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Das einzig Wichtige im Leben
sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen,
wenn wir gehen.


(Albert Schweitzer)




Marie




Müde und mit starren Gliedern saß ich auf dem Bordstein, mein Blick war auf den Boden gerichtet. Ich versuchte, so gleichmäßig wie es ging ein und aus zu atmen, doch war die Leere in mir zu mächtig. Eine innere Kälte ließ mich frieren und das Brummen in meinem Kopf machte mich langsam aber sicher verrückt.
Hart schluckte ich und richtete meinen Kopf auf. Die Autos fuhren sekündlich an mir vorbei und die Menschen in ihnen waren auf einen Weg, der sie irgendwo hinführte. Ich hatte auch mal einem Weg gehabt. Doch dieser stellte sich als schmaler Gang heraus, der mehr große Steine hatte, als ein Abhang.
Wenn meine Augen nicht so gebrannt hätten, dann würde ich jetzt noch immer die Autos anstarren die mit sechzig Sachen an mir vorbei fuhren.
Langsam winkelte ich meine Beine an und legte meinen Kopf auf die Knie, ihr Gesicht vor meinen Augen. Schmerz. Unendlicher Schmerz erfüllte meinen Körper. Die Taubheit kam wieder und zog sich durch jede Faser meines Körpers. Fest presste ich die Augen zusammen und knirschte mit den Zähnen. Ihre strahlenden Augen, die Grübchen und ihr Geruch.
Schmerzlich seufze ich und vergrub die Hände in meinen Haaren. Warum war ich nicht da gewesen als sie mich brauchte? Warum war mir mein eigenes Wohl wichtiger gewesen als ihres?
Schrecklicher Selbsthass brodelte in mir auf. Ich war ein Monster, ein schreckliches egoistisches Monster. Lag es vielleicht an meinem Charakter, dass ich es einfach nicht hatte sehen wollen wie schlecht es ihr ging? Es hatte genug Zeichen gegeben, die ich einfach ignorierte oder mit einem einfachen Kopfschütteln abgetan hatte. Ich war mir sicher, könnte ich die Zeit zurück drehen, dann würde ich bestimmt besser aufpassen und auf solch kleine Dinge achten.
Ohne wirklichen Antrieb hievte ich mich hoch und streckte mich ein wenig. Unsicher stand ich auf meinen Füßen und schnappte nach Luft. Das Stechen in meiner rechten Seite wurde von Minute zu Minute schlimmer.
Erst wenn etwas verschwunden ist, merkt man wie sehr man daran gehangen hat. Dann ist das Leben wie eine Fensterscheibe. Wenn man einen dicken, schweren Stein gegen sie wirft zerbricht sie in tausend kleine Stückchen. So ist mein Leben. Ein Scherbenhaufen den niemand beseitigt. Jeder lebt mit ihm, aber keiner fühlt sich dazu verpflichtet ihn auch nur anzusehen.
Krampfhaft ballte ich meine Hände zu Fäusten und unterdrückte den Drang zu weinen. Ich musste stark bleiben. Nach vorne schauen und nur das Positive im Leben sehen. Doch war mir die einzig positive Sache in meinem Leben genommen worden, entrissen und für immer verschleppt.
Langsam legte ich meinen Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel. Er wurde immer dunkler und die Wolken verfärbten sich dunkelblau. Als ich zum zehnten Mal nach Luft schnappte, fiel schon der erste Regentropfen auf mich nieder. Er lief an meiner Wange hinab. Genauso wie eine Träne.
Ich schloss die Augen und hörte sie lachen. Ihr glockenklares Lachen und ihren gleichmäßigen Herzschlag der mein Leben bestimmt hatte.
In Zeitlupe drehte ich mich um und überquerte den Fußgängerweg. Am Geländer blieb ich stehen und blickte hinunter. Das Wasser war am wüten und aus weiter Ferne sah man einen großen Dampfer der in Kürze unter mir hindurch fahren würde. Tausende Fische schwammen in diesem Moment unter mir und das Vibrieren der Brücke ging auf mich über.
Mein einziger Wunsch war die Zeit zurückdrehen zu können. Bei ihr zu sein, sie in die Arme zu schließen und ihr meine Liebe zu schenken. Ihr zu sagen, dass es mir leid tut und das ich der größte Dummkopf der ganzen Welt war, dass ich sie nicht verdiente und das sie wunderbar war.
Entschlossen sah ich mich um. Menschen waren um mich herum und beschäftigten sich nur mit ihren Sachen. Sie interessierten sich nicht für andere. Für Leute wie mich, die am Boden zerstört waren und nicht mehr konnten.
Leute wie Marie.
Ich stieg über das Geländer und hielt mich fest. Meine Hände waren eiskalt und klitschnass, ich atmete unruhig. Gleich würde ich kommen. Gleich wären all meine Probleme gelöst.
Meine Augen schlossen sich, mein Herzschlag ging langsamer und der Nebel in meinem Kopf wurde immer dichter.
„Was haben Sie vor?“, fragte eine Stimme leise und weit entfernt.
„Ich gehe. Ich gehe zu meiner geliebten Marie!“, erwiderte ich und löste meine Finger von dem Metall, das Menschen davor schützen sollte in den Abgrund zu stürzten.
Ich war noch sicher. Ich hatte noch Halt unter den Füßen, den ich aber sofort verlor, als ich einen Schritt nach vorne trat. Augenblicklich peitschte mir der Wind ins Gesicht und ich fiel. Ich fühlte mich zum aller ersten und letzten Mal schwerelos. Meine Augen waren noch immer geschlossen, als ich endlich vollkommen frei war. Als ich endlich bei ihr war.
Marie.


Ende



Impressum

Texte: Copyright des Textes liegt beim Autoren.
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch einer sehr wichtigen Person.

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