sie auf den Nachttisch und legte sich hin. Zunächst starrte sie an die Decke,dann schloss sie die Augen und versuchte ruhig zu atmen.
Vergebens.
Nach bestimmt einer halben Stunde zeigten sich immer noch nicht mal Anzeichen für Müdigkeit. Nun gut. Sie stand auf und ging zur Tür. Auf halbem Weg drehte sie wieder um, nahm ihre Tasse und stellte sie in der Küche ab. Nach weiteren zehn Minuten Suchen hatte sie gefunden, was sie gesucht hatte und lag alsbald ruhig schlafend in ihrem Bett, die Schachtel mit den Schlaftabletten neben ihr auf dem Nachttisch.
Gestresst schaute sie auf ihre Armbanduhr. 7:57
Hoffentlich kam sie nicht zu spät.
Sie rannte beinahe den gesamten restlichen Weg und trat nach wenigen Minuten keuchend durch die Bürotür.
„Zu spät“, lachte George.
Sie sah wieder auf die Uhr, in dem Moment zuckte der Minutenzeiger auf den ersten Strich neben der zwölf. Sie blickte hoch und verdrehte die Augen.
„Hast du nichts besseres zu tun?“
„Bis du da warst nicht. Wir müssen los.“
„Wohin?“
„Sie wissen wo die E-Mail herkam.“ Er ging voraus zum Haupteingang.
„So? Und woher?“ Joanna musste fast abermals rennen, als sie ihm nach hastete.
„Irgendein Internetcafé.“
„Und was sollen wir da?“
„Nichts sollen wir da. Sie haben dort Fingerabdrücke genommen.“
„Ganz toll. Und was sollen wir jetzt machen?“ Langsam nervte George sie. Er sollte doch gefälligst einfach erzählen, was er wusste.
„Nun ja, wir besuchen jetzt den passenden Menschen.“
Ich hatte mich auf dem Weg gemacht.
Ich war total nervös. Hoffentlich hielt ich lange genug durch. Als ich mich heute morgen im Spiegel gesehen hatte, war ich total blass gewesen, fast schon totenbleich.
Ich stieg in den Bus. Heute war er verhältnismäßig leer, was wahrscheinlich von der Uhrzeit kam, die meisten Leute waren jetzt auf Arbeit oder in der Schule. Nur sie nicht. Nur heute nicht. Vermutlich wäre sie so oder so nicht hingegangen, dafür fühlte sie sich viel zu mies, zu schwach.
Doch eine Hand hielt mich an meiner Kapuze fest.
Wobei fest der falsche Begriff war.
Eigentlich hing die Hand nur an ihr dran.
Ich zuckte zusammen und drehte mich um.
Alles um uns herum wirkte so verdreckt, so kaputt und generell zerstört, dass es mir gar nicht aufgefallen war, doch jetzt sah ich, wie ungesund er wirkte.
Er starrte mich an. Wäre ich nicht so geschockt gewesen, wäre ich vermutlich instinktiv zurück gewichen.
„Irgendetwas stimmt nicht.“ Seine Stimme klang seltsam.
Ich lachte kurz freudlos und schüttelte leicht den Kopf. „Irgendetwas?“
„Nein, nein ich meine, dass ich verletzt bin.“
Mein Blick wanderte zu seinem Bein. „Hab ich gesehen. Die kriegen das schon wieder hin.“ Ich sah nach draußen zu den Krankenwagen, die sich dort angesammelt hatten.
Verwirrt betrachtete er sein Bein. „Das-das meinte ich gar nicht. Ich glaube meine Rippe ist -“ Er wurde noch blasser und ich konnte sehen, wie er die Zähne zusammen biss. Seine Hand ruhte auf seinem Brustkorb. Dort musste... „Hör mir jetzt bitte zu. Ich glaube nämlich, dass das was Ernstes ist.“
Ich nickte leicht. Jetzt wusste ich, was mit seiner Stimme war, sie war zu schwach und zu kraftlos.
„Gut, das wird dir jetzt nicht gefallen.“
Irritiert runzelte ich die Stirn. „Inwiefern -“
„Wirst du schon merken. Ich hab dir doch von unserem großen Projekt erzählt, nicht? Hab dir doch gesagt, dass was Großes ansteht.“ Ich schluckte und nickte. Oh ja, das hatte er. „Du musst das übernehmen, das ist wirklich wichtig für die Anderen und es wäre schön zu wissen, dass ich sie damit jetzt nicht im Stich lasse.“
Jetzt wurde ich blass. „Du-du stirbst doch jetzt nicht! Hier sind lauter Krankenwagen und Sanitäter die dir helfen können! Die lassen dich hier nicht sterben!“ Ich hörte selbst, wie hoch und hysterisch meine Stimme klang.
„Wenn die wüssten, was ich -“ Er fing an zu husten, mitten im Satz, und abrupt. Leon hatte die Hand vor den Mund genommen. Er hielt inne. Nun wirkte er kurz betroffen, dann lächelte er leicht. Ironisch.
Er drehte die Hand so, dass ich die andere Seite sehen konnte. Ich riss die Augen auf.
„Bist du dir ganz sicher, dass ich nicht sterbe?“
Ich antwortete darauf nicht. Was sollte ich darauf auch sagen?
Jetzt kamen mir die Tränen. Schniefend fragte ich: „Worum geht es bei deinem 'Projekt'?“ Das letzte Wort sollte eigentlich abfällig klingen, schließlich wusste ich, wer 'die Anderen' waren, doch es gelang mir nicht richtig. Stattdessen war das letzte Wort kaum noch zu hören und ging in meinen Tränen beinahe unter.
Ich hatte bei dieser Erinnerung wieder angefangen leise zu weinen.
Zwar bemerkte ich, wie einige Leute im Bus bereits anfingen zu gucken, aber es war mir egal. Die konnten mir jetzt sowieso nicht mehr helfen.
Man hatte sie wieder ohne Weiteres hereingelassen. Nur stand diesmal, im Gegensatz zu gestern, eine Frau in der Tür mit schulterlangen Haaren.
Im Gegensatz zu ihrer Tochter, wirkte sie ziemlich selbstbewusst und richtete sich noch mehr auf, als sie die zwei Beamten die Treppe hoch kommen sah.
„Guten Tag“, begrüßte sie die beiden.
„Guten Tag“, erwiderte George.
„Wir müssen mit ihrer Tochter sprechen.“ Ich blieb ernst, wir mussten das so schnell wie möglich klären.
Zu aller erst wirkte sie verwirrt, dann erschrocken. „Tut mir leid, aber sie ist nicht zu hause.“ Sie sprach deutlich leiser als zuvor, wenn sie auch noch nicht flüsterte.
„Wo ist sie denn nun hingegangen?“
„Ich -“, sie stockte, „ich weiß es nicht, sie hat sich nur verabschiedet...“
George seufzte. „Okay, gut. Wir geben Ihnen eine Nummer, die Sie bitte anrufen, sobald Sie Näheres von Ihrer Tochter wissen, in Ordnung?“
Sie nickte. Joanna hatte schon einen Zettel heraus gekramt, auf den sie nun die Nummer des Polizeireviers schrieb.
„Gut, ich werde mich bei Ihnen melden.“ Joanna hatte bemerkt, wie sehr die arme Frau schockiert gewesen war, als sie gemerkt hatte, dass sie nicht wusste, wo ihre Tochter ist.
„Auf Wiedersehen.“ Sie lächelte ihr zuversichtlich zu und ging die Treppe hinab. George tat es ihr nach und auf dem Weg ins Erdgeschoss hörten sie, wie sich die Tür oben leise mit einem Klicken schloss. Unten blieben sie stehen, sahen sich kurz an und zuckten die Schultern. Was sollten sie auch machen?
Kurze Zeit später waren sie mit dem Auto auf dem Weg zurück zur Wache. Sie schwiegen beide. In Gedanken versunken, aber beide mit den Gedanken bei der gleichen Sache. Wo war sie? Keiner von beiden, hatte eigentlich angenommen, dass sie der Täter gewesen war. Aber es schien so. Obwohl sie nicht so wirkte.
Liebe Mum, Lieber Dad,
Sucht mich unter der 'Alten Brücke'.
Ich musste mal von zu hause weg und über einiges nachdenken.
Irgendwann werde ich mal mit euch darüber reden.
Hab euch ganz sehr lieb.
Wir sehen uns bald.
Ganz liebe Grüße, an alle!
Lea
Ich stieg aus dem Bus. Oft war ich schon hier gewesen, meist allein. Warum weiß ich nicht, aber es gefällt mir hier sehr.
Die Tränen liefen immer noch, aber es störte mich immer weniger. Ich hatte fast das Gefühl, als würden sie mich reinigen.
Leise vor mich hin singend, auch wenn ich es nicht besonders gut konnte, ging ich den schmalen Weg entlang, der immer mehr zu einer Art Trampelpfad wurde. Eigentlich kannte ich jeden schritt, den ich gehen musste, aber ich hatte Lust, das alles hier zu genießen und so richtig geht das nur, wenn ich es auch sehe.
Becoming who we are...
Ihr Mutter hatte angerufen. Es war ein Zettel in ihrem Zimmer gewesen, den sie gefunden hatte. Irgendein abgeschiedener Ort, am Rande der Stadt.
Natürlich könnte das eine Irreführung sein, aber irgendwie glaubten sie das nicht. Warum? Und wofür?
Viel wussten sie, um genau zu sein, nicht, aber gerade darum war es so wichtig sie zu finden. Sie mussten das aufklären.
Eine explodierte U-Bahn – so was durfte nicht noch einmal vorkommen.
Das Geld wollten sie auch nur im allergrößten Notfall zahlen, vorher würden sie versuchen sie alle ausfindig zu machen, es gab bessere Dinge, die man damit finanzieren konnte. Zum Beispiel bessere Sicherheitsvorkehrungen an U-Bahnstationen und den Tunneln. Aber nur so als Beispiel. Es gab schließlich noch genügend andere Investitionsmöglichkeiten.
Er war es gewesen. Er hatte mich dazu gebracht solche … Dinge zu tun.
Ich fühlte mich immer noch so schrecklich schuldig, obwohl ich gar nichts dafür konnte. Aber ich war nun mal dabei gewesen, hatte neben Leon gestanden, als er gestorben war. Weil ich auch neben ihm gesessen hatte, während des Unfalls.
Wahrscheinlich hätte ich mich nie bereit erklärt das zu übernehmen, in einer anderen Situation, selbst wenn er mich darum gebeten hätte, doch er hatte Blut gespuckt. Wie kann man einem Sterbenden etwas ausschlagen? Seinen letzten Wunsch?
Das kann man nicht.
Ich glaubte, dass selbst der tugendhafteste Mensch auf der Welt, einem Freund, der stirbt, Derartiges oder Schlimmeres versprechen könnte, wenn es wirklich ernst gemeint ist.
Schon seit Ewigkeiten hatte er in dieser Organisation drin gehangen. Bisher war alles, was sie getan hatte, kleinere Straftaten, wie Vandalismus oder Ähnliches gewesen. Nie etwas wirklich Ernsthaftes.
Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, was er mit 'großem Projekt' wirklich gemeint hatte. Solange nicht, bis er es mir im Auto erzählt hat und mir erklärt hat, was ich tun sollte.
Die U-Bahn in die Luft sprengen.
Ich wusste nicht, warum er da überhaupt mitgemacht hat. Er hat mir irgendwann mal erzählt, dass alles, was sie tun einen Zweck hat, etwas wie ein 'höheres Ziel', oder so.
Aber das ist Blödsinn.
Ich glaubte er hat keine Ahnung, worum es denen wirklich geht, und das glaube ich immer noch.
Jetzt ist er tot.
Seine Rippe war gebrochen, sie ist verrutscht und hat den linken Lungenflügel aufgeschlitzt. Er ist erstickt.
Sie haben mir beim Treffen im Prinzip nur die Tasche mit der Bombe drin gegeben. Ich bin sofort zur U-Bahn. Danach hatte sich das erledigt. Auch das Gespräch mit der jungen Frau war sehr kurz ausgefallen.
Sie bogen in die Straße ein. Sie mündete in einen verzweigten Waldweg.
Das Auto schlossen sie rasch ab und folgten dem Pfad nach der Beschreibung der Mutter. Ein schönes kleines Wäldchen.
Sie gingen zügig. Beinahe joggten sie den Fußweg entlang.
Kurz drauf hörten sie langsame leichte Schritte und bewegten sich leiser, unauffälliger.
Lea Lichtblau musste nur wenige Meter vor ihnen sein. Sie konnten bereits ihren Schemen zwischen den Bäumen erkennen.
Ich hatte diese Nacht beschlossen zu springen.
Warum auch nicht? Im Moment gibt es nichts Schönes für mich, und es hatte auch nicht den Anschein, als würde sich das bald ändern. Nicht wirklich.
Außerdem wirkt das alles gar nicht so schlimm für mich, auch wenn es das möglicherweise hätte tun sollen.
Es wirkt auch nicht endgültig. Nur vorübergehend.
Ich fühle den Wind in den Haaren, von hinten gegen mich drückend, als wollte er mich ermutigen.
Darüber muss ich lächeln. Ich wippe mich leicht vor und zurück und lasse mich dann endlich nach vorne fallen. Die zuvor geschlossenen Augen reiße ich auf.
Genieße den Moment.
… When september ends.
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Auf die konkrete Idee dieser Geschichte wäre ich niemals ohne eine gute Freundin von mir gekommen. Nur mit ihrer Hilfe, und einer Art mitternächtlichem Brainstormig, ist es mir gelunden das Grundgerüst hierfür zu formen.