Wenn er zum Fenster hinaus sah, konnte Pijet van Straaten so gut wie nichts erkennen. Es schien, als hätte die Dunkelheit alles um seine Kabine herum verschlungen. Die blasse Beleuchtungseinheit an der Decke über ihm machte ihn zusätzlich blind für alles, was draußen ablief. Doch das spielte keine Rolle, denn er orientierte sich ohnehin an den grün leuchtenden Bildschirmen auf dem Steuerstand. Selbst dabei hatte er nicht viel zu tun, wenn man bedachte, mit welchem Gewicht er umging.
Allein die Beladung des Tankers betrug mehr als 1500 Tonnen. Ab und an prüfte Pijet mit routiniertem Blick das Radar, doch erwartete er keine besonderen Vorkommnisse. Ein Stück voraus fuhren zwei weitere große Schiffe und dahinter, nicht weit entfernt, nahe des Ufers waren zwei kleine Punkte auf dem Schirm auszumachen, die man genauso gut für Fliegenschiss hätte halten können, wäre nicht eines davon nun in Bewegung geraten und hätte die Bahn seines Tankers gekreuzt. Vermutlich Schlauchboote der DLRG bei einer Rettungsübung oder ähnliches.
Pijet war Kapitän des holländischen Tankschiffes „vrees en hoop“. Im Karlsruher Ölhafen hatte er Benzin geladen und fuhr nun wieder den Rhein hinab. Zwei Kilometern zuvor hatte er Speyer hinter sich gelassen und durchfuhr jetzt ein beidseitig völlig unbewohntes Gebiet, den Ketscher Rheinwald.
Er genoss die Dunkelheit hier. Einer der wenigen Momente, in denen er völlig abschalten konnte. Das gleichmäßige Tuckern der Antriebsanlage und gelegentliche Positionslichter vermittelten einen friedlichen Eindruck.
Ansonsten war der Job als Kapitän eines Binnenschiffes seiner Meinung nach wesentlich anstrengender als der auf einem Hochseeschiff. Der Rhein war, verglichen zu seiner Größe, viel befahrener, als die Weltmeere und durch die vielen Flussschleifen musste man ständig konzentriert am Steuer sein. Seine Besatzungsmitglieder konnten unterdessen in ihrer Kajüte fernsehen oder Karten spielen.
Nachdem der Schiffsführer einen Augenblick später auf das Radar sah, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Zunächst schien es, als wären die beiden Schlauchboote verschwunden, da sie an Land festgemacht hatten. Doch dann entdeckte er die beiden Punkte rechts und links seiner Schiffsflanke. Und Plötzlich verschwanden sie gänzlich vom Radarschirm. Das konnte nur bedeuten, dass sie höchstens noch geringen Abstand zu seinem Boot hatten.
Das war Wahnsinn! Ganz davon abgesehen, dass es verboten war keinen Sicherheitsabstand einzuhalten, machte es keinen Sinn. Warum sollten 2 Schlauchboote mitten in der Nacht so nah an sein Schiff heranfahren? An ein Missgeschick konnte er nicht glauben. So etwas hatte er in seiner Seefahrerkarriere noch nie erlebt. Denen würde er es zeigen!
Er griff zum internen Bordfunk und wendete sich an seine Besatzungsmitglieder: „Claas leg mal die Praline zur Seite und komm mit den anderen beiden an Deck. Wir haben hier anscheinend ein paar Spinner, die sich an unser Schiff ran machen.“
Es dauerte einen Moment, bis es im Funk knackte und er Claas vertraute Stimme hörte: „Was meinst du?“
„Frag nicht so blöd und komm einfach hoch. Wenn du deinen Baseballschläger mitbringst, ist das sicher auch nicht verkehrt.“
„Wie du meinst Boss,“ ein Ächzen mischte sich in Claas raue Stimme „wir kommen rauf.“
In dem Steuerhaus wurde es wieder still und plötzlich fand Pjiet die Dunkelheit und Stille eher beklemmend, denn beruhigend. Neben den Bedienelementen fand sich die Halterung für eine große Maglite Taschenlampe, die er nun hervorzog und versuchte die Leere um sich herum zu durchdringen.
In Gedanken schalt er sich einen Dummkopf, was konnte das denn Großes sein? Im schlimmsten Fall ein paar Greenpeaceaktivisten, die gegen Öltransporte demonstrieren wollten, viel wahrscheinlicher aber ein paar bescheuerte Jungs bei einer Mutprobe. Wirklich nichts, wovor sich ein vierzigjähriger Mann fürchten müsste.
Etwas polterte von unten die Treppe herauf. Das musste Claas sein.
Tatsächlich erschien zunächst Claas', bis auf einen Haarkranz, fast gänzlich blanker Schädel und dann der Rest seines wuchtigen Körpers, als er die letzten Stufen der Treppe hinauf kam. Ihm folgte der Schiffsmechaniker.
„Hey Kapitän du hast mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt mit deinem Funkspruch und das wo ich grad am Einnicken war, ich hoffe du hast mich nicht umsonst hoch gejagt,“ sagte er augenzwinkernd. Natürlich trug er keinen Baseballschläger bei sich, aber immerhin, ebenso wie sein Begleiter, eine Maglite.
„Von wegen Einnicken! Ich wette, wenn ich runter in deine Kajüte schaue, finde ich unter dem Kopfkissen die Praline,“ sagte Pjiet, trotz allem erleichtert nicht mehr allein zu sein. „Aber im Ernst, vorhin haben sich zwei kleine Punkte am Radar seitlich links und rechts an unser Schiff gesetzt und, wie ihr seht werden sie jetzt nicht mehr angezeigt.
Claas warf einen skeptischen Blick auf das Radar und meinte dann in tadelndem Tonfall: „Aber Boss, du hast doch nicht getrunken?!“ Der andere prustete los.
„Aber zu deiner Beruhigung schauen wir uns mal um, wenn wir nicht wieder kommen sag bitte meinen Freundinnen, dass ich sie geliebt habe.“ Die Kajüte wurde vom Lachen der beiden Matrosen erfüllt.
Langsam ging er zu weit. Sie hatten an Bord immer Spaß und jeder nahm den anderen mal aufs Korn, aber seine Pijets Sorge war durchaus ernst gemeint, denn wenn eines der Boote kenterte, hatte er als Bootsführer genauso Ärger am Hals, auch wenn er nichts dafür konnte.
Offensichtlich spürte auch Claas die aufsteigende Wut seines Chefs und Freundes, denn er fügte hinzu: „Ich weiß doch, dass du nicht ohne Grund so einen Aufstand machst, also, wir schauen jetzt mal raus und ich gebe dir dann Bescheid. Alles klar?“
Damit ging er zur Tür und verließ mit dem Mechaniker das Steuerhaus.
Zum ersten Mal, seit sie die Lichter Speyers verlassen hatten, konnte Pjiet wieder Teile des Decks ausmachen. Die Taschenlampen der beiden Besatzungsmitglieder erleuchteten das glatte Deck des Schiffs, auf dem sich über die ganze Länge des Laderaumes, der sich unter ihm erstreckte, ein Rohrnetz spannte.
Die „vrees en hoop“ war über 100 Meter lang und das Steuerhaus befand sich am Heck des Schiffes, so dass es eine Weile dauern würde, bis die beiden zurück kamen. Claas deutete dem Mechaniker an, dass er auf der linken Seite des Rohrnetzes entlang gehen sollte, während er rechts davon ging. Mit ihren Taschenlampen leuchteten sie die Außenwand des Schiffes ab und tasteten sich Meter für Meter vorwärts.
Pijet kannte jede Nische seines Tankers auswendig und so viel ihm auch der Schatten zwischen den Rohrleitungen auf, der kurz zu sehen war, als der Strahl einer Taschenlampe übers Deck schwenkte. Aufgeregt griff er nach dem Funkgerät und sagte: „Claas in der Mitte, da ist jemand an Bord, zwischen den Rohrleitungen.“
Doch anstatt Claas reagierte zunächst nur der Techniker. Gut, dass wenigstens beide ein Handfunkgerät dabeizuhaben schienen. Er schwenkte mit der Taschenlampe herum und nach wenigen Augenblicken traf der Strahl eine Person, die in der Schiffsmitte zwischen den Rohren zu knien schien. Langsam ging er darauf zu.
Im selben Moment meldete sich Claas am Funk: „Hey Kapitän du hattest Recht, da ist echt ein kleines Motorboot an der Seite festgemacht, aber da hockt keiner drin.“
Hatte er seinen Funkspruch vorher nicht gehört? Dann ein Knall. Claas fuhr herum und nun fiel auch der Strahl seiner Taschenlampe auf den Schattenmann.
Der hatte seinen Arm ausgestreckt und hielt einen kleinen Gegenstand in der Hand. Pjiet lief es kalt den Rücken herunter, während der Mechaniker zu Boden fiel. Oh Gott, war das ein Schuss?!
Die Szene schien wie eingefroren. Pijet war geschockt.
Dann flog die Tür des Steuerhauses auf. Van Straaten dreht sich um und stand nun Auge in Auge selbst einem Eindringling gegenüber. Er trug eine Skimaske, eine schwarze Lederjacke und eine gleichfarbige Cargohose. Doch wirklich bedrohlich machte ihn erst das große Schlachtermesser in der Hand.
In brüchigem Englisch befahl er: „Go on knees! Nothing happen, if do what I say!“
Pijet tat keinen Schritt. Er war verunsichert, der Gedanke vor diesem Kerl auf die Knie zu gehen schien ihm nicht geheuer. Der Kerl in der Tür dagegen hatte die Situation voll im Griff, er machte einen Schritt in den Raum hinein und hob die Hand mit dem Messer.
„Down!“
Der Kapitän tat wie ihm geheißen. Kurze Zeit später wurden auch der wimmernde Mechaniker und der ihn stützende Claas herein geführt. Sie wurden von zwei mit Pistolen bewaffneten Maskenmännern begleitet, die, nachdem sie die Besatzungsmitglieder gefesselt und ebenfalls Abknien lassen hatten, im Schiffsinneren verschwanden. Wenig später kamen sie mit dem letzten verbliebenen Matrosen wieder nach oben.
Der Wortführer sagte: „You hostages now!“
„Wasserschutzpolizei Mannheim,“ meldete sich ein launische Stimme in gröbstem Mannheimer Dialekt am Telefon.
„Einsatzzentrale hier, guten Morgen, Kollege, wie viele Leute habt ihr denn im Moment draußen?“
„Schon einmal auf die Uhr geschaut? Es ist 3 Uhr in der Nacht. Ein großes Boot ist unterwegs und noch einmal eine Besatzung ist auf dem Posten, wieso?“
„Sieht aus als hätten wir eine Geiselnahme!“
„Was? Na, dann ruf doch des SEK! Wart einmal, da kommt was auf dem Schiffsfunk.“
„Ich hab jetzt keine Zeit für Scherze, es handelt sich wohl um ne Geiselnahme auf einem Boot. Wir haben einen Anruf erhalten. Standort des Anrufers wird gerade ermittelt. Ihr solltet das schon mal abklären, SEK wird trotzdem vorab informiert.“
„Na des passt ja wieder! Auf dem Funk kam gerade, dass ein großer Tanker wohl nah des Großkraftwerks Mannheim mitten in der Fahrrinne steht. Muss mal mit dem Kontakt aufnehmen, da müssen sich die Kollegen ach noch drum kümmern. Zur Not müsse mir den wegschleppen. Wo soll denn das „gekaperte“ Schiff sein?“
„Das ist er. Der Anrufer sagte ein 2000 Tonnen Benzintanker soll beim Großkraftwerk bei den Silos stehen. Sie drohen ihn in die Luft zu jagen, falls wir uns nähern! Sperrt die Wasserstraße in beide Richtungen ab, keiner soll sich dem Schiff nähern. Verhandlungsgruppe und Führungsstab lassen wir auch ran karren, am Land sorgen wir für die Absperrungen.“
„Au Kacke! Ok, ich schick gleich die Kollegen raus und sprech mich mit den Ludwigshafener Wapos ab. Wenn des wirklich so ein großes Ding ist sollten wir auch Boote aus anderen Direktionen nachführen!“
Polizeihauptkommissar Robert Zeiler war Schichtleiter der Wasserschutzpolizeistation Mannheim in dieser Nacht. Er war seit der Beendigung seiner Schulzeit bei der Polizei und fast genauso lange bei der Wasserschutzpolizei. Begonnen hatte er bei der Tauchergruppe. Dadurch war er in ganz Baden-Württemberg herum gekommen. Ein toller Job, bis sie ihn eines Tages befördert hatten und er die Ausbildung für den gehobenen Dienst machen durfte. Heute zählte er zu den erfahrensten Wapos ganz Baden-Württembergs. Trotzdem konnte er sich nicht entsinnen, eine Lage, wie die, von der er eben per Funk erfahren hatte schon einmal erlebt zu haben.
Glücklicherweise, so man das in dieser Situation so sagen durfte, befand er sich gerade mit seiner Kollegin auf Streifenfahrt und auf Höhe des Strandbades, womit sie offensichtlich das näheste Polizeiboot zum Großkraftwerk waren.
Nachdem sie ein Containerschiff an der Biegung am Standbad überholt hatten, konnte er in einiger Entfernung schon die Positionslichter des großen Tankers ausmachen. Der wurde zusätzlich von den unzähligen Lichtern am Großkraftwerk angestrahlt, so dass er auch bei Nacht in vollem Umfang auszumachen war.
Die anderen Rheinschiffe waren gewarnt, dass ein Schiff bewegungslos in der Fahrrinne stand. So konnten sie sich frühzeitig auf das Ausweichen einstellen. Doch sollte sich der Tanker tatsächlich in der Hand von Geiselnehmern befinden, die drohten ihn in die Luft zu jagen, war das natürlich eine völlig andere Situation.
Auf dem Radar sah Zeiler, dass sich noch 2 weitere Großmotorschiffe in der Nähe des Tankers befanden. Der Versuch dieses anzuhalten würde nur dazu führen, dass sie im direkten Umfeld stehen blieben. Für alle anderen gab er jedoch die Order vorerst an ihrer jetzigen Position zu verbleiben, bis neue Anweisungen folgten.
Die gewerblichen Bootsführer, ansonsten befanden sich vermutlich um diese Uhrzeit ohnehin keine Schiffe auf dem Rhein, würden ihn natürlich verfluchen. Jeder Zeitverzug kostete sie Unmengen an Geld. Doch allemal besser, als bei einer Explosion mit auf den Grund gezogen zu werden.
Im Fernglas nahm der Polizeikommissar das Tankschiff genauer unter die Lupe. Bisher hatten sie noch keine Bestätigung, dass die Meldung tatsächlich stimmte. An Deck konnte er zunächst keine Bewegung ausmachen. Was ihn jedoch stutzig machte war, dass im Steuerhaus kein Licht brannte, ein erstes Zeichen, dass etwas nicht stimmen konnte. Als er die Silhouetten des Bootes abfuhr, stellte er eine weitere Ungewöhnlichkeit fest.
An einem Fahnenmast war eine rote Totenkopfflagge angebracht. Mochte dies für manchen Hobbykapitän zum Seefahrerkitsch gehören, so war es als Beflaggung für Berufsseefahrer doch meist verpönt. Die rote Färbung verstärkte Zeilers Gefühl, dass die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen sei. Lediglich Insidern war bekannt, dass ursprünglich die rote Farbe dazu diente anzuzeigen, wenn Piraten nicht darauf aus waren Gefangene zu machen. Zudem galt die rote Flagge früher als Quarantäneflagge um anzuzeigen, dass man eine tödliche Gefahr an Bord hatte.
Diese Fakten führten dazu, dass er etwa einen Kilometer vor dem Kraftwerk die Maschinen stoppte. Ein Versuch, den Tanker über Funk anzusprechen, blieb unbeantwortet, also blieb ihm nur, die Zentrale zu verständigen und seine Beobachtung und Einschätzung mitzuteilen.
Von dort erhielt er die Antwort: „Ihre Mitteilung deckt sich mit unserer Einschätzung. Laut der Handyortung befindet sich das Mobiltelefon, von dem aus der Drohanruf kam, im Umfeld des Kraftwerks. Laut den Radardaten befindet sich das Schiff unmittelbar vor den Blöcken 3 – 6 des Großkraftwerkes. Wir werden eine Abschaltung und Evakuierung des Bereiches veranlassen.“
Zeiler erinnerte sich, dass vor kurzem eine Bürgerinitiative gegen den Bau eines neuen Steinkohleblocks in dem Kraftwerk demonstriert hatte. Die Initiative war jedoch gescheitert, konnte es sein, dass militante Gegner so einen Sieg erringen wollten?
„Gibt es schon Forderungen?“
„Nein! Bisher haben wir nur den Anruf mit der Drohung. Nicht wer sie sind, oder was sie wollen.“
„Wir können den Rhein oberhalb des Kraftwerkes nicht sperren, ohne an dem Tanker vorbeifahren zu müssen, unser zweites Einsatzboot kommt auch von oberhalb. Die Ludwigshafener brauchen ohnehin ne Weile, da sie wohl gerade noch in Worms sind. Außerdem müssen wir an eine Sperrung der Fähre nach Altrip denken. Die verkehrt direkt unterhalb des Kraftwerkes.“
„Darum haben wir uns schon gekümmert, es kommen Boote aus Karlsruhe und Germersheim zu eurer Unterstützung. Wir nehmen Kontakt mit dem Fährbetreiber auf.“
„Auch nicht zu vergessen ist die Gefahr einer Benzinverschmutzung des Rheins. Sie müssen nur die Ventile öffnen und wir können den Rhein künftig als Tankstelle nutzen. Deswegen müssen Ölsperren errichtet werden. Außerdem sollten die Prüfstellen informiert werden, um notfalls die Trinkwasserentnahme rechtzeitig sperren zu können, immerhin erhalten durch den Rhein knapp zwanzig Millionen Menschen ihr Trinkwasser, damit könnte man weit mehr Schaden anrichten, als durch die Explosion eines Steinkohlekraftwerkes!“
„Ja richtig. Wir gehen schon das Konzept zur Beseitigung schwerer Schifffahrtsunfälle durch und stehen mit den zuständigen Stellen in Kontakt!“
Etwa eine Stunde später klingelte die verschlafen wirkende Journalistin Sara Kunzel an der altehrwürdigen Pforte des Mannheimer Polizeipräsidiums. Hätte man sie nicht erst vor wenigen Minuten aus dem Bett geklingelt, wären ihr vermutlich die beiden Hubschrauber aufgefallen, die inzwischen über dem Rhein kreisten. So aber war sie froh aus der Kälte in den heimeligen Vorraum gelassen zu werden. Überraschenderweise machte der Wachhabende einen außerordentlich munteren, wenn auch besorgten Eindruck und er schien sie zur Eile drängen zu wollen. Als sie ihm ihren Presseausweis unter die Nase hielt verfinsterte sich seine Miene merklich.
„Nein, wir geben derzeit keine Auskunft. Wenden sie sich an ihren zuständigen Pressevertreter, der ist bereits verständigt und wird sie zeitnah informieren.“
Sofort war ihr journalistisches Gespür geweckt. Wenigstens etwas, wenn schon der Rest sich noch im Tiefschlaf befand.
„Ähm, ja, natürlich, allerdings könnte ich ihnen eventuell neue Informationen liefern. Die Frage ist nur, ob dabei auch etwas für mich heraus springt.“
Sara setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf, aber scheinbar hatte der Polizist in letzter Zeit keine guten Erfahrungen mit Frauen gemacht, oder er machte sich generell nichts aus ihnen, denn er sprang von seinem Stuhl auf und fuhr sie an:
„Wenn sie Informationen haben, geben sie sie unverzüglich heraus, sonst sperre ich sie wegen Mittäterschaft auf der Stelle ein!“
Puh, Sara fühlte sich verunsichert. Gewöhnlich berichtete sie über Lokalsport und ihr einziger Kontakt zur Polizei hatte sich bisher auf gelegentliche Strafzettel beschränkt. In diesem Fall hatte sie wohl hoch gepokert und alles verloren. Vermutlich war es aber ohnehin besser die Sache weiterzuleiten und andere sich damit befassen zu lassen.
Mit spitzen Fingernägeln holte sie einen DIN A3 Umschlag aus ihrer Umhängetasche hervor und legte ihn in den Spalt zwischen dem Panzerglas, das den Polizisten von ihr trennte.
„Das wurde vorhin vor meiner Tür abgelegt. Die haben fünf Minuten Sturm geklingelt. Eigentlich weiß ich gar nicht was los ist, aber der Brief ist wohl für sie...“
An Stelle des Adressaten stand in fetten, mit Computer geschriebenen Buchstaben:
An den Polizeipräsidenten
In der Mitte war mit Tesafilm eine 9mm Patrone aufgeklebt.
„Ich dachte es wäre besser, wenn ich ihn gleich abliefere.“
Der Ausdruck des Beamten wurde gnädiger.
„Oh, ja, tut mir leid, wir sind gerade etwas im Stress. Warum haben sie das nicht gleich gesagt. Dann ist es wohl besser, wenn sie hereinkommen und uns das genauer schildern.“
Fünf Minuten später lag der Brief im Lagezentrum der Polizei, umringt von einem Dutzend hochrangiger Polizisten, während Sara in einem Nebenzimmer befragt wurde.
Ein Beamter der Spurensicherung öffnete den Umschlag. Anschließend zog er mit einer Pinzette den Zettel heraus, der sich in dem Brief befand und las vor:
Kommunique der Rheinpiraten.
Wie sie mittlerweile festgestellt haben ist die Geiselnahme der „vrees en hoop“ ernst zu nehmen. Wir wollen hiermit unsere Position darlegen und unsere Forderung stellen.
Wir sind eine Gruppe von Exilsomaliern, denen viel an ihrer Heimat liegt. Sie werden daher unsere Missbilligung der Entsendung ihrer Bundesmarine an die somalische Küste nachvollziehen können.
Die Begründung für ihren Militäreinsatz liegt in den „Piratenüberfällen“ auf internationale Boote. Dabei liegen die Ursachen in dem unbefriedigenden Regierungsstatus Somalias, in dem es keine staatliche Autorität gibt und die Macht regional von verschiedenen Gruppen ausgeübt wird. Die ersten Piraten waren, wie wir, früher Fischer in kleinen Küstenorten. Durch internationale Fischfangflotten, die nicht durch staatliche Organe am illegalen Fischzug in den Gewässern gehindert wurden, gingen die Fangquoten aber immer weiter zurück. Die Verschmutzung des Meeres durch abgelassenen Müll tat ihr Übriges.
Irgendwann wussten sich einige nicht mehr weiter zu helfen, als Fischtrawler anzugreifen und schließlich zu kapern. Da man feststellte, dass dies gewinnbringend war und sich die Trawlerverbände ebenfalls bewaffneten, wurde dazu übergegangen, Frachter und Tanker zu entführen. Mittlerweile kommen jedoch aus allen Landesteilen Somalias junge Männer, um sich an diesem Geschäft zu beteiligen. Viele Einwohner der Orte unterstützen Piraterie nicht.
Da die Militäraktion keine rein deutsche Angelegenheit ist haben wir uns entschieden ein niederländisches Schiff mit einzubeziehen.
Überweisen sie bitte zur Vermeidung eines schwerwiegenden Unglücks 500.000 Euro bis 12 Uhr heute Mittag auf ein Konto der Barbados National Bank, die Daten finden sie auf der Rückseite.
Des Weiteren fordern wir sie auf, zur Bekämpfung der Piraterie in Somalia eine Einheitsregierung zu unterstützen, die für die Kontrolle der Küsten verantwortlich zeichnet. Hierzu erwarten wir eine Stellungnahme des Bundesaußenministers bis 18 Uhr.
Wenn die Forderungen erfüllt werden, setzen wir unsere Fahrt um 20 Uhr fort. Anschließend erhalten sie weitere Anweisungen.
Gez. Rheinpiraten
Inzwischen zeigte die Uhr fünf vor zwölf. Auf dem Boot von PHK Zeiler war die mobile Kommandozentrale eingerichtet worden. In der Luft über dem Tanker schwebten Polizeihubschrauber mit Scharfschützen und der Rhein wurde von Polizeibooten gesperrt. Jeglicher Versuch der Kontaktaufnahme mit dem Tankschiff war gescheitert. Ansprechen über Bordfunk, Telefonanrufe, Lautsprecherdurchsagen, alles ohne Reaktion. Dafür hatten die Hubschrauber mehrere Feststellungen gemacht, die nicht zur Grundausstattung des Tankers zu gehören schienen: An der linken Seite war ein Motorboot angeleint und an Deck befanden sich mehrere verdächtige Pakete, die durch Kabel verbunden waren.
Die Sache hatte mittlerweile weite Kreise gezogen. Aufgrund der Forderung der Geiselnehmer war das Bundesinnenministerium eingebunden worden. Die Beteiligung der Niederlande erleichterte die Entscheidungsfindung nicht gerade, jedoch war von dort volles Vertrauen in die deutschen Ordnungskräfte signalisiert worden.
Ein Nachgeben kam natürlich nicht in Frage, auch wenn sich einige Parteien in ihren Forderungen nach humanitärer Unterstützung für Somalia bestätigt sahen. Eines hatten die Täter jedoch in jedem Fall erreicht. Das Medienecho war enorm. Dabei schwankten die Meinungen bezüglich der Geiselnehmer zwischen Ökoterroristen, skrupellosen Verbrechern und fehlgeleiteten Idealisten. In der Einsatzzentrale war man sich mit all dem nicht mehr so sicher. Nach Abwägung aller Möglichkeiten hatte man sich dafür entschieden das Schiff zu stürmen.
An Bord waren keine Kameras oder ähnliches entdeckt worden und der einzige Spalt in einem Fenster war zum Bug hin geöffnet, so dass der Zugang vom Heck vermutlich ungefährdet möglich war.
Da die GSG 9 am besten für maritime Einsätze ausgebildet war, wurde beschlossen, sie zur Erstürmung anzufordern. Der Zeitpunkt sollte Schlag zwölf sein.
Jetzt war es soweit. Fasziniert beobachtete Zeiler mit seinem Fernglas das Vorgehen.
Zunächst blieb alles still, schien nur auf diesen Augenblick zu warten. Lediglich das Rotieren der Hubschrauberblätter war noch zu vernehmen. Geräuschlos tauchten mehrere behelmte Köpfe am Heck des Tankers auf. Einer nach dem anderen bestiegen die Froschmänner die heruntergelassene Ankerkette und kletterten daran empor. An Deck angekommen verständigten sie sich mit Gesten, teilten sich auf und gingen unter gegenseitiger Sicherung zum Steuerhaus vor.
Zwei begaben sich zu einem der Päckchen das unterhalb des Steuerhauses lag. Nach kurzer Prüfung gab einer den anderen ein Zeichen, dann drangen sie blitzartig in die Kabine. Während von einer Seite eine Scheibe eingeschlagen und eine Blendgranate hineingeworfen wurde, drang ein weiteres Team in die Tür ein.
Als wäre das ein Startsignal gewesen stürzte plötzlich einer der Polizeihubschrauber einem Falken gleich auf das Boot herab. Knapp über dem Deck kam er zum Stehen, vier weitere schwerbewaffnete Gestalten sprangen heraus und folgten ihren Kameraden.
Gleichzeitig kamen auch auf dem Rhein zwei Schnellboote angerauscht, die seitlich festmachten. Daraus kletterten ebenfalls noch einige Männer auf das Schiff.
Nach zwei Minuten war alles vorbei. Keine Explosion, kein Schüsse, keine Gefangenen. Das Boot war mit Ausnahme der gefesselten Besatzung leer. Bedauerlicherweise erlag der angeschossene Mechaniker in der Zwischenzeit seiner Verletzung. Sprengstoff wurde allerdings keiner gefunden, die Päckchen stellten sich als Attrappen heraus. Die Rekonstruktion ergab, dass die Angreifer nach dem Drohanruf das Handy auf den Tanker hatten liegen lassen und anschließend mit dem zweiten Motorboot flüchteten.
Im Innenministerium rätselte man, ob es sich tatsächlich um Somalier oder nur um kriminelle Trittbrettfahrer handelte, die auf das schnelle Geld spekuliert hatten.
Sara Kunzel verfasste einen Artikel in dem sie ihre Sicht der Dinge schilderte. Ihr Fazit:
Es bleibt die Hoffnung, dass es sich lediglich um einen Einzelfall handelte. Doch die Rheinschiffer werden in nächster Zeit in Furcht vor dem nächsten Angriff leben.
Die überlebenden Besatzungsmitglieder wurden zur Untersuchung in eine Klinik gebracht. Der Polizist Zeidler begleitet Kapitän Van Straaten zum Krankenwagen und bevor sich die Türen schlossen fragte er ihn: „Was bedeutet eigentlich „vrees en hoop“?“
„Furcht und Hoffnung!“
Tag der Veröffentlichung: 15.08.2009
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