Ich laufe, oder besser schleppe mich, die Straße entlang. Meine Schultern habe ich zum Ausgleich des Gewichts des Rucksacks nach vorn gezogen. Sie schmerzen unter seiner Last. Meine Umhängetasche stößt bei jedem Schritt den ich mache gegen mein Bein, ich musss dort jetzt schon einen fetten blauen Fleck haben. Die Sonne strahlt, aber davon bin ich nicht sehr begeistert. Mir ist zu warm. Während ich laufe fluche ich in Gedanken, was noch mehr Kopfschmerzen mit sich bringt, aber ich kann es nicht lassen, ich muss meine Wut rauslassen.
Ich verfluche meine Schule, in der ich viel zu viele Hausaufgaben bekomme und deshalb noch mehr Bücher schleppen muss. Ich verfluche mich selbst, weil ich gestresst und schlecht gelaunt bin. Ich beschwere mich über meine Eltern, die sich getrennt haben, weshalb ich mit mindestens zwei Taschen zum andern Elternteil muss. Ich schreie in mich hinein, wegen dem neuen Freund meiner Mutter, der zwar ein Auto hat, mich aber nicht fährt weil er ja Sport machen muss. Ich schimpfe über den Ersatzverkehr, der Schuld ist an einer Viertelstunde längeren Fahrt und einer Menge Leute die sich wie die Ölsardinen in den Bus gequetscht haben. Und ich bin sauer auf den Regen, der den Rest der Woche nur zur Genüge kam, heute aber offenbar zu faul ist um mir Abkühlung zu verschaffen.
Meine Kopfschmerzen sind jetzt schlimmer und mein Rücken fühlt sich auch nicht gerade gut an. Ich seufze und bewege meinen Fuß so schnell wie möglich vor den anderen.
Es ist schlimm. Ich habe einen Fehler gemacht. Wahrscheinlich hat jeder schon etwas derartiges getan, aber ich finde es unmöglich. Wie konnte ich nur? Meiner Freundin ging es dadurch schlecht, sie hat sich Sorgen gemacht. Und auch ich werde die Konsequenzen erleiden müssen. Das ist mir klar und ich muss damit leben. Schlimmer ist die Schande. Ich hätte so etwas vorher nicht von mir erwartet. Ich versinke in mir, bin angespannt und kann nicht wirklich lachen. Ich weiß nichts mit mir anzufangen, sondern warte nur auf morgen, dann wird meine Strafe kommen. Später werde ich es meinen Eltern erklären müssen. Aber vorher muss ich selbst damit klar kommen. Bloß wie?
Ich kann mit niemandem wirklich darüber reden. Die meisten meiner Freunde würden mich nicht verstehen. Ich habe das Gefühl das tun sie von Tag zu Tag weniger. Nur bei einer habe ich das Gefühl mich aussprechen zu können, hätte sie je Zeit für mich. Was nun? Ich werde innerlich zerfressen. Zumindest fühlt es sich so an. Das eigentliche Opfer, meine Freundin, hat sich schon mit mir ausgesprochen. Trotzdem. Es ist nicht nur das ich ein schlechtes Gewissen habe, sondern auch, dass die meisten es scheinbar gar nicht mitkriegen, wenn ich oder andere schlecht drauf sind. Das ist gefühlskalt und ich finde es traurig. Leider ist es nicht zu ändern. Und so sitze ich immer noch zwischen meinen Kissen und weiß nicht wie ich mir helfen kann.
Ich genieße den Schleier der Verzerrung und Stille, den der Nebel erzeugt. Ich mag solche Tage, alles wirkt gedämpft und bedeutungsvoller. Fasziniert bleibe ich stehen und beobachte die Abgase, die ähnlich dem Nebel Schlieren ziehen und sich auflösen. Schön wäre es, wenn das mit den Problemen genauso ginge. Einfach ausatmen. Ich sehe die kleinen Atemwölkchen vor meinem Mund und stelle mir vor, meine Probleme würden mit ihnen davongetragen. Würden aufsteigen und durch die Atmosphäre ins Universum gelangen. Dort wären sie für niemand eine Last. Leider nur Wunschdenken.
Noch in Gedanken versunken sehe ich auf. Sehe Scheinwerfer, vor ihnen Lichtkegel mit beleuchteten Partikelchen. Fast wie der Nebel. Fast. Der Nebel kommt nicht auf mich zu, die Scheinwerfer schon. Reflexartig schließe ich die Augen. Spüre wie ich von den Beinen gerissen werde. Über eine ziemlich glatte Oberfläche bäuchlings entlangschlittere. Meine Beine fühlen sich nicht gut an. Dann habe ich meine Augen schon wieder geöffnet und sehe den Boden auf mich zukommen. Komische, verdrehte Welt. Dann schließen sich meine Augen wieder.
Ich öffne meine Augen. Irgendetwas stimmt nicht. Ich weiß das.
Ich setze mich auf und sehe mich um. Krankenhaus. Ich bin in einem Krankenhaus.
Ich erinnere mich wieder. Alles fällt mir wieder ein, nur keine Details. Bis auf eins. Ich weiß noch genau, wie sich der Moment vor dem Aufprall für mich anfühlte. Fast als hätte ich in der Luft geschwebt. Irgendwie war das schön gewesen, seltsam, aber schön. Bei dem Gedanken muss ich lächeln. Ich erlebe einen Autounfall und finde ihn schön, also wirklich!
Ich war noch nie zuvor als Patient in einem Krankenhaus gewesen. Nicht in einem Krankenhausbett zumindest. Es ist tatsächlich alles auch hier so, wie auch in dem Krankenhauszimmer in dem meine Oma gestorben ist. Nur eine Sache ist anders.
Der Geruch. Ich rieche nichts. Wirklich GAR NICHTS. Sonst hatte es bei meinen Krankenhausbesuchen und auch in Geschichten immer nach Desinfektionsmittel und so gerochen. Hier nicht. Das ist seltsam.
Plötzlich geht die Tür auf. "Mum!" Ich lächele sie glücklich an, froh jemand bekanntes zu Gesicht zu bekommen. Noch im selben Moment wird mir klar, dass ich mich nicht gehört habe. Mein Lächeln erlischt. Sie wirkt traurig und mitgenommen. Was war passiert? Mir fällt etwas ein. Hatte ich mein Gehör verloren? Würde ich nie wieder etwas hören können? Verzweifelt sehe ich zu meiner Mutter. Nein, das kann nicht sein. Wobei soll man denn bei einem Autounfall sein Gehör verlieren? Das ist schon sehr unwahrscheinlich. Unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.
Ich verdränge den letzten Gedanken und sehe meiner Mutter in die Augen. Doch es ist anders als sonst. Wenn ich sonst Menschen in die Augen sehe, sehen sie zurück, zumindest reagieren sie irgendwie. Im Allgemeinen. Meine Mutter nicht, sie... Sie blickt durch mich durch.
Nun drehe ich mich auch um.
Ich sehe... Mich. Mich, wie ich im Bett liege, mit geschlossenen Augen und leichenblass...
Während ich ... auf mir drauf sitze. Nein, in mir sitze! Ich sehe an mir herunter. Oh-oh. Mein Blick wandert noch einmal zu der Person im Bett. Das bin ich nicht. Nicht mehr. "Leichenblass" war wohl tatsächlich der richtige Ausdruck gewesen. Ich schaue abermals auf meine Beine hinab. Sie ragen aus der Decke heraus, nicht unter ihr hervor sondern aus ihr heraus!
Ich trage meine Lieblingsjeans und ein neues Shirt, das ich vor kurzem mit einer Freundin gekauft hatte. Arme Julie.
Meine Mutter geht zu meinem alten Ich, zu meiner Hülle, hin und nimmt ihre Hand. Oh Mum...
Ich stehe vermutlich unter Schock. Zumindest ist es so, wie mir das beschrieben wurde. Aber gilt das auch noch für mich? So wie ich jetzt bin?
Ich sitze nur da und sehe auf meine alte, ihre Hand in der meiner Mutter. Ich bewege mich nicht. Warum auch? Wohin sollte ich auch gehen?
Nach geschlagenen zehn Minuten steht sie auf. Sie weint nicht. Leider. Dieser beinahe ausdruckslose Ausdruck in ihrem Gesicht und ihre leeren, roten Augen sind schlimmer als ein Weinkrampf. Man sieht ihr an, dass sie geweint hat. Es wirkt so als ob sich etwas in ihr zu einem riesigen Knoten verkrampft hätte. Ein fester Knoten, der sie aufrecht hält und nicht zulässt, dass sie dem aufgestauten Schmerz einfach nachgibt und zusammenbricht. Jeder der sie sieht muss sicherlich bei ihrem Anblick, ihren verschmierten Augen; ihrem blassen Gesicht und ihren zitternden Händen, denken "Bald ist es soweit. Bald hält sie das nicht mehr aus".
Traurig sehe ich sie an, nicht im Stande etwas anderes zu tun. Sobald sie steht drückt sie ihre Hand nocheinmal, legt sie zurück aufs Bett und starrt mehrere Sekunden auf die kalte, starre Hand, die früher mal die ihrer Tochter gewesen war. Dann dreht sie sich um und geht. Sie geht einfach.
Diese bloße Tatsache macht mir Angst. Ich weiß nicht wieso. Aber der Gedanke, hier in einem Krankenhaus; allein mit meinem alten Ich und in einem kahlen Raum; zurückzubleiben ist unerträglich für mich. Also folge ich ihr. Doch die Tür fällt vor mir zu. Ganz automatisch greife ich nach der Türklinke... und fasse durch sie durch. Meine Finger erstarren mitten in der Luft, nein, mitten in der Tür. Daran werde ich mich erst noch gewöhnen müssen.
Rasch hole ich zu meiner Mutter auf, wobei ich durch zahllose Schwingtüren und oft auch versehentlich durch Wandecken gleite. Kurz vor der Tür stockt Mum und zieht einen kleinen, schwarzen Regenschirm aus ihrer Tasche. Erleichtert blicke ich durch die Glastür und schreite hindurch. Regen wird helfen, ist mein einziger Gedanke, mein Gefühl in diesem Augenblick. Auch wenn ich nicht weiß, wieso ich das denke.
Schon bei meinen ersten Schritten nach draußen spüre ich tausende von winzigen Regentropfen auf meinem Haar, meinem Gesicht und meinen Armen hinunterlaufen. So groß wie gerade mal Stecknadelköpfe sind die Spuren auf meinem Körper. Und sogleich werden sie durch weitere fortgewaschen. Außerdem spüre ich den kühlen Wind über meine Arme streifen. Ich genieße die angenehm kühle Luft um mich herum, sie verschafft mir einen freien Kopf, und zugleich den Regen, der, zumindest für kurze Zeit, meine Sorgen wegwischt. Regen habe ich schon immer geliebt.
Zumindest erinnere ich mich daran. Daran, nach wochenlanger Trockenheit im Sommer bei Regen einfach rausgegangen zu sein und das Wasser genossen zu haben. Einfach so. Weil ich es schön fand. Nichts davon spüre ich. Ein Hauch von Nichts auf meiner Haut. Es ist einfach grauenvoll. Das ist das Einzige, was mir dazu einfällt.
Es fehlt.
Die Leere in mir wächst mit jedem Schritt. Es fehlt. Und nicht nur das: Ich rieche nichts. Weder den typischen Geruch von Regen noch die Abgase die einen sonst auf Schritt und Tritt auf den Straßen dieser Stadt umwuchern.
Wie in einem sterilen, vakuumverpackten Raum.
Meine Mutter läuft nach hause, das Krankenhaus ist gleich in der Nähe. Ich gehe hinter ihr her und sehe sie die ganze Zeit an. Obwohl ich das nicht müsste, ich weiß ganz genau wo wir lang müssen und auf die Ampeln brauche ich ja eigenlich nicht zu achten, dennoch bleibe ich an jeder einzelnen stehen. Neben Mum.
Nach nicht mal fünf Minuten sind wir angekommen. Dad ist arbeiten. Wie hält sie das nur alleine hier aus? Das muss furchtbar für sie sein... Den ganzen Tag über versucht sie sich abzulenken, das merke ich. Sie sieht aber nicht so aus als ob es funktioniert.
Ich sitze auf einem Stuhl und sehe Ma beim Fernsehen zu. Nein, ich sitze nicht. Ich habe festgestellt, dass ich, wenn ich nur will, schweben kann. Und genau das tue ich gerade: Ich schwebe... auf dem Stuhl.
Viele Menschen wünschen sich fliegen zu können. Ich kann es. Doch es macht keinen Spaß. Es ist keine Körperarbeit, keine Leistung. Du spürst nichts dabei, weder den Luftzug auf der Haut, noch sonst irgendetwas. DAS ist nicht schön.
Es ist schon ziemlich spät. Ich habe gesehen wie Mum telefoniert hat. Wahrscheinlich mit Dad. Offenbar ist er unterwegs und wird heute nicht mehr kommen. Meine Mutter geht schon zum Schlafzimmer und will sich hinlegen. Doch neben einer Tür stoppt sie abrupt.
Sie öffnet die Tür langsam und geht zügig zwei kleine Schriite rein. Sie sieht sich um und wird mit jeder Sekunde angespannter. Dann fängt sie an zu zittern. Ich stehe nur hilflos im Türrahmen und starre hinein. Plötzlich dreht sie sich um und geht, rennt beinahe, zurück in den Flur, wobei sie die Tür zuschmeißt und ich erschrocken mehrere Meter zurückweiche. Sie läuft ins Schlsfzimmer und als ich ihr folge sitzt sie in sich zusammmengesunken und schluchzend auf ihrem Bett. Ich schwebe neben ihr und umarme sie.
Ruckartig richte ich mich wieder auf, ich war durch Mum durchgefallen. Verwirrt stehe ich einige Momente da, bevor ich mich wieder daran erinnere. Du wirst sie nie wieder umarmen können. Niemanden.
Verzweiflung macht sich breit. Nistet sich in den Stellen ein, an denen vorher all jenes war, was ich jetzt nicht mehr habe. Wie soll ich das hier aushalten? Wie lange soll ich das aushalten?
Es ist als würde ich in einen riesigen Abgrund stürzen, in einen gigantischen Schlund voller stumpfer Zähne, die mich kauen aber nie richtig, vollends zerbeißen. Solange bis ich mürbe und erschöpft bin. Oder einfach nur entkräftet.
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2011
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