Nervös beiße ich mir auf der Unterlippe herum und ziehe immer und immer wieder an meinen Ärmeln herum. Ich habe das Gefühl, als würden sie die ganze Zeit über hoch rutschten und das entblößen, was der schwarze Stoff verbirgt.
Es war gestern Abend gewesen, als ich wieder zu Klinge gegriffen hatte und vergessen wollte. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich geweint und das mir die Schminke in den Augen gebrannt hatte. Ich weiß noch ganz genau, wie sich der erste Schnitt angefühlt hatte und was für eine Genugtuung es gewesen war. Es war noch immer erschreckend berauschend zu fühlen, was für ein Glücksgefühl einem durchzuckt, wenn das Blut anfing zu fließen und man die Augen schloss. Die unglaublichsten Farben tanzten einem dann vor den geschlossenen Augen herum und verschmolzen zu atemberaubenden Bildern. Der Körper fing an zu pochen und probierte den Blutverlust wieder wettzumachen, doch schaffte er es nicht ganz.
Fast wie betäubt lässt man schließlich die Klinge nach mehreren Schnitten aus der Hand gleiten und fängt an zu lächeln. Jedes unangenehme Gefühl verschwindet. Jeder verletzender Gedanke verschwindet. Jegliches Körpergefühl verschwindet. Was beleibt, ist eine Hülle eines Menschens, der tagsüber und bei anderen Menschen eine Maske trägt, die die Wahrheit verbirgt.
Nach einem Zustand, den man nicht wirklich mit Worten beschreiben kann, wird man wieder zurück in die Wirklichkeit geworfen. Man realisiert, dass man sich selber verletzt hat um zu fühlen, zu vergessen und um sich selbst zu bestrafen. Hektisch probiert man, die Blutung unter Kontrolle zu bekommen und drückt ein dickes Handtuch auf die Schnitte, verarztet sie und tut so, als sei rein gar nichts passiert. Man kehrt der Klinge den Rücken und nimmt sich fest vor, sie nie wieder in die Hände zu nehmen, sie nie wieder zu berühren oder sich selbst zu verletzten. Doch spätestens am nächsten Tag ist es wieder so weit, dass man weinend im Zimmer sitzt und die glänzende Waffe in den Händen hält. Sie vielleicht sogar in den Fingern herum gleiten lässt und sich darüber Gedanken macht, welche Richtung wohl am besten wäre und wo man noch keine Narben hat. Wäre es vielleicht besser, wenn ich waagerecht ritze oder doch lieber senkrecht? Von oben nach unten oder anders herum? In der Nähe der Pulsader oder doch lieber am Oberschenkel?
Fragen schwirren einem im Kopf herum und bevor man eine Antwort auf diese Fragen findet, hat man sich schon geschnitten und beobachtet das Blut dabei, wie es läuft oder ist wieder in Trance.
Es ist ein Teufelskreis. Ein Verlangen. Eine Sucht.
Ich probiere jeden Tag, meine Narben zu verbergen, und niemanden an meinem Geheimnis teilnehmen zulassen. Sie würden es eh nicht verstehen. Wahrscheinlich würden sie mich als verrückt, krank oder masochistisch abstempeln. Sie würden ihren Kopf über mich schütteln und schlecht über mich reden. Ich bin mir sicher, dass sie es nicht verstehen könnten, warum ich mich selbst verletze und warum ich es brauche. Sie verstehen nicht, welche Beweggründe ich habe und hatte.
„Lilith, alles in Ordnung?“, riss mich die Stimme meiner Freundin zurück in die Wirklichkeit und ließ mich erschrocken zusammenzucken. Schnell fuhr mein Kopf herum und ich blickte in die hellbraunen Augen. Sie lächelte.
„Was?“.
„Ob alles in Ordnung ist?“, wiederholte sie und verlor das Glitzern in ihren Augen. „Du siehst du anders aus“.
Kurz dachte ich über ihre Frage nach. War alles in Ordnung? Ich verletzte mich selbst, fand dadurch meinen Frieden, fühlte mich seelisch alleine und war davon überzeugt, dass niemand mich verstehen konnte.
Eifrig nickte ich und erwiderte ihr Lächeln. „Ja, alles bestens“.
In Deutschland ritzen sich rund 600.000 bis 1,2 Millionen Menschen. Überwiegend sind es weibliche Personen, die von SVV (Selbstverletzendes Verhalten) betroffen sind.
Texte: Alle Rechte liegen beim Autoren.
Das Cover wurde von mir selbst gezeichnet/gestaltet.
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2011
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