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Engel. Boten Gottes. Helfer für all jene, die im Dunkeln wandeln.
Schon viele hatten mir gegenüber geäußert, wie sie die Begegnung mit einem solchen fabelhaften und schleierhaften Wesen erlebten. Einige wurden aus Nöten gerettet, andere sahen die Engel in gewöhnlichen Leuten.
Ich selbst glaubte nicht an Engel. Warum sollte es sie auch geben? Die Welt war zum größten Teil von Wissenschaftlern erklärt worden und Platz für Gott und dessen Gefolge gab es dort nicht.
Wie auch immer, der Tag, als ich begann die Engel zu sehen, die zahlreich und unentdeckt unter uns weilen, war trist und regnerisch. Nichts lies darauf schließen das gerade mir ein Engel begegnen sollte. Die Schule war für mich alles andere als freudig gewesen. Die gesamte Klasse hatte sich beim Schulleiter über einen Lehrer beschwert und die Person die den meisten Ärger ab bekam, war ich gewesen. Als ich nach Hause kam, war meine Mutter bereits da. Auf den Herd stand ein Topf voll lecker duftender Tomatensauce, die von ihr wie ein kleines hilfloses Kind behütet wurde.
„Luise, schön das du da bist. Frau Kohlenberg hat nach dir gefragt, ob du mit ihr heute einkaufen gehen könntest.“ rief sie mir zu kaum das ich an der Küchentür vorbei gegangen war. Frau Kohlenberg war unsere 80 jährige Nachbarin mit der ich 3 mal die Woche etwas unternahm. Manchmal, vor allem im Sommer gingen wir in den Park, setzten uns dort auf eine Bank und unterhielten uns und sahen den Vögeln zu, die laut singend in den Bäumen turnten.
Ich stellte meine Tasche in meinem Zimmer ab und nahm mir etwas zu Essen aus der Küche.
„Ich bin dann mal weg.“ murmelte ich mit vollem Mund und wollte gerade meinen Dienst bei der Nachbarin antreten. Meine Mutter drückte mir noch schnell eine Schüssel mit Auflauf in die Hand und entließ mich dann meinem Schicksal.
Normalerweise mochte ich die Zeit, die ich mit Frau Kohlenberg verbrachte, doch der merkwürdige Geruch der von der alten Wohnung ausging war für mich immer ein Graus.
Als ich an dem Tag klingelte und sich die schwere Tür öffnete, stand dort zu meiner Überraschung nicht die alte klapprige Frau, sondern ein Mann mit kindlichem Gesicht und einem fröhlichem Lächeln. Er musste um die 35 sein, hatte allerdings eine Ausstrahlung, wie die eines 10 jährigen.
„Mama.“ rief der Mann und trat unruhig von einem Bein auf das andere.
„Ist schon gut Johann. Komm wieder rein.“ Antwortete eine mir vertraute Stimme aus dem Inneren der Wohnung. Der Mann trat zurück und zusammen gingen wir in das kleine Wohnzimmer. Frau Kohlenberg saß in ihrem alten Sessel. Vor ihr lag eine Schere und ein Haufen zerschnittener Zettel.
„Johann, das ist Luise. Sie wird heute mit uns einkaufen gehen.“ sagte die Alte und erhob sich schwer fällig aus ihrem Stuhl.
„Luise.“ sagte sie während sie sich Schuhe und Jacke anzog. „Das ist mein Sohn Johann. Er kommt mich ab und zu besuchen, da er sich sonst immer alleine fühlt. Du musst wissen, er hat das
Don-Syndrom.“
Ich stellte die Schale mit Essen in der Küche ab und sah zu dem Mann der mit zitternden Händen versuchte etwas aus einem Stück Papier zu schneiden. Der Mann lief zu uns hinüber als er fertig war und stellte sich mit leuchtenden Augen vor uns. In der Hand hielt er das ausgeschnittene Stück Papier.
„Schau. Ich habe einen Hasen ausgeschnitten.“ rief er mit überschwänglicher Freude. Ich versuchte meine Verwunderung über die Fülle der möglichen Skulpturen, die das Stück Papier darstellen konnte, weitestgehend zu verbergen.
Wir brauchten länger als gewöhnlich bis wir vom Einkaufen zurück waren. Johann war wie ein kleines Kind. Wissbegierig und aufgeweckt. Egal wie viele Sachen er durch seine Tollpatschigkeit auf den Boden beförderte, nie konnte man ihm böse werden. Innerhalb von Sekunden hatte er mich buchstäblich um den kleinen Finder gewickelt. Es ging sogar so weit, das ich mich bereit erklärte einen Kuchen mit ihm zu backen, was sich später als Nerven raubende Gemütsprüfung herausstellte. Allerdings hatte Johann nicht nur auf mich eine große Wirkung. Auch Frau Kohlenberg sah ich zum ersten mal richtig lachen.
Ich blieb länger als gewohnt in dem stickigen Raum und beschäftigte mich mit Johann.
Es war seine kindliche Art verbunden mit seiner subjektiven Sicht, die in allem nur das Gute sah, was mich zu der Überzeugung brachte, dass Johann ein Engel sein musste. Er sah in allem das Schöne und trug uns von Dunkelheit und Einsamkeit, die zuvor in dem kleinen stickigen Wohnzimmer geherrscht hatte, in neues Licht. Engel taten sonst auch nichts anderes, als in der schwärzesten Nacht mit Licht und Liebe uns beizustehen.
„Mama“ sagte Johann als ich mich gerade fertig machte um nach Hause zu gehen,
„Mama, kommt der Engel noch mal wieder?“
Ich drehte mich zu dem Mann um und sah ihn lange an.
„Da musst du sie selber fragen.“ kam die Antwort und der lächelnde warme Blick von Johann richtete sich auf mich.
„Ich komme gerne wieder.“ sagte ich mit einem letzten überglücklichen Lächeln und verließ die Wohnung.


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Tag der Veröffentlichung: 03.12.2010

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