Pling!
Ich öffne die Augen.
Dunkel.
Hat mich etwa ein Geräusch geweckt?
Es wird nie still hier. Ständig rumpelt und quietscht es, trotzdem scheint es keine Lebewesen außer ein paar Ratten hier zu geben - und mir. Doch jetzt ist das anders. Ich spüre es. Dieses Geräusch war anders als die sonstigen.
Kein Tageslicht kann herein und auch elektrisches Licht gibt es nicht. Das brauche ich aber nicht mehr. Ich erhebe mich von der abgewetzten Matratze und setze einen Fuß auf den staubigen Betonboden. Die Luft riecht ölig und schmeckt abgestanden.
Trotz der Dunkelheit kann ich neben meinem provisorischen Bett schemenhaft ein Paar Stiefel erkennen. Daneben steht mein Rucksack - mein ganzes Hab und Gut. Ich streife die schweren Schuhe über und binde die Schnürsenkel zu, dabei sondiere ich meine Umgebung. Ich kenne sie.
Seit mehreren Monaten lebe, oder besser noch, vegetiere, ich hier. Ich bin krank.
Die Matratze füllt die Hälfte des kleinen Raumes, eher eine Nische, von der aus sich beidseitig ein Gewirr von Gängen erstreckt. Über mir verlaufen große, unverkleidete Heizungsrohre, so dass ich auch im Winter nicht frieren muss. Wenn ich ihnen folge, komme ich über mehrere Biegungen zu einem Schacht, durch den ich über eine dort angebrachte, metallene Leiter ins Freie gelange. Niemand kommt hier herunter, die Maschinen sind darauf ausgelegt Jahrzehnte störungsfrei zu arbeiten. Aber ich komme hinauf.
Ich stehe auf und stoße beinahe mit dem Kopf gegen die Heizungsrohre. Eigentlich bin ich nicht größer als ein durchschnittlich gewachsener Mann, aber das Gebäude ist auch nicht als Wohnraum konzipiert.
Vorsichtig verlasse ich die Nische und wende meinen Blick in beide Richtungen. Immer noch sehe ich nicht viel mehr als den leeren, scheinbar endlosen Gang, der sich auch für mich irgendwann in der Dunkelheit verliert. Trotzdem stimmt etwas nicht, ich kann es riechen.
Hier unten ist noch jemand anderes.
Meine Krankheit macht mich nicht träge und raubt mir keinen meiner Sinne, im Gegenteil, alles scheint geschärft und die Lethargie meines früheren Lebens scheint wie abgefallen.
Ich greife in die rechte Tasche meiner abgetragenen, schmutzigen Hose und ziehe einen kleinen, metallenen Gegenstand daraus hervor. Es ist ein Klappmesser, das mir schon gute Dienste geleistet hat. Kein Springmesser, denn für jemanden wie mich wäre es gefährlich wegen eines verbotenen Gegenstandes festgenommen zu werden. Trotzdem ist es aber mit ein wenig Übung schnell zu öffnen.
Ich gehe den Gang nach links, in Richtung der Leiter. Von rechts kann niemand kommen, ausgenommen, er hätte vorher schon meine Kammer passiert, was ich für ausgeschlossen halte.
Einerseits macht der Eindringling hoffentlich keine Probleme, andererseits kommt er mir möglicherweise gerade recht.
Ich bin ein Junkie, der seine nächste Dosis braucht. Schon beim Aufwachen war es da, das Zittern, das mir deutlich macht, dass ich zu lange keinen Nachschub hatte, das Pochen des Herzens in seinem Versuch, an genug gesättigtes Blut zu kommen.
Durch die Sorge des Entdecktwerdens beim Aufwachen waren die Entzugserscheinungen wohl zunächst unterdrückt worden, jetzt spüre ich zum ersten mal seit Tagen wieder das tiefe Verlangen nach dem Stoff, der mein Dasein ermöglicht: Blut.
Ich habe versucht darauf zu verzichten, habe mich versteckt und mich selbst gefesselt, um mich daran zu hindern hinaus zu gehen und jemandem seinen Lebenssaft zu nehmen. Es nützt nichts. Je länger es dauerte, desto rasender wurde ich. Schließlich brach ich mir beide Hände, um daraufhin nach draußen zu stürzen und den erstbesten Menschen zu zerfleischen, der mir zwischen die Zähne kam. Danach empfand ich nur noch mehr Abscheu für mich, abgesehen davon hat es natürlich für einen Aufschrei in der Presse gesorgt.
Seitdem suche ich mir meine Opfer gezielt aus. Wenn man nicht seine Identität schützen müsste, wäre es nicht einmal nötig sie zu töten. Mittlerweile habe ich sogar einen Weg gefunden, darauf zu verzichten und trotzdem unerkannt zu entkommen, ja sogar so, dass sie nicht einmal ahnen, von einem Vampir gebissen worden zu sein.
Ich gehe gemächlich weiter den Gang entlang, setze einen Fuß vor den anderen, bei jedem Schritt knirscht es unter den Stiefeln. Als ich an eine Biegung komme, kann ich zum ersten Mal genauer bestimmen, was ich da rieche; ein etwas scharfer Geruch: Knoblauch.
Diese Narren! Es gibt nur noch wenige Menschen, die glauben, dass sie einen Vampir mit Knoblauch unschädlich machen können, wenn sie denn überhaupt an Vampire glauben.
Ich habe auch nicht daran geglaubt, bis zu einem Abend vor ungefähr elf Monaten war ich ein Mensch, wie jeder andere. Heute bedaure ich an jenem Abend auf die Party gegangen zu sein, zu der mich ein Freund eingeladen hatte. Dort lernte ich eine attraktive, junge Frau kennen: Veronica Kronberg. Wir verstanden uns auf Anhieb und ich gab mein Bestes, um sie gleich am ersten Abend mit nach Hause zu nehmen. Überraschenderweise war sie es aber, die mir das Angebot machte, mit ihr zu kommen.
Dazu sagte ich natürlich nicht nein. Umso größer meine Überraschung als sich ihr Zuhause als Villa herausstellte. Der erste Ort, an den sie mich führte, war der Swimmingpool. Hier hatten wir zum ersten Mal leidenschaftlichen Sex. Sie kratzte mir den Rücken auf, so dass das Blut herausquoll. Ich hatte noch nie eine so ekstatische Frau erlebt und war selbst überrascht, dass ich mit ihrer stürmischen Art zurecht kam. Veronica schien auch ihren Spaß dabei gehabt zu haben und hatte sich die Lippe aufgebissen.
Danach führte sie mich auf ihr Zimmer, wo sie mir den Rücken ableckte, was mir nun doch etwas befremdlich schien, aber der Alkohol und die Umstände, unter denen das ganze statt fand, ließen keinen Widerspruch zu. Ich verbrachte noch den restlichen Abend bei ihr und verließ ihr Haus am nächsten Morgen, wie ich es schon so viele Male andernorts getan hatte. Doch diesmal war nichts wie zuvor.
Die nächsten Tage ging es mir immer schlechter. Zunächst dachte ich, es wäre ein Grippe, dazu passten die seltsamen Träume und Visionen aber nicht. Ich dachte, ich würde verrückt werden und irgendwie stimmte das ja auch.
Die Ärzte fanden keine Anhaltspunkte für eine Krankheit, also suchte ich noch einmal Veronica auf. Als sie mir erklärte, dass sie ein Vampir sei und ich mich wohl angesteckt hätte lachte ich sie zunächst aus. Aber sie blieb ernst und sagte, ich könne froh sein, immerhin hätte ich auch meinen Spaß dabei gehabt, und das könnten die Wenigsten von sich behaupten. Danach ließ sie mich von einem grobschlächtigen Diener hinauswerfen und ließ mir nur noch mitteilen, dass ich nie wieder auftauchen solle, da es mir sonst wesentlich weniger gefallen würde. Mir blieb nichts anderes übrig als unterzutauchen und mein Leben so zu führen, wie ich es heute tue.
Nein, ich bin kein Vampir. Ich starb, als sich mein Blut mit dem Veronicas vermischte. So, als ob mir jemand Gift in den Körper gespritzt hätte, das langsam durch meine Venen kriecht und dabei jede Zelle meines Körpers durchdringt, nach seinem Plan verändert und mich schließlich tötet. Stattdessen lebt jetzt etwas anderes in mir: der Vampir. Und er wird tatsächlich ewig leben, so wie es die Legenden sagen. Nicht in meinem Körper, der irgendwann verrotten wird, so wie jeder andere, nein, er wird weiter wandern, mit jedem Biss, den ich in fremdes Fleisch setze, bekommt er die Chance auf ein neues Leben. Auch wenn er sich nicht überall durchsetzen kann, so wird er doch in dem einen oder anderen Menschen gedeihen und so weiter bestehen. Mir ging es zeitweise so schlecht, dass ich auch an Selbstmord dachte. Aber der Vampir lässt es nicht zu, dass man dem Körper, dessen er sich bemächtigt hat, etwas antut. Er überlagert die eigenen Bedürfnisse.
Ich gehe um die nächste Ecke. Immer noch nichts zu sehen, doch der Geruch des Knoblauchs wird intensiver. Darunter liegt ein Duft, der mir das Wasser im Mund zusammen laufen lässt: Mensch.
Meine Schritte beschleunigen sich. Mein Körper reagiert auf die erwartete Mahlzeit und drängt mich, die Gefahr beiseite schiebend, weiter. Trotzdem durchläuft mich ein Frösteln. Der Hunger verwischt die Grenze zwischen Mensch und Tier.
Ich jaule auf.
Eine Symbiose aus Schmerz, Vorfreude und Warnung.
Wenn der Fremde mich bis jetzt nicht bemerkt hatte, so muss ihm nun bewusst geworden sein, in welcher Situation er sich befindet. Er sollte rennen.
Meine Schritte führen mich an der Leiter vorbei. Kurz bevor ich die nächste Ecke passiere, sehe ich im Dunkel der dortigen Wand einen leichten Schemen. Erwartet er mich etwa?
Die Klinge meines Messers schnappt auf. Auch wenn es hier Licht gäbe, wäre kein Blitzen auf der Schneide zu sehen gewesen, denn sie ist so schwarz wie mein Herz.
Der Schatten bewegt sich und verschwindet. Passend dazu höre ich Schritte - polternd -klobige Stiefel, die sich schnell entfernen.
Ha! Der Hase hat die Gefahr erkannt und flieht, doch dies ist mein Bau. Spätestens an der verschlossenen Stahltür zwei Biegungen weiter gibt es kein Entkommen mehr. Er sitzt in der Falle.
Ohne Hast gehe ich weiter, auch hinter der nächsten Biegung kann ich mein Opfer noch nicht ausmachen. Vielleicht hat es sich in eines der Seitenabteile geflüchtet, dem ähnlich, in dem ich hause. Überraschenderweise höre ich plötzlich ein Geräusch hinter mir. Hat man mich durch den Knoblauch nur abgelenkt? Ich drehe mich um.
Ich sitze in der Falle.
Vor mir steht ein älterer Herr. In seinem schwarzen Frack und dem dazu passenden Zylinder, ist er im Dunkel fast nicht auszumachen. Doch sein Lächeln bringt seine weißen, spitzen Eckzähne besonders zur Geltung. Mit der Rechten stützt er sich auf einen elfenbeinernen Gehstock.
Eine Erinnerung erwacht. An damals, als es passierte. In Veronicas Zimmer. Eine gläserne Vitrine. Darin standen Bilder, offensichtlich Familienporträts. In der Mitte befand sich das Bild des Mannes, der nun vor mir steht. Er ist ihr Vater.
„Hallo, Michael,“ sagt er, „ deine Kinder sind durstig!“
Mit allem habe ich gerechnet, aber diese Eröffnung verwirrt mich. Was meint er mit: „Deine Kinder sind durstig!“? Sind die Leute gemeint, die durch mich infiziert wurden, oder meint er mein eigen Fleisch und Blut. Weder habe ich mitbekommen, dass jemand, an dem ich mich nährte, angesteckt wurde, noch weiß ich von körperlichen Nachfahren.
Offenbar überträgt sich meine Unsicherheit auch auf meinen Ausdruck, denn Herr Kronberg sieht mich mitleidsvoll an.
„Wie ich sehe, scheinst du keine Ahnung zu haben. Woher auch? Veronica hat nach eurer gemeinsamen Nacht drei Kinder zur Welt gebracht. Alles deutet darauf hin, dass du ihr Vater bist.“
Mir wird schwindelig, zu viele Emotionen in zu kurzer Zeit. Angst, Hunger, Jagdtrieb, Überraschung, Freude.
Angst? Es muss einen Zusammenhang geben. Warum die Formulierung: „Deine Kinder sind durstig!“? Warum dieses Vorgehen?
Der Knoblauchgeruch ist wieder stärker wahrnehmbar.
„Leider war eines zu schwach, so dass es nicht überlebte, es hat nicht die Gene seiner Mutter geerbt.“
Wut.
Meine Knie zittern. Ich werde mir wieder des Messers an meiner Rechten bewusst. Meine Finger klammern sich krampfhaft um den Griff, die Klinge zeigt nach unten.
„Die anderen beiden gedeihen gut. Du kannst stolz sein. Aber sie dürsten langsam nach Blut. Wir können ihnen noch kein menschliches verabreichen, ihr Immunsystem könnte deren Viren und Bakterien noch nicht gewachsen sein.“
Alles verschwimmt. Der Knoblauchträger ist jetzt direkt hinter mir, ich kann seinen heißen Atem spüren.
„Daher sollst du, damit sie leben können, ihnen dein Blut schenken.“
Ein Lufthauch streichelt meinen Nacken. Ich muss handeln.
Ich drehe mich um und führe die Klinge in einem Halbkreis auf Höhe meines Kopfes mit, den anderen Arm hebe ich zum Schutz.
Gerade rechtzeitig, denn der Totschläger des menschlichen Gehilfen Herrn Kronbergs kracht auf die Stelle herunter, an der sich eben noch mein Hinterkopf befand. Stattdessen trifft er nun auf meine erhoben Hand. Schmerzen explodieren. Wie ein Feuerwerk schießen sie meinen Arm hinauf. Meine Hand zuckt zurück, einer Schlange gleich, die sich zu weit vor gewagt hat.
Aber zu einem weiteren Schlag kommt der Lakai nicht mehr.
Mein Messer findet in seiner Bewegung seinen entblößten Hals und gleitet durch das weiche Fleisch als wäre es Gelee. Seine Schlagader wird geöffnet und das Blut sprudelt hervor, als ob es einer frischen Quelle entspränge.
Meine animalischen Instinkte erwachen erneut und noch bevor er zu Boden geht springe ich ihn an, um mich an seiner Wunde zu laben.
Ich reiße ihn nieder. Noch zuckt er, in dem vergeblichen Versuch, mich abzuschütteln und seinen offenen Hals zu bedecken.
Vergebens.
In meinem Wahn gilt die volle Aufmerksamkeit dem sterbenden Körper unter mir. Dann aber, bemerke ich einen Schmerz, der nicht von meiner zerschlagenen linken Hand rührt, die ich schon gar nicht mehr wahrnehme, sondern aus der Mitte meines Körpers.
Mein Blick gleitet an mir hinab und ich sehe die Spitze eines Degens aus meiner Brust ragen. Mir wird wieder bewusst, dass wir nicht allein waren.
Wie in Zeitlupe wendet sich mein Blick, um den mitleidlosen Augen Herr Kronbergs zu begegnen. Der hält den Griff seine Gehstockes in der Hand, in der Verlängerung führt die schmale Silhouette eines Degens zu meinem Körper, die elfenbeinerne Verkleidung liegt am Boden.
Meine Augen flackern. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, mich zu verabschieden. Ich verlasse diese Welt. Doch wenn mich auch in meinem letzten Augenblick Schmerzen peinigen, wie ich sie selbst in den schlimmsten Momenten nicht verspürt habe, so bin ich doch froh, dass es endlich so weit ist. Endlich bin ich wieder frei. Der Vampir verlässt meinen Körper und ich finde die Ruhe, die ich mir seit elf Monaten, ob wachend oder schlafend, so dringend ersehne.
Ich sterbe.
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2008
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