Mein Name ist M., ich bin jetzt 27 Jahre alt und die Tochter einer Frau, die wahrscheinlich eine Borderline-Persönlichkeit ist. Warum „wahrscheinlich“? Nun, ganz einfach. Es gibt keine offizielle Diagnose. Meine Mutter weigert sich bis heute, sich in Therapie zu begeben. Sie zeigt keine Einsicht, dass sie eventuell psychisch krank sein könnte. Dass dem aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so ist, wurde mir klar, als ich das Buch „Borderline-Mütter und ihre Kinder“ gelesen hatte. Es traf mich wie ein Hammerschlag. In diesem Buch wurde meine Kindheit, meine Jugend und vor allem meine Mutter und ihre wahnwitzige Welt detailliert beschrieben. Nach diesem Buch konnte ich meine Mutter in das Schema der „Hexe“ gemischt mit der „Königin“ einordnen. Plötzlich machten die Dinge meiner Vergangenheit mehr oder weniger Sinn. Sie waren plötzlich erklärbar. Seitdem krame ich in meiner Vergangenheit herum, hole Erinnerungen wieder hoch und rücke sie in dieses neue Licht.
Im Laufe meines Lebens bin ich selbst psychisch erkrankt. Ich leide immer wieder an Depressionen und während eines Klinikaufenthaltes wurde festgestellt, dass ich ein Bindungstrauma habe. Ich war zwar dort in der Traumagruppe, aber 2 Monate Therapie reichen nicht aus, ein Trauma zu bearbeiten, das sich über mein gesamtes bisheriges Leben zog. Vielleicht hilft diese kurze Biographie mir, einige Dinge zu verarbeiten. Und vielleicht, hoffentlich, hilft sie mit, das Tabuthema psychisch erkrankter Elternteile ein wenig zu brechen und anderen Betroffenen zu zeigen, dass sie nicht allein sind.
An die Zeit vor meiner Einschulung habe ich nicht mehr viele Erinnerungen. Das meiste halte ich für Erinnerungen, weiß diese Dinge jedoch nur von Fotos und von Erzählungen anderer.
Was andere, vor allem meine Eltern mir über mich erzählten aus dieser Zeit passt absolut nicht mehr zu dem, was ich heute bin. Wenn meine Eltern mir erzählten, was ich für ein Kind war in meinen ersten Lebensjahren, kommt es mir vor, als sprächen sie über jemand anderes.
Ich war wohl einst ein aufgewecktes und fröhliches Kind, habe jeden mit einem strahlendem „Hallo!“ begrüßt, der mir über den Weg lief. Zumindest wird es so erzählt.
Dumm war ich wohl auch nicht, ich begann wohl schon relativ früh, zu sprechen und brachte mir noch im Kindergarten im Alter von 5 Jahren selbst das Lesen bei. Daran erinnere ich mich jedoch selbst.
Ich erinnere mich noch gut an den Moment, in dem ich zum ersten Mal gelesen habe. Wir waren gerade im Auto, auf der Autobahn. Mein Vater saß am Steuer und ich saß hinter meiner Mutter, ein dickes Märchenbuch auf dem Schoß. Es war reich bebildert, aber die Bilder interessierten mich nicht. Ich konzentrierte mich auf die Schrift und kramte all meine Erinnerungen zusammen an die Aussprache der Zeichen, die dort standen. Schon früher habe ich meine Eltern immer wieder gelöchert mit Fragen, welcher Buchstabe dieser und jener sei und nun wendete ich dieses Wissen zum ersten Mal an. Sehr langsam begann ich, laut die Worte vorzulesen, die in dem Buch standen. Ich las Buchstaben für Buchstaben und ich erinnere mich noch, wie toll dieses Gefühl des Verstehens war. Diese komischen Zeichen ergaben nun einen Sinn, ich erkannte die Worte und die Sätze, die sie bildeten. Eifrig las ich weiter laut vor und als ich in einer kleinen Pause aufsah, bemerkte ich, dass sich meine Mutter zu mir umgedreht hatte und mich ansah, als habe sie einen Geist gesehen. Das pure Entsetzen stand in ihren Zügen und sie sagte zu meinem Vater: „Das Kind kann lesen...!“.
Hier reißt diese Erinnerung jedoch ab und verschwindet im Schleier all der anderen Kindheitserinnerungen. Sie zählt zu den wenigen meines Lebens, die ich als emotional neutral oder sogar schön bezeichnen kann.
Weitere, gar bildliche Erinnerungen an meine Zeit im Kindergarten habe ich nicht. Ich weiß aber, dass bereits damals ein einziges Gefühl stets präsent war und im Vordergrund stand. Dieses Gefühl hat sich mir tief eingeprägt und ist das erste, was mir in den Sinn kommt, wenn ich versuche, mich an irgendetwas aus meiner Vergangenheit zu erinnern: Angst.
Schon damals überschattete die Angst vor meiner Mutter all mein Tun. Ich erinnere mich, dass ich schon als kleines Kind ständig damit beschäftigt war, darüber nachzudenken, wie ich meine Handlungen vor meiner Mutter rechtfertigen soll. Ich erinnere mich auch an die häufigen und oft stundenlangen Kreuzverhöre, in denen ich von meiner Mutter immer wieder nach den Gründen meines Tuns gefragt wurde. Ich weiß gar nicht mehr, was ich damals eigentlich immer schlimmes getan hatte. Ich weiß nur, dass meine Mutter wütend war, mich anschrie, immer wieder nach dem „Warum“ fragte und ich immer wieder unter Tränen „Ich weiß nicht“ antwortete, was meine Mutter jedes Mal natürlich noch wütender machte. Manchmal vergaß sie sich sogar und ich fing mir eine schallende Ohrfeige ein. Den genauen Grund konnte ich jedoch nie nachvollziehen. Ich wusste nie, was ich falsch gemacht hatte, und so hatte ich natürlich jedes Mal Angst, etwas falsch zu machen, wenn meine Mutter in der Nähe war.
Ich denke, schon damals entwickelte sich meine Empathie. Es war damals wohl ein Überlebensmechanismus, schließlich musste ich mich immer auf meine Mutter einstellen, um die Gewitter halbwegs überstehen zu können und am besten schon vorausahnen zu können.
Ich war ein kleines Kind, natürlich wollte ich, dass meine Mutter mich liebhat. Meine Mutter hatte mich jedoch nicht lieb. Oder aber sie zeigte es einfach nicht. Egal, was ich tat oder sagte, es war immer irgendwie falsch, machte meine Mutter wütend oder wurde ignoriert.
So sehr ich mich auch anstrenge und konzentriere, ich finde in meinen Erinnerungen keinen einzigen Moment, in dem ich mich damals geliebt und angenommen fühlte, geschweige denn geborgen. Ich fühlte mich schon als kleines Kind nicht sicher, immer saß mir die Angst im Nacken. Ich erinnere mich weder an Umarmungen, noch an Küsse, noch an Kuschelstunden mit meiner Mutter oder gar meinem Vater. Ob sowas tatsächlich nie stattgefunden hatte, weiß ich nicht. Aber würde ich mich nicht auch an solch schöne Dinge erinnern? Ich weiß es nicht.
Ich erinnere mich auch an keinen einzigen Kindergeburtstag bis zum Alter von 7 Jahren. Es gibt auch keinerlei Fotos, die davon zeugen. Also nehme ich stark an, dass einfach nicht gefeiert wurde. Die Gründe kenne ich jedoch nicht.
Zu der Zeit damals, noch bevor meine Schwester geboren wurde, brach der Kontakt zur Mutter meines Vaters vollständig ab, und dies sollte 13 Jahre lang auch so bleiben. Ich selbst habe keine Erinnerungen an sie aus dieser Zeit, aber meine Mutter hat mir später im Laufe meiner Jugend oft genug erzählt, was für eine schlechte und böse Frau sie doch ist. Ich kenne die Gründe für den Kontaktabbruch nicht und alles andere, was vorher war, weiß ich nur aus den Erzählungen meiner Mutter.
So erzählte sie, dass meine Oma mich immer wie den letzten Dreck behandelt habe und all ihre anderen Enkelkinder mir vorzog. Laut meiner Mutter mochte sie mich nicht und empfand mich als lästig.
Heute jedoch bezweifle ich diese Erzählungen. Ich zweifle stark daran, dass sie der Wahrheit entsprechen, seit ich bemerkt habe, wie verdreht die Realitätswahrnehmung meiner Mutter ist und schon immer war.
Als ich 4 Jahre alt war, kam meine Schwester zur Welt. Ich erinnere mich kaum an ihre ersten Lebensjahre, nur die Tage unmittelbar nach ihrer Geburt sind mir im Gedächtnis geblieben. Meine Mutter war noch ein paar Tage lang im Krankenhaus damals. Das Bettchen meiner Schwester, deren Namen ich mir einfach nicht merken konnte (ich sagte immer „das Baby“), stand immer neben dem Bett meiner Mutter. Wenn sie meine Schwester umhertrug, hatte sie sie stets in Tücher eingewickelt und verdeckte seltsamerweise immer ihr Gesicht. Immer, wenn meine Mutter das Kind trug, sei es nun im Zimmer oder draußen im Krankenhausgarten gewesen, achtete sie peinlichst darauf, dass immer ein Teil des Tuches über dem Gesicht meiner Schwester lag. Ich verstand schon damals nicht, was das sollte und das ist auch bis heute so geblieben. Ich verstehe es immer noch nicht, ich finde einfach keine plausible Erklärung dafür. Kurioserweise geht es meiner Mutter genauso, wenn ich sie heute danach frage.
Im Alter von sieben Jahren wurde ich eingeschult in der Grundschule unseres Dorfes. Auch hier sind meine Erinnerungen oft etwas schwammig und nur schwer zeitlich einzuordnen. Insgesamt jedoch meine ich mich zu erinnern, dass ich insbesondere im ersten Schuljahr ein recht gesundes Selbstbewusstsein hatte. Ich schwamm schon damals nicht unbedingt immer mit dem Strom. Ich hatte eine eigene Meinung und eigene Interessen, die nicht unbedingt immer dem aktuellen Trend innerhalb der Klasse entsprachen, und ich stand offen dazu und verteidigte mich vehement. Ich wollte nie so wie die anderen sein. In dieser Hinsicht legte ich einen gewissen Trotz und einen ziemlichen Dickkopf an den Tag.
Natürlich eckte ich damit bei den anderen des Öfteren an und wurde langsam immer mehr ausgegrenzt in der Klasse. Dennoch hatte ich immer mal wieder Freunde, oder eher „Freunde“ in der Klasse, mit denen ich in den Schulpausen und auch außerhalb der Schule spielte. Die meiste Zeit verstand ich mich eigentlich gut mit ihnen und hatte auch viel Spaß. Aber dennoch kam es immer wieder vor, dass sie sich gegen mich zusammentaten um mich auf teilweise sehr verletzende Weise weg zu mobben. Ich erinnere mich, dass ich öfter mal nachmittags weinend vom Spielen nach Hause kam. Natürlich suchte ich Trost bei meiner Mutter.
Ich fand ihn jedoch nicht bei ihr. Sie nahm mich nicht in den Arm. Sie tröstete mich nicht, baute mich nicht auf. Ich bekam nur zu hören, ich solle aufhören zu weinen und „drei sind eben einer zu viel“ (meist taten sich immer zwei gegen mich zusammen).
Ich musste also allein damit fertigwerden.
Ich erinnere mich, wie meine Mutter mir ein grundsätzliches Misstrauen gegen alles und jeden einzupflanzen versuchte. Sie selbst geht grundsätzlich immer davon aus, dass andere Menschen nie die Wahrheit sprechen und vor allem ihr nur Schlechtes wollen. Paradoxerweise untermauert sie bis heute ihre Ansichten und Argumente mit Dingen, die sie entweder aus dem Fernsehen oder von Aussagen anderer Leute hat.
So musste ich mir immer, wenn ich etwas aus der Schule erzählte, vor allem, wenn es Dinge waren, die meine Mitschüler z.B. über ihren Urlaub erzählt hatten, anhören, wie naiv und leichtgläubig ich doch sei. Der Satz, den meine Mutter immer zur Antwort gab, hat sich mir eingeprägt, ist mir quasi in Fleisch und Blut übergegangen:
„Glaubst du das auch noch wirklich?“
Sie stellte alles in Frage, verdrehte alles und bezichtigte jeden als Lügner. Ihr Dogma, dass man niemandem trauen und schon gar nicht alles glauben kann, prägte sich in meinen Geist wie ein Brandmal.
Noch heute ertappe ich mich selbst, wie ich immer wieder grundlos misstrauisch anderen gegenüber bin und im Geiste die Aussagen anderer Leute hinterfrage. Lange Zeit war dies ein schwerwiegendes Problem für mich, insbesondere später im Teenager-Alter, als ich sogar begann, meine Freunde zu hinterfragen und ihnen zu misstrauen. Es war und ist verwirrend, nicht zu wissen, wie man Lüge von Wahrheit unterscheiden soll und woran man böse Absichten bei anderen erkennen kann.
Jedoch zurück zum Dogma meiner Mutter. Sie ging noch einen Schritt weiter damals. Ich sollte nicht nur meinen Mitschülern misstrauen und ihre Erlebnisse als gelogen ansehen, nein. Ich sollte selbst lügen. Sie riet mir, doch auch mal irgendwelche Geschichten von irgendwelchen Urlauben oder ähnlichem zu erfinden. Als Kind tut man natürlich alles, um den Eltern, in meinem Fall vor allem meiner Mutter, zu gefallen. Jedoch war ich so „dumm“, ihren Rat vor ihren Augen zu befolgen. An diese Szene erinnere ich mich noch relativ genau. Wir waren auf dem Weg nach Hause von der Schule. Meine Mutter hatte mich mit dem Auto abgeholt und wir nahmen noch zwei meiner Klassenkameraden mit, da sie den gleichen Weg nach Hause hatten wie ich. Im Auto erzählte ich dann einfach, dass unsere Wohnung mal gebrannt habe und ein Riesenloch im Dach gewesen wäre dadurch. Augenscheinlich erinnerte meine Mutter sich nicht mehr an ihren eigenen Rat, und so stellte sie mich vor den Klassenkameraden bloß. Diesmal bezeichnete sie mich als Lügnerin und fragte, wie ich dazu käme, mir so einen Stuss aus den Fingern zu saugen. Nun war ich vollends verwirrt. Alle anderen Lügen immer, sie riet mir, selbst zu lügen, aber wenn ich es tat, war es auch falsch. Heute weiß ich, dass ich dies damals besser nicht im Beisein meiner Mutter getan hätte. So wäre mir diese Bloßstellung erspart geblieben. Ich wusste es als Kind jedoch nicht besser und wollte meiner Mutter beweisen, dass ich stark bin und tue, was sie verlangt und für richtig hält. Dass diese Beweise niemals von ihr erkannt und gar anerkannt werden, konnte ich damals noch nicht wissen.
Was ich jedoch wusste, wohl aber eher instinktiv, war, dass meine Mutter die absolute Herrscherin war. Sie hatte das Zepter in der Hand, „die Hosen an“. Man musste sich ihr fügen, besonders als Kind, wenn man überleben wollte. Aber dennoch zog ich mir ständig ihren Zorn zu, ohne so recht zu wissen, was ich nun wieder verbrochen habe.
So erinnere ich mich an kaum ein Wochenende, an dem meine Eltern nicht heftig stritten. Und vor allem nicht daran, dass ich einmal nicht die Schuld an dem Streit oder an einer Eskalation bekam. Meine Schwester und ich bekamen jeden Streit mit. Nicht etwa, weil unsere Eltern in einem anderen Zimmer so laut waren, nein. Sie stritten sich vor unseren Augen. Schon morgens am Frühstückstisch.
„Es ist ja wieder Samstag…!“ wurde zu einem typischen Satz meiner Eltern. Jeden Samstag, wenn meine Eltern beide zu Hause waren, gerieten sie aneinander. Ich weiß natürlich nicht mehr, aus welchen Gründen überhaupt. Ich weiß nur noch, dass sie sich stets lautstark anbrüllten und niedermachten. Und wenn meine Schwester oder ich dann anfingen zu weinen – wir waren ja noch kleine Kinder – wurden wir von unserer Mutter angeherrscht, wir sollen aufhören damit.
Selbstverständlich wurden wir schon von klein auf in die Streitereien einbezogen. Bevorzugt von unserer Mutter. Und natürlich weinten wir jedes Mal, da wir verwirrt waren und nie wussten, was wir nun wieder falsch gemacht haben. So entstand eine Art Teufelskreis:
Die Eltern stritten, wir Kinder litten darunter und begannen, zu weinen, worauf unsere Mutter uns auch noch anbrüllte und damit das Weinen schlimmer machte. Darauf wurde unser Vater noch wütender auf unsere Mutter, was diese völlig missinterpretierte. Er wollte uns schützen denke ich und in seiner ohnmächtigen Verzweiflung brüllte er unsere Mutter noch mehr an. Sie jedoch sah nun die ganze Welt als gegen sich verschworen an und fast jedes Mal gipfelte alles in dem Vorwurf an mich: „Jetzt hast du‘s ja wieder geschafft!“
Im Endeffekt war immer ich diejenige, die dafür gesorgt hatte, dass der Streit eskalierte, oft genug auch, dass er überhaupt ausgebrochen war.
Und so ging es jedes Wochenende zu.
An dieser Stelle muss ich meine Hochachtung meinem Vater gegenüber ausdrücken. Ich erinnere mich an genau zwei Vorfälle in meinem gesamten Leben, an denen er die Hand gegen meine Mutter erhob. Bis auf diese zwei Male ist er nie handgreiflich ihr gegenüber geworden. Er hat sie nie geschlagen, obwohl sie ihn ständig bis aufs Blut reizte und provozierte. Ich glaube, an seiner Stelle wäre ich längst ausgerastet und hätte sie regelrecht verprügelt.
Was ich jedoch erschreckend finde an den beiden Vorfällen, ist nicht die Tatsache, dass unser Vater unserer Mutter eine Ohrfeige verpasste. Ich finde es eher erschreckend, dass sowohl ich als auch meine Schwester der Ansicht waren und sind, dass sie es verdient hatte. Ich war ihm regelrecht dankbar dafür und geradezu schadenfroh meiner Mutter gegenüber. Es ist ekelerregend, wie sie meinen Vater provozierte und ihn sogar aufforderte, sie zu schlagen, um sich dann als Opfer eines prügelnden Ehemannes hinzustellen.
Nach diesen Streits, meist Tage später, wenn mein Vater auf der Arbeit war, begannen die Kreuzverhöre. Insbesondere mich nahm meine Mutter immer in die Mangel und quetschte mich aus, warum ich dies und jenes gesagt habe und ob es mir Spaß mache, meine Eltern gegeneinander auszuspielen. Ich wusste noch nicht einmal, was „gegeneinander ausspielen“ bedeutete, ich war nicht mal zehn Jahre alt. Ich erinnere mich auch nicht mehr, was ich zur Antwort gab. Ich weiß nur noch, dass diese Kreuzverhöre extrem anstrengend waren und ich jedes Mal heftig weinte. Es war egal, was ich antwortete, glaube ich. Meine Mutter war nie zufrieden mit meinen Aussagen. Meist gingen diese „Moralpredigten“ über Stunden.
Auch meine Schwester musste sich derartige Verhöre ab und an antun. Meist in meinem Beisein. Natürlich wurde auch ich oft genug einbezogen. Es war mir immer äußerst unangenehm, aber ich erinnere mich, dass ich freiwillig blieb, um im Notfall meine Schwester irgendwie schützen zu können. Sie war immerhin vier Jahre jünger als ich und verstand noch weniger, was überhaupt los war.
Dennoch war ich hilflos, wenn unsere Mutter völlig die Beherrschung verlor. Dass sie mir ab und an eine schallende Ohrfeige verpasste ist nicht so schlimm, wie das Bild, das ich noch heute detailliert vor Augen habe, wenn ich mich erinnere, wie sie meine Schwester förmlich zusammenschlug.
Wir saßen in der Küche, was fast immer der Schauplatz von Streit und körperlicher Gewalt war. Die Küche war irgendwie die Arena, wenn ich so darüber nachdenke. Meine Schwester saß auf ihrem Platz auf der Eckbank, ich saß ihr auf meinem Stuhl gegenüber. Am Kopfende, in Reichweite von uns beiden, saß meine Mutter. Ich weiß nicht mehr, was eigentlich passiert war, aber ich glaube, meine Schwester hatte irgendwas ausgefressen. Zumindest nach Meinung unserer Mutter.
Irgendwas lies unsere Mutter völlig austicken. Eine in ihren Ohren falsche Antwort vielleicht, ich weiß es nicht. Vielleicht auch einfach nur ein falscher Tonfall, wie so oft. Völlig unvermittelt schlug sie meine Schwester ins Gesicht. Instinktiv duckte sie sich weg, wandte das Gesicht ab von unserer Mutter, aber diese war völlig in Rage und schlug weiter auf meine Schwester ein. Sie schlug ihr auf den Kopf und auf den Rücken, als meine Schwester versuchte, unter den Tisch zu gelangen, was ihre einzige Fluchtmöglichkeit war.
Hier reißt meine Erinnerung ab. Ich weiß nicht mehr, was danach passierte und ich weiß auch nicht, ob mein Vater überhaupt von diesem Vorfall weiß. Ich schätze, nicht. Als Kinder haben weder meine Schwester noch ich selbst ihm je von derartigen Ausrastern erzählt. Aus Angst vor der Mutter. Aus Angst davor, dass sie es wieder als ein „die Eltern gegeneinander ausspielen“ sehen könnte und somit der Terror sich noch verschlimmern könnte.
Sehr oft kam es auch vor, dass meine Mutter ihre „Morgenmuffeligkeit“ an mir ausließ. Noch vor der Schule gab es Streit mit ihr, Standpauken wegen irgendwelcher Dinge, an die ich mich nicht mehr erinnere und ähnlichen Stress. Nicht selten verließ ich völlig verheult und viel zu spät das Haus, da meine Mutter mich immer wieder aufhielt. Auf dem Weg zur Schule kämpfte ich die Tränen mit aller Macht hinunter, es sollte ja niemand sehen, dass ich geweint hatte, und versuchte krampfhaft, mich zu beruhigen, um in der Schule so tun zu können, als sei nichts gewesen. Meine Standardausrede für mein Zuspätkommen wurde irgendwann zu einer Art „Running Gag“ in der Klasse. Ich behauptete viel zu oft, mein Wecker habe nicht geklingelt oder sei kaputt.
Es fiel nie auf, dass vielleicht bei uns zu Hause etwas nicht stimmen könnte. Noch hatte der Psychoterror keine sichtbaren Spuren hinterlassen.
So verstrich die Zeit und auch die Schuljahre und in der vierten Klasse gab es schließlich die Empfehlungen für die weiterführenden Schulen. Ich bekam die Empfehlung für das Gymnasium, so wie weitere fünf Mitschülerinnen, mit denen ich jedoch recht wenig zu tun hatte, da sie mich nicht sonderlich mochten, was aber auf Gegenseitigkeit beruhte. Ich hatte bis dahin so etwas wie einen lockeren Freundeskreis, jedoch bekamen diese Freunde alle „nur“ Empfehlungen für die Realschule. Dass ich mich dennoch weiterhin gut mit ihnen verstand und mich mit ihnen beschäftigte – insbesondere in den Schulpausen – war meiner Mutter irgendwie ein Dorn im Auge. Sie war der Meinung, ich solle mich nur noch mit den Kindern unterhalten, die ebenfalls aufs Gymnasium gehen würden. Sie verlangte von mir, meine Freundschaften aufzugeben und mich mit den anderen anzufreunden. Anscheinend war sie der Meinung, eine Empfehlung für eine niedere Schule sei ein Zeichen für mindere Intelligenz und führe dazu, dass ich mich nicht mehr ordentlich mit den anderen Unterhalten könne. Sie scheint auch noch heute dieser Ansicht zu sein; so war sie völlig irritiert, als ich ihr sagte, dass mein aktueller Freund einen Hauptschulabschluss hat, während ich Studentin bin.
Zwar habe ich auch als Kind diese Denkweise weder verstanden noch geteilt, aber dennoch tat ich mein Bestes, meiner Mutter zu gefallen. Ich versuchte zu tun, was sie von mir verlangte und kämpfte fast schon verzweifelt um Anschluss bei eben jenen Kindern, die zwar die gleiche Empfehlung hatten wie ich, aber nichts mit mir anfangen konnten und wollten. Sie belächelten mich, machten sich innerlich lustig über mich und ich konnte es jedes Mal richtig fühlen. Und ich fühlte mich furchtbar dumm und hilflos dabei. Aber ich musste ja meiner Mutter gefallen, sonst würde auch sie mich wieder als dumm und naiv bezeichnen.
Sie ging sogar noch einen Schritt weiter in ihrer Forderung, mich mit diesen Kindern anzufreunden. Sie bestimmte, wen ich zu meinem letzten Geburtstag an der Grundschule einzuladen hatte und natürlich handelte es sich dabei um genau diese Kinder, die sie gern als meine Freunde sehen wollte.
Die letzten Sommerferien vor dem großen Schritt ins Gymnasium brachen an und ich konnte es kaum abwarten, endlich auf eine (in meinen Augen) „richtige Schule“ zu gehen. Ich freute mich wahnsinnig auf den Beginn des fünften Schuljahres an der neuen Schule. Ich war hochmotiviert und diese Energie konnte selbst von meiner Mutter nicht gemindert werden, die alles daran setzte, mir schon vor Schulbeginn Druck zu machen. Sie impfte mir sorgfältig ein, dass ein Gymnasium eine sehr schwere Schule sei, ich es definitiv nicht leicht haben werde und unter den Schülern ein starkes Konkurrenzdenken herrsche. Wahre Freundschaften gäbe es nicht, es würde immer verglichen werden und jeder sei nur darauf bedacht, bessere Noten als die anderen zu bekommen. Sie predigte diese Dinge immer und immer wieder, als spräche sie aus eigener Erfahrung. Ironischer weise war sie in ihrer Jugend nie auf ein Gymnasium gegangen. Sie selbst hat einen Hauptschulabschluss.
Gegen Ende der Sommerferien bekam ich ein Tagebuch, welches man mit einem Schloss absperren konnte. Dass dieses Tagebuch Jahre später eine einschneidende Bedeutung haben würde, konnte ich damals noch nicht ahnen. Ich schrieb dort all meine Gedanken und Erlebnisse hinein, insbesondere in den ersten Wochen am Gymnasium füllte ich das kleine Buch fast täglich mit Einträgen. Und ich hütete es wie einen Schatz, versteckte es gut in meinem Zimmer, während ich den Schlüssel an anderer Stelle versteckte oder mit mir trug, wann immer es ging. Dass meine Mutter einen Zweitschlüssel hatte, wusste ich zwar, jedoch vertraute ich ihr (leider) noch zu sehr. Dass ihr Versprechen, niemals mein Tagebuch zu lesen, nur hohle Worte waren, wagte ich damals nicht einmal zu ahnen.
Innerhalb der ersten Wochen an der neuen Schule fand ich schnell einen Freundeskreis, der bis zum Abitur halten und sich festigen sollte. Damals war ich noch etwas kontaktfreudiger und selbstbewusster und es fiel mir noch nicht schwer, meinen Platz in der neuen Klasse zu finden. Zu meinem Leidwesen war ich jedoch in einer Klasse mit eben jenen Grundschulkameraden, mit denen ich mich noch nie gut verstanden hatte. Immerhin war ich aber nun von dem Zwang befreit, mich unbedingt mit ihnen anfreunden zu müssen, da ich andere, bessere Freunde fand.
Dennoch begann eine schwere Zeit an dieser Schule, die ich ohne diesen richtigen Freundeskreis wohl kaum überstanden hätte.
Ich lebe auf dem Land und so musste ich immer mit dem Bus bis zur nächsten Stadt fahren, in der sich meine Schule befand. Die Fahrt dauerte immer ca. 10 Minuten. Ab der sechsten Klasse jedoch war ich jeden Morgen und jeden Mittag den teils recht gnadenlosen Mobbingattacken anderer Schüler, die größtenteils nicht einmal auf meiner Schule waren, ausgesetzt.
Jeden Morgen musste ich in einem überfüllten Bus stehen und die körperlichen Attacken der anderen Schüler über mich ergehen lassen. Es fing an beim Wegnehmen der Mütze im Winter und ging bis hin zu körperlicher Gewalt. So wurde ich oft in die Beine getreten, sehr oft mit solcher Kraft, dass ich vor Schmerzen weinte und Prellungen davontrug. Auch mein Schulranzen wurde mir weggenommen, ich wurde mit den Aschenbechern aus den Bussitzen beworfen und allerlei anderer Müll flog mir des Öfteren um die Ohren. Und ich war immer allein. Niemand war auf meiner Seite.
Zu Hause erzählte ich so gut wie nie etwas davon, und wenn, dann nur in sehr verharmloster Form. Schließlich hatte ich ja bereits als Kind gelernt, dass ich von meiner Mutter keine Unterstützung, nicht einmal Trost zu erwarten hatte. Nicht einmal meinen Freunden, die mit anderen Bussen fuhren, da sie aus anderen Dörfern kamen, erzählte ich davon. Wie es scheint, hatte bereits mein Vertrauen allgemein in andere Menschen Schaden genommen.
Eines Tages jedoch eskalierte es morgens vor der Schule im Bus. Mein ganzer Schulranzen wurde mir ausgeräumt und ich begann zu schreien und laut zu weinen, während meine Schulsachen von den anderen lachend im gesamten Bus herumgeworfen und verteilt wurden. Ich weiß nicht mehr, wie, aber ich bekam all meine Sachen wieder zurück, bevor ich tränenüberströmt den Bus Richtung Schule verließ. Meine Freunde warteten bereits und waren entsetzt, als ich ihnen den Vorfall erzählte. Sie rieten mir, sofort zu einem unserer Lehrer zu gehen. Der jedoch konnte nichts machen, da die anderen Schüler von einer völlig anderen Schule der Stadt waren und ich natürlich kaum Namen nennen konnte, da ich selbst sie nicht einmal kannte.
Als ich später wieder zu Hause war, erzählte ich dann doch meiner Mutter davon. Einen Namen konnte ich ihr nennen und sie auch sogleich wutentbrannt die Mutter des Jungen an. Gebracht hat dies natürlich nichts. Trost bekam ich weiterhin nicht. Meine Mutter ist der Überzeugung, es ist Trost genug, dass sie die andere Mutter angerufen und zusammengefaltet hatte.
Natürlich wurden die Busfahrten nach diesem Vorfall nur noch schlimmer für mich. Mit kaltem Schweiß in den Händen stieg ich jeden Morgen und Mittag in den Bus, immer in der Angst, es könnte wieder so etwas passieren. Und jedes Mal war der Bus voller hämisch grinsender Fratzen und jedes Mal wurde ich aufgezogen und ausgelacht. Selbst Jahre nach dem Vorfall noch.
Auch heute noch spüre ich die Nachwirkungen. Es ist nun ca. 15 Jahre her, aber noch immer beschleicht mich Unwohlsein und starke Anspannung, wenn ich mit einem vollen Bus fahren muss. Insbesondere, wenn es ein Bus voller Schüler ist. Ich weiß vom Kopf her, dass diese Angst absurd ist, ich bin schließlich 27 und keine 12 mehr, aber dennoch hat sich diese Angst eingebrannt. Auch das scheint ein Trauma zu sein.
Dass ich weiter ausgelacht wurde, erzählte ich meiner Mutter natürlich nicht. Ihre Aktion mit dem Anruf hatte nichts gebracht, also warum sollte irgendwas anderes etwas helfen. Trösten konnte oder wollte sie mich ohnehin nicht. Geschweige denn, mir Kraft geben. Also wurde ich irgendwie allein damit fertig.
Nun ja, mehr oder weniger allein. Als auch in der Schule Mobbingattacken anfingen, standen meine Freunde hinter mir, verteidigten mich und waren eine wirkliche Stütze. Eine Stütze, die ich so nicht kannte und zu Hause nie hatte. Und natürlich kam es irgendwann so, wie es wohl kommen musste: Ich bekam Schuldgefühle deswegen. Schuldgefühle, weil ich mich als Grund sah für das Absinken der Beliebtheit meiner Freunde in der Klasse. Ich gab mir die Schuld dafür, dass wir sozusagen zu einer „Außenseiterclique“ wurden.
Und nicht nur das. Der Samen des Misstrauens und Zweifels, den meine Mutter mir ja schon früh eingepflanzt hatte, begann auszutreiben und zu blühen. Ich misstraute jedem Fremden. Hier spielten die Mobbingerfahrungen wohl die Rolle des Düngers für diese Misstrauenspflanze. Hinter jedem Lächeln vermutete ich ein insgeheimes Auslachen meiner Person. Hinter jedem leisen Gespräch in meiner Umgebung hörte ich Lästereien über mich. Ich konnte keinem Blick standhalten, ich fühlte mich jedes Mal ausgeliefert und war überzeugt, dass alle anderen, ob sie mich nun kannten oder nicht, nur schlecht über mich denken konnten. Als wäre dies nicht schon belastend genug, kam noch das Misstrauen meinen eigenen Freunden gegenüber hinzu. Ich misstraute ihnen, zweifelte an ihrer Freundschaft und war irgendwann überzeugt, dass sie nur aus Mitleid mit mir befreundet blieben.
Natürlich sprach ich mit niemandem darüber. Dass ich mich meinen Eltern ebenso wenig anvertraute, muss ich eigentlich nicht noch einmal erwähnen, denke ich. Auch dieses Verhältnis änderte sich nur wenig. Meine Eltern stritten weiterhin oft, meine Mutter verhielt sich weiterhin wie sie wollte, ohne Rücksicht auf Verluste. In dieser Zeit, ich war ca. 15 Jahre alt, machten sich die ersten Zeichen der Depression bemerkbar, wie ich heute weiß. Ich erinnere mich an Tagebucheinträge, die von Gefühlen der Einsamkeit handelten, von der Sinnlosigkeit des Lebens, vom Druck, den meine Eltern, insbesondere meine Mutter, mir machten. Auch meine schulischen Leistungen litten unter meiner Verfassung. Ich wurde passiv. Ich saß meine Zeit in der Schule nur noch ab und arbeitete kaum noch mit. So bekam ich meinen ersten „blauen Brief“ wegen meiner schlechten Leistungen im Mathematik und auf einem Halbjahreszeugnis stand der Vermerk, dass ich mich in der Mehrzahl der Fächer nicht aktiv am Unterricht beteilige. Natürlich hatte ich in der Mitarbeit die entsprechende Note: Ein Mangelhaft. Wegen der Mitarbeitsnoten machten meine Eltern mir solch einen Druck, dass ich schließlich in Todessehnsüchte abrutschte und sogar Selbstmordgedanken hatte. Der Druck stieg, je näher das Jahreszeugnis rückte und somit auch die Angst, die irgendwann in eine solche Panik mündete, dass ich mir fest vornahm, mir das Leben zu nehmen, wenn auf dem Zeugnis wieder die gleiche Note und dieser furchtbare Vermerk stand. Diese Gedanken und Pläne schrieb ich natürlich ebenso in mein Tagebuch, was mir später noch zum Verhängnis werden sollte.
Trotz allem strengte ich mich mehr an in der Schule und am Ende hatte ich meine Noten wieder etwas aufgebessert. So auch die Mitarbeitsnote. Ich erinnere mich, dass ich so unendlich erleichtert war über diese Note, dass ich abends in meinem Bett saß und stundenlang weinte.
In dieser Zeit, also im Alter von ca. 13 bis 15, hatte ich zwei Brieffreundinnen, mit denen ich regelmäßigen Schriftverkehr hatte. Beide waren in meinem Alter und ich freute mich jedes Mal, wenn ich entweder im Briefkasten oder auf meinem Schreibtisch einen Brief an mich vorfand.
Eines Tages jedoch bekam ich einen Brief von einer der beiden, nennen wir sie mal S., den ich bis heute nicht vergessen kann. Es war ein Abschiedsbrief. Sie schrieb darin, sie werde sich umbringen und wahrscheinlich schon tot sein, wenn ich diesen Brief lese. Ich war am Boden zerstört, weinte und schrie, wusste nicht, was ich tun sollte und war völlig verzweifelt. Wenig später kam meine Mutter von der Arbeit nach Hause und natürlich zeigte ich ihr den Brief. Sie reagierte jedoch nicht, wie ich es törichterweise erhofft hatte. Sie nahm mich nicht in den Arm. Sie tröstete mich nicht. Nein. Sie reagierte wütend und abfällig. Sie sagte mir kalt ins Gesicht, ich solle mich nicht so anstellen. Jemand, der einen Brief schreibe und einen Suizid ankündige, würde es sowieso nicht durchziehen und das sei nichts anderes als ein übler Scherz. Sie verlangte von mir, nein, eigentlich zwang sie mich sogar, meine Brieffreundin anzurufen, damit ich sehen könne, dass das alles nicht wahr sei.
Wie in Trance tat ich, was meine Mutter verlangte und rief bei der Auskunft an, um die Telefonnummer von S. herauszufinden. Ich erreichte nur ihre Eltern. Diese sagten mir dann, es sei wahr und S. sei im Krankenhaus. Sie lebe, aber die Polizei habe sie von einer Brücke holen müssen, von der sie sich stürzen wollte.
Ich weiß nicht mehr genau, was danach noch alles passierte, aber ich wurde wütend auf meine Mutter und schrie sie an, soweit ich mich erinnern kann. Danach habe ich nie wieder mit ihr darüber gesprochen. Seitdem habe ich keinen Kontakt mehr zu dieser Brieffreundin.
Der Kontakt zu der anderen Brieffreundin brach wegen meiner Mutter ab. Sie sah in ihr den Grund für das Nachlassen meiner schulischen Leistungen und versteckte lange Zeit einfach die Briefe an mich. Natürlich wunderte ich mich, warum ich plötzlich keine Post mehr bekam. Irgendwann fand ich heraus, dass meine Mutter mir meine Post vorenthielt. Ich weiß jedoch nicht mehr, wie ich das herausfand. Es änderte jedoch nichts. Meine Mutter verbot mir den Kontakt zu der Brieffreundin und ich musste ihr einen Brief schreiben, in dem ich den Kontakt zu ihr abbrach.
Aber nicht nur das verbot sie mir.
Seit ich einen Stift halten kann, zeichne und male ich sehr gern. Es ist bis heute mein liebstes Hobby und ein Weg, mich auszudrücken. Ich scheine auch nicht gerade untalentiert zu sein. Natürlich malte und zeichnete ich täglich, was meiner Mutter ein Dorn im Auge war. Sie hatte nie ein Wort des Lobes übrig für mich und meine Bilder. Im Gegenteil. Als meine Leistungen in der Schule nicht mehr ganz dem entsprachen, was sie gern sehen wollte, verbot sie mir dieses Hobby. Ich durfte unter der Woche keinen Strich mehr ziehen, nur am Wochenende war es mir erlaubt, zu malen. Dieses Verbot hielt zum Glück nicht sehr lange, da es mich natürlich extrem unglücklich machte. Ich weiß nicht mehr, was meine Mutter dazu bewog, das Verbot aufzuheben, aber ich glaube, mein Vater spielt eine Rolle darin.
Die Zeit, als ich 15, 16 Jahre alt war, war allgemein eine stressige Zeit in der Familie. Meine Eltern hatten ein Grundstück gekauft und waren voll mit dem Hausbau beschäftigt. Meine Schwester und ich halfen solange im Haushalt, so gut wir konnten. Fast täglich machten wir den Abwasch (was noch von Hand getan werden musste, da wir damals noch keine Spülmaschine hatten), während unsere Eltern auf der Baustelle waren, da mein Vater das Haus selbst baute (er ist von Beruf Maurer).
Anerkannt wurde dies natürlich nicht. Wir wurden beide dennoch immer wieder als faul beschimpft und es wurde immer wieder von unserer Mutter behauptet, wir würden nichts tun, nicht helfen und nur an uns denken. Es tat zwar weh, so etwas immer wieder über sich ergehen zu lassen, aber irgendwie drängte ich es beiseite, ich war es ja sozusagen schon von Klein auf gewohnt.
In dem ganzen Stress kam es dann auch wieder zu einer Eskalation seitens meiner Mutter. Ich war krank, hatte eine Bronchitis und musste Tabletten dagegen schlucken. Leider war es damals so, dass ich Tabletten einfach nicht schlucken konnte. Was ich auch tat, ich bekam sie nicht hinunter. So war es jeden Morgen vor der Schule (nein, ich durfte nicht zu Hause bleiben, ich war ja nicht bettlägerig) ein einziges Drama, diese Tablette in mich hineinzubekommen. Was wir auch versuchten, es funktionierte nicht. Das Zerstoßen und in Wasser Auflösen war ebenso unmöglich, da der Geschmack dieses Gemischs so abscheulich war, dass man bereits allein vom Geruch Brechreiz bekam.
Eines Morgens verlor meine Mutter schließlich die Geduld. Sie schrie mich an, beschimpfte mich und rastete schließlich vollends aus. Sie schlug mich regelrecht zusammen und prügelte die Tablette quasi in mich hinein. Und wieder hatte ich auf dem Weg zum Bus damit zu kämpfen, nicht verheult auszusehen, wenn andere Menschen mich zu Gesicht bekamen.
Eine Entschuldigung für diesen Vorfall habe ich bis heute nicht gehört. Im Gegenteil, sie verlangte sogar Verständnis für ihre Situation, da SIE ja gestresst gewesen sei und sich einfach nicht mehr zu helfen wusste.
Kurz, bevor ich in die Oberstufe kam, kam es mehrmals zu gravierenden Vertrauensbrüchen durch meine Mutter. Zweimal sprach sie mich auf mein Tagebuch und die Gedanken, die ich darin niedergeschrieben hatte, an. Sie hatte es gezielt gelesen und besaß dennoch die Dreistigkeit, zu behaupten, es sei Zufall gewesen, das Buch sei vom Regal gefallen. Selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte sie nicht darin lesen können, da das Buch mit einem Schloss versehen war. Da sie den Zweitschlüssel besaß, hatte sie natürlich vollen Zugang. Ich war wütend und verletzt, doch sie konnte nicht verstehen, warum. Sie war der Meinung, es sei ihr gutes Recht als Mutter, das Tagebuch der eigenen Tochter zu lesen, da sie eine üble Vorahnung hatte (bezogen auf die Selbstmordgedanken, die ich in das Buch geschrieben hatte). Ich habe ihr dies bis heute nicht verziehen und bin nach wie vor der Meinung, dass ein Tagebuch absolut tabu für eine Mutter ist. Als Reaktion auf ihre Spionage habe ich jede Seite des Buches einzeln herausgerissen und vernichtet. Meine Mutter sollte nie wieder mein Vertrauen missbrauchen können.
Aber nicht nur mein Tagebuch las sie, nein. Ich fand heraus, dass sie auch mein Zimmer durchsuchte und meine Kontoauszüge kontrollierte. Natürlich sprach sie mich auch darauf an. Ich musste ihr Rechenschaft ablegen, wofür ich das Geld - das ich übrigens selbst seit meinem 16ten Lebensjahr in einem Minijob verdiente - ausgab. Ich lebte wie in einem Kontrollstaat. Nichts war vor meiner Mutter sicher, nicht einmal mein eigenes Zimmer. Sie kontrollierte und bestimmte. Einen Rückzugsort nur für mich gab es nicht mehr.
Tag der Veröffentlichung: 27.03.2013
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Widmung:
All jenen, die sich in meiner Biografie wiederfinden und noch immer leiden.