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Malaucène, 23. August 1987

  
Ganz in der Nähe kräht schon seit geraumer Zeit ein Hahn. Sein heiseres Gekrächze holt mich nach und nach aus meinen Träumen.


Bild 1, Wässriges Hellgrau

Schlaftrunken schlüpfe ich aus dem Zelt, richte mich gähnend auf und traue meinen Augen kaum
Dort wo gestern noch so imposant die Pyramide des Mont Ventoux hoch über der Ortschaft Malaucène thronte, verschleiert nun wässriges Hellgrau das imponierende Bergmassiv (Bild 1). Aus den nassen Wiesen und Obstgärten steigen weiße Nebelfetzen und verbünden sich mit den tiefhängenden Regenwolken zu einem dunstigen Einerlei. Dieses an sich nicht reizlose Szenario kommt mir gerade jetzt äußerst ungelegen, habe ich mir doch in den Kopf gesetzt heute den Ventoux zu bezwingen. Die Ungewissheit, mein seit langem geplantes Vorhaben eventuell verschieben und besseres Wetter abwarten zu müssen, lässt meine Stimmung nicht gerade eskalieren. Ziemlich missmutig bereite ich mein Frühstück, brühe den Pulverkaffe auf und überlege, was ich an einem so trüben Tag noch Sinnvolles unternehmen könnte. Während ich noch ausdauernd an einer original luftgetrockneten, etwas zähen französischen Salami herumkaue kommt plötzlich leichter Wind auf und bringt etwas Bewegung in die statischtrüben Luftmassen. Es dauert auch nicht lange und erste Sonnenstrahlen brechen durch die sich zögernd auflösende Wolkendecke. Nach und nach werden die Konturen des Berges sichtbar. Was für ein Anblick! Ich schöpfe neue Hoffnung und verfolge erwartungsvoll die vielversprechende Entwicklung. 
Im Departement Vaucluse, nordöstlich von Carpentras gelegen, ist der Mont Ventoux mit seinen 1909 m die höchste Erhebung der Provence. Den Kelten war er heilig, sie nannten ihn 'Ven Top', den weißen Berg, und waren fest davon überzeugt, dass es auf seinem Gipfel von Dämonen und bösen Geistern nur so wimmelt. Die Römer gaben ihm den Namen "Ventosus", der Windumtoste, und die Provenzalen heute nennen ihn den Riesen, den 'Géant de Provence', oder wegen der weithin sichtbaren, blendend weißen Steinwüste seines Gipfels, auch den Kahlen, den 'Mont Chauve'. Der wohl berühmteste 'Erstbesteiger' des provenzalischen Riesen war der italienische Dichter, Humanist und Philosoph Francesco Petrarca. Er war einer der ersten, die sich aufmachten Hochgebirgsgipfel zu erklimmen und bestieg den Berg am 26. April des Jahres 1336, einem Tag, der für viele den Beginn des Alpinismus markiert. Über die Motivation des Petrarca ist bekannt, dass es ihm in erster Linie wohl darum ging, die Welt einmal von oben betrachten zu können. Schaulust und Landschaftserleben waren ihm Ansporn genug die Strapazen und Gefahren eines langen Aufstiegs durch unwegsames Gelände auf sich zu nehmen. 
Haben sich auch seit Petrarcas Zeiten die Wegeverhältnisse entscheidend gebessert, so sollte man doch als Radfahrer diesen exponierten Bergriesen niemals unterschätzen und ihm mindestens so viel Respekt zollen wie den großen Alpenpässen. Er ist ziemlich tückisch!! Allen Winden (tous le vents -» Ventoux ) ausgesetzt und die Wolken der gesamten Umgebung magisch auf sich ziehend, kann sich das Wetter da oben sehr viel schneller verschlechtern als anderswo. Unerträgliche Hitze vermag urplötzlich und ohne Vorwarnung in polare Kälte umzuschlagen. Verheerende Unwetter sind keine Seltenheit. Eine Besonderheit, die man diesem Berg im milden provenzalischen Klima seiner Umgebung nicht zutrauen würde. Der über den Ventoux führende Straßenpass nennt sich bezeichnender weise 'Col de Tempète' und liegt auf einer Höhe von 1841 m. Um mit dem Fahrrad dort hinauf zu gelangen, bieten sich drei Möglichkeiten. Man kann von Bédoin (310 m) aus die südliche Route wählen, sie ist die schwierigste, im Sommer sehr heiß und daher nur passionierten Sonnenanbetern zu empfehlen. Einige Höhenmeter lassen sich sparen, wenn man den Berg auf der D164 von Osten her angeht. Ausgangspunkt ist der bereits auf einer Höhe von 766 m gelegene Ort Sault. Bei Chalet Reynard (1420 m) mündet diese Strecke in die D974 der Südroute. Der Empfehlung eines Radprofis aus 'Saint Remis de Provence' folgend, dem ich auf dem 'Col d'Izoard' begegnete und der alle 3 Routen ausprobiert hatte, entschied ich mich für die nördliche Variante mit dem 365 m hoch gelegenen Startpunkt in Malaucène.
Während der Autofahrt von Sisteron durchs 'Vallée de Jabron' nach Malaucéne, taucht schon sehr bald im Südwesten das gewaltige Massiv des Ventoux auf (Bild 2). Der imponierende Anblick seiner Nordabhänge lässt neben schierer Begeisterung auch leichte Zweifel an der nötigen, eigenen Kondition für die bevorstehende Fahrradtour aufkommen.


Bild 2, Mont Ventoux


Das Wetter bessert sich zusehends. Was ich vor kurzem nicht zu hoffen wagte, wird Wirklichkeit. Nach und nach verzieht sich der feuchtgraue Wolkenschleier, löst sich einfach auf, und ein strahlend blauer Himmel wölbt sich über das grandiose Bergmassiv. (Bild 3).


Bild 3, Malaucéne mit Mt. Ventoux

Nun gibt es kein Halten mehr. Eilig mache ich mich startklar, fülle zwei Trinkflaschen, räume hurtig das Frühstücksgeschirr weg, und ab geht's. 
Malaucéne liegt schnell hinter mir, die ersten Steigungen machen kaum Mühe. Ich gewinne schnell an Höhe. Immer wieder gibt der nicht sehr dichte Wald einen Blick auf die schon tief unten liegende Ebene frei.
Bei mäßiger Steigung geht's zunächst flott voran, den Mont Ventoux fest im Blickfeld (Bild 4).
Der bisher makellos blaue Himmel zeigt erste weiße Schlieren. Der Weg wird steiler, dann wieder etwas flacher. Vom Gipfel ist nun nichts mehr zu sehen, aber ich bin sicher, irgendwo hinter diesen grünen, dichtbewaldeten Hügeln wartet er darauf von mir erklommen zu werden. Ich lege eine kleine Pause ein, mache ein paar Lockerungsübungen und steige wieder in den Sattel. Die Sonne ist inzwischen hinter dicken Wolken verschwunden, es ist deutlich kühler geworden. Die Steigung ist moderat und ich komme gut voran.
Inzwischen fängt es zu nieseln an und tiefhängende Wolken vernebeln immer wieder die Sicht. Ich ziehe den Regenumhang über.


Bild 4, ... den Mont Ventoux fest im Blickfeld

Es wird langsam ungemütlich und er Nebel immer dichter. Ich überlege ob es nicht besser wäre, einfach umzukehren und in Malaucéne gemütlich zu Mittag zu essen. Von Zweifeln geplagt, ist mir der Gedanke an Umkehr nicht unsympathisch. Während ich innerlich noch mit mir ringe, wird mir die Entscheidung abgenommen, und zwar in Gestalt eines Radlers, der just in diesem, für mich mental etwas schwierigen Moment, hinter mir aus dem Nebel auftaucht, mich mit einem flüchtig hingeworfenen "Salut" locker überholt, und wieder im Nebel verschwindet. Das ist zuviel. Mein Ehrgeiz ist geweckt, mir ist unverständlich, wie ich auch nur einen einzigen Augenblick an Umkehr denken konnte. Es folgen einige Serpentinen, dann wird es deutlich steiler, zwei langgezogene gerade Abschnitte mit mindestens 10 % Steigung. Ich bin an der Grenze meiner Leistungsfähigkeit angelangt, bekomme einfach nicht mehr genügend Luft. Vermutlich durch den Sauerstoffmangel bedingt, beginne ich nach einem tieferen Sinn für all diese Schinderei zu suchen. Ich finde keinen. Auch Petrarca hilft mir hier nicht weiter. Die Steigung lässt wieder nach und mit ihr auch meine Zweifel. Ich stelle die Sinnsuche wieder ein. Es ist jetzt ausgesprochen kalt, trotzdem komme ich ziemlich ins Schwitzen. Unter der Regenhaut bin ich patschnass. Aus dem leichten Nieseln ist inzwischen richtiger Regen geworden. Je höher ich komme, desto kälter wird es. Zudem weht nun ein eisiger, böiger Wind. Der Weg führt schon seit geraumer Zeit durch blanken Fels. Es wird noch mal steil. Dann, noch eine letzte Kehre und ich erreiche, bibbernd vor Kälte, den Gipfel. Ich brauche dringend einen Unterschlupf um die nasse klamme Kleidung gegen Trockene auszutauschen. Rechts sehe ich einen Andenkenladen, der scheint mir hierfür nicht besonders geeignet zu sein. Ich radle weiter. Der Wind pfeift mir um die Ohren und ich habe Mühe einen einigermaßen geraden Kurs zu steuern. Da, es geht schon wieder leicht bergab, kommt ein Restaurant in Sicht, das 'Vendran'. Ich bin gerettet! In dem kleinen Vorraum, der wie eine Schleuse den Gastraum von der ungastlichen Außenwelt trennt, ziehe ich mich um. Das wohlige Gefühl wieder trockene Klamotten am Leib zu haben, wird durch die angenehme Wärme im Gastraum noch gesteigert. Ein heißer Tee mit Rum verfehlt nicht seine Wirkung. Das Restaurant ist überfüllt, kein Wunder bei dem Wetter. Mein Tischnachbar, ein Holländer, ist von Bedoin aus hier herauf geradelt. Auch er hat es nicht leicht gehabt und ist froh hier im Trockenen zu sitzen. Gemeinsames Leid verbindet! Während draußen ein heftiges Gewitter niedergeht, bestellen wir uns drinnen noch ein Bier und tauschen Erfahrungen aus.
Trotz der angeregten Unterhaltung mache ich mir angesichts des anhaltenden Unwetters langsam Gedanken über die Abfahrt. Meinen ursprünglichen Plan, im Süden abzufahren und über Bedoin nach Malaucène zurückzukehren, habe ich längst aufgegeben. Als der Regen dann endlich etwas nachlässt, will ich meine Geduld nicht länger strapazieren und trete eiligst den Rückweg an. Doch ich soll nicht weit kommen! Hinter der ersten Linkskehre lauert ein Happening der besonderen Art. Eine aus den Tiefen des Nordhangs hochbrausende Sturmbö trifft mich völlig unvorbereitet. Ihr kräftiger Luftstoß verirrt sich in den Weiten meines Regenumhangs, reißt ihn mit einem lauten Knall nach oben und nimmt mir schlagartig die Sicht. Gleichzeitig setzt heftiger, waagrecht auf mich einpeitschender Platzregen ein. Einen Moment lang bin ich vor Entsetzen wie gelähmt. Ich getraue mich nicht die Hände vom Lenker zu nehmen um den Umhang herunterzureißen und mir wieder Sicht zu verschaffen. Starr vor Schreck und Kälte greife ich instinktiv in die Bremsen und steuere blind nach links zur Straßenmitte hin - nur weg vom Abgrund! Die nassen Bremsen quietschen und zeigen kaum Wirkung. Nach einigen Sekunden, sie scheinen mir wie eine kleine Ewigkeit, komme ich dennoch zum Stehen. Der Umhang fällt. Der Schock steckt mir noch in allen Gliedern. Ich befinde mich unmittelbar vor der Felswand auf der linken Straßenseite. Erleichtert hole ich erst einmal tief Luft. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich wieder einmal völlig durchnässt bin. Geschwind steige ich ab und haste, das Rad bergauf schiebend, eilig zurück. Wolkenfetzen jagen um die Felskante, es schüttet wie aus Eimern. Ich muss dringend ins Trockene. Der Andenkenladen rechterhand kommt mir nun als Unterstand sehr gelegen.
Es sind nur ein paar Leute im Laden. Mein triefender Anblick erregt sogleich allgemeines Interesse. Erstaunt werde ich betrachtet, so als käme ich von einem anderen Stern. In dem weiten Regenumhang, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, komme ich mir selbst etwas außerirdisch vor. Bemüht, die mitleidig inquisitorischen Blicke zu ignorieren, beschäftige ich mich eindringlich mit dem Ansichtskartenständer. Unter mir bildet sich eine kleine Pfütze. Das ist mir zwar etwas peinlich, doch die Verkäuferin scheint es nicht zu stören. Sie zeigt Verständnis für meine Misere und lächelt mir freundlich zu. Zum Dank dafür kaufe ich ihr zwei Ansichtskarten ab. Sie stellen den kahlen Gipfel unter einem tiefblauen Himmel dar. So also sieht es hier oben aus (Bild 5)!


Bild 5, Der Gipfel

Ich werde das Gefühl nicht los, zur falschen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Der zweite Abfahrtsversuch ist dann von Erfolg gekrönt. Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen. Dennoch lasse ich den Umhang an, um in der feuchten Kleidung nicht gänzlich auszukühlen. Vorsichtig nehme ich die noch regennassen Kurven. Obwohl mit abnehmender Höhe auch die Kälte zurück geht, wird mir nicht mehr so richtig warm. Erst eine heiße Dusche auf dem Campingplatz (Bild 6) bringt hier Abhilfe. Vor dem Zelt sitzend, bei einem Glas 'Côte de Mont Ventoux', genieße ich die wohlige Wirkung dieses kräftigen Weins. Den immer noch wolkenverhangenen Gipfel fest im Blick schwöre ich mit drohend geballter Faust: "Ich komme wieder!"

Bild 6, Camping Municipal, Malaucene


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Tag der Veröffentlichung: 21.08.2011

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