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So weit die Flügel tragen

Jedes mal, wenn Ben an Anna dachte verschwand die Realität um ihn herum. Der graue Himmel färbte sich blau, der Straßenlärm wurde zum Vogelzwitschern. Schon seit vielen Jahren liebte er diese Frau. Sie kannten sich bereits seit ihrer gemeinsamen Schulzeit. Sie war eine Tochter aus einem erzkonservativen Haus. Selbst mit 18 musste sie um spätestens 20 Uhr zu Hause sein. Partys, Alkohol, oder ein Freund kamen für ihre Eltern definitiv nicht in Frage.

Bereits damals versuchte er unter dem Vorwand des Lernstoffs mit ihr zu telefonieren, nur um ihre Stimme zu hören, aber selbst dies wollte ihr Vater nicht zulassen. Ben selbst stammte aus einer Arbeiterfamilie. Nicht nur dies machte ihn schon für Daddys kleine Tochter unwürdig. Das schlimmste allerdings war, dass er kein Katholik war. Anna war von Anfang an unerreichbar für ihn. So sehr ihn das auch schmerzte, musste er dies vorerst hinnehmen.

Nachdem sie ihren Schulabschluss erreicht hatten, trennten sich ihre Wege zunächst. Dennoch konnte Ben nicht aufhören an sie zu denken. Die watteweichen Tagträume begleiteten ihn oft. Es vergingen die Jahre. Vieles änderte sich in seinem Leben und er kehrte endlich von seinem Dienst beim Militär nach Hause zurück. Jeder Schritt, der ihn näher nach Hause brachte, machte sein Herz umso leichter. Das Geräusch seiner Stiefel auf dem Asphalt spielte heute nicht den monotonen Marschtritt der Armee, sondern das Lied der Freude und Freiheit. Er wusste, er ist nun wieder sein eigener Herr.

Am Abend traf er sich endlich mit seinen ganzen Freunden wieder. Besonders freute er sich auf das Wiedersehen mit seinem besten Freund Micha. Er saß bereits mit seinen Freunden in ihrer alten Stammkneipe, als die Tür aufging und Micha hereintrat. Freudig stand Ben auf um auf ihn zuzueilen. Lachend schloss er seinen alten Freund in die Arme. „Hey Großer, hat dich das Militär so weich gemacht, dass du mich wie deinen Liebhaber umarmen musst?“, lachte Micha. „Sei doch froh, dass dich wenigstens mal jemand anfasst“, antwortete er mit einem Grinsen. „Was das angeht, gibt es da schon jemand. Sie kommt gleich nach. Endlich lernst du sie mal kennen“, erzählte Micha aufgeregt. Schelmisch grinste er seinen Freund an: „Na, da bin ich wirklich mal gespannt, welche Frau das Glück und Pech hatte bei dir zu landen.“

Sie setzten sich an die Bar und erzählten sich, wie sich ihre Leben in der Zeit in der sie sich nicht sahen entwickelt hatten. Er war so froh, seine alte Clique wieder um sich zu haben. Plötzlich drehte Micha zur Tür: „Ah! Endlich ist sie da!“, rief er freudig aus. Ben drehte sich um und er spürte wie sein Herz zu Eis gefror. Wenn er vorher schon nicht an die grausamen Spiele des Schicksals glaubte, so fasste dieser Glaube mit diesem Tag Fuß in ihm. Vor ihm stand Anna und Augenblicke später lag sie in den Armen seines besten Freundes. „Oh mein Gott… Wie soll ich das jetzt nur überstehen?“ dachte er sich. Mit aller Kraft versuchte er einen gefassten Eindruck zu machen. Er meinte zu spüren, dass sein Blut das Kochen anfing, obwohl sein Herz vom kalten Griff des Schocks umklammert wurde. Anna kam zu ihm herüber. „Hey Ben! Das ist der Hammer!“, begrüßte sie ihn. Irgendwie schaffte er es ein Lächeln hervor zu bringen: „Ja, das ist es allerdings, hallo Anna!“ Micha schaute die beiden irritiert an: „Ok, dass ihr euch kennt wusste ich nicht. Wow. Wie das?“ Anna lachte: „Wir kennen uns schon seit der Schulzeit, wir waren in einer Klasse und haben uns seitdem nicht mehr gesehen.“

Sie setzten sich zu dritt an einen Tisch und sprachen über Gott und die Welt. Äußerlich blieb Ben ruhig, witzig und gesellig, nur in seinem Inneren tobte ein wilder Kampf. Jede Berührung, jeder Blick den die beiden austauschten bohrten sich tief in seine Seele. Es war der real gewordene Alptraum für ihn. Unendlich erleichter war er, als sie sich voneinander verabschiedeten.

Diesmal sangen seine Schuhe kein Lied von Freiheit und Freude auf seinem Heimweg. Es war eher wie ein Trauermarsch. Wie konnte das sein? Wie konnte er an sie herankommen? Er wusste selbst, als guter Freund sollte er sich für ihn freuen, doch er konnte es beim besten Willen nicht. War er wirklich so ein schlechter Mensch? Dies fragte er sich wieder und wieder, bis er endlich in einen langen, traumlosen Schlaf hineinsank.

Er beschloss wieder seine Stiefel zu schnüren und fortzugehen. Seine Familie und Freunde konnten nicht verstehen, warum er dies wieder auf sich nahm, doch für ihn war es der einzige Weg um von seinem Schmerz loszukommen. Alles fing wieder so an, wie es damals aufhörte, nur diesmal ohne seine Tagträume und Hoffnungen.

Die Zeit verging und seine Wunden schlossen sich mit der Zeit. Die Tage ließen nur noch einen sanften grauen Schleier zurück, statt tiefster Nacht rund um die Uhr. Der Dienst füllte sein Leben sehr aus und er war dadurch auch wie Medizin für ihn, bittere Medizin, die ihn betäubte und abstumpfen ließ.

Im November hatte er eine Dienstreise nach Kanada und nahm hierfür einen Flug von München aus. Nichts luxuriöses, Standardticket, Holzklasse, das Abenteuer des Fliegens war in diesem Falle eher einer Busreise gleich zu setzen. Mittlerweile war es zwei Jahre her, dass er Anna und Micha zuletzt sah. Er setzte sich auf seinen Platz, nachdem er das Flugzeug betrat und schloss die Augen. Die Sicherheitshinweise kannte er von früheren Flügen auswendig. Tun sie dies, im unwahrscheinlichen Falle eines Druckabfalls… und so weiter, und so weiter…

Das Flugzeug rollte auf die Startbahn zu. Er genoss die Vibrationen, die Kraft, die hinter den Triebwerken der Maschine steckte. Sie waren seit ca. zehn Minuten in der Luft, als er hörte, wie die Flugbegleiterin in der Reihe hinter ihm Getränke verteilte. Er stellte sich innerlich schon auf den üblichen Smalltalk ein: „Hallo, Kaffee, Cola, Wasser, oder einen Fruchtsaft der Herr?“ Seine Standardantwort: „Kein Saft kann so süß wie ihr Lächeln sein!“ Diese Antwort hatte oft seine Vorteile. Ein Extragetränk hier, ein Werbegeschenk dort.

Er setzte sein charmantestes Lächel auf und dreht sich in Richtung der Flugbegleiterin. „Anna!“, keucht er. Ihr Blicke trafen sich und es kam ihm so vor, als würden Jahre vergehen, bevor die Hypnose brach. „Hallo Ben!“, lächelte sie. „ich hätte nicht gedacht, dich als Fluggast wieder zu sehen“, grinste sie. „Nun ja, und ich hätte nicht gedacht, dass du mir hier Getränke anbieten wirst“, antwortete er lächelnd. „Du, ich muss weitermachen! Vielleicht können wir uns ja nach dem Flug unterhalten!“, sprach sie und ging weiter zu den nächsten Passagieren.

 

Konnte es wirklich wahr sein? Wie konnte das Schicksal sich wieder so wenden? Warum mir? Warum sie? Es war einfach so verwirrend für ihn. Eigentlich hatte er geplant, den Flug im Schlaf zu verbringen, aber seine Gedanken hielten ihn davon ab, auch nur eine Sekunde die Augen zu schließen. Er beobachtete, wie sie durch die Reihen ging. Sie sah einfach umwerfend aus. Ihr blondes Haar, das fast bis zur Hüfte reichte, ein Lächeln, dass dich vergessen lassen möchte, dass es etwas schlechtes in der Welt gab. Von ihrer Stimme ging eine Wärme aus, die auch das kälteste Herz zum schmelzen bringen konnte. Anna… Fast hätte er es geschafft jeden Gedanken an sie aus seinem Leben zu verbannen und jetzt stand sie wieder vor ihm. Entweder man nennt das Ironie, oder die Liebe meinte es vielleicht doch gut mit ihm.

Um ihn herum schliefen die anderen Passagiere, oder sahen sich den Bordfilm an. Das einzige Geräusch war das Brummen der Motoren und das Licht wurde gedämpft. Ben schaffte es doch noch ein wenig Schlaf zu finden. Es waren vielleicht zwei Stunden vergangen, als er wieder wach wurde durch die Ansage des Kapitäns: „Bitte begeben Sie sich zu ihren Plätzen, stellen Sie die Rückenlehne in eine aufrechte Position und gurten Sie sich an!“ Viele der Passagiere waren verwundert. Der Flug müsste noch ein paar Stunden dauern. „Wahrscheinlich nur Turbulenzen.“, hörte er oft  aus den Reihen der Passagiere.

Irgendetwas störte ihn am Verhalten der Flugbegleiterinnen. Sie hatten nach wie vor die Maske des professionellen Lächelns auf, aber in ihren Augen konnte er erkennen, wie unruhig sie waren. Eine der Flugbegleiterinnen kam zu seiner Reihe: „Gut, bleiben Sie bitte alle angeschnallt, bis der Pilot sagt, dass sie wieder aufstehen können.“ Ben sah sie nur an und er wusste, es kann keine einfache Turbulenz sein. Was er sah war die Angst in ihr. Er schloss die Augen und hörte auf das Geräusch der Triebwerke. War das ein Stottern im ansonsten monotonen Brummen? Die Flugbegleiterinnen verteilten sich im Passagierraum. In seiner Nähe stand Anna. Bei ihr wusste er, dass sie ihm nichts vorspielen könnte. Sie kam zu ihm herüber und lächelte. Es war nicht dieses aufgesetzte Lächeln, sondern ihr warmes und gütiges Lächeln, dass er seit jeher liebte. „Ich weiß, ich brauch dir nicht erzählen, du solltest dir keine Sorgen machen,“ flüsterte sie in sein Ohr. Er sah sie nur an: „Wie schlimm ist es?“. Sie senkte den Blick und antwortete leicht stockend: „Es sieht nicht gut aus Ben… Die Triebwerke setzen ständig aus…“ Er nahm ihre Hand und sagte: „Was nun? Notlandung auf dem Meer?“ Sie nickte nur.

Sie schwiegen sich eine ganze Zeit lang an. Er hielt nach wie vor ihre Hand. Es fiel ihm zuerst gar nicht auf, da er noch wie gelähmt war, nachdem ihm klar wurde, dass die Maschine runter geht. Er sah wieder zu ihr: „Weißt du Anna, ich wollte immer etwas Zeit mit dir verbringen, aber so habe ich mir das nicht vorgestellt.“ Er lachte leise und auch von ihr war ein leises Kichern zu hören. „Ich hätte mir damals auch mehr Zeit mit dir gewünscht. Die Sache mit Micha ging nicht lange gut, nachdem ich dich wiedergesehen hatte… Ich weiß nicht… Es hätte so einfach sein können. Nur du warst dann plötzlich verschwunden und ich habe es zu Hause auch nicht mehr ausgehalten, darum bin ich weg gegangen um Flugbegleiterin zu werden.“, sagte sie. Er drückte leicht ihre Hand: „Nun, was auch passiert ist und was jetzt auch kommen mag, ich bin glücklich darüber, dass du in diesem Moment an meiner Seite bist.“

Er nahm sie in den Arm. Das Licht flackerte und egal was auch passieren würde, so fühlte er sich doch in Sicherheit, denn sie war nun endlich bei ihm.

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Tag der Veröffentlichung: 15.09.2013

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