Wieder wurde sie geschlagen, wieder hat ihr Vater getrunken und wieder rannte sie ohne Ziel durch die Nacht. Das Herz wollte ihr aus der Brust springen. Sie spürte den kalten Novemberregen nicht auf ihrer geschundenen Haut. Sie sah die Welt um sie herum durch einen grauen Schleier. Immer wieder sah sie vor ihren Augen wie er auf sie einschlug, sie eine kleine, dreckige Hure nannte. Sie wusste nicht, was mehr schmerzte. Ihr misshandelter Körper, oder ihre vergewaltigte Seele…
Ihre Schritte wurden langsamer und allmählich zeigte der Regen seine kühlende und reinigende Wirkung auf sie. Sie hob den Blick und bemerkte, dass sie geradewegs auf den Hauptfriedhof gerannt ist. Um sie herum leuchteten die Grablichter. In der heutigen Nacht kam ihr der Friedhof heller vor als sonst. „Du dumme Gans“, schoss es ihr durch den Kopf, „es ist Allerheiligen!“ Fast ehrfürchtig blickte sie sich um und sah mit wieviel Liebe die meisten Gräber zu diesem Feiertag hergerichtet waren. Sanfte Engelsfiguren aus Gips blickten sie aus gütigen und dennoch kalten Augen an. Der Tod war hier zwar Allgegenwärtig, aber dennoch lag so viel Liebe in der Luft.
Langsam schlenderte sie die Grabreihen entlang. Die Schmerzen kehrten langsam zu ihr zurück. „Dieses Schwein! Dieses Schwein!“, schoss es ihr immer wieder durch den Kopf. Sie sank auf ihre Knie herab. Die Kieselsteine des Weges bohrten sich in ihre Haut, doch dieser Schmerz war bedeutungslos. Ihr Schluchzen und Weinen störte den Frieden und die Stille des Friedhofs.
Schritte näherten sich ihr. Langsam drehte sie ihren Kopf. Ein Schatten bewegte sich auf sie zu. „Bitte lass es nicht ihn sein!“ flehte sie innerlich. Sie konnte die Gestalt erkennen, die sich langsam aus der Dunkelheit löste. Es war ein Junge, vielleicht 15 Jahre alt. Er ergriff ihre Hand und half ihr auf. Sein Blick musterte sie von oben bis unten. Er ergriff wieder ihre Hand und blickte sie fragend an: „Wer hat dir das angetan? Dein Vater?“ Ihre Kraft reichte nur noch aus, um zu nicken. „Geh mit mir ein Stück und wir reden“, forderte er sie auf.
Langsam liefen sie die Friedhofswege entlang und schwiegen eine Weile. Die einzigen Geräusche kamen von ihren Schritten, welche die Steine härter in den Boden drückten. Langsam und mit leiser Stimme fing er an zu erzählen: „Mein Vater hat mich auch oft geschlagen. Meistens wenn er trank. Ich musste in der Schule oft erzählen, dass ich beim Fußballspielen, oder beim Inline skaten gestürzt bin. Es war schwer zu ertragen. Ich weiß wie schlimm das für dich ist.“
Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Es war ein ungeheuer großes Gefühl von Sicherheit, welches er ausstrahlte. Es war jemand, der sie verstand, der wusste, was sie immer wieder durchmachen musste. Sie fühlte sich geschützt. Zum ersten Mal an diesem Abend schaffte sie es zu sprechen. „Wie heißt du?“, fragte sie. „Dennis, und du siehst aus wie eine Steffi.“, lächelte er. Sie sah ihn verdutzt an. „Stimmt! Nur woher weißt du das?“, antwortete sie. Er grinste nur schief und meinte: „Ich kann gut raten, oder?“ Danach schwiegen sie eine ganze Weile. Irgendwann blieb er mit ihr stehen. „Steffi, wenn du dir was wünschen darfst, was wäre es?“, fragte er. Sie erwiderte seinen Blick und brachte ihren Wunsch hervor: „Ich wünschte, er wäre tot!“. Sein Blick und sein Gesicht wurden starr. Mit immer leiser werdender Stimme presste er heraus: „Steffi… du weißt, das manche Wünsche wahr werden. Für mich war es damals zu spät, aber ich glaube für dich wird sich alles zum Besten wenden. Ich lasse dich jetzt alleine. Komm morgen nachmittag hier her an diese Stelle. Du wirst sehen, morgen sieht die Welt ganz anders aus!“, mit diesen Worten verabschiedete er sich und verschwand genauso in der Nacht, wie er aus ihr kam.
Sie verließ den Friedhof und lief die Straße hinab. Wenn sie nach Hause kommt, wird ihr Vater wahrscheinlich im tiefsten Suff im Bett liegen und schlafen. So leise wie möglich drehte sie den Wohnungsschlüssel um. Alles um sie herum war still, nur das Radio in der Küche spielte den gleichen verdammten Song, den ihr Vater sich stundenlang anhören konnte, wenn er getrunken hatte.
Nachdem sie ihr Zimmer erreicht hatte, schaffte sie es gerade noch den Weg bis zum Bett zurückzulegen. Sie sank in die Kissen und fiel sofort in einen traumlosen Schlaf.
Es war um 9 Uhr morgens, als sie durch das Klingeln an der Haustür geweckt wurde. Verschlafen ging sie zur Tür: „Wer ist da?“, fragte sie. „Polizei, bitte öffnen sie die Tür!“, schallte es ihr von der anderen Seite der Haustür entgegen. Verwundert öffnete sie die Türe. Vor ihr standen zwei Polizeibeamte in ziviler Kleidung. Der, welcher gerade mit ihr durch die Tür gesprochen hatte, sah sie ernst an. „Ich würde es ihnen am Liebsten so schonend sagen wie möglich, aber ich fürchte das geht nicht. Wir haben ihren Vater tot vor dem Haus aufgefunden..“ Mit einem Schlag war jegliche Müdigkeit vergessen. „W..Wie ist es passiert?“, wollte sie mit zittriger Stimme von den Beamten wissen. „Wir nehmen an, dass er aus dem Fenster dort gestolpert ist. Er fiel hinab und die Spitzen des Eisenzauns von ihrem Grundstück haben sich durch seinen Körper gebohrt.“, antwortete der Polizist, der bislang geschwiegen hatte.
Die beiden Polizisten blieben noch eine Stunde, bis alle Formalitäten geklärt waren und sie hing noch lange ihren Gedanken nach. Sie blickte auf die Uhr und bemerkte, dass es bereits 14 Uhr war. Sie musste zu Dennis! Mit ihm reden! Hastig streifte sie ihre Jacke über und rannte die Straße hinauf zum Friedhof. Das Wasser der Pfützen spritze unter ihren Schritten zum Himmel hinauf, als wollte es nicht einsehen, dass es aus den Wolken verbannt wurde.
Mit keuchendem Atem kam sie zu der Stelle, an welcher sie sich verabredet hatten. Sie war alleine. Also beschloss sie zu warten. Sie betrachtete die Gräber um sich herum. Am Tage hatten sie irgendwie den Glanz verloren, den sie voller Pracht in der Nacht zu Allerheiligen durch die Dunkelheit scheinen ließen.
Auf einem Grab wucherte ein Busch. Es war ungepflegt. Das Unkraut nicht gerupft und der Busch nicht zurechtgestutzt. Sie kniete sich hin und fing an das Unkraut zu jäten. Zwei Reihen weiter stand eine ältere Frau, die ein Grab pflegte, wohl das ihres Mannes. Sie blickte zu Steffi hinüber und lächelte. „Mein Kind, das ist nett von Ihnen, dass sie dieses Grab pflegen. Ich habe noch nie jemanden an diesem Grab gesehen.“, sagte sie. „Ich war auch noch nie an diesem Grab. Es hat mir nur so leid getan, dass niemand was daran macht. Ich wollte einfach was tun, nur den Busch werde ich mit bloßen Händen nicht kleinkriegen“, lachte sie. „Hier Kleines, nimm meine Rosenschere. Damit wird das schon gehen.“; sprach die ältere Dame und drückte Steffi die Schere in die Hand.
„Ich kenne mich mit Pflanzen nicht aus, aber vielleicht kann ich so helfen, dieses Grab wieder zu verschönern“, dachte sie sich und fing an den Busch zu stutzen. Ästchen um Ästchen fiel zu Boden.
Vorne war sie irgendwann zufrieden und so fing sie an die Zweige am Grabstein zu stutzen. Nach und nach kam der Stein wieder zum Vorschein. Ihr Blick fiel auf die Inschrift. Die Schere entglitt ihrer Hand und sie sackte zu Boden.
Dennis Weber
* 23.06.1990
† 01.11.2005.
Noch heute pflegt sie das Grab und wird es wohl bis an das Ende ihres Lebens tun…
Tag der Veröffentlichung: 15.09.2013
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