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Lanslevillard, Montag 3.7.1995



Ausgangspunkt für die Iserantour war der Campingplatz in Lanslevillard im Tal des Flüsschens Arc. Wieder einmal mit von der Partie war Freund Rainer, der für die Radtour auf den 'höchsten Pass der Alpen' eigens seine Surfidylle am 'Lac de Serre Ponçon' verlassen hat und zusammen mit Uschi gestern hierher geeilt ist. Das Prädikat 'höchster Pass der Alpen' für den 2770 m hohen Col de l'Iseran ist nicht unumstritten, ist doch die Schleife um die 'Cime de la Bonette' in ihrem Scheitelpunkt um gut 30 m höher. Diese Schleife ist jedoch im strengen Wortsinne kein Pass, eher eine verkehrsmäßig überflüssige, wenn auch eindrucksvolle touristische Attraktion. Die eigentliche Passhöhe des Bonette liegt dagegen 'nur' auf 2715 m.


Es ist 9 Uhr und der Rainer wird langsam ungeduldig. Er ist längst startklar und sieht demonstrativ immer wieder auf die Uhr. Es wird Zeit, dass auch ich endlich in die Gänge komme. Ich habe schlecht geschlafen, die erste Nacht im Zelt ist immer etwas gewöhnungsbedürftig. Außerdem plagen mich arge Rückenschmerzen. Nicht gerade ideale Voraussetzungen für eine anspruchsvolle Bergtour! Am liebsten würde ich das ganze Unternehmen um einen Tag verschieben, doch ich will mir keine Blöße geben und behalte meinen Wunsch für mich.


Kaum haben wir Lanslevillard (1479 m) verlassen, da beginnen auch schon die ersten Kehren hinauf zum 'Col de la Madeleine'. Es handelt sich hier nicht um den berühmten Tour-de-France-Pass, sondern vielmehr um einen unerwarteten Aufwärmhügel mit immerhin etwa 270 Höhenmetern und Steigungen bis zu 10 %. Die anschließende Talfahrt weist über eine Strecke von 2 km etwa 60 Höhenmeter auf. Im weiteren Verlauf steigt die Straße über Bessans (1720 m) in dem nun breiten Arctal bis Bonneval (1835 m) nur noch leicht an. Nach einem kurzen Aufenthalt in Bonneval sur Arc (km 0) beginnt der eigentliche Anstieg. Jetzt wird's ernst!




Wir stehen vor der Südrampe des Col de l'Iseran. Vor uns liegen liegen 900 Höhenmeter, verteilt auf eine Strecke von 13 km mit maximalen Steigungen bis zu 11 %. Zunächst geht es in zwei langgestreckten Kehren mit 8 bis 10 % Steigung den Hang hoch. Wir gewinnen schnell an Höhe. Die Häuser von Bonneval schrumpfen auf Spielzeuggröße. Nach etwa 4 km passieren wir die 'Gorges de la Lenta', die Schlucht des Lentabaches.



Die Steigung geht auf ein erträgliches Maß zurück. Uns bleiben etwa 1000 m zur Regeneration bevor mit ca. 10 % Steigung der nächste Anstieg beginnt. Vor uns türmen sich gleich mehrere 3000er mit ihren vergletscherten Flanken. Da ist zunächst die 'Pointe des Arses' mit einer Höhe von 3189 m, dann die 'Quille Noir' mit 3354 m und



dahinter der 'Aigle Pers' mit 3383 m.
Meine schlechte Kondition macht sich nun langsam bemerkbar. Die Beine werden immer schwerer und versagen ihren Dienst. In immer kürzeren Abständen bin ich gezwungen immer größere Pausen einzulegen. Mein Vorwärtskommen wird mühsam. Währenddessen zieht der Rainer, wie nicht anders zu erwarten, langsam aber stetig davon und entschwindet schon bald aus meinem Blickfeld. Doch ein Trost bleibt mir; die Rückenschmerzen, die mich anfangs so plagten, sind wie ausgelöscht, auf wundersame Weise wie weggezaubert. Ich führe dies auf die Rauschmittel der körpereigenen Apotheke zurück. Die durch die kontinuierliche körperliche Höchstleistung bewirkte Ausschüttung von Endorphinen macht nicht nur euphorisch, sondern hat offenbar auch einen schmerzstillenden Effekt. Es wäre interessant herauszufinden ob dieser Effekt etwas eleganter zu aktivieren sei, ohne dafür wie ein Besessener bergauf radeln zu müssen.


Den Straßenrand säumen nun immer häufiger alte Schneereste. Es wird unangenehm kühl. Nach mehreren steilen Kehren, so ab km 9, geht die Steigung wieder deutlich zurück. Gut 1000 m zum Erholen! Dann folgen die letzten 200 Höhenmeter. Der 3 km lange Schlussanstieg ist



bis zu 11 % steil und verlangt mir noch einmal alles ab. Ich mobilisiere meine letzten Kraftreserven!! Völlig ausgepumpt komme ich endlich oben an. Es ist vollbracht!!! Auf der Passhöhe wartet ausgeruht und entspannt der Rainer; seit gut einer halben Stunde, wie er mir glaubhaft versichert! Nach dem Gipfelfoto machen wir uns schon bald wieder auf den Rückweg, stürzen uns hinab in wärmere Gefilde. Hier oben weht, wie so oft in diesen Höhen, auch im Sommer meist eine unangenehm kalte und steife Brise.




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Tag der Veröffentlichung: 20.11.2011

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