„Ihr habt heute wieder hoch gewettet.“, sagte einer der Grauen Anzüge mit hochgezogenen Augenbrauen zum Gastgeber des heutigen Abends.
Dieser neigte nur leicht den Kopf und quittierte den Versuch, ihm vielleicht einige nützliche Informationen über seine Kandidatin zu entlocken, mit dem ihm eigenen zurückhaltenden Lächeln. Zwischen den Augenbrauen seines Gegenübers zeigte sich nun eine schmale Falte der Verstimmung, die er trotz seiner lebenslangen Erfahrung aus geschäftlichen Verhandlungen nicht ganz unterdrücken konnte. Er wollte gerade ansetzen Luft zu holen, um einen neuen Versuch zu starten, als ein sanftes Hupen ertönte und der kleine Saal sich zu verdunkeln begann. Der Graue Anzug sah über die Schulter seines Gastgebers hinweg, wie der helle giftgrüne Schimmer der Wetttafel an der Wand ebenfalls verblasste und wandte sich mit leicht verzogenen Mundwinkeln ab. „Ach, egal. Wir werden ja gleich sehen.“
In dem Raum, der nur schmucklose graue Betonwände hatte, befanden sich beinahe zwei Dutzend Geschäftsleute, die sich rasch auf ein paar ebenso graue und schmucklose runde Metalltische verteilten und der Wand gegenüber dem Eingang zuwandten. Diese wurde unter leichtem anhaltendem Schimmern durchsichtig und war jetzt die einzige Lichtquelle.
Der Ausblick war unverfälscht und gab das Spielfeld 20 Meter unter ihnen wie im Blick durch ein normales Fenster wieder. Die Gäste schätzten die direkte Wahrnehmung des Spektakels, das machte alles viel realer. Allerdings würde die Panoramaperspektive bald ergänzt durch einige kleine informative und hinein gezoomte Hologramme vor der Wand, da sie das Interessanteste sonst doch verpassen würden.
Maria war ganz dicht über dem Boden, ihre Arme und Beine weit von sich gestreckt und nur auf Finger- und Zehenspitzen gestützt. Sie lauschte in die Stille des Urwalds um sich herum. Ihr blondes Haar war kurz und hing ihr dennoch ein wenig ins Gesicht. Das behinderte sie aber nicht, bald würde es ohnehin am Schweiß auf ihrer Haut kleben.
Sie bewegte sich schnell ein paar Meter vorwärts und sah dabei aus wie eine Kreuzung aus Spinne und Alligator. Ihre Bewegungen waren nicht elegant, sondern einfach nur effizient und angsteinflößend auf Grund ihrer unnatürlichen Schnelligkeit. Sie hielt den geringen Abstand zum Boden exakt ein, folgte jeder Bodenwelle um in der Deckung der niedrigen Bodenvegetation zu bleiben, ohne dabei mit ihrem Körper das Laub auf dem Boden zu berühren und so mit unerwünschten Geräuschen auf sich aufmerksam zu machen. Wegen ihrer geringen Körpergröße und extrem schlanken Statur – nun ja, was sollte man von einem Mädchen von elf Jahren anderes erwarten – konnte sie sich sogar noch unter den Blättern einiger Farne halten ohne weder das Blatt über ihr, noch das toten Laub unter ihr zu berühren.
Ein Knacken, für jeden normalen Menschen unhörbar, zu ihrer Rechten; ein Blick unter dem Farn hindurch. Es war nichts zu sehen, die Vegetation war zu dicht. Aber sie hatte das Geräusch genau ausgemacht, etwas weniger als 20 Meter entfernt. Sie hatte also noch genug Zeit, sich in eine günstigere Position zu bringen.
Der Söldner schlich geduckt weiter, die in vielen Kämpfen geschärften Augen nicht auf seine unmittelbare Umgebung gerichtet, sondern auf den Perimeter seiner beschränkten Sicht in diesem Dickicht. Alles was sich in seiner Nähe befand hatte er bereits beim Vorrücken überprüft, als es noch der vorherige Perimeter gewesen war. Von dort drohte ihm keine Gefahr mehr; alles was man dort sehen konnte, hatte er schon gesehen. Effizienz war hier alles, einen Blick zurück auf schon bekanntes konnte er sich nicht leisten, das wusste er aus blutigen und schmerzvollen Erfahrungen. Hier konnte man zwar nur zwei oder drei Meter weit voraus schauen, aber das machte die Aufgabe eher schwieriger als leichter, denn es gab auf diesen paar Metern mehr zu überprüfen, als in jedem Häuserkampf. Man musste hier nicht nur auf den Boden und die nächste Ecke achten, sondern auch auf die hier bis zu zwanzig Meter hohen Bäume und ihr dichtes Blattwerk. Verflucht, warum ausgerechnet Urwald und das bei seinem ersten – er hielt plötzlich mitten in der Bewegung still, war sofort völlig regungslos. Kein Zittern, kein Nachkippen nach vorn. Sein Gesicht war angespannter, als selbst seine engsten Kumpane, mit denen er die brenzligsten Situationen durchstanden hatte, es je erlebt hatten. Er verharrte so für einen Moment, dann zog sich die nadelfeine flexible Röhre aus seinem Nacken.
Maria hielt ihn hinten am Kragen fest, damit er nicht Umkippen konnte. Das Neurotoxin hatte alle Muskeln seines Körpers in einen permanenten Krampfzustand versetzt, der noch mindestens drei Minuten anhalten würde. Tot war er bereits, sein Herz hatte seine letzte Ladung Blut heftiger ausgestoßen als in jeder körperlichen Erregung oder Anstrengung zuvor und war dann als zusammengekrampfter Ball in seiner Brust zurück geblieben.
Der Vorteil für sie war, dass sie den leblosen Körper jetzt ganz sachte und kontrolliert ablegen konnte, ohne dass dabei auch nur das leiseste Geräusch zu hören sein würde. Wenn der Körper schlaff in sich zusammengesackt wäre, wäre das bei all dem Grünzeug um sie herum, an das man stoßen konnte, praktisch unmöglich gewesen.
Noch vier.
Ein anerkennendes Raunen ging durch den kleinen Saal der Beobachter.
„Habt ihr mitbekommen wo sie herkam?“
„Sie war nicht mal auf den Wärmebildkameras zu sehen!“
Der Gast, der ihn kurz vor Beginn angesprochen hatte, schaute den Veranstalter des Abends mürrisch und tief in den Stuhl gerutscht von der Seite her an.
Sein Gastgeber lächelte sein dünnes Lächeln.
Die nächsten auf die sie traf waren zu zweit. Für sie war das unerheblich. Die einen mochten glauben sie könnten sich im Team besser Deckung geben, die anderen, dass man als Einzelkämpfer weniger Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie wusste, dass beide Vorgehensweisen ihre ganz eigenen Schwächen hatten. Das eine war nicht schwieriger zu erledigen, als das andere, man musste lediglich wissen, worauf es ankam.
Der voraus gehende Söldner kauerte sich behutsam an einen Baumstamm rechts von ihm und richtete das Gewehr nach vorne, um den nächsten Abschnitt zu decken. Dann gab er seinem Kollegen das Signal, an ihm vorbei weiter vorzurücken. Der prüfte ein letztes Mal die Umgebung in ihrem Rücken und setzte sich dann in Bewegung. Es sah nun so aus, als ob sie beide ihre Aufmerksamkeit nach vorn konzentrieren würden, aber genau in dem Moment, als der Vorrückende den vorderen Sektor übernahm, drehte der andere sich um, um die Rückendeckung zu übernehmen. Dabei senkte er blitzschnell das recht langläufige Gewehr, um es nach der Drehung sofort wieder hoch zu nehmen.
Oh, die waren jedenfalls nicht schlecht.
Sehr genau auf einander eingespielt und sie achteten auch auf solche Kleinigkeiten, wie zum Beispiel dass die Bewegung des Gewehrlaufs in der Drehung unbeabsichtigt zwischen den Blättern für einen nahen Beobachter sichtbar werden konnte, wenn er es einfach auf Schulterhöhe herumgeschwenkt hätte. Sie waren sich auch der Einschränkungen ihrer Waffen bewusst und hielten sich – anders als ihr unglücklicher Kollege – aus den dichtesten Teilen des Waldes heraus. Mit solchen langen Läufen hätten sie sich dort im Ernstfall nur verheddert. Hier, wo das Gelände an den steilen Böschungen eines schmalen von Blattwerk überhangen Baches offener war, konnten sie darauf hoffen mit der erhöhten Treffsicherheit ihrer Gewehre auf Entfernung zu punkten.
Vielleicht sind das nicht mal Rookies. Ihr Herzschlag beschleunigte sich etwas, das wäre nicht gut. Aber sie riss sich sofort wieder zusammen. Sie war trotzdem besser, nicht die Beute, sondern die Jägerin. Diese Überzeugung war es, die sie in erster Linie von den anderen Kandidatinnen unterschied, nicht die – zugegebener Maßen innovativen – Gadgets, die sie von Ihm hatte.
Sie befand sich jetzt hoch am Stamm von einem der Bäume am den Snatchern gegenüberliegenden Ufer, fast auf der Höhe des letzten Astes, der ihren schmächtigen Körper gerade noch tragen würde. Der Baum neigte sich wegen der steilen Böschung weit über den Bach. Sie hätte in ihren unangebrachten Überlegungen beinahe den Moment verpasst, als die beiden Söldner auf gleicher Höhe waren. Sie musste sich jetzt beeilen, die Gelegenheit würde nicht wieder kommen. Schnell schwang sie sich um den Stamm herum, griff den Ast und hebelte sich darauf. Sie benutzte ihn als Sprungbrett, um sich auf die andere Seite des Bachs zu katapultieren und tauchte nach unten.
Der vorrückende Söldner sah sie aus dem Augenwinkel kommen und hätte es fast geschafft, noch sein Gewehr herum zu reißen, aber sie schlug es mit der einen Hand im Flug zur Seite, sodass die Salve knapp an ihr vorbeiging. Sie landete mit der anderen Hand mit voller Wucht einen Schlag an seinem Hals. Das mochte bei ihrem Federgewicht nicht viel heißen, aber durch genaues Zielen brach sie ihm trotzdem den Kehlkopf. Sie wurde mit ihm zusammen gegen den anderen Söldner geschleudert, der sein Gewehr gar nicht erst herum gekriegt hatte, weil ihm sein Kollege an der Seite im Weg gestanden hatte. Was von Maria ja auch so beabsichtigt gewesen war.
Alle drei prallten gegen den Baum. Maria war die einzige, die darauf vorbereitet war und so auch als erste wieder auf den Beinen. Sie riss ihr erstes Opfer mit der rechten Hand zur Seite und rammte in einer fließenden Bewegung mit der linken einen kurzen Metallstab durch ein Auge des zweiten Snatchers in dessen Gehirn. Er hatte keine Zeit zu reagieren, da er ja von der Wucht seines Gefährten an den Baum gedrückt worden war, sein Gewehr in die völlig falsche Richtung zeigend eingeklemmt. Maria brach dem ersten, der sich mit beiden Händen röchelnd an der Kehle am Boden wand, mit einer schnellen Drehung seines Kopfes das Genick.
Noch zwei. Aber das hatte entschieden zu viel Lärm gemacht. Der Mann, der nun mit gebrochenem Hals neben ihr lag, hätte nie die Zeit haben dürfen, den Abzug zu ziehen. Sie war zu selbstgefällig und zu stolz auf ihre bisherige Leistung gewesen und hatte dabei vergessen, dass sie das Spiel keineswegs schon in der Tasche hatte. Oh nein, noch lange nicht.
Die Jagd war jetzt erst richtig eröffnet. Die Jagd auf sie. Und das war nicht gut, sie sollte eigentlich die Jägerin hier sein. Sie hätte diese Rolle nie so leitfertig abgeben dürfen. Sie lebte buchstäblich von ihrer Unsichtbarkeit und schnellen, leisen, gezielten Schlägen. Davon hing alles ab, in einem offenen Kampf war sie körperlich und waffentechnisch weit unterlegen. Trotz ihrer zahllosen Verbesserungen war sie nur ein elfjähriges Mädchen. Ein gut trainiertes und ausgebildetes zwar, aber was hatte das gegen einen erwachsenen, im Kampf gestählten Söldner zu bedeuten? Und sie hatte keine Schusswaffe, so waren nun mal die Regeln für dieses Szenario.
Normaler Weise hätte sie das nicht gestört, sie war ohne Waffe und auf kurze Distanz eh besser, weil sie die meisten weitreichenden Waffen ohnehin nicht exakt abfeuern konnte; dafür fehlte ihr einfach die Kraft. Im Nahkampf kam es darauf nicht an. Man musste nur genau wissen, wo man treffen musste und das Training und die Konzentration haben, alle Kraft die zur Verfügung Stand, in Sekundenbruchteilen zu entladen. So konnte sie Knochen brechen, Gelenke auskugeln und Männer über die Schulter werfen, die viermal so schwer waren wie sie selbst.
Aber jetzt, wo sie verschwitzt und ohne viel Zeit für Lautlosigkeit vor ihren Häschern davon rannte, wäre ihr eine Waffe doch ganz nützlich gewesen. Sie hatte sich schon eine Kugel im linken Oberschenkel eingefangen und kam langsame voran, als sie das gewohnt war. Sie musste in den Nahkampf zurück und zwar schnell. Die letzten beiden hatten sie schnell geortet, nach der kleinen Einlage am Fluss und der eine war auch noch so nah gewesen, dass er sie hatte stellen können, bevor sie im dichteren Teil des Dschungels verschwunden war. Von ihm hatte sie die Kugel und er war ihr jetzt dicht auf den Fersen. Wollte wohl den ganzen Ruhm für sich allein, wenn er nicht mal auf den zweiten Mann wartete, der zweifellos auch auf dem Weg zu ihr war. Sei grinste.
Und warf sich zu Boden, als im selben Moment wieder eine Gewehrsalve vorbei peitschte. Das war noch dazu eine ziemlich lange. Der hatte doch wohl nicht…
Der Snatcher fluchte lautlos. War das verdammte Magazin schon wieder alle. Er ließ es im Laufen aus der Waffe gleiten und holte ein neues aus seiner Weste. Aber er hatte sie diesmal sowieso sicher erwischt. Er musste sie erwischt haben.
Da wurde er zu Boden gerissen. Etwas hatte seinen Knöchel im Lauf getroffen.
Er sah sie im Fallen hinter sich, dort von wo er gerade angerannt gekommen war. Sie war schon fast bei ihm.
Aber so leicht würde er es ihr nicht machen. Mochte sie denken, dass er einen tödlichen Fehler gemacht hatte, sie war immer noch nur ein Mädchen und er hatte sie gesehen. Damit würde si nicht rechnen.
Sie hatte ihn! Der Trottel hatte wirklich sein ganzes Magazin leergeschossen und das ohne sie überhaupt zu sehen!
Das hatte ihr zwar zwei zusätzliche Streifschüsse eingebracht, aber die neuralen Inhibitoren leisteten ganze Arbeit, sie spürte so gut wie nichts. Es waren keine wichtigen Sehnen oder Muskeln getroffen und sie blutete nicht stark, also was sollte es. Bis zum Ende des spiel würde sie auf jeden Fall durchhalten.
Aus den Knöcheln ihrer rechten Faust brachen geschärfte Metalldornen heraus und sie wollte gerade auf den Söldner einstechen, als der in einer blitzschnellen Drehung sein ungeladenes Gewehr unter sich durch und schräg nach oben hämmerte. Die Schulterstütze krachte genau in die gerade ausgefahrenen Dornen und brach drei davon aus ihrer Verankerung, der vierte hing nur noch locker vom Knöchel kleinen Fingers.
Maria konnte einen Aufschrei aus Überraschung, Schmerz und Wut nicht unterdrücken, fing sich aber in Sekundenbruchteilen, als die Inhibitoren griffen und rammte die Dornen der anderen Hand noch im ausfahren in den Hals des Söldners, schräg nach oben Richtung Hirnbasis.
Sie blickte auf die zerstörte Hand. Die herausbrechenden Dornen hatten die meisten Nervenbahnen zerrissen und die Konchen zersplittert, kein Finger funktionierte mehr.
Hinter ihr ein Geräusch. Ihre Trümpfe waren alle ausgespielt, also rannte sie einfach auf das Geräusch zu. Wollte sie das Spiel noch gewinnen, dann war schnelles Handeln gefragt. Besser würden weder ihre Verfassung, noch die Kampfsituation werden.
Noch einer.
„Tja, das war’s dann wohl“, grinste ihn sein letzter Gesprächspartner von kurz vor Beginn der Veranstaltung süffisant von der Seite an.
„Gut war sie ja, aber knapp daneben ist eben auch vorbei, nicht wahr?“. Er hielt sich den Bauch vor Lachen.
„Was macht sie denn jetzt“, kam ein überraschter Ausruf von einem nahen Tisch und alle Beobachter schienen gleichzeitig Luft zu holen vor Schreck.
Einige hielt es nicht auf ihren Stühlen und sie beugten sich weit über die Tische, Getränke wurden umgestoßen.
Dann, nach ein paar klammen Sekunden brandete Beifall auf. Ein oder zwei der anwesenden kühlen Geschäftsmogule konnten sich Pfiffe durch die Finger nicht verkneifen.
Man drehte sich um, suchte die Hand des Gastgebers zur Gratulation. Doch der war nicht mehr da.
Der letzte rutschte von ihren Klingen, die in seiner Brust steckten. Seine Hände, die ihre Unterarme umklammerten, erschlafften. Die toten Augen starrten ihr überrascht ins Gesicht.
Maria richtete sich kerzengerade auf, den Rücken durchgedrückt. Was machten schon die Verletzungen, sie würde jetzt bestimmt keine Schwäche zeigen. Das war fast noch wichtiger, als die Tatsache dass sie noch lebte. Wieder einmal.
Um sie herum veränderte sich währenddessen die Welt, Hologramme erloschen, Nanostrukturen vielen in sich zusammen und rieselten in den Boden. Schnell wurde ein etwa fußballfeldgroßer, völlig abgeschlossener Raum sichtbar und eine Stimme ertönte hinter ihr. Sie versteifte sich.
„Gut gemacht, Maria. Du hast einige Leute dort oben sehr beindruckt.“
Maria wartete.
Er lächelte sein kleines zurückhaltendes Lächeln: „Mich übrigens auch.“
Jetzt brach ein Strahlen durch ihre angespannte Miene. Sie drehte sie sich um und schlang die Arme um den Bauch des Mannes. Jetzt konnte sie stolz sein.
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2009
Alle Rechte vorbehalten