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HIV - Hab Ich Vergessen

Ich wusste schon als kleines Kind, dass das Leben ein Spiel auf Zeit ist. Während es verrinnt, gibt es zwei Optionen, wie es verlaufen kann: entweder man gewinnt oder verliert.

Wie der Verlauf einer Geschichte. Anfang. Höhepunkt. Ende.

 

Sehr simpel.

 

Aber als kleines Kind besaß ich nicht die Weitsicht oder die Erfahrung, das Dasein so nüchtern zu betrachten, wie ich es heute tue. Auch habe ich mir nie darüber Gedanken gemacht, dass der Zeitstrahl des Lebens sich individuell gestaltet. Es gibt keine Norm, die auf jeden zutrifft. Niemanden, der dir sagen kann, dass du tatsächlich achtzig Jahre alt wirst und friedlich einschlafen darfst.

 

Ich bin Ende Zwanzig und habe mein Leben hinter mir. Nicht im Sinne von: ´ein Lebensabschnitt ist zu Ende, es geht weiter`, sondern im Sinne von: ´der Tod wartet auf mich`.

 

Ich falte die Hände im Schoß zusammen und blicke auf das Meer hinaus. Vor Stunden bin ich an den Strand gegangen, um die letzten Jahre meines Lebens zu reflektieren. Sie sind nicht sonderlich glücklich verlaufen. Ich habe mehr Dreck zu fressen bekommen, als ich Glück löffeln konnte. Mir schien die Sonne nicht ins Gesicht und mein Besteck bestand nicht aus Silber. Dennoch war es auf sonderbare Weise erfüllt. Alleine aus dem Grund, weil ich leben durfte.

 

Und wegen Chris.

 

Ein leises Lächeln bildet sich auf meinen Lippen. Manchmal gibt es Menschen, die das Leben lebenswert machen. Eine treibende Kraft sind, die Stütze, wenn man selbst nicht mehr stark sein kann. Ich bin ein Einzelkämpfer, doch gerade in den letzten Monaten bin ich emotional oft eingebrochen. Chris war an meiner Seite, wenn ich den Mut verlor.

 

Ich schlucke. Meine Hände zittern. Die endlose Weite, die vor mir liegt, wirkt beruhigend, andererseits beängstigend. Ich will nicht sterben. Es ist zu früh. Ich habe unerfüllte Träume und Wünsche. Ich will länger die entgegengebrachte Liebe von Chris spüren, sein Atem auf meinen Lippen schmecken, in der Wärme seiner Arme ertrinken. Weiterleben.

 

Die Diagnose bekam ich vor drei Jahren: HIV-positiv. Mein Todesurteil vor sechs Monaten: AIDS.

 

In meiner Jugend habe ich mich für sexuell übertragbare Krankheiten nicht sonderlich interessiert. Wie alle anderen wusste ich davon und nahm es hin, aber beschäftigte mich nicht weiter damit. Mir konnte so etwas schließlich nicht passieren. Wie auch?

Doch das Schicksal hatte andere Pläne mit mir.

 

Bis heute weiß ich nicht, wann oder bei wem ich mich infizierte. Ich war leichtsinnig. Unter Alkoholeinfluss hatte ich sicherlich das eine oder andere Mal ungeschützten Sex. Still trug ich die Erreger mit mir herum.

 

Ich frage mich oft, ob ich durch mein damaliges Unwissen andere ansteckte. So wie ich die Viren empfing, weil ich mich nicht schützte und die Sache nicht ernst genug nahm.

 

Ich selbst erfuhr, dass ich krank bin, als ich mich aus Liebe zu Chris testen ließ. Wir lernten uns vor drei Jahren in einer Bar kennen, in die ich jedes Wochenende ging. Bis dahin war ich alleine gewesen und hatte nur ab und zu flüchtige Bekanntschaften.

 

Er ist konventionell und pflichtbewusst – Charaktereigenschaften, die man vergeblich bei mir sucht. Wir sind absolute Gegensätze. Vielleicht verstanden wir uns deswegen auf Anhieb.

 

Wie alles im Leben nahm auch diese Geschichte ihren Lauf.

Bevor wir miteinander schliefen, bestand er darauf, dass ich mich testen ließ. Ich hielt es für unsinnig, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass ich eventuell HIV-positiv war. Wir stritten uns das allererste Mal.

 

Weil ich ihn liebte und ihm beweisen wollte, dass seine Vorsicht völlig übertrieben war, besuchte ich einen Arzt. Ich ließ mir Blut abnehmen und war zuversichtlich, dass alles gut ausging. Wenige Tage später hatte ich das Ergebnis. Verschlossen in einem Briefumschlag, den ich nicht öffnete. Es sollte eine Überraschung werden. Um die Versöhnung mit Chris perfekt zu machen, bereitete ich ein Candlelight-Dinner vor.

 

Ich war aufgeregt und zittrig, als ich ihm das Schriftstück mit einem Lächeln überreichte.

„Mach ihn auf. Du kannst dich selbst davon überzeugen, dass mit mir alles in Ordnung ist“, meinte ich an ihn gerichtet. Chris schaute mir tief in die Augen und trank einen Schluck Wein.

„Bist du sicher?“

„Ich will dich, Chris. Wenn das der einzige Weg ist, dich zu bekommen, dann gehe ich ihn.“

Also öffnete er den Umschlag, während ich ihn erwartungsvoll beobachtete. Ich studierte sein attraktives Profil – die hervorstehenden Wangenknochen, die gerade Nase, die sinnlich geschwungenen Lippen, die wunderbar langen Wimpern. Chris war ein schöner Mann, den ich nicht nur begehrte, sondern vorbehaltlos liebte. Doch anstatt mir vor Freude in die Arme zu fallen und mich hemmungslos zu küssen, schloss er die Lider und atmete leise ein. Mein Lächeln verblasste. In dem Moment wusste ich, dass etwas nicht stimmte.

 

Wenn ich heute daran denke, bin ich dankbar, dass Chris auf den Test bestand. Der Anfang unserer Beziehung war dadurch nicht einfacher, aber wir lernten mit der Krankheit zu leben und führten weitgehend eine ganz normale Partnerschaft. Ich nahm Tabletten, suchte regelmäßig einen Arzt auf und ging bewusster mit meinem Leben um.

 

Doch der Krankheitsverlauf veränderte sich.

 

Meine Immunzellen wurden immer weniger, die Viruslast nahm zu. Aus medizinischer Sicht hätten die Medikamente dem entgegenwirken müssen – aber das taten sie nicht länger. Ich war nicht mehr ´nur` infiziert, ich hatte AIDS. Die Krankheit, vor der ich am meisten Angst hatte, dass sie ausbricht.

 

Sechs Monate weiß ich es. Sechs Monate, in denen mein Körper rapide abbaute. Ich habe mehrere Kilo meines Körpergewichts verloren, für Krankheiten jeglicher Art bin ich anfälliger. Und soweit es mein Körper zulässt, nimmt er sie weitgehend alle mit. Leider.

 

Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Vielleicht ein paar Wochen, wenn ich gut bin zwei Monate. Ich werde sterben und davor habe ich Angst.

 

Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter und ich drehe mich um. Chris sitzt neben mir. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich sein Kommen nicht bemerkte. Seine grünen Augen blicken mich ruhig an. Er spendet mir Kraft, obwohl mein Atem versagt. Ich sauge seine Liebe in mich auf und bin unendlich dankbar, dass er bis zum Schluss zu mir hält.

 

„Weine bitte nicht“, flüstert er und streicht mir mit dem Daumen über die Wangen, um die Tränen wegzuwischen.

„Ich liebe dich so sehr“, entgegne ich und sinke in seine Arme. Er hält mich fest und reibt beruhigend über meinen Rücken. Die Sonne geht im Meer langsam unter. Warmes, orangenes Licht ergießt sich wie Seide über die Gegend. Ich atme Chris´ Duft ein, schmiege mich an ihn und suche seine Lippen. Es ist ein zärtlicher, sanfter Kuss und ich genieße jeden Augenblick davon. Weil ich weiß, dass ich nicht mehr lange da bin.

„Ich liebe dich auch“, haucht er und gibt mir einen weiteren Kuss auf die Stirn. Dann lehnen wir einfach aneinander und sehen zu, wie die Sonne endgültig versinkt.

 

Ich wusste schon als kleines Kind, dass das Leben ein Spiel auf Zeit ist. Während es verrinnt, gibt es zwei Optionen, wie es verlaufen kann: entweder man gewinnt oder verliert. Ich habe beides. Aber am Ende verliere ich mein Leben, weil ich naiv war.

Denn ´Hab Ich Vergessen` zählt nicht.

Impressum

Texte: Alle Rechte vorbehalten
Bildmaterialien: Gestaltung/Bearbeitung: T.S.Nightsoul
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2014

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