Bewusstwerdung ist mehr als Erinnerung
Es ist ihm zur Gewohnheit geworden, das Unfassbare, das Grausame, dass, was er mit Kindern tat. Dabei liebte er sie und hasste den ständigen Kampf mit sich selbst. Lange Zeit war ihm dies nicht bewusst. Vorher hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht. Immer schon war er ein schlechter Mensch gewesen. Er kannte es gar nicht anders. Ständig hatte er es gehört. Von seiner Mutter, von seinem Vater, von seinen Verwandten und von seinen Lehrern. Zu nichts war er nutze. Alles machte er falsch, obwohl er alles tat, um deren Aufmerksamkeit zu bekommen. Um ein wenig Liebe zu erhaschen, um wenigstens manchmal gelobt und anerkannt zu werden.
Viele Jahre seiner Kindheit verbrachte er damit sich anzustrengen, um es ihnen recht zu machen, um dazuzugehören. Als alles nichts mehr half, zog er sich enttäuscht zurück. Verletzt und hilflos wurde er immer stiller und in sich gekehrter, obwohl in ihm ein Orkan tobte. Mit den Jahren gewöhnte er sich daran. Er lebte ein einfaches Leben und niemand sah ihm an, dem freundlichen Nachbarn, was er tat. Dabei hätte er es am liebsten in die Welt hinaus geschrieen: „Ja, ich bin ein Kinderschänder, ich bin schlecht und böse. Bitte helft mir!“
Doch nie kamen derartige Worte über seine Lippen. Zu niemandem. Etwas zuzugeben, einen Fehler zu bekennen, hatte er nie gelernt. Von wem? Alle anderen waren perfekt. Sie machten keine Fehler. Seine Mutter, sein Vater, seine Verwandten, seine Lehrer machten immer alles richtig. Er fiel ständig aus der Rolle. Er passte nicht in diese Welt, in der ihn niemand verstand. Dazu kam, dass er so wie so an allem selbst schuld war, schließlich hätte er ja anders sein können. Mit einer dicken Rüstung, seinem Panzer, ging er in sein Leben. Sämtliche Kräfte mobilisierte er, um ja nicht mehr aufzufallen. Darin bekam er mit der Zeit Routine. Darin wurde er Meister. Eine Maske zu tragen, die all das, was nicht sein durfte verbarg, ohne sich jemandem anzuvertrauen.
So führte er ein „normales“ Leben. Bis der Drang kam. Der Trieb. Etwas, dass er nicht beherrschen konnte. Das Schmutzige. Das Hässliche. Dass, was er nicht haben wollte und doch war es einfacher ihm nachzugeben, statt sich damit auseinander zu setzen, denn das hätte kämpfen bedeutet und kämpfen wollte er nie wieder. Hatte er es doch als Kind so oft getan. Um Liebe gekämpft. Um Aufmerksamkeit und nichts hat es ihm gebracht. Nein kämpfen kam für ihn nicht mehr in Frage. Genauso wenig, wie sehen. Auch sehen wollte er es nicht mehr. Das hatte er sich bereits damals geschworen. Er wollte nie wieder sehen, was passiert. Nicht dabei sein. Warum sollte er sich sein Elend, in das er geboren wurde, auch noch betrachten. Nein, auf gar keinen Fall wollte er es sehen und fühlen, nein, niemals. Er hatte genug Schmerzen erlitten. Fühlen wollte er es auch nie wieder.
Warum gerade Kinder, fragte er sich, als er anfing, über sein Tun nachzudenken. Ihm wurde klar, dass es den meisten, so wie es ihm damit erging, egal war, sie fühlten es ja nicht. Sie fühlten nicht, was sie mit den Kindern tun. Was sie ihnen antun. Würden sie es in diesem Moment selber fühlen, sie würden sich in Grund und Boden schämen. Sie reagierten sich an ihnen ab. So wie er es tat. Es ist wie eine Art Ventil. Ein scheußliches Ventil und es tat weh, sich damit zu beschäftigen, sich mit diesem Verhalten auseinander zusetzen. Es verstehen zu wollen. Es aus anderer Sicht zu sehen, aus der Sicht der Opfer. Doch er wollte es versuchen. Tief in sich spürte er, dass dies der einzige Weg ist damit fertig zu werden.
Es war eine furchtbare Vorstellung für ihn. Er war der Täter. Er hat all das getan. Es war schwer sich ins Gesicht zu schauen. Sich selbst zu sehen. Sein Tun zu erkennen, es sichtbar werden zu lassen. Jetzt verstand er, warum er es nicht sehen wollte. Es raubte ihm fast den Verstand. Was war er für ein Tier. Ein Unmensch. Ein Monster. Ein grausames und kaltblütiges Untier. Das, was er da sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Das wollte er auf keinen Fall länger sein. Doch wie konnte er es ändern? Was konnte er tun? Er versuchte dahinter zu kommen.
Er wollte wissen, warum er es getan hat. Was die Ursache dafür war, denn es musste eine geben. Es musste einen Grund dafür geben. Nicht, dass er sich nicht schuldig fühlen wollte. Das tat er. Er fühlte sich schuldig und bedauerte es sehr. Doch nichts geschieht einfach so. Warum, das wollte er wissen, warum tat er was er tat? War er wirklich nur Täter. Oder war auch er Opfer? Hatte er sich nicht immer schlecht gefühlt, wenn ihm niemand Aufmerksamkeit schenkte? Hatte er sich nicht immer ohnmächtig gefühlt und gab ihm was er tat eine Art Macht? Mussten sich andere dadurch ohnmächtig fühlen? Fühlte er sich dadurch stark, mächtig? Es quälte ihn, sich all diese Fragen zu stellen. Anders jedoch war es nicht möglich sein eigenes Verhalten zu verstehen.
Viele Gedanken kreisten in seinem Kopf und alles drehte sich um die Frage:
Warum?
Vor dieser Frage jedoch stand die Frage:
Warum Kinder?
Kinder sind unschuldig. Etwas was er nicht war. Er hatte Schuld auf sich geladen. Kinder sind rein. Er war schmutzig. Kinder sind schwach. Frauen sind stark. Mit Frauen konnte er nichts anfangen. Ihnen war er nicht gewachsen. Sie gaben ihm das Gefühl, welches er nie haben wollte. Ohnmacht. Kinder gaben ihm das Gefühl von Macht. Er hatte Macht über sie. Sie können sich nicht wehren, dafür sind sie zu klein. Sie sind leichter zu haben, weil sie zutraulich sind. Frauen sind skeptisch. Es ist schwer an sie heran zu kommen. Für Kinder war er der gute Onkel. Damit hatte er leichtes Spiel.
Am Anfang war es ein Spiel. Irgendwann, als er auf einen Spielplatz ging und den kleinen Mädchen zuschaute, wollte er einfach nur mit ihnen spielen. Bis dahin war alles ganz harmlos. Doch dann erwachte in ihm der Drang sie auch körperlich zu fühlen. Sie ganz haben zu wollen. Diese Unschuld. Diese Reinheit. Erst wehrte er sich dagegen, doch dann lies er den Dingen ihren Lauf. So wurde es ihm zur Gewohnheit. Er gewöhnte sich daran, ohne darauf zu achten, was er tat.
Warum?
Weil er es nicht wissen wollte. Er wollte es nicht sehen, was passiert und er wollte es nicht fühlen. Sein damaliger Wunsch, sein Fluch, den er als Kind ausgesprochen hatte und niemals wieder hinterfragt hat, weil er ihn längst vergessen hatte, erfüllte sich und er bedauerte, was aus ihm geworden ist. Was er den Kindern angetan hat. Als ihm all dies klar wurde, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und veröffentlichte einen Artikel in einer bekannten Zeitung, in dem er, zu dem, was er tat stand. Aufrichtig entschuldigte er sich bei den Eltern und teilte ihnen folgendes mit:
Nicht jeder macht sich die Mühe, darüber nachzudenken und deswegen solltet ihr eure Kinder schützen. Ihr solltet sie stark machen. Im Grunde sind sie das schon, nur meistens wird es ihnen aberzogen. Werden sie passend gemacht. Bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, dass Eltern ebenso wenig Aufmerksamkeit bekommen haben und genauso einen Panzer, eine Rüstung tragen. Kaum jemand hat gelernt sich zu fühlen, geschweige denn mit anderen zu fühlen. Zu fühlen, während er etwas tut. Zu fühlen, was er tut. Kaum jemand hat erfahren, dass er in Ordnung ist. Dass er auch geliebt wird, wenn er etwas tut, was anderen nicht gefällt. Ihr solltet euren Kindern immer und überall, in jeder Situation das Gefühl geben, dass sie geliebt werden, wie sie sind, egal, ob sie etwas falsch oder richtig machen. Ihr solltet eure Schwächen zugeben, eure Fehler, damit sie lernen, es ebenfalls zu tun. Ihr solltet ihnen euch als Beispiel geben, indem ihr darauf achtet, was ihr denkt, was ihr fühlt, was ihr sagt und was ihr tut.
Er wusste, dass er damit nichts rückgängig, nichts wieder gut machen konnte. Was geschehen war, war geschehen. Damit musste er leben und doch konnte er, durch seine Bewusstwerdung dazu beitragen, dass sich etwas ändert.
Dafür war er dankbar.
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2011
Alle Rechte vorbehalten