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1. Kapitel




„Ellie, verdammt! Bist du taub?“ „Äh, was?“, fragte ich verwirrt, blinzelte verschlafen und drehte mich in die Richtung, aus der ich meinen Namen gehört hatte. Ich war verwundert, dass mich jemand rief, denn für gewöhnlich interessierte sich keiner für mich. Manche Menschen ignorierten mich, als wäre ich Luft, andere starrten mich an, als ob mir Tentakeln gewachsen wären, oder so. Ich hasste beides, vor allem, weil ich mir nicht erklären konnte, wieso sie mich so behandelten. Wie wenn ich ein Freak wäre. Oder so.
„Hey, hast du mir zugehört?“, fragte die Stimme abermals. Ich hatte schon wieder nicht aufgepasst. Irgendwie wusste ich nicht einmal, wer mich überhaupt angesprochen hatte, als mir eine Hand vor dem Gesicht herumwedelte und mich aufschauen ließ. Hellbraune Augen und ein dunkelblonder Haarschopf ließen mich erst einmal stutzen, bis mir einfiel, dass der Junge Antony hieß und mit mir in eine Klasse ging. „Ähm, tut mir leid, ich hab' irgwendwie gerade nicht so zugehört...“ „Typisch Ellie“, erwiderte er lachend, was mich nur noch mehr verwirrte. Seit wann redete jemand mit mir?! Er machte den Mund auf, um noch etwas zu sagen, als der Bus plötzlich anhielt. Antony, der eine Reihe hinter mir saß schaute sich um und seufzte genervt, doch seine Reaktion war gerechtfertigt: In den Bus stiegen gerade die vielleicht größten Idioten der Schule. Es waren eigentlich nur ein paar Sechstklässler, aber sie konnten einen so zum Wahnsinn treiben... (vor allem mich). „Hey, Anny, ist der Freak da etwa deine Freundin?“, spottete der Mikey, der Anführer der Clique, während er sich uns näherte und auf den leeren Platz neben mich setzte. Ok, dachte ich, es ist mal wieder Zeit für meine 'Ich-Bin-Gar-Nicht-Anwesend-Strategie'. Das tat ich, indem ich versuchte, einfach alle Sinneseindrücke auszublenden, was mir inzwischen recht gut gelang. Ich hatte eben schon Übung.
„Aaalso...?“, sagte Mikey gedehnt. Kacke, ich konnte ihn noch hören. Ich versuchte, den Typen aus meinem Hirn auszublenden, aber es wollte mir einfach nicht gelingen. Schließlich gab ich auf und blaffte ihn an: „Was suchst du Knirps hier eigentlich? Du nervst andere doch nur, um deine eigene Unfähigkeit zu verbergen, also mach' dich hier nicht dauernd selbst zum Affen!“ Wow, ich hatte mal was gesagt... Normalerweise saß ich immer nur da, und ließ jegliche Art von Stichelei über mich ergehen. Wahrscheinlich hatte ich etwas Selbstbewusstsein gesammelt, als Antony mich angesprochen hatte, ohne mir dabei eine bissige Bemerkung an den Kopf zu werfen.
Das schien auch gewirkt zu haben, denn er starrte mich erst mal verdutzt an und wusste anscheinend nicht, was er sagen sollte. „Du, du …“, stammelte er und ballte seine Hände zu Fäusten. Ich war kurz davor, ihm die Zunge rauszustrecken, doch ich hielt mich zurück und grinste ihn nur spöttisch an. „Das wirst du noch bereuen“, zischte er plötzlich mit einer fremdartigen Stimme, doch anscheinend so leise, dass nur ich es hören konnte. Doch als er sich dann noch mit einer dünnen Schlangenzunge über die spitzen Zähne fuhr, fragte ich mich, ob ich wirklich geistesgestört war.

Der Unterricht verlief eigentlich ganz normal. Ich saß wie immer auf meinem Einzelplatz, kritzelte wie immer undefinierbare Zeichnungen in mein Heft und passte wie immer nicht auf, als Mr Maggot mich aufrief. „Ms Black! Wären Sie vielleicht so nett und würden mir wenigstens zwei Sekunden ihrer Aufmerksamkeit an mich wenden?“ „Äh, 'tschuldigung, … was bitte war denn die Frage?“ „Na na, werden Sie nicht gleich frech, ich wollte nur von Ihnen wissen...“. Ich sah ihn verständnislos an, während ich auf die Fortsetzung der Frage wartete, die schließlich als geflüstertes „wo ihr euch verkrochen habt“ zu mir durchdrang.
Häh?! Was sollte denn der Scheiß?! Was war das bitte für eine bescheuerte Frage? Ich schaute mich verwirrt in der Klasse um, doch niemand wirkte überrascht oder wenigstens leicht verwundert. Langsam wandte ich meinen Blick wieder dem Lehrer zu, der mich nur wie blöd angrinste und dann, wie wenn nichts gewesen wäre, mit seinem Geschichtsunterricht fortfuhr. Was war nur los mit mir verdammt?
Als endlich das erlösende Klingeln des Stundenwechsels ertönte, stopfte ich meine Sachen schnell in die Schultasche und rannte schon fast aus dem Klassenzimmer., wobei ich die anderen gar nicht beachtete. Denen war ich sowieso egal. Also setzte ich meinen schnellen Schritt fort und machte mich auf, in Richtung Chemie-Saal, wo ich meine nächste Stunde hatte... Oder auch nicht.
Es wäre vielleicht alles ganz normal, und friedlich verlaufen, wenn sich nicht diese blöde, unvernünftige Stimme in meinem Unterbewusstsein zu Wort gemeldet und mir die schwachsinnige Idee der unentschuldigten Unterrichtsversäumung vor Augen geführt hätte. Ich dachte nicht einmal daran, mir die Konsequenzen eines solchen Unterfangens auszumalen, stattdessen machte ich auf dem Absatz kehrt und huschte eilig zum anderen Ende des Ganges, darauf bedacht, nicht von einem Lehrer gesehen zu werden. Das war eigentlich auch nicht sonderlich schwer, denn während des Stundenwechsels tummelten sich immer zahlreiche, extrem motivierte Schüler auf dem Weg zu ihrem Raum auf den Gängen herum. Also konnte ich unbemerkt das nächste Klo erreichen, in das ich schnell hineinglitt. Wenigstens war ich noch schlau genug gewesen, mir noch einmal einen Plan für mein Vorhaben zu entwickeln und so stand ich nun nach Luft schnappend an die Wand gelehnt und überlegte, wie ich es schaffte, mich unbemerkt vom Schulgelände zu stehlen. Mir fiel auf, dass dies gar nicht so leicht sein würde, da das Gebäude viele große Fenster hatte, durch die mich jeder problemlos beobachten könnte, wie ich „heimlich“ vom Gefahrenbereich zu entkommen versuchte. In Gedanken ging ich alle möglichen Fluchtwege durch, zum Beispiel die Variante über den hinteren Schulhof, oder die Strecke, die durch eine Hintertür im Untergeschoss, die sich neben einem Süßigkeitenautomaten befand, führte. Doch egal wie viele Möglichkeiten ich durchdachte, alle waren ungeeignet, da sie entweder direkt vorbei am „Streberzimmer“ (eigener Raum für höchst engagierte Schüler, die einfach nicht genug von der Schule bekamen und sich hier durch Pluspunkte bei den Lehrern einschleimen konnten), oder an einer Reihe von verglasten Klassenräumen. o.ä. vorbeiführten. Obwohl... um genau zu sein, gab es vielleicht einen Weg, an dem ich mit ein wenig Glück ungesehen verschwinden konnte: Es gab eine Treppe, die die Naturwissenschaftstrakte miteinander verband. Sie führte von Biologie über Chemie hinunter zu Physik und endete schließlich am hinteren Ende des zweites Pausenhofs. Wenn ich dort entlang ging, käme ich zwar direkt am „Streberzimmer“ vorbei, doch zufällig war dies die Seite mit nur einem kleinen Fenster. Wenn ich dann an der Wand entlangging, könnte ich zum Lehrerparkplatz gelangen und von dort war es schließlich ein leichtes, sich über den Sportplatz heimlich vom Schulgelände zu entfernen. Ich schaute auf die Uhr: 8:55. Ich hatte noch knappe 35 Minuten, vielleicht auch weniger, falls unser verschlafener Chemielehrer, oder meine beschissene Klasse es eventuell raffte dass ich fehlte. Dies war zwar eher unwahrscheinlich, aber doch möglich. Also auf was wartete ich eigentlich noch? Ich machte die Klötür um einen Spalt weit auf, und spähte vorsichtig hinaus. Als ich mir sicher war, dass sich niemand Unerwünschtes auf den Gängen herumtrieb, schlüpfte ich hinaus und huschte eilig den Weg entlang, den ich festgelegt hatte. Als ich am Fuß der Treppe stand, hielt ich noch einmal kurz inne und lauschte, ob sich jemand in der Nähe befand. Da ich mir sicher war, nichts gehört zu haben, eilte ich schnell die Stufen hinab, war fast unten angekommen und – knallte direkt in einen vorbeigehenden Lehrer. Vor lauter Schreck fiel ich rückwärts, wobei mein Rücken hart an der Kante aufschlug. „Scheiße“. Ich stand auf, rieb mir die schmerzende Stelle und hätte die Ursache meines Sturzes beinahe vergessen. Erst als ich jemanden leise kichern hörte, sah ich auf und – blickte direkt in Mr Maggots verachtend zusammengekniffene Augen. „Ähm, Entschuldigung, wollte ich natürlich sagen...“, nuschelte ich und biss verärgert die Zähne aufeinander. Warum musste ich immer so viel Pech haben? Jetzt bekam ich bestimmt 'nen Verweis, wäre zwar mein erster, aber das war wieder ein Grund für die anderen, mich zu schikanieren. Die suchten ja nur einen Anlass, um mich fertigzumachen, alles andere war ihnen völlig gleich.
„Und, darf ich fragen, was Sie hier suchen, Ms Black?“, wurde ich durch Mr Maggots Stimme aus meinen Gedanken gerissen. Ich sah ihn hilflos an und dachte fiebrig nach, was ich ihm jetzt erzählen sollte. „Ich ähm, also ich wollte... also ich wurde geschickt, um um...“ „Ist schon gut“, unterbrach er mich und grinste, „Sie haben noch nie etwas angestellt, deshalb werde ich einfach darauf vertrauen, dass Sie sich wieder ordnungsgemäß zurück in Ihren Klassenraum begeben“. Und bevor ich etwas erwidern konnte, schritt er an mir vorbei, ging die Treppe hoch und war schließlich aus meinem Blickfeld verschwunden.
Ich zuckte nur die Schultern, jubelte innerlich wegen meines unerwarteten Glückes und beschloss, nicht länger über diesen (wenn auch etwas merkwürdigen) Satz nachzudenken.

Der Rest meines Fluchtversuches verlief relativ unspektakulär, ich kam unbemerkt am „Streberzimmer“ vorbei, erreichte den Lehrerparkplatz problemlos und gelangte schließlich wie geplant zum Sportplatz. Dort war ich erst einmal in Sicherheit, da sich um mich herum viele Bäume mit dichtem, schützendem Laub befanden und vor einer Sportklasse brauchte ich mir im Moment auch keine Sorgen machen, da es zu kalt zum rausgehen war. Ich setzte mich erst einmal auf die nächstbeste Bank, genoss die frische Luft und dachte ausnahmsweise an nichts Bestimmtes. Es tat einfach mal gut, nicht darüber nachdenken zu müssen, wie ich mein Leben noch länger ertragen sollte, es tat gut, sich nicht dauernd fragen zu müssen, welchen Sinn die eigene Existenz eigentlich hatte, es war einfach unglaublich befreiend nur hier zu sitzen und dem Rauschen der Blätter zuzuhören und den kühlen Wind auf der Haut zu spüren.
Ich hätte wahrscheinlich ewig so dasitzen können, hätte mich nicht plötzlich eine seltsam vertraute Stimme unsanft aus meiner Versunkenheit gerissen: „Ach sieh mal an, du lebst also auch noch! Und ich hatte mir schon Hoffnungen gemacht …“
Ungläubig riss ich die Augen auf, und blickte zu einem stämmigen, braunhaarigen Jungen auf, der mich verächtlich musterte und mit dem Fuß auf dem Boden scharrte. Er war also wieder da... Ach du Scheiße.

2. Kapitel




„Dachte mir schon, dass du es nötig hast, die Schule zu schwänzen, um deine Ruhe zu haben“, fuhr er fort und betrachtete ein Geldstück, das er in der Hand hielt. Die beiden anderen, eher schlaksig wirkenden Typen, die rechts und links von ihm standen, nickten und grinsten dümmlich.
Ich konnte es immer noch nicht fassen. Vor mir stand tatsächlich die Person, die ich am meisten hasste und von der ich geglaubt hatte, ich wäre sie für immer los: Sam Holley. Und natürlich fing er gleich wieder an, mich zu provozieren, es war auch nichts anderes zu erwarten gewesen. Doch diesmal würde ich es mir nicht mehr gefallen lassen, das nahm ich mir fest vor.
„Fühlst du dich jetzt besser, oder was? Einfach erbärmlich, wenn man das Leben anderer Leute ruinieren muss, um anerkannt zu werden“. Ich gab zwar nur ungern zu, dass er damit erfolgreich gewesen war, doch etwas anderes zu behaupten wäre schlichtweg gelogen.
„Ich...“, begann er, etwas überrascht auf meine unerwartete Antwort, „wenn du so naiv bist, dich derart einfach verarschen zu lassen, bist du schön selbst schuld“. Er kniff die Augen zusammen und blitzte mich schadenfroh an. Aha. Ich war also selbst schuld, wenn ich als einsames kleines Kind jemandem vertraut habe, der sich als mein bester Freund ausgegeben hatte. Gut, vielleicht war es wirklich teilweise mein eigener Verdienst gewesen. Doch wie sollte jemand, der immer allein gewesen war, wissen, wie sich echte Freundschaft anfühlte?
„Und, warum bist du von München wieder in dieses Kaff gezogen?“, fragte ich, wobei ich den Boden anblickte und meine Zähne zusammenbiss. Vielleicht konnte man mit ihm inzwischen doch ein zivilisiertes Gespräch führen, dachte ich, doch insgeheim bezweifelte ich es. Und wie erwartet kam eine bissige „was-geht's-dich-an“ - Antwort entgegen. Ich stand auf, jetzt hatte ich ehrlich keinen Bock mehr.
„Hey, lass mich los!“, rief ich, denn er hatte mich am Arm gepackt und hielt mich nun fest.
„Ich bestimme wer wann wohin geht, damit das klar ist!“ Er spannte die Muskeln an. Ich spürte, wie seine Faust hart gegen meinen Kiefer prallte, bevor ich von der Wucht seines Schlages zu Boden ging. Ich hörte wie die Beiden, die die ganze Zeit neben ihm gestanden und gegrinst hatten, erschrocken nach Luft schnappten und einen der beiden sagen, dass das hier zu weit ginge. Als ich versuchte, mich aufzurappeln und den Dreck von meiner Jacke zu wischen, traf mich ein Fuß grob im Rücken, wodurch ich mit dem Gesicht voraus im Matsch landete. Sam lachte nur boshaft, bückte sich und zog mich an den Haaren wieder hoch, sodass ich vor einem der unbekannten Jungen kniete. Der Blonde sah mich nur mitleidig und ängstlich an, während Sam von ihm verlangte, mir ins Gesicht zu schlagen. „Nun mach schon, Denny“, drängte er ihn, „oder bist du zu 'nem Schisser geworden?“
Denny blickte mich hilflos an. Zunächst machte er Anstalten, Sams Befehl nachzugehen, doch er blieb weiterhin untätig.
„Ach, verpiss' dich“, seufzte Sam gespielt genervt und schubste ihn weg von mir. Nun stand er bedrohlich aufragend vor mir und ließ seine Knöchel knacken. Sadistisch grinsend schaute er zu mir herab, holte aus zum Schlag. Jeder Teil meines Körpers zuckte in der Erwartung, sich schnellstens davonzumachen. Ich könnte einfach den Kopf zur Seite drehen, mich wegrollen und irgendwie versuchen, wegzukommen. Es war das, was ich sonst auch immer getan hatte und fast hätte sich der Feigling in mir wieder durchgesetzt.
Doch diesmal nicht. Ich hatte mir doch fest vorgenommen, nicht den gleichen Fehler wieder zu machen. Es war doch genau das, was er wollte: ich sollte wie ein kleines Kind vor der Gefahr davonlaufen, damit er später wieder einen Grund hatte, mich damit mental fertigzumachen. Das hätte er wohl gern. Und wenn es mich meine Nase kostete, ich würde nicht abhauen. Ich sah ihm fest in die Augen und wartete auf den Stoß. „Na dann“, seufzte er, als würde es ihm leidtun und ließ seine Faust vorschnellen.

Klatsch.

Ohne nachgedacht zu haben, wehrte ich seinen Schlag mit meiner Hand ab. Als wäre es das einfachste von der Welt, hielt ich seine Faust fest mit meinen Fingern ergriffen und verhinderte, dass er mir das Gesicht demolieren konnte. Sam schien richtig perplex von meiner unbekannten Kraft zu sein, und da war er nicht allein. Damit meinte ich nicht die beiden anderen Typen, wo die waren wusste ich nicht. Wahrscheinlich abgehauen. Ich war selbst überrascht, als dann auch noch ein bedrohliches Knurren aus meiner Kehle drang.
„Was zum...?!“ Sam starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, ja, er schien plötzlich richtig Angst zu haben. Sam.

Dieser Name erfüllte mich auf einmal mit rasender Wut. Wie von selbst richtete mein Körper sich auf und warf sich in seine Richtung, während ich ausholte und mit aller Kraft auf sein verzerrtes Gesicht einschlug. Blut lief an meiner Hand hinunter, während ich ihn mit einem weiteren Hieb zu Boden gehen ließ. Ich setzte ein weiteres Mal an. Ich lächelte zufrieden, als ich spürte, das seine Nase meinem Stoß nicht standhalten konnte und ich ein vielversprechendes Knacken vernahm. Trotz des lauten Jammerns, das er von sich gab, dachte ich nicht einmal daran aufzuhören. Während ich immer weiter auf ihn einprügelte und ihm dabei einige Zähne ausschlug, begann ich erst richtig zu begreifen, was ich da überhaupt tat. Mir wurde klar, dass ich dabei war, ihn umzubringen und zu meinem Entsetzen schreckte ich nicht davor zurück.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.10.2012

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