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Die Spukvilla

Sie betrat die Villa durch einen der Seiteneingänge. Wieder rief sie sich ins Gedächtnis, dass es nur eine Mutprobe war, nicht mehr. Trotzdem überkam sie jetzt schon ein mulmiges Gefühl, wenn sie darüber nachdachte, was sie womöglich erwartete. Langsam schritt sie durch den düsteren Gang, welcher sich vor ihr auftat. In Gedanken begann sie die Schritte mitzuzählen, doch gab sie es bald wieder auf. Der Gang nahm keine Ende, schien sie zu verschlucken wie eine Bestie ihr Opfer. Würde sie jemals herauskommen? Sie wandte den Kopf, die Tür war nicht mehr zu sehen. Sollte sie trotzdem versuchen zurückzugehen? Nein, sie hatte die Mutprobe angenommen und sie würde es auch schaffen, irgendwie. Sie setzte ihren Weg neuen Mutes fort. So schlimm war der Gang gar nicht. Sicher, eine bessere Beleuchtung hätte nicht geschadet und er hätte kürzer sein können, aber ansonsten… Eine geschätzte Stunde später kam sie an das Ende des Ganges. Zwei weitere führten davon ab. In Augenhöhe waren zwei Schilder befestigt: „Leichenhalle – 50 Einwohner“ stand auf dem einen, auf dem anderen: „Tigerkäfig – letzte Fütterung vor 3 Tagen“. Sie schluckte, als sie das las, entschied sich aber dann für die Leichenhalle. Besser sie sah sich ein paar Leichen an, als sich von Tigern fressen zu lassen. Die Angst meldete sich zurück, noch stärker als zuvor. Trotzdem setzte sie ihren Weg fort. An der Tür blieb sie zur Salzsäule erstarrt stehen. Die Leichen hingen wie Fleisch bei einem Metzger am Haken. Ausnahmslos handelte es sich um Unfall- und Mordopfer. Verbrannte Haut, grünliche oder bläuliche Flecken von Schlägen, schwärzliche von Quetschungen. Manche der Leichen waren nach bester Jack the Ripper Manier ausgeweidet worden. Über allem hing der süßliche, abstoßende Geruch von Verwesung. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, würgte. Panik stieg in ihr auf, ein Schauer jagte den nächsten und sie begann unkontrolliert zu zittern. Das war keine Mutprobe mehr, das war Folter. All diese Menschen zu sehen, junge, alte, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Dann entdeckte sie es: Das Ausgangsschild über einer Tür auf der anderen Seite des Raumes. Sollte sie es wagen, sollte sie durch die Leichenhalle zum Ausgang laufen? Sie musste, wenn sie hier raus wollte. Der erste Schritt hinein in die Halle. Der Geruch nahm zu, mit jedem Schritt, bis er sie zu überwältigen drohte. Sie schwankte, war bereit sich einer wohligen, alles verschlingenden Schwärze hinzugeben. Doch dann war ein alles andere überlagernder Gedanke plötzlich in ihrem Kopf. Du musst hier raus! Sie begann zu rennen, ihre Fingerspitzen berührten den Türgriff. Sie stieß die Tür auf. Helles Sonnenlicht flutete herein und eine leichte Brise vertrieb den Verwesungsgeruch. Ihr Blick fiel auf ein Schild: „Die Spukvilla – vielen Dank für Ihren Besuch“.

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Tag der Veröffentlichung: 27.03.2010

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