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Manche Begegnungen im Leben bleiben fest im Gedächtnis haften, so als seien sie dort eingebrannt, und kehren, obwohl längst im Dunkel der Vergangenheit verschüttet geglaubt, oft ohne ersichtlichen Anlass in das Licht der Gegenwart zurück, so frisch als hätten sie erst gestern stattgefunden. Die folgende Episode ereignete sich vor einer Reihe von Jahren während einer Fahrradtour durch die Pyrenäen. Hier ein Auszug aus meinem schon leicht vergilbten Radtourentagebuch:

St. Jean Pied de Port, 10.6.1987

Zu Zeiten der großen Pilgerreisen, im Mittelalter, als die Menschen noch viel mehr Sünden abzubüßen hatten als heutzutage, war 'St. Jean Pied de Port', zu Füßen des 'Col de Roncevaux', die letzte französische Etappe und Sammelstelle auf dem Weg nach 'Santiago de Compostella' in Spanien. Der Ort scheint in dieser Beziehung auch heutzutage noch eine gewisse Anziehungskraft auszuüben. Mein Aufenthalt auf dem hiesigen Campingplatz ist jedoch weniger der inneren Einkehr als vielmehr der Tatsache geschuldet, dass ich gestern am späten Nachmittag ziemlich erschöpft hier eintraf und zum Weiterfahren einfach zu müde war.

Morgen steht mir, mit dem 1000 m hohen Col d'Aphanize ein schwerer Tag bevor. An einigen Stellen sind dort immerhin Steigungen von mehr als 10% zu überwinden. Deshalb ziehe ich mich schon früh in mein Zelt zurück. Ich liege noch eine Weile wach und beschäftige mich gedanklich noch einmal mit den Ereignissen des gestrigen Tages. Und da ist vor allem die irre Sache mit dem Pferd. Eine bizarre, haarsträubende Geschichte, die mir immer wieder im Kopf herum spukt.

Gestern also, am französisch-spanischen Grenzübergang bei Dancharia winkte man mich einfach durch. Die Zöllner zeigten nicht das geringste Interesse, weder an meiner Person, noch an meinen prallgefüllten Satteltaschen. Obwohl froh, mich nicht erst umständlich ausweisen oder gar Angaben zum Innhalt meiner Taschen machen zu müssen, war ich doch beinahe etwas gekränkt ob dieser demonstrativen Gleichgültigkeit. Was hätte ich da alles schmuggeln können!
Vor mir lag der 570 m hohe Puerto de Otxondo, ein Pass mit Steigungen bis zu 9 %. Doch noch verlief die Straße einigermaßen in der Horizontalen, und ich konnte ordentlich Fahrt machen. Frohgemut, nichts Böses ahnend, war ich gerade dabei mich schon mal mental auf die zu erwartende Plackerei einzustellen, da taucht plötzlich, am rechten Rand meines Gesichtsfeldes, dort, wo die Wahrnehmung schon ein wenig nachlässt und unscharf zu werden beginnt, etwas auf, das absolut nicht in das ansonsten so gefällige Landschaftsbild der Pyrenäen passt.

Im Straßengraben liegt ein Pferd!

Ich bin schon gut 20 Meter weiter, als mir die Absonderlichkeit des Gesehenen jäh bewusst wird. Sie trifft mich wie ein Schlag. Das muss ich mir genauer ansehen. Ich kehre um. Und tatsächlich, da liegt ein Pferd im Straßengraben, halb auf der Seite, halb auf dem Rücken, die Beine zur Straße hin ausgestreckt. Der Anblick hat etwas Unwirkliches, Schockierendes. Ich lege das Rad am Straßenrand ab und steige dann vorsichtig, um sicheren Tritt bemüht, in den knapp einen Meter tiefen Graben hinab. Das Pferd macht nicht nur einen äußerst gepflegten, sondern leider auch einen sehr toten Eindruck. Es atmet nicht, jedenfalls kann ich keine Atembewegungen feststellen. Auch machen sich an den weit geöffneten Augen schon Schwärme von Fliegen zu schaffen, die bei meinem Erscheinen, in einer unangenehm surrenden Wolke wütend auseinander stieben. Auf der mir zugewandten Seite des Kadavers sind keinerlei Verletzungen zu erkennen. Das braune Fell glänzt vor Sauberkeit und scheint erst vor kurzem gestriegelt worden zu sein. Die lange Mähne ist tadellos gebürstet. Was mag hier wohl passiert sein? Die Situation hat etwas Beklemmendes, ja Unheimliches. Es drängt mich wieder nach oben, raus aus der Rinne.
Heute Nacht muss es hier heftig geregnet haben, denn beim Verlassen des Grabens komme ich auf der noch feuchten, glitschigen Erde ins Rutschen und stürze rücklings zurück in die Grube. Ich lande weich, unangenehm weich, auf dem Bauch des Pferdes. Der enge Kontakt mit der noch warmen Pferdeleiche ist mir unerträglich. Entsetzt greife ich reflexartig in einen nahen, leider ziemlich stacheligen Ginsterbusch. Die Schmerzen missachtend gelingt es mir mich an ihm nach oben zu ziehen. Wieder auf der Straße atme ich erst einmal tief durch. Der Schreck steckt mir in allen Gliedern. Ich brauche eine ganze Weile um wieder zu mir zu finden. Unschlüssig sehe ich mich um. Das ist hier eine ziemlich dünn besiedelte Gegend. Ringsum tiefe, Ohren betörende Stille! Weit und breit ist keine Behausung, kein Mensch zu sehen. Mir wird langsam klar, dass es hier momentan nichts für mich zu tun gibt. Vielleicht kann ich ja unterwegs noch jemanden verständigen. Jetzt jedenfalls ergibt es keinen Sinn hier noch länger zu verweilen.
Ich will mich gerade wieder aufs Rad schwingen, da ertönt in der Ferne, aus der Richtung aus der ich gekommen war, das Geknatter eines Motorrads. Dieses kommt langsam näher und entpuppt sich allmählich als Moped. Auf ihm sitzt, sich immer wieder nach allen Seiten umsehend, Louis de Funès! Zumindest sieht der Typ auf dem altersschwachen Vehikel dem französischen Filmkomiker wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Louis macht einen besorgten, irgendwie gehetzten Eindruck, und als er das Pferd erblickt, ergreift ihn blankes Entsetzen. Unsanft und unter lautem Getöse stößt er das Moped ohne es abzustellen auf die Straße und springt mit einem einzigen, gewaltigen Satz in den Graben. Der Fliegenschwarm fühlt sich erneut belästigt und schwirrt erbost aufbrausend in die Lüfte. Louis nimmt davon keine Notiz. Über das Pferd gebeugt befühlt er den Hals des Tieres. Er verharrt eine Weile in dieser gebückten, mir abgewandten Haltung. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, ahne aber, was in ihm vorgeht. Er muss irgendwie für das Pferd verantwortlich sein. Vielleicht ist er Stallknecht auf einem Gestüt hier in der Nähe und das Pferd ist ihm entkommen. Vielleicht ist er gar der Besitzer. Jedenfalls scheint er ein sehr inniges Verhältnis zu dem Tier zu haben, denn als er endlich nach oben kommt, hat er Tränen in den geröteten Augen. Ein erbarmungswürdiger Anblick, der auch mir den Hals etwas enger macht.
Louis' Trauer indes ist nicht von langer Dauer. Als ihm meine Anwesenheit bewusst wird, schlägt seine Stimmung augenblicklich um. Meine bunte Radlerkluft scheint auf ihn wie ein rotes Tuch zu wirken. Der Vergleich scheint mir im Land des Stierkampfs nicht unangebracht zu sein. Wütend redet er auf mich ein, auf Spanisch, versteht sich. Auch ohne Spanischkenntnisse bekomme ich mit, dass er mich tatsächlich für den Missetäter, für den Verursacher dieser Tragödie hält. Ich kann es nicht fassen. Er gerät immer mehr in Rage und kommt wild gestikulierend auf mich zu. Sein exaltiertes Auftreten wirkt auf mich einigermaßen bedrohlich. Sicherheitshalber weiche ich, auf einen gebührenden Abstand achtend, langsam zurück und versuche ihm zu erklären, zuerst auf Englisch, dann auf Französisch, dass ich mit der ganzen Sache nichts zu tun habe und selbst erst vor ein paar Minuten hier eingetroffen sei und dass das Pferd da schon tot war. Er versteht mich nicht und tobt weiter. Doch dann, unversehens, scheint er zu erkennen, dass seine Ausführungen bei mir nicht gerade auf fruchtbaren Boden fallen. Er stutzt einen Moment und faucht mich dann in beinahe akzentfreiem Deutsch an: "Was hast du gemacht, was ist passiert?" Froh, mit ihm deutsch sprechen zu können, beteuere ich erneut meine Unschuld. Auch gebe ich ihm zu verstehen, dass sein Pferd möglicherweise von einem Auto angefahren wurde. Das Tier könnte dabei einen tödlichen Schock erlitten haben und in den Graben gestürzt sein.
Louis denkt einen Augenblick nach, findet offenbar, dass es so gewesen sein könnte und verfällt wieder in tiefe Trauer. Endlich stellt er sein Moped ab. Geistesabwesend starrt er auf das tote Pferd. Hilflos suche ich nach trostreichen Worten, doch, so sehr ich mich auch anstrenge, außer der gängigen Formel, "Kopf hoch, das Leben geht weiter", fällt mir nichts Geeignetes ein. Louis scheint keinen Sinn für derartige Platituden zu haben, denn er stiert weiter, irgendwelche finsteren spanischen Verwünschungen murmelnd, in den Graben. Bestrebt, weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, schwinge ich mich kurzerhand mit einem knappen "adios, buenos dias!" aufs Rad, und mache, dass ich weg komme.

In den steilen, schweißtreibenden Passagen des Puerto de Otxondo bekomme ich langsam den Kopf wieder frei, und die ansprechende Landschaft der Pyrenäen hilft mir die bedrückende Stimmung erfolgreich zu verdrängen. Im Nachhinein betrachtet kommt mir die ganze Geschichte ziemlich spanisch vor. Andererseits glaube ich, dass auch hier, wie so oft, der erste Eindruck täuscht. Auch in Spanien dürften tote Pferde am Straßenrand wohl eher die Ausnahme sein.

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Tag der Veröffentlichung: 22.09.2011

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