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Kakao, ein historischer Roman von Werner Sanden

 

 

 

 

 

 

 

 

Blauer Himmel so weit das Auge reicht, ruhige See, und trotzdem ist sich Filipe Mandoza nicht sicher, ob er inzwischen von seinen Übelkeitsanfällen geheilt ist. Es war erst der zweite Tag der Reise, und, das musste er vor sich selbst eingestehen, er hatte es sich einfacher vorgestellt. Die langen schweren Wellen, die das Meer von Westen her über den Atlantik trieb, machten ihm zu schaffen, dieses leichte, nicht enden wollende Hin und Her ließ seinen Magen rebellieren.

„Kotz dich aus, und am dritten Tag ist Ruhe,“ hatte Santonio, der erste Offizier lapidar bemerkt, als er Filipe am ersten Tag der Reise an der Reling stehen sah. Bis jetzt hatten sie nicht einmal die Hälfte des Weges zurück gelegt. Heute war es ihm bis zu dieser Stunde glücklicherweise gelungen, seinen Magen davon zu überzeugen, den Kaffee und das Stückchen Weißbrot nicht wieder den Fischen vorzuwerfen.

Anfangs hatte er seine Schwierigkeiten noch auf das Stampfen des Schiffes geschoben, dieser Seelenverkäufer war alles andere als ein Luxusliner. Das unermüdliche und monotone Stampfen des Schiffes hätten andere vielleicht als beruhigend empfunden, Filipes Gedanken wurden nicht beruhigt sondern er verspürte regelrecht einen silbrigen Schimmer, der sein Hirn benebelte. Er ließ seine Augen über das endlose Meer gleiten, betrachtete die Gischt, die der Bug bei seinem Pflug durch das Wasser aufschäumte, drei Tage war es jetzt her, als er einen neuen Abschnitt seines Lebens begann.

***

Als er das Schiff mit dem Namen „João de Santarém“ in Lissabon am Kai liegen sah, war er zunächst froh gewesen. Erst der Name des Schiffes verunsicherte ihn: Er sollte auf der „Vasco da Gama“ einschiffen, die war aber an der angegebenen Nummer des Kais nicht auffindbar. Als er einen Matrosen, der sich anschickte den Steg zur „João de Santarém“ anzusteuern, nach seinem Schiff befragte, lachte dieser laut und erklärte ihm mit rauer Stimme, ganz so, wie sich Filipe den Tonfall eines Seemannes vorstellte:

„Hier bist du richtig, mein Junge. Was kann ich denn für dich tun?“

Filipe war sich nicht sicher: „Aber ich soll nicht auf der „João de Santarém“ einschiffen, sondern auf der „Vasco da Gama““.

„Ach, dann bist du Filipe Mandoza, unser Passagier? Passagiere bei uns sind selten geworden auf dieser Route. Die meisten fahren mit der Marine rüber. Santonio, Erster Offizier!“ stellte er sich stramm vor und reichte Filipe die Hand. Dieser schlug ein, zögerte aber noch mit auf das Schiff zu kommen. Einem instinktiven Impuls folgend verharrte er einen Moment: Noch konnte er umkehren.

‚Filipe!‘ ermahnte er sich und ein Ruck ging durch seinen Körper. Sein Gepäck war ja schon tags zuvor an Bord gebracht worden, was ihm die zwingende Notwendigkeit aufzuzeigen schien, dass es nun kein Zurück mehr gab! Also weg mit den Zweifeln!

Alternativen gab es ohnehin nicht, diese Erkenntnis war das Resultat von monatelangen Überlegungen gewesen, alle Konsequenzen hatte er in seinem Kopf bewegt, und dabei war sein Entschluss immer fester und unerschütterlicher geworden: Er musste fort aus Portugal.

Der Mann mit Offiziersmütze, der sich Santonio nannte, bemerkte sein Zögern: „Du bist hier richtig, mein Junge. Unser Capitão hat den Dampfer einfach umbenannt, ‚João de Santarém‘ fand er passender. Dass das Schiff im Schiffsregister noch ‚Vasco da Gama‘ heißt, interessiert ihn eine feuchte Schifferscheiße.“ Und wieder lachte er laut und schallend.

***

Versonnen betrachtete Filipe nun die Weite des Meeres, die glitzernde Sonne, die sich auf den Wellen spiegelte, seine Gedanken schweiften zurück, sein kleines Zimmer bei Senhora Rodrigues, bei der er in Lissabon gewohnt hatte, das Bildnis seines geliebten Bruders mit dem Trauerflor; jeden Tag hatte er neue Kerzen angezündet. Weiter zurück, die Bilder vom Abschied auf der Vinícola seiner Familie nahe Evora, die Tränen in den Augen der Mutter …

Schluss! Aus! Jetzt war er auf dem Weg in ein anderes Leben, in ein neues Leben, in sein Leben!

Ruckartig hob er den Kopf, grader Rücken, mit festem Schritt begab er sich unter Deck in die Offiziersmesse; als einziger Passagier durfte er dort zusammen mit dem Capitão de Alvo und den Offizieren speisen, und er gedachte, seinem Magen etwas Obst und vielleicht ein paar Kekse zumuten zu können.

De Alvo war ein gemütlicher älterer Herr, der in seinem Leben nichts anderes getan hatte als zur See zu fahren. Seit sechs Jahren fuhr er regelmäßig zwischen Lissabon und São Tomé, Bananenfrachter nannte er sein Schiff, obgleich damit noch nie Bananen transportiert wurden; es war wahrscheinlich eine wehmütige Beschreibung, die aus seiner Zeit als Atlantikfahrer auf der Route nach Brasilien herrührte; damals hatte er tatsächlich Bananen transportiert. Auf der ‚Vasco de Gama‘ alias ‚João de Santarém‘ wurden Gebrauchsgüter auf die portugiesische Inselkolonie gebracht und Kakao zurück mach Europa.

Der Capitão und Santiano waren schon fertig mit Essen und schlürften nun ihren Café , dazu ein pastel de nata (Keks mit Zimt).

„Na, da ist ja unsere Abenteurer,“ begrüßte ihn Santiano in gewohnt lauter Stimme, „fertig mit Fische füttern?“

„Ich will mal versuchen eine Kleinigkeit zu essen, etwas Obst vielleicht und …“

„Ach was! Ein junger Spund wie du muss was Kräftiges auf die Rippen kriegen. Da ist bestimmt noch Rindfleisch in der Kombüse. Und wenn du es nicht verträgst, weiß du ja, wo du es hinspucken kannst,“ und wieder lachte er schallend.

„Nein, nein, danke. Obst reicht schon. Vielleich ein pastel de nata dazu.“

De Alvo schob ihm schweigend die Schale mit dem Gebäck rüber, der Erste wollte ihm noch mit Café beglücken, nach einem missbilligenden Blick des Capitão verkniff er es sich jedoch; Obst gab es für Filipe aber auch nicht.

„Mach dir nichts draus,“ murmelte De Alvo, und Filipe wusste erst nicht, was er meinte, „die Seekrankheit erwischt hier jeden, am dritten Tag ist es vorbei.“ Und nach einer Pause, während der er genüsslich an einem Keks knabberte, fuhr er fort: „Es ist die lange Dünung, die von Westen kommt.“

Filipe wusste nicht, was lange Dünung bedeutete, aber es musste etwas mit seiner Übelkeit zu tun haben: „Ich bin schon so oft über den Tajo gefahren,“ bemerkte er unsicher und entschuldigend, „während meines Studiums in Lissabon. Da ist mir nie übel geworden.“

Der Capitão schmunzelte, während Santiano lauthals lachte: „Der Tajo, jaja, da bist du ja ein richtig großer Seefahrer!“

„Der Atlantik ist doch etwas anderes als der Bach in Lissabon,“ grinste De Alvo und naschte einen weiteren Keks.

Filipe lächelte verlegen, da betrat Goncalves die Messe: „Cafe‘! Ich brauch Cafe‘“

Die drei drehten sich zu ihm hin, der kräftige Mann, fast zu groß für einen Südländer, stand in der eisernen Tür und schaute suchend in dem nüchternen Raum umher.

„Ah, da!“ Und er stürzte regelrecht zu der verzierten Kanne mit dem gewünschten Getränk, suchte eine Tasse im Regal, ebenso verziert, und schenkte sich ein; mit einem Zug schüttete er den Inhalt hinter die Kehle.

„Da erkennt man sofort den standfesten Trinker,“ konnte Santiano sich nicht verkneifen. Goncalves stellte die zierliche Tasse – das Geschirr stand im krassen Gegensatz zu der nüchternen Einrichtung des Raumes – auf den Tisch als sei es ein Bierglas, und als er den grimmigen Blick von de Alvo sah, beeilte er sich klarzustellen: „Der Pepito ist auf der Brücke, keine Sorge, Capitão!“

„Ihr bringt das Schiff samt Besatzung noch auf den Grund des Meeres,“ murmelte der resignierend, und Santiano merkte an, dass sie dort sowieso alle landen würden.

„Und, wie geht’s uns denn so,“ wandte sich Goncalves nun an Filipe, und ohne eine Antwort abzuwarten: „Was willst du eigentlich auf der verdammten Insel?“

Alle sahen ihn erwartungsvoll an. Und als der nicht recht wusste, was er sagen sollte – er hatte ihnen doch schon erzählt, dass er dort einen Job antreten wollte – mischte der Capitão sich ein: „Eine berechtigte Frage; da gibt’s doch nur viele Neger, ein paar hochnäsige Weiße und Giftschlangen.“

Filipe öffnete den Mund um zu erklären, aber Santiano war schneller: „Die Nigger kannst du vergessen. Aber die schwarzen Weiber! Ich sage dir, da werden Träume wahr! Solche Ärsche hast du noch nicht gesehen, und du kannst sie dir alle nehmen, wirklich!“

De Alvo verdrehte die Augen und Goncalves grinste breit. Aber Santiano ließ sich nicht beirren: „Die sind besser als die Brasilianerinnen, und mit denen haben wir schon viel erlebt, was Capitão? Die warten nur auf so einen weißen Kerl wie dich, wirst schon sehen!“

Filipe wusste nicht, was die beiden mit den Brasilianerinnen erlebt hatten, und er wollte es auch gar nicht wissen.

„Hör nicht auf ihn,“ meinte de Alvo kühl, „auch unter den Offizieren gibt es einige, die ihr Hirn im Lendenbereich haben.“

Schallendes Gelächter, obgleich sich Filipe sicher war, dass die anderen diesen Satz schon öfter gehört hatten.

„Ich werde dort arbeiten, auf einer Roca als Ingenieur,“ erklärte er, nachdem sich die anderen beruhigt hatten.

„Ich weiß,“ erwiderte der Capitão, „aber warum ausgerechnet auf dieser Insel?“

„Ich musste raus aus Portugal, irgendwo anders hin. Und auf São Tomé ist es doch schön warm, warum soll es dort so schlecht sein?“

„Da ist es nicht schlecht! Ich sag doch, die Weiber …“

„Schon gut, Santiano!“ fuhr der Capitão dazwischen, dann fragte er weiter: „Als Agraringenieur?“

„Nein, ich bin für den Maschinenpark verantwortlich, also, ich werde es sein.“

„Dann kannst du den Niggern ja ordentlich die Knute geben, damit sie wissen, was sie tun müssen,“ schimpfte Santiano, und de Alvo wiegelte wieder ab: „Hör nicht auf ihn …“

„Na doch, Capitão! Den faulen Säcken muss man zeigen, wo der Hammer hängt! Die Menge an Kakao, die wir da wegholen, wird doch immer geringer! Die arbeiten nicht, die treiben’s doch nur mit ihren Weibern damit sie sich ordentlich vermehren und uns dann vertreiben!“

Wieder verdrehte de Alvo die Augen. „Ich glaube nicht, dass Härte da der richtige Weg ist,“ sinnierte er ruhig.

„Na, du wirst es ja sehen, Junge. Wenn du nicht die Peitsche rausholst, dann tanzen die dir auf der Nase rum!“

„Ich fürchte, bei dieser Einstellung werden wir in ein paar Jahren gar keinen Kakao mehr von der Insel holen,“ orakelte der Capitão leise, und schickte sich an die Messe zu verlassen. In der Tür blieb er stehen:

„Hast du eigentlich was gegen die Mücken aufgetragen?“ fragte er, „wenn du hier an Land gehst, solltest du das tun, Malaria und so.“

Fragend sah Filipe ihn an, daran hatte er gar nicht gedacht!

„Komm mit, ich geb dir was,“ und nun verließ er die Messe wirklich. Filipe folgte ihm, aus seine Kajüte holte der Capitãno ein Fläschchen und überreichte es ihm: „Teebaumöl, stinkt fürchterlich, hilft aber.“ Filipe bedankte sich brav und wollte das Fläschchen in der Tasche verschwinden lassen, aber de Alvo bestand darauf, dass er sich gleich damit einrieb.

„Teebaumöl ist gut,“ hörte er Santiano, der ihnen gefolgt war, „aber Tonic ist besser, nur was für richtige Männer, besonders wenn du es mit viel Rum verdünnst! Dann stinkst du auch nicht so, könnte die Weiber vielleicht abschrecken!“ Und wieder lachte er schallend.

Filipe grinste brav. Santiano war sicherlich ein grader Kerl und guter Seemann, aber sein Gerede war nicht unbedingt das, was er längere Zeit ertragen konnte.

 

***

Es fiel der Sonne schwer, die dicke Dunstschicht am Himmel zu durchdringen, Filipe empfand diese hohe Luftfeuchtigkeit gerade zu als tropisch. Und dann erinnerte er sich, das São Tomé ja auch zu den Tropen gehört, die Insel liegt direkt am Äquator; er hätte sich vielleicht doch genauer mit den geographischen Gegebenheiten seiner neuen Heimat befassen sollen.

Seine Koffer hatte ein Matrose freundlicherweise schon nach oben an Deck gebracht, und nun stand er an der Reling, Schweißtropfen auf der Stirn, obgleich er sich gar nicht bewegt hatte. Vor ihm der Hafen der Inselhauptstadt, die wie die Insel selbst, auch São Tomé hieß. Langsam näherte sich die João de Santarém dem Kai; er schaute hoch zur Brücke, der Capitão stand draußen und gab Santiano, der am Steuer drehte, Kommandos und Handzeichen; sie schienen beide ausnahmsweise einmal richtig konzentriert. Vorn am Bug und hinten am Heck standen mehrere Matrosen mit dicken Tauen in den Händen, noch einmal korrigierte Santiano die Richtung, der Schiffsmotor brummte tief, ein Schub zur Seite, dann wurden die Taue den wartenden Männern am Ufer zugeworfen, routiniert fingen sie diese auf und vertäuten das Schiff an den Pollern. Die kleine Kette, die eine Öffnung in der Reling gesperrt hatte, wurde nun geöffnet, kräftige Arme schoben den Steg über die Bordwand hinüber auf den Kai, zwei Matrosen gingen zuerst von Bord und platzierten sich unten am Steg. Filipe begab sich zu seinen Koffern, wollte zwei von ihnen an Land tragen, aber ein Matrose packte mit verständnisvollem Lächeln zu und schleppte das Gepäck an Land um dann die anderen beiden zu holen. Dankbar folgte Filipe mit seiner Umhängetasche über der Schulter.

Da stand er nun, kam sich irgendwie verloren vor. Der Hafen in Lissabon, der einzige, den er bisher kennengelernt hatte, war viel größer, viel mehr Leben da. Und er hatte auch erwartet, dass sein zukünftiger Arbeitgeber eine Droschke oder Ähnliches geschickt hätte um ihn abzuholen, aber niemand schien ihn zu erwarten. Etwas weiter rechts waren viele Holzkisten gestapelt, auch Fässer und andere Waren, eingehüllt in große Leinentücher. Eine Handvoll schwarzer Arbeiter war damit beschäftigt, diese auf zwei bereit stehende Laster zu laden, hilfesuchend schaute er sich um, aber niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Dann näherten sich zwei Uniformierte; Polizisten waren es nicht, eher der Hafenkapitän oder Männer in ähnlicher Funktion. Erwartungsfroh sah er ihnen entgegen, aber auch sie beachteten ihn nicht. Stattdessen reichten sie dem Capitão die Hand, der zusammen mit Santiano hinter Filipe den Steg hinunterstieg. De Alvo hatte eine dicke Mappe unterm Arm, Warenpapiere oder Schiffsunterlagen, irgendwas Wichtiges jedenfalls.

„Na, was ist, Junge,“ sprach Santiano ihn an und blieb stehen, „holt dich keiner ab?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort: „Mach dir nichts draus, die Nigger können die Uhr nicht lesen. Wenn die kommen, besorgst du ihnen gleich einen Satz heiße Ohren, sonst kapieren die nie, was Pünktlichkeit ist!“ Dann folgte er den anderen.

Santiano hatte so laut gesprochen, dass es die Arbeiter nebenan gehört haben mussten, und der Verdacht keimte in Filipe, dass das auch der eigentliche Sinn seiner Aussage war. Verlegen sah er nach links, aber die zeigten keine Reaktion und arbeiteten ungerührt weiter.

Es mochte wohl eine gute halbe Stunde vergangen sein, Filipe hatte zwei seiner Koffer nebeneinander gestellt und darauf Platz genommen. Den Kopf in die Hände gestützt überlegte er, was nun zu tun sei. Er sollte den Hafenkapitän aufsuchen, er sollte warten, bis der Capitão zurück zu seinem Schiff kam und ihn fragen, wo er diesen finden könnte. Die Roca Rio do Ouro musste doch bekannt sein; der Hafenkapitän könnte ihm bestimmt weiterhelfen.

Aber dann sah er ihn, langsam rollte ein moosgrüner Eucort Turismo über das holprige Pflaster an der Kaimauer, der dunkelhäutige Fahrer suchte offensichtlich jemanden, ihn, Filipe? Er stand auf und stellte sich unübersehbar neben seine Koffer, der Wagen hielt an, der Fahrer in Uniform stieg aus: „Senhor Mandoza?“

„Der bin ich,“ strahlte Filipe ihn an und reichte ihm die Hand. Der Uniformierte machte jedoch einen tiefen Diener ohne die ausgestreckte Hand anzunehmen. Stattdessen öffnete er die Heckklappe und schickte sich an, Filipes Koffer dort zu verstauen. In Anbetracht der schmächtigen Gestalt des Mannes wollte Filipe ihm helfen, aber er wehrte ab; kraftvoll und ohne zu zögern wuchtete er das Gepäck in den Wagen, dann eilte er zur hinteren Tür, mit einem erneuten Diener forderte er Filipe auf, einzusteigen. Vorsichtshalber vergewisserte dieser sich, ob es sich auch wirklich um seinen Fahrer handelte, der Mann bestätigte seine Frage nach dem Ziel.

Zwischen dem geräumigen Fond und dem Vordersitz war eine Glasscheibe, die nur von hinten zur Seite zu schieben war, damit der Fahrgast mit dem Fahrer kommunizieren konnte. Filipe unterließ es. Er holte sein Taschentuch aus der Tasche, wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn und trocknete seinen Hals, dann betrachtete er die am Fenster vorbeiziehende Stadt. Die mit Bäumen gesäumte breite Promenade führte am Wasser entlang, die steinerne Balustrade mit den säulenartigen Docken hatte seinen Glanz schon etwas verloren, gab dem Ganzen aber immer noch ein koloniales Flair. Der Fahrer bog ab in die Innenstadt, ‚alles wie zu hause‘, dachte Filipe bei sich, ‚nur die Menschen sind alle schwarz‘, Weiße gab es auch, waren aber vergleichsweise selten zu sehen. Nachdem sie die Häuser der kleinen Inselhauptstadt hinter sich gelassen hatten führte die Straße kurvenreich nach Westen ins Innere der Insel. Hügelige Landschaft, und alles nur grün drum herum! Derartig üppigen Bewuchs kannte Filipe aus seiner Heimat nicht, in der es eher zu Schwierigkeiten bei der Wasserversorgung kam. Das war hier offensichtlich kein Problem, woraus er schloss, dass er sich wohl auf anhaltende Regenfälle einstellen musste. Palmen über Palmen, nicht vereinzelt hier und da oder als Allee, nein, richtig als Wald, Urwald. Dann wieder Plantagen, einigermaßen geordnete Baumreihen, an denen die Kakaofrüchte wie riesige Zecken an den Stämmen hingen, dazwischen immer wieder große, schattenspendende Bäume. Filipe machte sich Gedanken, warum man diese hatte stehen lassen; sie nahmen das Licht, kosteten Platz und es war bestimmt kühler unter ihnen. Kakaopflanzen in Reih und Glied möglichst dicht beieinander wären doch viel ökonomischer zu bearbeiten. Schließlich akzeptierte er vor sich die Erklärung, dass man diese Bäume nicht gerodet hatte, um den Arbeitern ein angenehmeres Klima bei ihrer Tätigkeit zu verschaffen.

Die erstaunlich gut ausgebaute Straße schlängelte sich jetzt ins Gebirge, der Eucort hatte schwer zu arbeiten, und Filipe machte sich Gedanken, warum man denn in Anbetracht der Bergstrecken hier einen Zweizylinder angeschafft hatte. Ab und zu passierten sie kleinere Ansiedlungen, hupend und ohne die Geschwindigkeit zu drosseln fuhr der Chauffeur hindurch, die Menschen hier kannten das offenbar. Sie waren ärmlich gekleidet, eher schmächtig wie sein Fahrer, zwischen ihnen liefen immer wieder Hunde, bei denen man alle Rippen sehen konnte. Auf seiner heimatlichen Adega bei Evora in Portugal gab es auch Hunde, die sahen aber deutlich besser aus!

Nach etwa einer Stunde fuhren sie durch eine kleine Stadt, „Trindade“ las Filipe auf dem Schild am Ortseingang, danach ging es noch weiter bergan und schließlich rechts ab, die Straße schien breiter zu werden, ein großes eisernes Tor: Roca Rio do Ouro prangte in großen Lettern über der Fahrbahn. Wachpersonal oder dergleichen gab es offensichtlich nicht. Es ging weiter bergan, rechts war dichtes grünes Dickicht, links taten sich große Hallen auf, durch die offenen Tore führten Eisenbahnschienen, und drinnen waren Loren und andere Waggons zu sehen. Eine Vielzahl von Arbeitern und Arbeiterinnen waren dort beschäftigt, Filipe konnte aber nicht erkennen, was sie dort verrichteten. In einer weit ausladenden Biegung ging es hinauf zu einem großen steinernen Damm, der sich quer durch die Senke zog, aus der sie gekommen waren. Ein kurzer Blick nach rechts zeigte Filipe, dass der Damm an einem großen Gebäude mit pompöser Freitreppe endete, sein Fahrer bog aber nach links zu einer gepflasterten und von Palmen gesäumten Allee. Sie führte durch die kleine, gepflegte Grünanlage und endete auf einen Halbrund vor dem Herrenhaus der Roca. Filipe hatte sich, die heimischen Plantagen in Erinnerung, das Wohngebäude der herrschaftlichen Familie größer vorgestellt, und vor allem pompöser. Zierrat im Kolonialstil war schon vorhanden, auch der obligatorische Veranda-Balkon, der sich um das gesamte Gebäude zog. Auf deutlichere bauliche Machtdemonstration hatten die Architekten allerdings verzichtet. Die Seiten der Parkanlage waren gesäumt von zwei Reihen kleiner Häuser, die vom Baustil eher in die Jahrhundertwende zu passen schienen, aber Filipe kannte sich in der Architektur nicht aus, sodass er sich diesbezüglich nicht festlegen wollte.

Vor einem dieser Häuser parkte der Chauffeur den Eucord; Filipe rutschte zur Tür des Fonds, aber der Fahrer war schneller. Mit einem Diener öffnete er: „Bitter sehr, Senhor Mandoza,“ und mit einer Geste der Hand forderte er ihn auf, auszusteigen. Unschlüssig stand Filipe neben der Limousine, eigentlich hatte er schon erwartet, vom Verwalter oder einer anderen kompetenten Person begrüßt zu werden. Aber die Menschen, die in diesem Bereich des weitläufigen Areals zu sehen waren, waren ausschließlich farbige Afrikaner, die irgendeiner Beschäftigung nachgingen, niemand schien von ihm Notiz zu nehmen. Der Chauffeur öffnete die Heckklappe, vom Haus eilte ein zweiter Farbiger in schwarzer Hose und grauer Arbeitsjacke herbei um beim Entladen seiner Koffer behilflich zu sein; die Männer schleppten Filipes Gepäck ins Haus und forderten ihn auf, zu folgen. Mit einem tiefen Knicks wurde er vor der Eingangstür von zwei jungen Afrikanerinnen begrüßt, sie trugen dunkle lange Kleider und weiße Schürzen darüber, ganz offensichtlich als Haushaltshilfen zu erkennen. Die beiden sahen sich so ähnlich, dass es sich um Zwillingsschwestern handeln musste. Filipe reichte seine Hand: „Bom dia, Senhorita“; sie nahmen seine Geste nicht an, stattdessen zelebrierten sie einen weiteren Knicks. Einen Moment blieb er stehen, die Worte von Santiano gingen ihm durch den Kopf: ‚Solche Ärsche hast du noch nicht gesehen, und du kannst sie dir alle nehmen, wirklich

Filipe trat ein, ein kleiner Vorraum mit halber Täfelung, Bilder an der Wand von Personen, die er nicht kannte. Durch eine Holztür mit hübschen gläsernen Einsätzen gelangten in eine geräumige Diele, ebenfalls getäfelt. Mehrere Türen führten zu diversen Zimmern, eine hölzerne Treppe an der Seite in das obere Geschoss. In der Mitte der Diele ein schwerer Tisch, gesäumt von Stühlen, ein Sessel in der Ecke mit einer Stehlampe, alles recht ansprechend.

Wieder stand er unschlüssig herum und wenn er ehrlich zu sich selbst war, kam er sich fast überflüssig vor. Der Chauffeur und der Arbeiter, die seine Koffer nach oben gebracht hatten, kamen die Treppe herunter, eine der Haushaltshilfen deutete ihm, sich ans Kopfende des Tisches zu setzen: „Bitte, Senhor Mandoza.“

Er folgte brav. Und saß nun genauso überflüssig am Tisch!

Die junge Frau kam mit einem silbernen Tablett – ob es echtes Silber war vermochte Filipe nicht zu erkennen – und brachte Café; sie schenkte ein in das zierliche Tässchen, Zucker und Milch stellte sie daneben.

Senhorita;“ er wollte eigentlich fragen, wo er einen Ansprechpartner finden würde, aber noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er gar nicht wusste, wie sie hieß: „Wie ist Ihr Name?“ änderte er also sein Anliegen.

„Catarina,“ antwortete sie und machte wieder einen Knicks.

„Catarina, ein schöner Name,“ lobte er höflich, „könnt Ihr mir sagen, wo ich den Verwalter oder einen anderen Verantwortlichen finden kann? Ich möchte mich gerne vorstellen.“

Senhor Almeida wird bald hier sein, er ist wohl aufgehalten worden.“ Und mit einem weiteren Knicks entfernte sie sich wieder.

Filipe nahm den Café, trank einen Schluck, sah sich in der Diele um, das große Blumengesteck in der Ecke, Orchideen vermutete er, oder Porzellan Rosen? Er war Techniker, und nur darin kannte er sich aus!

Nichts passierte, er schenkte just in dem Moment nach, als Catarina wieder erschien um genau das zu tun, verlegen sah sie ihn an, dann verschwand sie wieder. Filipe stand auf, ging in den Vorraum und dann nach draußen, nichts hatte sich verändert, rechts das Herrenhaus, nur vereinzelte Arbeiter. In linker Richtung endete die Grünanlage nach etwa hundert Metern, von da an nahm die gepflasterte Straße die gesamte Breite ein. Von der Seite kommend waren hier Eisenbahnschienen in das Pflaster eingelassen. Die Straße, die hier eher die Bezeichnung Promenade verdient hatte, führte leicht bergab über den balustradengeschmückten Steindamm, und auf der anderen Seite wieder leicht bergauf zu eben jenem beinahe schon schlossähnlichen Gebäude; als unbedarfter Besucher hätte er das für das Herrenhaus gehalten.

Dann Motorengeräusch, laut, wie von einem beschädigten Auspuffrohr. Von rechts bog ein offener Jeep auf die Promenade, militärgrün. Der Fahrer fuhr zügig, ab und zu hupend, in seine Richtung und hielt schließlich bei ihm an. Der Fahrer, ein sportlicher Mitdreißiger, nahm einen abgewetzten Strohhut vom Beifahrersitz, klemmte ihn auf seinen Kopf und sprang ohne die Tür zu öffnen aus den Wagen: graues Hemd, Hose offensichtlich aus Armeebeständen, Lederstiefel. Am breiten Gürtel steckte ein Messer in der Scheide mit einer beachtlichen Länge, sollte wohl eine Mischung aus Dolch und Buschmesser sein, dazu eine Reitgerte.

Filipe musste lächeln: Der Mann war wohl bis vor Kurzem mit dem Pferd über die Felder geritten, hatte dieses nun gegen einen alten Jeep aus amerikanischen Armeebeständen ausgetauscht, konnte sich aber wohl noch nicht recht mit diesem Fortbewegungsmittel anfreunden.

„Filipe Mandoza?“ fragte der Mann freundlich aber bestimmt und reichte ihm die Hand, fester Händedruck. Filipe bejate, „Miguel Almeida,“ stellte er sich vor, „ich bin hier das Mädchen für alles, entschuldigt bitte, dass Ihr warten musstet, irgendwas kommt ja immer dazwischen.“

„Kein Problem, bin ja gut versorgt worden,“ und zur Bestätigung hob er die Tasse.

„Na,“ lachte er, „dann hat ja das wenigstens geklappt;“ auf den fragenden Blick Filipes ging er nicht ein. „Kommt, lass uns reingehen, vielleicht krieg ich ja auch noch einen Kaffee!“

Freundschaftlich legte er seinen Arm um Felipes Schulter und führte ihn wieder ins Haus. Drinnen rückte er einen Stuhl vom Tisch und ließ sich mit langgestreckten Beinen fallen.

Als hätte sie hinter der Tür gewartet, trat Catarina ein, stellte ein zweites Service auf den Tisch, schenkte ein und verließ den Raum nach einem Knicks ohne Worte.

„Nette Kleine,“ grinste Almeida und sah ihr nach.

„Und sehr aufmerksam,“ fügte Filipe lobend hinzu.

„Na, lasst mal,“ winkte er ab, „die können auch anders!“ Und nach kurzer Pause: „So, Ihr seid also unser neuer Engenheiro?!“

„Das ist mein Beruf. Und dafür bin ich hier engagiert.“

„Wie war die Überfahrt?“ fragte er knapp.

„Ich werde nie ein anständiger Seefahrer!“

Almeida lachte laut und offen: „Seid Ihr auch mit dem alten de Alvo gefahren?“ Und als Filipe nickte, fuhr er fort: „Der Haudegen, der kann Geschichten erzählen!“ Wieder lachte er, er mochte den Capitão wohl. „Und? Wie gefällt es Euch hier?“ fragte er dann direkt.

Filipe lachte: „Ich habe ja noch nicht viel gesehen, aber es lässt sich ganz gut an, denke ich.“

„Dies ist Euer Wohndomizil. Catarina und Maria stehen zu Euren Diensten, also Haushalt, Kochen, Putzen, naja, und wenn Ihr wollt auch für anderes, was ein Mann so braucht. Carlos ist fürs Grobe, Garten, Möbel rücken, Schlangen erschlagen …“ Erneut zeigte er lachend seine Zähne.

„Gut“, sagte er dann, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und machte Anstalten aufzustehen, „dann mal gutes Gelingen. Wenn Ihr irgendwelche Fragen habt, fragt mich. Ich bin immer irgendwo auf dem Gelände,“ wieder lachte er, offenbar in Anbetracht der Tatsache, dass die Roca mehrere hundert Hektar umfasste, „und ich wohne da schräg gegenüber.“ Mit dem Daumen deutete er zur Tür.

„Äh – Moment!“

„Ja?“ Almeida hatte sich schon erhoben.

„Ich denke, eine genaue Beschreibung meines Aufgabengebietes wäre nicht verkehrt.“

Almeida setzte sich wieder. „Mandoza! Ihr seid Ingenieur, richtig? Also alles, was mit Maschinen zu tun hat, ist Euer Gebiet: Die Autos, die Lokomotiven, Waggons, Gleise, Brücken, die Maschinen in der Trocknung, einfach alles. Klar?“

„Äh – klar.“ Was sollte er auch sonst sagen.

„Na also!“ Almeida erhob sich wieder, klopfte Felipe aufmunternd auf die Schulter. „Seht Euch einfach um, Ihr werdet schon alles finden!“ Und dann verließ er die Diele.

‚Ich werde alles finden‘ dachte er, ‚fantastisch!‘, und er ließ sich gegen die Rückenlehne fallen, die Arme herab hängend.

Er hörte, wie Almeida draußen den Motor startete, mit lautem Geknatter brauste er von dannen.

Gut. Zuerst sollte er seine Behausung begutachten, sich etwas frisch machen. Und, was hatte Almeida gemeint, als er sagte, die jungen Frauen seien auch für das da, was ein Mann sonst noch so braucht? Waren die Angestellten hier sowas wie Freiwild?

Er schüttelte den Gedanken wieder ab und rief Catarina. Umgehend stand sie im Raum, Knicks: „Senhor Mandoza?“

„Catarina, könntet Ihr mir bitte das Haus zeigen, die Zimmer und alles?“

„Ja, Senhor, folgt mir bitte.“

Rechts der Diele war die geräumige Küche, daneben Arbeitsräume, Vorratskammer und eine kleine Waschküche. Auf der linken Seite befand sich das Arbeitszimmer mit mächtigem Schreibtisch einer Bücherwand und eine gut sortierten Bar. Eine weitere Tür unter der Treppe führte in eine kleine Kammer, die Catarina als den Wohnraum von Maria und sich selbst bezeichnete.

„Carlos wohnt nicht im Haus,“ erklärte sie auf seine Frage, „er lebt unten in den Häusern.“ Was immer ‚die Häuser‘ auch sein mochten, Filipe fragte nicht nach.

Oben waren seine Wohnräume, drei an der Zahl; er würde nur eins bewohnen! Außerdem Badezimmern und ein Balkon zur anderen Seite. Von dort hatte man einen wunderbaren Blick über die Weiten der Plantage, ein Gartentischchen mit Stühlen lud zum Verweilen ein, eine Markise gegen Sonne oder Regen konnte auch ausgerollt werden. Alles in allem war es eine sehr geschmackvoll eingerichtete Wohnung, in diesem Punkt wird er sich bestimmt wohl fühlen. Catarina verabschiedete sich mit einem Knicks und ließ ihn allein.

Zuerst einmal nahm er ein erfrischendes Bad, alles musste runter, der Schmutz und Stress der langen Reise, und er wollte das Gefühl genießen, angekommen zu sein. Dann schlüpfte er in bequeme Kleidung, der feuchten Hitze hier in den Tropen angepasst.

Im Arbeitszimmer sah er sich die Literatur im Regal genauer an, nahm hier ein Buch heraus, dort eins, er suchte nach Unterlagen über diese Roca, oder nach Aufzeichnungen seines Vorgängers: Es waren zwar diverse Bücher mit erotischer Literatur vorhanden, ‚Lady Chatterley‘ von H.D.Lawrence, ‚Venus im Pelz‘ von L.v.Sacher-Masoch, Bildbände wie ‚Kamasutra‘ und andere, aber für seine Tätigkeit hier konnte er nichts Brauchbares finden. Draußen wurde es dämmrig, und er schaltete die Schreibtischlampe ein. In den Schubladen dieses gewaltigen Möbelstücks fand er auch nichts von Interesse, verschiedene handschriftliche Aufzeichnungen, die nur schwer zu entziffern waren und eher Persönliches betrafen. Er öffnete die Tür und rief nach Catarina: Umgehend trat sie aus ihrer Kemenate auf die Diele: „Senhor Mandoza?“

„Ach, bringt mir doch ein Glas Rotwein“

„Ja, Senhor,“ knickste sie, „Mögt Ihr lieber einen Portwein oder Reserva oder…“

„Reserva ist immer gut,“ lächelte er, „ich bin im Arbeitszimmer.“

Wieder knickste sie und verschwand in der Küche. Nachdem sie angeklopft und Filipe sie herein gebeten hatte, servierte sie das Gewünschte auf dem Schreibtisch. Mit gesenktem Kopf verharrte sie einen Moment: „Habt Ihr sonst noch einen Wunsch, Senhor?“

„Nein, vielen Dank, Catarina, gute Nacht.“

„Gute Nacht Senhor,“ mit einem weiteren Knicks ging sie hinaus und schloss die Tür.

 

Dieser Café schmeckte wirklich gut, das musste Filipe zugeben; besser als der Kaffee daheim auf der Adega. Der Tisch war schon gedeckt, als er am frühen Morgen seines ersten Arbeitstages in die Diele kam, und das köstliche Getränk weckte seine Lebensgeister. Die Tür zur Küche wurde geöffnet, Catarina brachte Fruchtsaft und eine Schale mit verschiedenen Früchten. Oder bediente ihn heute das andere Hausmädchen, wie hieß es doch gleich, Maria? Filipe konnte die beiden nicht auseinander halten, und er entschied sich, sie für Catarina zu halten.

„Möchtet Ihr ein gekochtes Ei oder gerührt, Senhor Mandoza?“ fragte sie nach ihrem Begrüßungsknicks.

„Catarina – Ihr seid doch Catarina?“

Verlegen senkte sie den Kopf: „Nein, Senhor, ich bin Maria.“

„Entschuldigt bitte, Ihr seht euch so ähnlich.“

„Wir sind Schwestern, Senhor,“ sagte sie leise ohne ihren Kopf zu heben.

„Schaut mich an, Maria, ich hätte da eine Idee: Könntet Ihr bitte ein kleines Schild mit Eurem Namen oben an die Schürze heften? Dann würde ich Euch nicht immer mit Eurer Schwester verwechseln.“

„Das werde ich tun, Senhor,“ ihren Kopf hob sie nicht.

„Und bringt mir bitte ein gekochtes Ei, Maria.“

„Ein gekochtes Ei, Senhor. Ich werde es Euch bringen.“

Schon während der Nacht hatte er immer wieder überlegt, wie er sich am besten in sein Tätigkeitsfeld einarbeiten sollte. Alle Maschinen waren sein Gebiet. Gut. Es gab Lokomotiven, dazu gehörten bestimmt auch eine Vielzahl von Anhängern. Gleise und Brücken, klar. Außerdem Lastwagen und PKW. Und Trocknungsanlagen, wofür auch immer. Alles musste mit Kaffee und Kakao zu tun haben, denn das wurde hier schließlich angebaut. Aber was war das Wichtigste? In welcher Reihenfolge sollte er sich die Gerätschaften ansehen um sich vertraut mit der Technik zu machen?

Maria brachte das Ei, Toast und verschiedene Sorten Käse, Wurst und Chips; mit einem so üppigen Frühstück hätte er gar nicht gerechnet, und er war sich sicher, dass er bei der Hitze hier schon am frühen Morgen außer Obst und einem Schnittchen kaum etwas wird essen können. Die beiden Zeitungen, die Maria neben das Gedeck gelegt hatte, den Diario de Noticias und das Jornal de Noticias, waren schon mehrere Tage alt, und Filipe fragte sich, ob sie mit dem Schiff oder doch mit einem Flugzeug den Weg auf diese Insel gefunden hatte; gedankenverloren begann er darin zu blättern, aber konzentrieren konnte er sich nicht. Zu sehr war er damit beschäftigt sein weiteres Vorgehen zu planen: Er musste seine Gedanken aufschreiben um Klarheit darin zu bekommen. Aus dem Arbeitszimmer holte er Schreibblock und Stift, dann begann er mit seinen Notizen. Nach und nach wurde ihm klar, dass er zunächst einmal einen Plan über die Geographie der Roca brauchte, alle Plantagen, Straßen, Wegen und Gleisen. Und die Orte mussten eingezeichnet sein, an denen irgendwelche Maschinen arbeiteten. Natürlich mussten auch deren Aufgaben beschrieben sein. Und dann benötigte er eine Beschreibung der täglichen Arbeitsabläufe, um deren Wichtigkeit ermessen zu können. Er nahm den letzten Schluck Café und wollte zu Almeida rüber, an der Tür sah er, dass dessen Jeep nicht vor seinem Haus stand und ihm fiel ein, dass er heute morgen noch schlafend von dem unangenehmen Geräusch des beschädigten Auspuffrohres geweckt worden war. Unschlüssig verharrte er zwischen Diele und Vorraum, Maria begann den Tisch abzuräumen. Dann ging er raus auf die Straße, quer über den Rasen des kleinen Parks und klopfte an Almeidas Tür. Eine junge Schwarze öffnete, sie war genauso gekleidet wie Maria und Catarina: „Ja, Senhor?“ und der offensichtlich obligatorische Knicks.

Filipe erfuhr, dass Almeida tatsächlich fort war und wohl erst gegen Abend wiederkommen würde. Er bat das Hausmädchen ihm auszurichten, dass er ein paar Fragen an ihn hätte, ob sie vielleicht kurz Bescheid geben könne, wenn er zu sprechen sei.

Maria hatte das Gespräch von seiner Haustür aus beobachtet, und als Filipe wieder eintrat:
Senhor Mandoza, solche kleinen Botengänge könnt Ihr mir doch auftragen, dann müsst Ihr Euch nicht bemühen.“

Erstaunt sah er sie an: „Aber sowas kann ich doch auch schnell selbst erledigen, Maria.“

„Ihr könnt Vertrauen zu mir haben, und zu Catarina und Carlos auch.“

„Ach, Maria, ich bin sicher, dass Ihr und die beiden anderen alle Aufgaben zur besten Zufriedenheit erledigen werdet. Zumal es sich ja auch nicht um Geheimnisse handelt.“

Er war in die Diele gegangen, Maria folgte mit etwas Abstand.

„Aber vielleicht könnt Ihr mir wirklich helfen, Senhor Almeida ist ja nicht da.“ Er zog einen Stuhl vom Tisch und setzte sich, Maria bot er auch einen an, aber sie blieb stehen.

„Ihr kennt Euch doch sicher aus hier auf der Roca. Wie lange seid Ihr schon hier?“

„Ich bin hier geboren, Senhor.“

„Das ist ja ziemlich lange. Nun setzt Euch doch endlich!“

„Ja, Senhor Mandoza.“ Sie zog einen Stuhl vom Tisch und setzte sich in etwa einem Meter Abstand mehr oder weniger mitten in den Raum. Fragend sah er sie an, Maria senkte den Kopf.

„Nun gut,“ murmelte er, und dann lauter: „hier wird Kaffee und Kakao angebaut, stimmt doch?“

„Hauptsächlich Kakao, Senhor. Kaffee nur ein wenig für den eigenen Bedarf, für die Herrschaften.“

„Die Kakaofrüchte werden geerntet von den Arbeitern. Was passiert dann mit ihnen?“

„Sie werden geerntet und die Bohnen werden in die Hallen dort unten gebracht. Da werden sie bearbeitet und getrocknet. Senhor, ich weiß das alles nicht so genau.“

„Wie werden sie in die Hallen gebracht?“

„Mit den Loren, der Eisenbahn. Aber auch mit Lastautos oder mit Trägern.“

„Und wo sind die Hallen genau?“

„Neben der breiten Straße, die zum Krankenhaus führt.“

„Zum Krankenhaus? Hier gibt es ein Krankenhaus?“

„Ja, Senhor. Das große Haus am Ende der Straße.“

Filipe überlegte einen Moment. ‚Krankenhaus‘ schrieb er auf seinen Block, da musste er sich vielleicht auch mal umsehen.

„Wißt Ihr …“

Er wurde unterbrochen, die Haustür wurde geöffnet, Maria sprang sofort von ihrem Stuhl auf und schob ihn zurück an den Tisch; erstaunt schaute Filipe sie an. Carlos trat in den Vorraum und wartete während Maria hastig in der Küche verschwand.

„Kommt rein,“ rief er Carlos zu, was dieser auch tat, mit gesenktem Kopf. „Senhor, darf ich Euch fragen, ob alles recht ist mit dem Haus und dem Garten?“

„Ja, ja, ist alles recht, Carlos. Sagt mal, hat Maria Angst vor Euch? Oder warum ist sie so schnell verschwunden?“

„Das weiß ich nicht, Senhor Mandoza.“ Und nach kurzer Pause: „Wenn alles recht ist, darf ich mich dann zurückziehen, Senhor?“

„Ja, ja,“ murmelte Filipe, „das heißt, wartet. Ihr könnt mich mal über das Gelände hier führen, alles zeigen, so als Fremdenführer,“ lachte er.

Carlos lachte nicht. „Ja, Senhor, ich stehe Euch zur Verfügung. Ich werde draußen warten.“ Und ehe Filipe etwas sogen konnte war er wieder weg.

Irritiert schaute er ihm nach, merkwürdiges Verhalten. Er stand auf und ging zur Küche, öffnete die Tür einen Spalt: „Maria?“

Sie stand am Waschbecken und wusch Teller ab, Catarina half ihr beim Abtrocknen. Erschrocken sahen die beiden auf.

„Ja, Senhor Mandoza?“

„Könnt Ihr mir bitte eine Flasche Wasser fertig machen? Ich will mir das Gelände ansehen. Und für Carlos auch eine.“

„Ja, Senhor.“ Maria ging zum Schrank, holte zwei Flaschen Mineralwasser heraus und rechte sie Filipe. Der bedankte sich und ging vor die Tür; Carlos wartete.

„Hier, eine Flasche Wasser tut uns gut auf dem Weg,“ scherzte er und reichte eine zu Carlos hin. Der nahm sie aber nicht an, schaute unauffällig nach rechts und links, dann streckte er den Arm in Richtung der breiten Straße, die über den Steindamm zum Krankenhaus führte: „Bitte hier entlang, Senhor.“ Und er blieb stehen.

Kopfschüttelnd stopfte Filipe die Flaschen in seine Umhängetasche und marschierte los, Carlos immer ein Stück hinter ihm.

„Seid Ihr auch hier auf der Roca geboren,“ fragte Filipe nach hinten, weniger aus wirklichem Interesse, sondern um die Situation etwas aufzulockern; Carlos schien ihm doch ein wenig zurückhaltend oder irgendwie gehemmt zu sein. Dass er hier geboren war, schätzte er als sehr wahrscheinlich ein, und dementsprechend antwortete der Angesprochene auch.

„Ich glaube,“ fragte Filipe weiter, „das sind die meisten Arbeiter hier, liege ich da richtig? Ihr müsst wissen, Carlos,“ er blieb stehen und wartete, sein Begleiter blieb augenblicklich ebenfalls stehen, „meine Eltern hatten in Portugal eine Ageda, und unsere Arbeiter waren auch schon seit Generationen auf unserem Weingut tätig.“

“Ich bin hier auf der Roca geboren, Senhor,“ erwiderte Carlos nur knapp.

„Und? Fühlt Ihr Euch wohl hier?“ Filipe war weitergegangen, Carlos folgte.

„Ja, selbstverständlich, Senhor.“

„Mensch, Carlos, nun kommt doch mal hier an meine Seite, dann muss ich nicht immer nach hinten reden!“

„Ja, Senhor.“ Er schloss auf, hielt aber einen guten Meter Abstand und schaute sich kurz nach allen Seiten um.

Inzwischen hatten sie den balustradengesäumten Steindamm erreicht. Der hinter ihnen liegende Bereich war menschenleer. An dieser Stelle führten zwei Rampen nach rechts und links in die Senke, in das Pflaster waren Eisenbahnschienen eingelassen. Über die rechte Rampe war er gestern hier angekommen, unten hörte man das Schnaufen einer Dampflokomotive, die offensichtlich versuchte, sich die Steigung herauf zu quälen. Ein Trupp Arbeiter, mit Jutesäcken bepackt, kamen ebenfalls herauf, alles Schwarze.

Filipe blieb stehen, stützte sich auf das Geländer und schaute herunter: Mehrere große Hallendächer versperrten den Blick, die Rampe führte daran vorbei auf die hintere Seite der Hallen; langsam schoben sich mehrere Waggons mit großen aber leeren Holzkisten hinter den Gebäuden hervor, dann war die kleine Lokomotive zu sehen, wild fauchend stieß sie Unmengen an Wasserdampf aus um den Zug die Rampe hinauf zu schieben.

„Gibt es eigentlich nur schwarze Arbeiter auf der Roca?“ fragte Filipe in Anbetracht der Menschen, die er hier beobachtete; außer Almeida hatte er noch keinen Weißen gesehen.

„Ja, Senhor.“ Und nach kurzer Pause: „Die anderen sind die Aufpasser.“

„Aufpasser? Worauf sollen sie denn aufpassen? Dass die Arbeiten richtig verrichtet werden?“

„Ja, Senhor.“

„Und was wird da unten in den Hallen gemacht?“

„Dort werden die Kakaobohnen bearbeitet, damit die Bohnen reifen können, Senhor.“

„Ihr müsst nicht immer ‚Senhor‘ sagen, Carlos!“ Er kannte das in dieser Häufigkeit nicht von dem Weingut der Familie, und es ging ihm allmählich auf die Nerven.

„Ja, Senhor.“

Filipe verdrehte innerlich die Augen.

Die Lokomotive hatte die Rampe überwunden und schob die Waggons nun an ihnen vorbei über den Steindamm in Richtung des Krankenhauses, daran vorbei in die dahinter liegenden und aus der Ferne wie ein Urwald anmutenden Plantagen.

„Der Zug holt jetzt neue Kakaofrüchte, richtig?“

„Ja, Senhor.“

„Aber da sind ja gar keine Arbeiter drauf, sind die schon auf der Plantage?“

„Ja, Senhor.“

„So früh? Wann sind die denn hier los?“

„Die meisten Arbeiter bleiben auf den Plantagen, sie übernachten auch dort.“

„Unter freiem Himmel?“

„Ja, Senhor. Manche haben auch Planen dabei oder kleine Holzhütten gebaut.“

Filipe ging auf die andere Seite des Damms. Unten in der Senke befand sich eine Vielzahl von großen gerahmten Flächen, auf denen die braunen Bohnen ausgebreitet waren.

„Hier werden die Bohnen in der Sonne getrocknet, Senhor,“ erklärte Carlos endlich auch mal ohne dass er ihn gefragt hatte.

„Und was passiert dann mit den Bohnen?“

„Wenn sie trocken sind werden sie in Säcke gefüllt und zum Hafen gebracht, Senhor.“

„Aha,“ kommentierte Filipe, der grundsätzliche Ablauf der Arbeitsprozesse hier war also recht einfach. Schweigend schlenderten sie weiter über den Damm in Richtung des Krankenhauses; dessen gewaltige Größe fand Filipe irgendwie überdimensioniert.

„Gibt es hier so viele Kranke, dass ein derartiges Haus notwendig ist, Carlos?“

„Ich glaube schon, Senhor.“

Neben dem Hospital entdeckte er nun eine kleine Kirche, wie praktisch, dachte er, dann können die nicht mehr Genesenen und die Operationsmisserfolge hier gleich aufgebahrt werden, ein Lächeln huschte über sein Gesicht, obgleich ihm klar war, dass seine Gedanken nicht unbedingt besonders christlich anmuteten.

Zwischen Krankenhaus und Kirche waren die Gleise in das Pflaster eingelassen, über die der Zug eben in den Plantagen verschwunden war. Filipe riskierte eine Blick hinter den überdimensionierten Hospitalkomplex: Die für seine Vorstellungen ungeortnete Bepflanzung mit kleineren Kakaobäumen, Palmen und großen schattenspendenden Riesen mutete ihm an wie ein typisches Beispiel eines nahezu undurchdringlichen Dschungels.

Er nahm erneut einen Schluck Wasser, Carlos lehnte wiederum ab, dann begaben sie sich auf den Rückweg. Auf der Mitte des Steindamms lehnte er sich wieder an die Balustrade, sinnierend schaute er zu den Hallen hinunter, und beschloss dann, diese ebenfalls in Augenschein zu nehmen; sein Begleiter folgte wieder mit einem Meter Abstand.

Schon auf der Rampe teilten sich die Schienen in mehrere Stränge auf, in einer engen Kurve bogen sie auf die Rückseite der Hallen zu, in der sie durch mehrere Tore verschwanden; Filipe trat ein. Es war stickig und heiß hier, es roch aromatisch, leicht säuerlich. Neben dem Gleis, auf dem mehrere Waggons standen, war eine bahnsteigähnliche Fläche, Unmengen an Säcken mit frischen Bohnen waren darauf verteilt. Es mögen zehn oder fünfzehn Arbeiter und Arbeiterinnen gewesen sein, die die Säcke öffneten und die Bohnen in ein wannenähnliches Areal daneben warfen. Als Filipe eintrat, verharrten sie augenblicklich in ihrer Arbeit, geradezu erstarrt schauten sie ihn an. Er sah sich um, Carlos war am Eingangstor stehen geblieben, er kam sich einen Bruchteil einer Sekunde verloren vor in einer fremden Welt. Dann hatte er sich gefangen. Er ging auf einen der schwarzen Männer zu, wollte ihn fragen, was er da tat, aber der entfernte sich, bei den anderen und den Frauen erging es ihm nicht anders, offensichtlich wollten sie nichts mit ihm zu tun haben.

„Was ist mit ihnen?“ fragte er Carlos am Eingangstor leicht irritiert.

„Weiss ich nicht, Senhor.“

Skeptisch sah Filipe ihm ins Gesicht; es war ihm klar, dass Carlos hier gelogen hatte.

„Dürfen sie nicht mit Fremden sprechen?“

„Weiss ich nicht, Senhor.“ Auch er schien noch distanzierter, als er es ohnehin schon war, fast feindselig.

„Carlos!“ fasste er sich ein Herz, „nun mal raus mit der Sprache: Warum reden die nicht mit mir? Und warum seid Ihr so wortkarg?“

„Die Menschen hier wollen vielleicht nicht sprechen,“ antwortete er ohne Filipes Blick auszuweichen; auf den zweiten Teil von dessen Frage ging er nicht ein. Einen kurzen Moment sahen sich die Männer in die Augen, und Filipe war klar, dass sein Gegenüber darüber nicht reden wollte und es auch bei weiterem Drängen nicht tun würde.

„Und warum werden die Kakaobohnen da ins Becken geworfen?“ wechselte er das Thema während er zu einer der Wannen ging.

„Damit sie reifen können, Senhor.“

„Aha!“ Wieder sahen sich die Männer an, es entstand eine längere Pause, eine unbestimmte Spannung baute sich auf, die Filipe schließlich brach indem er die Halle verließ; Carlos folgte.

Gegenüber den Halleneingängen zweigte eine unbefestigte Straße ab hinter eine dichte Busch- und Baumreihe, Filipe wagte einen Blick: Hinter dem Grün wurde der Weg gesäumt von langen, zweigeschossigen Häusern, grau, irgendwie schmutzig. Kinder tummelten sich dort, vereinzelte Frauen, einige schleppten dicke Stoffsäcke, andere trugen Lasten auf dem Kopf. Dazwischen lief der eine oder andere Hund, abgemagert, dass man jede Rippe sehen konnte. Auch Schweine, genauso dürr, eine Sau mit fünf Ferkeln.

„Wohnen hier die Arbeiter?“ fragte er Carlos, wohl wissend, dass er diese Frage bejaen würde.

„Ja, Senhor,“ kam es prompt.

Vorsichtigen Schrittes folgte Filipe der Gasse, sein Begleiter blieb an der Buschreihe stehen. Der Boden war uneben, Schlammpfützen hier und da, in vergangenen Zeiten waren hier auch Pflastersteine eingelassen, Rudimente dieser Bodenbefestigung waren noch zu sehen. Einige der Frauen verschwanden, als sie Filipe gewahr wurden, andere nahmen ihre Kinder an die Hand und verharrten stumm an den Häuserwänden; er grüßte freundlich, erntete aber keine Reaktion.

Ein unangenehmer Geruch hing schwer zwischen der Häuserreihe, eine Waschstelle in der Mitte plätscherte ununterbrochen, das überlaufende Wasser vermischte sich mit Dreck und Kot der Tiere in den Schlammsuhlen. In kurzer Folge befanden sich oberhalb einer kleinen Treppe die Eingänge, die Türen, so sie denn vorhanden waren, standen meist offen und offenbarten dunkle Löcher, aus denen Kindergeschrei tönte, unterbrochen von lauten Stimmen der Frauen. Viele der Fenster hatten keine Scheiben mehr, der Putz bröckelte überall, Risse in den Wänden. Enge Gassen trennten die langen Häuser, Filipe konnte sehen, dass sie zu einer weiteren Hausreihe führten.

Er schaute sich um, Carlos stand immer noch am gleichen Fleck. Von hier aus konnte man zwar einen Teil der Hallen sehen, nicht jedoch den Steindamm, das Krankenhaus oder die schmucken Häuser an der gepflegten Parkanlage, wo er sein Domizil hatte: Strikte Trennung! Wollte man verhindern, dass die schwarzen Arbeiter und Arbeiterinnen in Anbetracht der wohligen Behausungen von Neid geplagt wurden, ihnen gar Böses in den Sinn kommen könnte? Aber während ihrer Arbeit wurden sie doch ohnehin mit dem vergleichsweise luxuriösem Ambiente dort konfrontiert! War wohl eher umgekehrt: Die Weißen sollten und wollten die Armut der Schwarzen nicht sehen! Aus dem Verhalten der Menschen hier interpretierte Filipe, dass sich wohl nur äußerst selten ein Weißer in diese Niederungen begab.

Am Ende der Häuserzeile breitete sich diffuses Grün aus, Zuckerrohr wechselte mit vereinzelten Salatpflanzen, einige Bereiche waren mit meist wenig intakten Zäunen eingegrenzt, auch anderes Gemüse wurde hier offensichtlich angebaut. Dazwischen immer wieder Schweine, die den Boden umpflügten und Futter suchten; dieses gab es hier reichlich, um so mehr wunderte sich Filipe über den schlechten Ernährungszustand der Tiere. In einem engen Gatter war ein Eber eingepfercht, der ihn mit seinen Schweinsäugelchen ansah und grunzte. Offensichtlich waren diese Anlagen Teil der Selbstversorgung der Arbeiter.

Nachdenklich trat er den Rückweg an, stets darauf bedacht, seine Schuhe einigermaßen sauber zu halten. Ohne ein Wort sah er Carlos an, schweigend begaben sie sich die Rampe hinauf zum Steindamm.

Vor seinem Haus entband Filipe Carlos von weiteren Aufgaben; dieser machte einen Diener und trottete davon. Er selbst begab sich in die Diele, rief Maria und bat sie, ihm einen Café auf den Balkon zu bringen, wo er sich in den Sessel fallen ließ; das Gesehene musste er erst einmal verarbeiten! Das Verhalten der Arbeiter hier war ihm völlig fremd. Auf der heimischen Ageda gab es auch schwarze Arbeiter, aber auch viele weiße. Sie verhielten sich seiner Familie gegenüber auch respektvoll, sie alle pflegten aber einen Umgang, der von gegenseitiger Achtung zeugte, manchmal feierte man auch gemeinsam, und die Kinder spielten zusammen. Eine Mauer des Schweigens, wie er es hier erlebt hatte, kannte er nicht!

 

Almeida war nicht zu überhören, der röhrende Auspuff seines Jeeps dröhnte schon von weitem zu den beschaulichen Häusern der bessergestellten Mitarbeitern der Roca hinauf. Filipe schreckte hoch aus seinen Gedanken, es war schwül, vielleicht hätte er ein Erfrischungsgetränk nehmen sollen und keinen Café.

Nachdem der Motor des Jeeps im gurgelnden Erstickungstod zum Schweigen verdammt war, hörte er, wie Almeida in der Diele nach ihm fragte.

„Na, Mandoza, habt Ihr Euch schon gut eingelebt am ersten Tag?“ fragte er, schüttelte ihm die Hand und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. „Wie ich höre, habt Ihr Euch ja ein wenig umgesehen?!“

„Na, das spricht sich aber schnell rum,“ war Filipe erstaunt.

„Ach, wisst Ihr, die Roca ist ein Dorf, und jeder glaubt, er sei die Boulevardzeitung!“

Filipe lachte, bot dem Gast einen Platz in der Diele und rief nach Maria.

„Ja, Senhor?“

„Was trinkt Ihr, Almeida, Wein? Ein erfrischendes Bier?“

„Ach, bring mir doch ein Bier,“ wandte er sich an Maria.

„Und mir bitte einen Reserva, Ihr wisst schon.“

„Ja, Senhor.“ Und Maria verschwand um das Gewünschte zu holen.

Almeida lachte mit blitzenden Zähnen: „Mandoza! Ihr könnt die Schwarzen ruhig duzen, die kennen das nicht anders!“

„Bei uns zuhaus in Evora sagen wir auch du,“ entschuldigte sich Filipe, „ich war mir hier nicht sicher.“

„Ihr wolltet mich sprechen,“ kam Almeida gleich zur Sache, „was gibt’s?“

„Ich habe mich ein wenig schlau gemacht über die Arbeitsabläufe hier: Es geht eigentlich nur um Kakao …“

„Klar, was denn sonst?

„Naja, Kaffee wäre ja auch eine Idee.“

„Gab es hier früher, vor meiner Zeit. Aber Kakao ist wesentlich rentabler.“

„Die Früchte werden geerntet und mit der Bahn oder Lastwagen zur Roca gebracht. Da unten in den Schuppen werden die Bohnen in eine Wanne geworfen.“

„Ihr habt gut aufgepasst,“ lobte Almeida als Filipe nicht weiter sprach und offensichtlich eine Bestätigung erwartete. „Die Früchte werden noch in den Plantagen gespalten, die frischen Bohnen in Säcke verpackt und mit der Bahn in die Hallen gebracht. In den Wannen, wie Ihr es nennt, bleiben die Bohnen acht oder zehn Tage. Der hohe Zuckergehalt und die feuchte Hitze lassen einen Gärprozess beginnen, wir nennen es fermentieren. Dadurch werden die Bitterstoffe zersetzt und das Aroma der Kakaobohne wird frei. Anschließend werden die Bohnen getrocknet, die Trockenfelder habt Ihr doch bestimmt auch gesehen.“

„Und bei dieser Prozedur entsteht kein Schimmel oder sonst eine Keimbesiedelung der Bohnen?“

„Nein, Mandoza. Der Zucker vergärt zuerst zu Alkohol. Der verhindert, dass die Früchte vergammeln.“

„Aha.“ Filipe erinnerte das an die Weinherstellung. „Und daraus wird dann Kakao mit Schuss, oder was?“

Almeida lachte. „Schön wärs. Nein, der Alkohol wird zu Essigsäure abgebaut. Die ist wichtig, um die Kohlehydratketten der Pflanzenzellen zu knacken. Erst dadurch können die Aromastoffe frei werden, auf die es ja letztendlich ankommt: Je mehr Aroma desto besser der Kakao. Dieses Öffnen der pflanzlichen Strukturen ist der eigentliche Prozess des Fermentierens. Die Essigsäure ist nicht hitzebeständig und verflüchtigt sich bei der Trocknung. Wenn Ihr da Genaueres wissen wollt müsst Ihr Euch an Alfonso wenden, unseren Biologen.“

„Die Trocknung sind die Felder auf der anderen Seite des Steindamms?“

„Richtig. Unter dem Damm sind Tunnel zu den Trockenfeldern.“

Maria trat in die Diele, auf einem silbrigen Tablett brachte sie die Getränke.

„Danke, Maria,“ nickte Filipe, Almeida grinste.

„Ihr seid ja ein verdammt höflicher Mensch, Mandoza,“ bemerkte er.

„Leider kann ich Maria und Catarina nicht auseinanderhalten, sie sind Schwestern und sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Ich hoffe, dass das eben auch Maria war.“

„Und wenn nicht, ist es auch nicht so wichtig, Hauptsache sie tut, was man ihr sagt!“

„Ich habe sie gebeten, ein Namensschild an die Schürze zu stecken,“ grinste Felipe, „leider haben sie das noch nicht geschrieben.“

„Was? Ein Namensschild?“ Almeida begann schallend zu lachen. „Mandoza! Da könnt Ihr lange warten! Die können doch gar nicht schreiben!“ Und er wollte sich gar nicht beruhigen.

Verlegen nahm Filipe einen Schluck Wein, Almeida prostete ihm zu und schüttete das Bier hinter die Kehle: „Ahhh! Das tat gut! – Maria Catarina! Bringst du mir noch ein Bier?“ rief er dann zur Küche rüber, dann zu Felipe: „Sie hat jetzt einen Doppelnamen!“ Und wieder lachte er los.

„Aber Spaß beiseite,“ wurde Almeida wieder ernst, „wo ist das Problem?“

„Der Transport der Kakaofrüchte ist offensichtlich von immenser Wichtigkeit für die Wirtschaftlichkeit der Roca. Und die Maschinen, die das bewerkstelligen, liegen in meiner Obhut, richtig?“

„Richtig, Mandoza.“

„Als erstes möchte ich mir also ein Bild vom Zustand der Lokomotiven , Waggons und Lastwagen machen, in welchem technischen Zustand sind sie und wieviele gibt es überhaupt.“

„Ihr geht ja richtig zur Sache! Die Lastwagen sind nicht so wichtig, den größten Teil des Transportes erledigen die Züge. Wieviele es genau sind, also Mandoza, da bin ich überfragt. Da müsst Ihr Ribeiro fragen, das ist der Buchhalter hier, der führt Buch über jeden Bleistift, der angeschafft wird!“ Wieder lachte er laut, den Mann nahm er wohl nicht so ernst. „Und Alves, der Mechaniker betreut die Maschinen. Den findet Ihr unten in der Werkstatt; ich glaube, da schläft der auch.“

„Und wo ist die Werkstatt?“

„Folgt den Gleisen, die den Damm unterqueren; die Werkstätten sind hinter den Trockenfeldern, könnt Ihr von hier nicht sehen. Wenn Alves da nicht ist, findet Ihr ihn vielleicht auch mal in seinem wirklichen zuhause, hier in dem Haus gleich neben Euch,“ und er deutete mit dem Daumen über die Schulter zur linken Seite.

„Und Ribeiro?“

„Der wohnt auf meiner Seite, gleich neben dem Herrenhaus. Der ist ja wichtig und muss zum Rapport, wenn The Boss im Haus ist!“ Ein abfälliges Grinsen konnte er nicht verkneifen.

Maria Catarina brachte das Bier, und Filipe nutzte die Gelegenheit:

„Maria, seid Ihr Maria oder Catrarina?“

„Ich bin Catarina, Senhor.“ Almeida schien sich erneut zu amüsieren.

„Gut, murmelte Filipe als Catarina gegangen war, Ribeiro und Alves; ich werde die beiden morgen besuchen.“

„Ihr müsst hier aber nicht nur arbeiten, Mandoza,“ bemerkte Almeida nach einem ordentlich Zug aus dem Glas als er sah, wie Filipe sich Notizen machte. Der hob die Brauen und sah ihn fragend an.

„Naja, in Portugal habt Ihr doch bestimmt auch nicht den ganzen Tag gearbeitet, oder?“

„In Lissabon gab es ja auch andere Möglichkeiten. Und hier?“

„Ihr kommt mal mit mir in die Stadt, Mandoza. Ihr könnt hier ja nicht vertrocknen! Und hier auf der Roca können wir den regelmäßigen – ja – wie soll ich das nennen, Umtrunk. Ja den regelmäßigen Umtrunk wieder aufleben lassen.“

„Einen Umtrunk?“

„Euer Vorgänger Lopes, der Doc, Alves, eben die anderen Weißen und ich, wir haben uns regelmäßig reihum zusammengesetzt, Ribeiro und andere von uns Portugiesen waren auch oft dabei. Als Lopes krank wurde, ist das eingeschlafen. So ein Umtrunk ist aber eine gute Gelegenheit über alles zu reden.“

„Was ist denn mit Lopes jetzt?“

„Der ist mit den Gedanken nicht mehr ganz bei sich, im Krankenhaus oben, armer Kerl.“

Sie schwiegen einen Moment, tranken einen Schluck.

„Gute Idee,“ stimmte Filipe dann zu, und er meinte es ernst, „ich werde mich drum kümmern.“

„Worum kümmern?“

„Um so etwas wie einen regelmäßigen Umtrunk. Ich möchte die anderen hier auf der Roca auch mal kennenlernen.“

„Na, dann können wir beide das doch gleich fest machen: Am Samstag abend? Hier bei Euch oder bei mir?“

„Ich glaube, da ich der Neue bin, sollten wir uns hier treffen.“

„Abgemacht. Bier, Wein, einen Brandy vielleicht, damit kommt Ihr schon aus; die Menschen hier sind ja bescheiden geworden,“ lachte Almeida

„Ich werde es Maria Catarina sagen. Die können doch alles Notwendige besorgen?“

Almeida grinste: „Die kennen sich mit sowas aus. Und nicht nur damit,“ setzte er vielsagend hinzu.

„Wie meint Ihr das: ‚und nicht nur damit‘?“

„Mandoza! Ich merke schon, dass Ihr – sagen wir – etwas zurückhaltend seid. Habt Ihr schon mal darüber nachgedacht, warum Ihr zwei Haushälterinnen habt? Für Euren kleinen Einmannhaushalt?“

„Was gibt es denn darüber nachzudenken?“

„Das könnte eine doch problemlos alleine schaffen. Aber die sollen nicht nur das Geschirr waschen und Eure Wäsche, die sind auch für Euer persönliches Wohlergehen zuständig. Zwei, weil Ihr eine Wahl haben sollt. Es ist natürlich dumm gelaufen, dass die beiden sich so ähnlich sehen, dass Ihr sie nicht auseinanderhalten könnt, da gibt’s dann ja irgendwie keine Wahl mehr.“ Almeira lachte schelmisch.

“Ihr meint …“

„Genau, Ihr habt es erfasst!“

„Ist dann den so üblich hier?“

„Mandoza, es gibt nicht so viele Landsleute, die ihr Leben auf dieser Insel verbringen möchten, Eure Stelle zum Beispiel war monatelang nicht zu besetzen. Und dann muss man den Männern schon was bieten.“

„Aber die meisten werden doch mit ihrer Familie hierher kommen.“

„Welche Frau würde das denn mitmachen hier? Keine neuen Schuhe, keine schicken Kleider, kein Tanz, nur Roca, Schwarze und ein paar Irre wie Ihr und ich!“

„Ihr habt auch eine Haushälterin, Almeida, ist es bei Euch auch so, dass die sich um Euer Wohlergehen kümmert?“

Almeida grinste übers ganze Gesicht, sagte aber nichts. Filipe sah ihn erwartungsvoll an, dann grinste er auch.

„Macht Euch keinen Kopf, Mandoza,“ fuhr Almeida, nun wieder ernst, fort, „natürlich sind wir hier alle gute Christen. Aber weil der Liebe Gott nicht immer so genau hinschaut, müssen wir es damit nicht übertreiben. Ribeiro ist verheiratet. Seine Frau war damals mit hierher gekommen, aber nach ein paar Jahren hatte sie die Nase voll. Und was ist denn schon dabei? Den Mädchen gefällt’s, den Männern gefällt’s, was soll‘s? Und manchmal wird es ja auch mehr als ein wenig Abwechslung vom Alltag: Lopes zum Beispiel hat nachher ein eheähnliches Verhältnis mit seiner Patricia geführt, sie ist mit ihm alt geworden und pflegt ihn nun sogar im Krankenhaus.“

„Sie ist mit ihm ins Krankenhaus gegangen?“

„Musste sie nicht. Normalerweise kehren die Haushälterinnen zu ihrer Familie zurück, wenn der Mann wieder abreist. Patricia wollte aber lieber bei Lopes bleiben. Ist ja auch verständlich, da geht es ihr bestimmt besser als unten in den Häusern der Schwarzen.“

Die beiden Männer tranken einen ordentlichen Schluck ihrer Getränke. „Die Häuser der Schwarzen,“ sinnierte Filipe dann, „da ist es ja nicht besonders wohnlich.“

„Das könnten die ja ändern. Wollen sie aber wohl nicht.“

„Aber das ist doch richtig unhygienisch, Hunde- und Schweinekot überall!“

Almeida zuckte mit den Schultern.

„Gibt es hier ein so großes Krankenhaus, weil die Schwarzen sich da alles Mögliche wegholen?“

„Geht so. Früher war das anders. Die Anfälligkeit der Arbeiter für Krankheiten war enorm, lag wohl an der Hygiene. Oder am schlechten Essen, keine Ahnung. Die Leute starben wie die Fliegen, Durchfall, Lungenentzündung, Blutarmut, alles kam vor. Dauernd mussten Neue hergeholt werden, das kostete Geld und Zeit, die Händler sollen ordentlich zugelangt haben.“

„Händler? Wieso Händler?“

„Naja, offiziell hießen sie Vermittler. Sie besorgten die Contrados vom afrikanischen Festland und verkauften sie hier auf der Insel.“

„Verkaufen? Das hört sich ja fast wie Sklavenhandel an,“ bemerkte Filipe dezent empört.

„Also, ich glaube, so viel anders war das auch nicht. Deren Nachkommen leben heute in den Häusern. Die sind gesünder als früher, gibt ja auch bessere Medikamente.“

Er hatte sein Bier geleert, Filipe fragte, ob er noch ein weiteres wünschte, was er ablehnte, es sei Zeit. Und mit einem Handschlag verließ er die Diele.

Filipe schenkte sich Wein nach und stützte das Kinn in die Hände: Kontraktarbeiter aus Afrika, Sklavenhandel, das musste er erst mal verdauen! Vielleicht sollte er auch nach oben gehen. Oder noch ins Arbeitszimmer, Unterlagen von Lopes durchsehen?

Nach einigen Minuten der Stille trat Catarina ein, oder war es Maria?

„Soll ich abräumen, Senhor?“

Er sah einen Moment zu ihr auf. „Catarina, setzt Euch einen Moment zu mir.“

Unschlüssig blieb sie stehen.

„Na los, ich beiße nicht.“

„Habt Ihr noch einen Wunsch, Senhor?“

Filipe stand auf, rückte einen Stuhl vom Tisch und mit einer Handbewegung gebot er ihr, sich zu setzen. Was sie dann auch tat ohne an den Tisch heran zu rücken.

„Nun setzt Euch mal ordentlich an den Tisch, Catarina!“ In seiner Stimme schwang ein Hauch von Unmut mit. Catarina schaute zur Tür, gradezu ängstlich.

„Was habt Ihr? Da draußen ist niemand!“

Catarina stand wieder auf und zog den Vorhang zu, dann setzte sie sich und rückte, wie von ihm angeordnet, an den Tisch heran. Fragend sah Filipe sie an.

„Ich darf nicht mit einem Senhor zusammen am Tisch sitzen,“ kam es leise und verlegen.

„Was??“

„Ja, Senhor Mandoza, es ist uns verboten.“

Filipe verdrehte dezent genervt die Augen: „Aber jetzt sieht Euch doch keiner!“

„Nein, Senhor.“

„Ich hatte doch gesagt, Ihr solltet ein Namensschild an Eure Schürze heften, damit ich Euch und Maria unterscheiden kann.“

„Ja, Senhor.“

„Und? Wo ist das Schild?“

„Es ist noch nicht fertig, Senhor.“

„Und warum nicht?“

Verlegen schaute sie nach unten, mit den Fingern rollte sie den Stoff ihrer schneeweißen Schürze.

„Ihr könnt nicht schreiben, stimmt’s“

„Ja, Senhor,“ sagte sie kaum hörbar und senkte ihren Blick noch tiefer.

„Dann lernt Ihr es jetzt! Ihr heißt Catarina, C – a – t – a – r – i – n – a. Jeder dieser Laute ist ein Buchstabe. Holt bitte Papier und Bleistift.

Die junge Frau sprang auf und holte das Gewünschte. Wieder blieb sie neben dem Tisch stehen.

„Setzt Euch!“

Sie folgte. Filipe nahm die Schreibutensilien und begann die Buchstaben zu malen.

„Das ist das C. Malt es mir nach.“ Und er riss ein Blatt ab und legte es ihr vor, dann reichte er ihr den Stift. Catarina malte ein C.

„Und das ist ein A. Malt es. Und dann folgt das T.“

Catarina tat, was er gesagt hatte: CAT stand jetzt auf ihrem Zettel.

„Und was folgt jetzt?“

„Wieder ein A, Senhor?“

„Richtig! Malt es. Und jetzt ein R.“

Als Analphabetin schien sie zunehmend Spaß an dieser Lehrstunde zu haben, und am Ende hatte sie ihren Namen zu Papier gebracht.

„So, sehr gut,“ lobte Filipe, „und jetzt schreibt Ihr Euren Namen noch fünf mal darunter, zum Üben.“

Catarina schrieb und schrieb, beim zehnten Namenszug unterbrach er sie: „Das reicht jetzt. Fünf hatte ich gesagt, Fünf, das sind so viele, wie Ihr Finger an einer Hand habt.“ Er hielt ihr seine Hand mit abgespreizten Fingern vor. „Eins – zwei – drei – vier – fünf.“ Er schloss die Hand zur Faust und öffnete mit jeder Zahl einen Finger. „Sprecht mir nach: Eins – zwei – drei – vier – fünf.“

„Eins – zwei – drei – vier – fünf,“ wiederholte sie.

„Sehr gut, Catarina. Und das übt Ihr jetzt noch ein wenig in Eurer Kammer.“

„Ihr seid sehr gut zu mir, Senhor,“ sagte Catarina mit gesenktem Blick.

„Ich möchte, dass Ihr und Maria schreiben und rechnen lernt, dann seid Ihr mir eine bessere Hilfe. Ich werde es Euch beiden beibringen.“

„Ja, Senhor.“

„Und hört mit dem ewigen ‚Senhor‘ auf, bitte!“

„Ja, Sen …“ Jetzt musste auch Catarina lachen.

„Na, geht doch,“ grinste Filipe, „Ihr könnt Euch jetzt zurückziehen.“

„Und Ihr habt keinen weiteren Wunsch, S..

Filipe wusste nun, was sie mit dieser Frage wohl meinte. Offensichtlich waren ihr, und Maria bestimmt auch, die vorgesehenen Pflichten einer Haushälterin eingebläut worden. Filipe überlegte kurz, wie er nun reagieren sollte, wollte er die Frau doch auch nicht kränken in einer Weise, dass sie ihm nicht gefallen würde.

Er bemühte sich, seine Stimme fest und bestimmt klingen zu lassen: „Catarina, Ihr seid eine sehr attraktive und schöne Frau. Aber ich denke, es ist nicht der richtige Zeitpunkt, weitergehende Wünsche zu erfüllen. Vielleicht ein anderes Mal.“

Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann stand sie auf, machte einen Knicks und begab sich in ihre Kammer. Das ‚vielleicht ein anderes Mal‘ hatte Filipe durchaus ernst gemeint. Was hatte Almeida gesagt? ‚Den Mädchen gefällt’s, den Männern gefällt’s …‘ Er dachte an sein letztes erotisches Erlebnis, das schon Wochen zurück lag. Zu ihrer Studentengruppe hatten sich damals zwei Mädchen gesellt, die für ein paar Pesos oder andere Nettigkeiten den Jungs gefällig waren, und diese lose Liaison hatte sich nach dem Studium fortgesetzt, nur die Gegenleistungen waren den Wünschen der Frauen entsprechend größer geworden. Im Prinzip war er einer Nacht mit Catarina nicht abgeneigt.

 

Nachdem die Haushälterin, eine Schwarze mittleren Alters, ihn eingelassen hatte, stand Filipe in der Diele von Ribeiros Haus: Es war im Grundriss genauso geschnitten wie seine Behausung, sah ja auch von außen genauso aus. Die Frau hatte ihm einen Platz angeboten, aber er war lieber stehen geblieben. Hustend kam Alves die Treppe herunter.

„Mandoza! So ist doch Euer Name? Wisst Ihr, ich kann mir Zahlen gut merken, mit den Name hapert es da ein wenig.“

„Ach, Euer Gedächtnis funktioniert aber noch ganz gut, ich heiße wirklich Mandoza.“ Die Männer schüttelten sich die Hände.

„Ihr trinkt doch bestimmt einen Café mit mir; ich habe nämlich noch gar keinen gehabt,“ meinte Ribeiro, und ohne eine Antwort abzuwarten rief er in die Küche: „Zwei Café und etwas Frühstück hätten wir gerne!“

Ribeiro war der Buchhalter schlechthin; Filipe fragte sich, ob die Physiognomie eines Menschen seinen Beruf vorher bestimmte oder ob der Beruf die Physiognomie beeinflusste. Das Gesicht des Mannes mit dem Haarkranz wurde dominiert von einer langen spitzen Nase, seine kleinen Augen blinzelten wach und ein wenig listig, dabei hatte Filipe mit der Finanzbehörde doch gar nichts zu tun. Sein Gegenüber trug ein weißes Hemd mit Schlips, graue Hose mit Bügelfalte, die seine hageren Beine bedeckten.

„Und? Habt Ihr Euch schon gut eingelebt? Ist hier etwas anders als in Lissabon, was?“ Erneut ohne eine Antwort abzuwarten bot er Filipe einen Stuhl an und setzte sich daneben. Der Café wurde gebracht, Kekse dazu, Weißbrot, Butter und zwei Sorten an Marmelade.

„Habt Ihr schon gefrühstückt? Greift zu, es ist genug da für uns beide.“ Offensichtlich war er über den frühen Besuch erfreut, der ihm ein wenig Gesellschaft bei seiner ersten Mahlzeit versprach. Filipe sagte nicht nein, er hatte zwar schon seinen Saft und einen Café gehabt, aber ein zweiter zusammen mit ein paar Keksen konnte nicht schaden. Außerdem war hier Kaffee nicht gleich Café, Letzterer war eindeutig aromatischer, in kleinen Tässchen serviert kickte er Gemüt und Kreislauf in eine angenehme Laufbahn ohne dabei den Magen zu belasten, wie es der Kaffee auf Grund seiner unbotmäßigen Masse tat.

„Am kommenden Samstag werde ich einen kleinen Antrittsumtrunk geben,“ lud Filipe den Buchhalter ein, „Almeida hat mir erzählt, dass das eigentlich so üblich ist auf der Roca, nur etwas eingeschlafen.“

„Das ist eine gute Idee,“ stimmte Ribeiro ihm zu nachdem er seinen Bissen abgeschluckt hatte, „Almeida findet das doch sicherlich auch gut, und vergesst Silva und Santos nicht.“

„Silva und Santos sind mir noch nicht vorgestellt worden, ich werde aber schon noch alle relevanten Mitarbeiter benachrichtigen.“

„Silva ist der Doc vom Krankenhaus, und Santos ist unser Heiliger; der Sacerdoten heißt eigentlich Oliveira, aber wir finden, dass Santos viel besser passt. Die relevanten Mitarbeiter, lieber Mandoza, sind ganz einfach zu finden: Alle Weißen.“ Und nachdem er erneut einen Bissen verzehrt hatte, fragte er: „Was führt Euch denn zu mir, Mandoza, was kann ich für Euch tun?“

„Ja, kommen wir zur Sache. Ich interessiere mich für die technischen Geräte auf der Roca.“

„Da bin ich der falsche Mann. Ihr solltet Alves aufsuchen, das ist hier der Mechaniker, der alles im Griff hat.“

„Zu dem werde ich auch noch Kontakt aufnehmen. Zunächst geht es einfach um den Bestand an technischem Gerät, insbesondere um die für den Transport wichtigen Gerätschaften, sprich: Lokomotiven, Waggons, Gleise und so weiter. Wenn ich die Arbeitsweise der Roca richtig verstanden habe, sind die Transportmöglichkeiten von elementarer Wichtigkeit für den wirtschaftlichen Erfolg. Deswegen werde ich mich darum zuerst kümmern. Die anderen Fahrzeuge, Lastwagen zum Beispiel, sind sicherlich auch wichtig, scheinen hier aber nicht eine so herausragende Rolle zu spielen.“

„Das stimmt. Zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Leistungsfähigkeit der Dieselmotoren wohl noch nicht vergleichbar mit der der Dampfmaschinen, jedenfalls hat man sich hier, wie auf den anderen Rocas auch, für ein Schienennetz entschieden, um die Transportprobleme zu lösen.“

„Könnt Ihr mir genau Zahlen nennen? Wieviele Lokomotiven gibt es, wieviele Waggons …“

„Ihr wollt ja Sachen wissen! Lopes hat sowas nie interessiert! Aber das ist kein Problem. Folgt mir bitte.“

Er nahm sein Marmeladenbrot in die Hand, die Tasse mit dem Cafe in die andere, kauend stand er auf und ging ins Nebenzimmer, das Arbeitszimmer; die räumliche Anordnung war die gleiche wie in Filipes Haus. Hier waren die Wände gekleidet mit hohen Schränken voller Ordner, vor dem Fenster ein monströser Schreibtisch, sauber geordnet Stifte und Papier darauf. Ein Durchgang zum Nachbarraum, die Tür hatte man herausgenommen, gab den Blick frei auf ebensolche Schrankwände, von dort schallte das Klackern einer Schreibmaschine herüber.

„So, woll’n mal sehen,“ begann Ribeiro, stellte seine Tasse auf den Schreibtisch und suchte die rechte obere Reihe der Ordner ab: „Hier!“ Er legte den Ordner auf den Schreibtisch, setzte sich dahinter und begann zu blättern. „Da haben wir doch was: Die Nummer 1 28 013 001 bis 006. Das ist es, was Ihr sucht.“

„Die Nummer 1 28 013 001 bis 006, soso!“

Ribeiro lachte mit graden Lippen: „Die ‚1‘ steht für Transportwesen, die ‚28‘ für Schienenfahrzeuge, die ‚013‘ für Lokomotiven, und ‚001‘ ist die Stückzahl.“

„Aha. Dann darf ich daraus schließen, dass es sechs Lokomotiven gibt?“

„Laut diesen Unterlagen sind sie am 24.8.1908 angeschafft worden, Lieferant war die Firma Maffei in Deutschland. Und, wartet,“ er schlug weiter hinten eine Seite auf, dann wechselte er wieder nach vorne: „am 13.1.1921 sind die Nummern 1 28 013 007 bis 010 in Betrieb genommen worden, Lokomotiven der Firma Krauss, ebenfalls aus Deutschland.“

„Also – besonders zeitgemäß sind die Dinger ja dann nicht. Sehen ja auch nicht so aus!“

„Aber sie scheinen immer noch ihren Dienst zu tun, denke ich.“

„Und ich denke, dass Alves und seine Leute damit wohl ordentlich zu tun haben.“

„Das ist mir nicht bekannt. Tatsache ist jedenfalls, dass bezüglich der Lokomotiven nicht übermäßig viele Ersatzteile bestellt werden.“

„Naja, Dampfmaschinen sind ja auch recht robust. Aber Verschleiß gibt es überall. Könnt Ihr mir mal die Liste der Ersatzteilbestellungen zeigen?“

Filipe kam um den Schreibtisch herum und schaute Ribeiro über die Schulter: Endlose Reihen von Zahlen mit kurzen Bemerkungen dahinter waren in sauberer Schrift in den Ordner eingetragen.

„Die Ersatzteile beginnen hier,“ Ribeiro zeigte auf die Zeile mit der Nummer 1 28 117 001.

„Aha! Und was ist 1 28 117 001?“

„Das ist eine Schraubenmutter sechskant sechs.“

„Was? Ihr meint eine sechser sechskant Schraubenmutter!“

„Hier heißt sie Schraubenmutter sechskannt sechs, der besseren Auffindbarkeit wegen, Alphabet unter ‚S‘ Sonst müsste man die secher Mutter unter ‚S‘ suchen, die achter Mutter unter ‚A‘. und so weiter.“

„Aber Ihr habt doch alles nach Nummern geordnet und nicht nach Alphabet.“

„Hier im hinteren Teil ist es umgekehrt.“ Ribeira schlug wieder den hinteren Bereich des Ordners auf, da war tatsächlich eine alphabetische Auflistung. Filipe musste innerlich grinsen: Buchhalter wäre nichts für ihn!

„Und, was sagt Euch das jetzt?“ fragte er irgendwie ratlos.

„Seht hier, da ist das Datum eingetragen: Am 24.8.1908 sind zusammen mit den Lokomotiven eine Vielzahl von Ersatzteilen geliefert worden, genau einhundert Schraubenmuttern sechskant sechs.“

„Soso. Und die sind heute noch da?“

„Wahrscheinlich nicht. Es werden ja immer Ersatzteile gebraucht. Aber soweit mir bekannt, sind diese Muttern seitdem nicht wieder geordert worden.“

„Dann führt Ihr nicht Buch über den Verbrauch des Materials?“

„Das wird mir nicht gemeldet. Erst wenn ein bestimmtes Teil zur Neige geht, werde ich benachrichtigt, damit ich Nachschub bestellen kann.“

„Aha.“ Filipe wusste nicht so recht, was ihm das nun sagen sollte.

„Wenn ein bestimmtes Teil in relativ kurzer Zeit nachbestellt wird, lasse ich Nachforschungen anstellen. Beim Werkzeug zum Beispiel: Der Hammer ein Kilogramm wurde zu meiner Zeit dreimal nachbestellt, so viele Hammer ein Kilogramm können gar nicht kaputt gehen, sie wurden vermutlich geklaut, vielleicht auch verbummelt. Wisst Ihr, die Schwarzen können alles gebrauchen, und besonders sorgfältig gehen sie mit dem Material auch nicht um. In der von mir durchgesetzten Konsequenz wurde das gesamte Werkzeug bei Alves gelagert, er war nun verantwortlich. Wenn einer einen Hammer ein Kilogramm benötigte, hat Alves sich den Namen notiert und verlangt, dass er abends wieder zurückgebracht wurde. Zumindest muss notiert werden, wo sich das Gerät am Abend befindet.“

„Und warum muss nicht alles wieder zurückgebracht werden?“ fragte Filipe und konnte sein Grinsen kaum verbergen.

„Also, einen Amboss 50 Zentimeter kann man ja nicht immer so einfach hin und her tragen. Der Arbeiter muss also sagen, wo er ihn gelassen hat und erst zurückbringen, wenn seine Arbeit beendet ist.“

„Ein Amboss 50 Zentimeter, soso.“

„Das ist ein Ambos mit einer Blocklänge von 50 Zentimetern,“ erklärte Ribeiro ernst.

Es entstand eine kurze Pause, und Filipe wurde klar, dass er seine dezente Belustigung über diese Penibilitäten nicht zeigen durfte.

„Zurück zu den Lokomotiven,“ unterbrach er das Schweigen, „es gibt also zehn Dampfloks hier auf der Roca.“

„So ist es.“

„Und die Waggons?“

„Die Waggons. 1 28 014 001 bis 078 sind Wagen zum Transport von allgemeinen Gütern. 1 28 015 001 bis 008 sind Waggons für den Personentransport. 1 28 016 001 bis 004 sind Waggons zum Transport von Flüssigkeiten, Wasser vermutlich. 1 28 017 001 bis 012 sind Niederbordwaggons für den Transport von langen Gütern, Baumstämme zum Beispiel, und 1 28 018 001 ist ein Kranwagen.“

Filipe hatte sich Zettel und Stift genommen um mitzuschreiben, in der Hoffnung die Ordnung auf Ribeiros Schreibtisch nicht allzu sehr durcheinander zu bringen: 78 Güterwagen, 8 Personenwagen, 4 Tankwagen, 12 Niederbord- und ein Kranwagen. Und die zehn Lokomotiven. Mehr wollte er eigentlich gar nicht wissen.

Ribeiro sah zu ihm auf als er fertig notiert hatte: „Ist Euch mit diesen Informationen gedient, Mandoza?“

„Ja, das ist genau das, was ich im Moment wissen möchte. Die Gleise interessieren mich natürlich auch, aber dazu werde ich Euch später noch mal aufsuchen.“

„Ihr habt wirklich merkwürdige Wünsche; wie gesagt, danach hat bisher noch niemand gefragt.“

Filipe lachte: „Als Ingenieur bin ich unter anderem für das Transportwesen hier auf der Roca verantwortlich. Und da muss ich doch wissen, was mir an Material zur Verfügung steht.“

„Ihr nehmt doch sicher auch noch einen Café?“ Und Ribeiro rief ohne aufzustehen: Martha! Noch zwei Café!“

Eigentlich hatte sich Filipe nicht länger beim Buchhalter aufhalten wollen, aber offensichtlich bekam der nicht so oft Besuch, sodass es ihm eine angenehme Abwechslung war, sich mit dem neuen Mitarbeiter der Roca auszutauschen. Diesen Wunsch konnte er ihm wohl kaum abschlagen, also begab er sich wieder auf den Sessel vor dem Schreibtisch. Mit ein wenig gespieltem Interesse sah er sich die langen Reihen der Ordner an den Wänden an, wohl wissend, dass Ribeiro das animieren würde, die Existenz der Akten zu begründen.

„Eure Eisenbahn ist eigentlich etwas, mit dem ich mich noch nie beschäftigt habe,“ begann er denn auch, „überhaupt, der gesamte Maschinenpark wurde einmal angeschafft und seitdem hatte ich es immer nur mit den Ersatzteilen zu tun, wenn überhaupt. Der tägliche Bedarf, das ist ein wichtigerer Teil, die Beschaffung von Baumaterial, Sprit für die Autos, Öle, und Chemikalien, aber auch der Kauf von spezieller Nahrung, ist alles hier in diesen Büchern notiert.“ Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Zur Zeit geht es aber eher um den Verkauf …“

„Entschuldigt,“ unterbrach Filipe ihn, „was kann ich mir denn unter spezieller Nahrung vorstellen? So Komplex wie eine Roca ist doch mehr oder weniger Selbstversorger, oder?“

„Im Prinzip schon, fast alles wird hier angebaut und gezogen, aber eben nur fast alles. Schottischer Whiskey zum Beispiel nicht.“

Filipe musste lachen, und sogar über die graden Lippen von Ribeiro huschte ein Lächeln, das mit etwas Fantasie eine versteckte Verschmitztheit erahnen ließ.

„Der Verkauf,“ wurde er wieder ernst, nachdem Martha den Café gebracht hatte, „die Ernte ist in vollem Gange, Kakaopreise auf dem Weltmarkt werden verglichen, Angebote geschrieben, Kaufinteressenten Honig um den Bart geschmiert. Wir sind zwar die besten Anbieter, aber nicht die einzigen. Kommt mit,“ Ribeira stand auf, mit einer Handbewegung deutete er Filipe ihm in den Nebenraum zu folgen. An der Seite vor dem Fenster saß ein Farbiger an der Schreibmaschine und tippte immer noch, in der Mitte des Raumes stand ein größerer Tisch, zugedeckt mit Akten, Kassenbüchern und stapelweise lose Blätter. „Dort ist der Einkauf,“ und Ribeira reckte seinen Arm in das vorherige Zimmer, „und hier ist der Verkauf. Hier entscheidet sich, was drüben in die Bücher geschrieben werden kann, denn nur was eingenommen wurde kann auch wieder ausgegeben werden, versteht Ihr?“

Filipe nickte ernst, und er hoffte, dass Ribeira nicht noch mehr von diesen Weisheiten von sich geben möge.

„Die Einkünfte werden ausschließlich durch den Kakao erbracht,“ mit seiner Hand zeigte er nun auf die Aktenreihen an der gegenüberliegenden Wand, „früher wurde auch Kaffee verkauft,“ er sah Filipe an, verzog die Unterlippe: „Unrentabel! Und erst recht der Zuckerrohr: Schlechte Qualität, gar kein Thema mehr, versteht Ihr? Was nichts bringt muss auch nicht produziert werden!“ Und Filipe nickte brav. „Mein Kakao dagegen hat beste Qualität, Weltspitze! Eigentlich sollte er deutlich mehr Ertrag bringen, aber die Preise auf dem Weltmarkt sind halt begrenzt. Dazu kommt die unselige Politik, die Erpressungsversuche der Handelsgesellschaften, und so weiter und so weiter, Ihr versteht? Das sind Gegebenheiten, die ich nicht beeinflussen kann. Wenn die Briten lieber in Guinea kaufen, obgleich der Kakao dort gradezu minderwertig ist, dann zeugt das nur noch von kulinarischer Ignoranz!“

Ribeiro machte eine Kunstpause um Filipes Kopfnicken als Zustimmung entgegen zu nehmen.

„Ihr versteht, Mandoza,“ fuhr er fort während er begann im Zimmer auf und ab zu laufen, „dass es unter diesen Voraussetzungen schon schwierig genug ist, Kalkulationen bezüglich der Einkünfte zu tätigen. Die sind aber notwendig, um die laufenden Ausgaben zu billigen, und, vor allem, die notwendigen Investitionen zu genehmigen. Was heißt notwendig? Zunächst einmal muss ich die notwendigen Investitionen von den unsinnigen scheiden; Ihr glaubt gar nicht, welche Begehrlichkeiten von allen Seiten an mich heran getragen werden …“

Abrupt blieb er stehen, scharf blinzelte er Filipe mit seinen kleinen Äugelchen an: „Seid Ihr etwa hier um die Anschaffung neuer Lokomotiven und Waggons an mich heran zu tragen?“

„Äh – nein, Senhor,“ beeilte der sich zu sagen, er war gedanklich etwas abgeschweift; Ribeiras Monologe empfand er schon als ein wenig anstrengend.

„Das ginge auch gar nicht,“ belehrte ihn der Buchhalter, „wisst Ihr, ich führe eine Liste über die Dinge, die für die Aufrechterhaltung aller Funktionen hier benötigt werden. Und eine andere Liste für Investitionsgüter. Und die ist recht lang! Eure Lokomotiven müsste ich ganz zuunterst stellen!“

„Keine Sorge, Ribeira, ich bin grade erst dabei mir einen Überblick zu verschaffen.“

„Und da ich kaum realistische Kalkulationen anstellen kann,“ fuhr er fort ohne auf Filipes Bemerkung einzugehen, „kann ich nicht sagen, wann ich Euch die Gelder bereit stellen könnte. Es sind ja nicht nur die unverschämten Piraten von Reedern, die uns versuchen auszusaugen, nachkriegsbedingte mangelhafte Tonnage treiben die Transportpreise hoch, Billigkonkurrenz vom afrikanischen Festland, ich sagte es bereits. Aber wisst Ihr, was das Schlimmste ist? Erst nach einer Ernte kann ich sagen, wieviel Kakao ich überhaupt versilbern kann!“

„Aber so große Unterschiede in der Produktionsmenge dürfte es doch von Ernte zu Ernte nicht geben.“

„Um die genau zu erwartende Menge errechnen zu können, Mandoza, dazu benötigte ich Zahlen! Ohne Zahlen funktioniert da nichts! Ich weiß bis heute nicht, wieviele Kakaobäume hier auf den Plantagen stehen, eine halbe Millionen? Oder nur halb so viele? Oder zwei Millionen? Und wieviele Früchte sie durchschnittlich tragen und wieviele Gewichtsprozente der Früchte schließlich als Kakaobohne verkauft werden können.“

Filipe fiel es zunehmend schwerer, sich auf diesen trockenen Stoff zu konzentrieren, zumal ihn das auch nicht besonders interessierte. Aber er wollte den Mann auch nicht enttäuschen, schienen derartige Rechnereien doch sein Lebensinhalt zu sein. „Ich kann mir nicht vorstellen,“ warf er deswegen höflich ein, „dass da von Ernte zu Ernte so große Unterschiede sind, Ribeira.“

„Selbstredend habe ich eine Vorgabe. Grundlage sind die Ernten zu Beginn dieses Jahrhundets: Damals wurden knapp 800 Tonnen Kakaobohnen pro Ernte auf dieser Roca produziert, also etwa 1600 im Jahr. Diese Zahlen sind die Vorgabe. In meiner Zeit wurde eine derartige Menge aber noch nie erreicht. Warum nicht, frage ich mich? Und nach dem Krieg sank die Produktion auf nicht einmal 400 Tonnen pro Ernte. Wahrscheinlich gibt es zu wenig Kakaobäume hier. Oder sie tragen zu schlecht. Warum zum Teufel kann mir niemand sagen, welche Produktionsmöglichkeiten ich zur Verfügung habe? Ich frage Euch, warum nicht?“

Er hatte sich in Rage geredet, war wieder hin und her gelaufen wie ein Löwe im Käfig und nun wieder stehen geblieben.

„Naja, wahrscheinlich ist es nicht so ganz einfach alle Bäume auf den Plantagen zu zählen, Senhor,“ gab Filipe zu bedenken, „aber irgendwann müssen die doch mal gepflanzt worden sein, die Setzlinge gekauft worden sein; habt Ihr denn darüber keine Zahlen?“

Ribeira lachte laut auf: „Pedro, sag Martha, sie soll uns einen Glenfiddich bringen,“ rief er dem Schwarzen an der Schreibmaschine zu, der die ganze Zeit stoisch und unbeteiligt weiter geschrieben hatte; nun sprang er auf um seinen Auftrag zu erledigen. „Ihr trinkt doch einen mit, Mandoza?“ fragte Ribeira an Filipe gewandt.

„Danke, Senhor, am Vormittag lieber noch nicht.“ Aber als Pedro die Whiskeykaraffe mit zwei Gläsern auf einem Silbertablett brachte, schenkte der Buchhalter ein und reichte ihm das eine Glas.

„Pedro ist ein guter Mann,“ lobte Ribeiro, „einer der wenigen Schwarzen, die lesen und schreiben können. Musste ihn auch aus der Heimat importieren.“

Filipe sah zum Glas, dann zu Ribeira: Importieren! Was für eine Beschreibung für die Einreise eines Menschen.

Nachdem der Buchhalter ihm zugeprostet und das Getränk hinter die Kehle geschüttet hatte, fuhr er fort: „Im Jahre 1887 wurden 1000 Setzlinge aus Südamerika importiert. Ob zu diesem Zeitpunkt schon Kakaopflanzen hier waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Im Jahre 1904 waren es noch einmal Tausend Stück. Weitere Informationen liegen mir nicht vor.“

„Aber hier muss es doch mehr als zweitausend Kakaobäume geben. Und: Wie alt werden die denn eigentlich?“

„Alfonso, der Bauer, züchtet da unten in seiner Gärtnerei den Nachwuchs. Aber glaubt man nicht, dass er mich darüber informiert, wie der Erfolg seiner Bemühungen ist. Vielleicht hat er den Bestand schon vervierfacht, vielleicht, und das glaube ich eher“ er warf ein spöttisches Lachen ein, „kommt da nicht viel bei rum.“

„Alfonso, der Biologe?“

„Ja, Biologe nennt er sich.“ Wieder zuckte ein spöttisches Lächeln über sein Gesicht. „Seine Aufgabe ist es, die Nachzucht zu sichern und die Qualität der Früchte zu verbessern. Ich weiß ja nicht, was der in seiner Hexenküche alles für Genfummeleien macht!“

Er schenkte nach und reichte Filipe ein weiteres Glas, Pedro bearbeitet wieder unbeteiligt seine Maschine.

„Also, ich denke, er wird seine Arbeit schon ordentlich machen,“ verteidigte Filipe den Biologen, der bei Ribeira offensichtlich kein Stein im Brett hatte, „es gibt doch auch andere Gründe, die zu Produktionsrückgang führen können.“

„Welche denn, Mandoza, welche denn? Almeida wird schon dafür sorgen, dass die Nigger ordentlich arbeiten. Unwetter und dergleichen hatten wir auch nicht, die Früchte werden hier ordentlich verarbeitet, soweit ich das beurteilen kann, Materialbestellungen für die Verarbeitung hatten wir nicht, die hätte ich auch sofort genehmigt und Macheten für die Ernte gibt es nun wirklich zur Genüge hier!“

Ribeira war stehen geblieben und schaute grimmig aus dem Fenster. Filipe leerte schnell sein Glas, es erschien ihm eine günstige Gelegenheit das Haus des Buchhalters zu verlassen. Brav bedankte er sich für die Gastfreundschaft und verabschiedete sich.

„Ihr wollt schon gehen? Na gut, war angenehm, Euch kennengelernt zu haben,“ sie reichten sich die Hände.

„Wir sehen uns auf dem Umtrunk, Ribeira, Ihr werdet doch kommen?“

„Freue mich drauf. Und grämt Euch nicht zu sehr!“

Diesen Rat hätte er sich lieber selbst geben sollen, dachte Filipe, winkte kurz zu Pedro rüber, der es aber nicht sah, und trat hinaus in den kleinen Park.

Erst mal tief durchatmen. Jeden Tag könnte er den Buchhalter nicht ertragen, und er verstand, warum ihn seine Frau verlassen hatte. Es ging schon auf Mittag zu, so lange hatte er gar nicht bei Ribeiro bleiben wollen. Vom Steindamm her schalte Gesang, fröhlicher Gesang, wie Filipe ihn noch nie gehört hatte. Neugierig schlenderte er in diese Richtung: Unten an den Trocknungsfeldern wendeten Frauen mit langstieligen Holzharken die dort in den Arealen ausgelegten Kakaobohnen. Zwei Frauen aus deren Mitte sagen eine Textpassage in einer Sprache, die ihm fremd war, die anderen Frauen sangen es nach – nein, es war nicht der gleiche Text, es schien so etwas wie Frage und Antwort zu sein. Filipe lehnte sich auf die Balustrade und lauschte diesem wunderbaren Schauspiel. An der rechten Seite schlenderten zwei Männer entlang, ab und zu verschwanden sie in dem Tunnel, der unter dem Steindamm zu den Hallen führte; die beiden, auch Schwarze wie all die Frauen, machten einen wichtigen Eindruck, sie trugen Knüppel am Gürtel.

Ein diese Anmut störendes Geräusch ließ Filipe aus seinen Betrachtungen aufschrecken, es kam von der anderen Seite des Damms. Knatterndes Motorengeräusch: Almeida in seinem Jeep, unverkennbar. Grinsend wechselte Filipe die Seite. Ein Lastwagen quälte sich die Rampe herauf, auf der Ladefläche drängten sich zwanzig, dreißig Frauen, dahinter liefen auch noch etliche, angetrieben von drei Reitern mit Knüppeln. Hinter diesem merkwürdigen Zug fuhr Almeida, seinen Hut tief im Gesicht.

Filipe war das Lachen vergangen: Was sollte das da unten? Was hatten die Männer mit den Frauen vor? Der Laster hatte inzwischen die Höhe des Damms erreicht und bog in Richtung des Krankenhauses, die anderen folgten. Das Geschrei der getriebenen Frauen übertönte nun den wunderbaren Gesang, wie ein verlorener Zaungast betrachtete Filipe das Schauspiel. Als Almeida ihn gewahr wurde, hielt er an:

„Na, Mandoza, wie sieht’s aus?“

„Was habt Ihr mit den Frauen vor? Warum werden die hier entlang getrieben wie Vieh?“

Almeida lachte und ließ die Zähne blitzen: „Wir brauchen Erntehelfer. Die Männer sind alle schon auf den Plantagen, aber es fehlen noch Arbeitskräfte. Die leichteren Sachen können doch auch die Weiber machen, denkt Ihr nicht auch?“

Filipe sah ihn an, er wusste ja nicht, um welche Arbeit es ging. „Und warum müssen die so mit Reitern getrieben werden?“

„Weil die keine Lust dazu haben! Sie wollen lieber Wäsche waschen oder quatschen, oder was weiß ich. Können sie ja auch wieder wenn die Ernte vorbei ist. Aber im Moment wird jede Hand gebraucht. Betrachtet es sozusagen als Argumentationshilfe, es tut ihnen ja nicht weh!“

Er zog seinen Hut wieder in die Stirn und gab Gas um die Reiter einzuholen; nachdenklich blieb Filipe zurück.

 

Catarina hatte das Mittagessen bereitet; diesmal wusste Filipe genau, dass sie es war: Stolz zeigte sie ihre Schürze, auf der oben die Buchstaben CATARINA aufgestickt waren.

Es gab zwei Stück Rindfleisch, Kartoffeln und frische Möhren, dazu bat er um einen Reserva. Und als er die Puddingcreme als Nachtisch vertilgte, wusste Catarina, wie man TELLER schreibt, WEIN und GLAS. Die Kartoffel hatte er lieber ausgeklammert, schließlich hatte er ihr den Wortlaut ‚K‘ schon als ‚C‘ erklärt, und im Fleisch kam auch ein ‚C‘ vor, das nicht wie ‚K’ gesprochen wurde. Und das ‚H‘ in Möhre, das man ja eigentlich gar nicht spricht, erschien ihm auch noch zu schwierig.

Nach der Mittagsruhe schlenderte Filipe langsam runter zu Alves, dem Mechaniker. In dem kleinen Park vor seinem Haus fegte Carlos mit Akribie das Pflaster, obgleich es nach Filipes Erkenntnis dort gar nichts zu fegen gab. Ihm fielen wieder die Frauen ein, die bei der Ernte helfen mussten: Carlos hätte man sicherlich eher dazu verpflichten können, Filipe wusste ohnehin nicht, warum der ihm allein zugeordnet worden war; so viele Stühle gab es doch nun auch nicht zu schleppen, und welche Gartenarbeiten sollte er denn erledigen? Sah doch alles gepflegt aus! Unwillkürlich schaute er zu seinem Haus: Alles blitzblank.

Aber die Organisation der Arbeit, die Aufteilung der Arbeitskräfte, das war nicht sein Gebiet, und er beschloss, sich da raus zu halten.

Er nahm nicht den direkten Weg zu Alves Werkstatt, sondern ging die breite Rampe hinab zu den Hallen, trat ein, und erneut wichen ihm die dort Arbeitenden aus. Diesmal war er mutiger, sah ihnen direkt ins Gesicht, aber hinter dieser maskenhaften schwarzen Mimik konnte er nichts erkennen außer dem Gefühl der Ablehnung, ja, Feindschaft. Die Arbeiter wichen nach hinten aus, Filipe folgte langsamen Schrittes über die bahnsteigähnlichen Flächen, am Ende der Waggonreihe wechselten die anderen über die Gleise nach rechts und links. Nun gut, es sollte wohl so sein. Hinter den Hallen führten mehrere Tunnel unter dem Steindamm hindurch auf die andere Seite zu den Trockenarealen, an denen die Frauen singend die Kakaobohnen gewendet hatten. Diese Flächen waren jetzt mit leichten Tuchbahnen abgedeckt; Filipe nahm eine Handvoll Bohnen, atmete das Aroma ein, eine knackte er mit den Zähnen: Bitter! Am Ende der Trockenfelder waren wieder Gleise, wahrscheinlich wurden die Bohnen hier abtransportiert; jetzt war weit und breit niemand zu sehen. Er folgte den Schienensträngen bis zu einem kleinen Verschiebebahnhof; mehrere leere Waggons standen dort herum, auch der Kranwagen, einer der Tankwagen und die für den Personentransport. Am hinteren Ende des Bahnhofs verschwanden mehrere Gleise in großen steinernen Hallen, der Werkstatt von Alves. Geräusche von Hämmern und das ohrenbetäubende Kreischen einer Säge drang heraus. Filipe wollte nicht über die Schienen eintreten, also ging er um den Gebäudekomplex herum, an der Seite fand er den richtigen Eingang. Aber er trat noch nicht gleich ein; der Weg führte weiter an der Halle entlang, etwas bergab, hinter Buschwerk konnte er mehrere Holzbauten erkennen. Bei näherem Hinsehen stellten sie sich als relativ grob gezimmerte Holzhäuser dar, auf Pfählen errichtet, das Dach aus Palmenblättern. Manche hatten sogar einen kleinen Balkon, zu dem eine Treppe hinauf führte. Offensichtlich waren sie bewohnt, Kinder spielten zwischen ihnen auf dem festgestampften Boden, magere Hunde auch hier. Unter den Hütten vereinzelte Ställe mit Hühnern, andere Gatter daneben gehörten den Schweinen. Einzelne Frauen schleppten Krüge auf ihren Köpfen, sie waren besser gekleidet als die in den Häusern auf der anderen Seite und auch nicht so abweisend, Filipes Gruß wurde manchmal sogar erwidert. Das ganze Ensemble hatte fast die Struktur eines kleinen Dorfes, an dessen Ende sich große offene Stallungen und Weiden befanden, auf denen Pferde grasten.

Hm. Solche Unterkünfte für die schwarzen Arbeiter gab es also auch. Irgendwie hatten die wohl eine bessere Stellung hier, er musste das bei Gelegenheit ansprechen.

Wieder zurück am steinernen Schuppen betrat er den Eingang. Es roch nach Eisen und Schmieröl. Die Tür geradeaus führte in eine der Hallen, durch das Fenster konnte er einen Lastwagen mit geöffneter Motorhaube sehen, einen zur Hälfte zerlegten Traktor und verschiedene andere Maschinen an denen sich die Arbeiter in grauer, verschmierter Kleidung zu schaffen machten

Filipe klopfte an die Tür rechts mit der Aufschrift „Escritório“, aber niemand antwortete, der Lärm hatte sein Eintrittsgesuch vollkommen verschluckt, und er betrachtete seinen Besuch kurzerhand als willkommen. Das geräumige Büro hatte eine große Glasfront, durch die man die gesamte Halle im Blick hatte. Hier war es deutlich leiser, wenn man die Türen geschlossen hielt; der Geruch nach Schmieröl war auch hier nicht zu verbergen, wurde aber durchmischt vom Aroma des Pfeifentabaks, den der kleine Mann dort an dem großen und absolut unaufgeräumten Schreibtisch in die Luft pustete. Außerdem waren zwei Männer, Weiße, an einem Regal voll mit verschiedenem Werkzeug und neben dem zweiten Schreibtisch mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt. Alle blickten auf, als Filipe eintrat.

Senhor Alves?“ fragte Felipe in den Raum.

„Der bin ich,“ meldete sich der Kleine mit der Pfeife, „Was kann ich für Euch tun?“

Filipe stellte sich vor, und augenblicklich hellte sich das Gesicht seines Gegenübers auf: „Mandoza! Ist ja schön, dass Ihr vorbeischaut, ich habe Euch schon erwartet.“ Auch die anderen begrüßten ihn offensichtlich erfreut, stellten sich vor, Miguél und José, letzterer riss die Tür gegenüber auf: „Mentos! Café und Brandy!“, brüllte er, dann zogen sie sich Stühle heran um sich um Alves Schreibtisch zu gruppieren. Während des Small talks zum Kennenlernen brachte ein schwarzer Junge die gewünschten Getränke, mit einem Diener verschwand er wieder.

Als Einstieg trug Filipe seine Einladung zum Umtrunk vor, Miguél und José schloss er dabei ausdrücklich mit ein. Die aber winkten ab: „Lasst mal, Mandoza, diese Art der Besäufnisse ist nur was für unsere Führungsschicht!“ Und sie lachten herzhaft.

„Wir haben hier unsern internen Umtrunk zur Verbesserung des Betriebsklimas,“ erklärte Alves, und klopfte dem eben ihm sitzenden Miguél auf die Schulter, „die Jungs wollen dabei mit uns nichts zu tun haben,“ er schenkte Brandy ein, und sie prosteten sich zu.

Ein schwarzer Arbeiter öffnete von draußen die Tür zur Halle, aber Miguél scheuchte ihn mit einer groben Handbewegung wieder weg bevor er überhaupt etwas sagen konnte.

„Wie habt Ihr Euch denn so eingelebt,“ griff Alves Filipes Gesprächsansatz wieder auf, „ich hörte, ihr schaut Euch überall mal um?“

„Das spricht sich ja schnell rum …“

„Ein neuer Engenheiro? Ich bitte Euch, hier ist doch sonst nichts los. Glaubt mir, jeder hier hat Euch genau im Blick! Passt also auf, dass Ihr nicht der falschen Dame an den Hintern greift!“ Und die drei lachten schallend.

Filipe schmunzelte brav mit: „Bisher habe ich noch keiner Dame an den Hintern gegriffen, und ehrlich gesagt, Alves, ich weiß nicht so recht, welches denn der richtige und welches der falsche ist.“

Wieder lachten sie, und José prostete ihm anerkennend zu.

„Die Werkstatt, die Ihr hier seht“ mit einer ausladenden Armbewegung deutete Alves zur Halle, „ist mein Reich. Hier kommt alles hin: Loks, Anhänger, Autos, Deichseln, Räder, Kräne, aber auch Pferdegeschirre oder das Spielzeug vom Junior des Big Boss.“

„Wer ist denn eigentlich der Big Boss? Von dem ist mir schon öfter berichtet worden.“

„Den werdet Ihr noch kennenlernen. Ab und zu kommt ‚Seine Hohheit‘ hierher um zu sehen, wie wir seinen Reichtum vermehren. Er wohnt dann mit seiner Familie im Herrenhaus, gibt das eine oder andere Fest und verschwindet wieder. Da müsst Ihr auch noch durch. Passt aber auf! Ihr seid ein stattlicher junger Mann, diese Feste sind der reinste Heiratsmarkt!“

„Dann wisst Ihr wenigstens, welches der richtige Hintern ist,“ feixte José. „Aber überlegt es Euch gut,“ setzte Miguél hinterher, „die anderen sind dann tabu.“ Und sie amüsierten sich köstlich.

Immer wieder kamen schwarze Arbeiter an die Glastür und gestikulierten, offensichtlich gab es das eine oder andere Problem. Schließlich wies Alves seine Gesellen an, rauszugehen und die Angelegenheiten zu regeln.

„Die können aber auch gar nichts alleine!“ moserte Miguél, murrend verließen die beiden das Büro.

Filipe dachte an die Worte von Ribeira: ‚Die müssen jedes Werkzeug bei Alves ausleihen und nach Gebrauch wieder abgeben‘. Wie sollte sie unter diesen Voraussetzungen auch selbstständig arbeiten! Und außerdem: Die Gesellen wurden nicht für’s Cafe‘ - und Brandytrinken bezahlt!

„Jaja, jetzt in der Ernte gibt es hier viel zu tun, immer geht was kaputt,“ sinnierte Alves und stopfte sich eine neue Pfeife.

„Naja,“ warf Filipe ein, „so ein Laster ist ja schnell repariert, oder?“ Eigentlich hatte er ja auf die Eisenbahn zu sprechen kommen wollen, aber er wusste nicht recht, wie er es anstellen sollte, und genau genommen wusste er auch gar nicht, was er eigentlich fragen wollte.

„Die Laster sind nicht so wichtig,“ erklärte Alves, „das Haupttransportmittel ist hier die Eisenbahn.“

„Sind denn alle Plantagen mit einem Gleisanschluss versehen?“ fragte Filipe, froh über die Vorlage, die Alves ihm hier gegeben hatte.

„Fast alle. Die Strecke zur Plantage VII ist beschädigt, nach heftigen Regenfällen hat ein Erdrutsch das Fundament einer Brücke zerstört, und als der Zug dann da drauf fuhr, ist sie abgerutscht.“

„Und wie wird die Ernte nun von dieser Plantage abtransportiert?“

„Mit Trägern, Eseln, Pferden. Ist doch egal, ist alles dasselbe: Es geht halt langsam.“

„Hat denn niemand was dazu gesagt, dass die Ernte da so zögerlich vonstatten geht?“

„Ach, Mandoza. Wisst Ihr, das ist schon seit zwei Jahren so. Ich glaube, dass einige der Herren das noch gar nicht bemerkt haben!“

„Wie? Seit zwei Jahren?! Und niemand kommt auf die Idee, die Brücke zu reparieren?“

„Das ist wohl nicht so einfach. Der Untergrund ist kein fester Basalt, wie die Erbauer es wohl vermutet haben. Da ist nur vulkanisches Geröll. – Ihr wisst doch, dass diese Insel vulkanisch entstanden ist?“

„Und der Zug?“

„Na, der liegt noch unten im Bach und lässt sich langsam vom Urwald überwuchern.“

Filipe war sprachlos. Was für eine bodenlose Gleichgültigkeit und Schlamperei tat sich da auf! Und im schwante Böses; hier wird eine der Hauptaufgaben seiner Tätigkeit sein, und dazu bedurfte es bestimmt das Durchbohren verdammt dicker Bretter!

„Dann gibt es hier nicht zehn, sondern nur noch neun Lokomotiven?“ Was anderes fiel ihm nicht ein.

„Mandoza! Es gibt deren neun, klar. Sechs bis acht davon sind einsatzbereit, die anderen ein bis drei könnt Ihr in meiner Werkstatt bewundern.“

Und in Anbetracht der Sprachlosigkeit des Ingenieurs fuhr er fort: „Die Senhoras sind eben nicht mehr die Jüngsten, und in der Ernte wird ihnen alles abverlangt. Da bricht doch schon mal ein Dichtungsring oder eine Antriebsstange.“

Und als Filipe immer noch nichts sagte: „Mensch, Mandoza! Nun seid doch nicht so schockiert! Ihr werdet Euch schon noch an die c’est la vie Mentalität hier gewöhnen. Kommt, nehmt erst mal noch einen Brandy!“

Er schenkte ein und prostete Filipe zu. Der schüttete den Schnaps hinter die Kehle, bedankte sich für die Informationen und verließ das Büro; Alves schaute ihm verdutzt nach: „Nimm‘s leicht, Junge, es sind doch nicht deine Loks!“

Langsamen Schrittes begab er sich zu seinem Haus, und es wurde im klar, dass er sich um diese zerstörte Brücke zuerst wird kümmern müssen. In der Diele setzte er sich an den Tisch – nein, hier war es nicht richtig für seine Überlegungen, und er wechselte auf die kleine Sitzgarnitur im Garten. Es dauerte nicht lange und Maria kam heraus um ihn nach seinen Wünschen zu befragen. Es war eindeutig Maria: Deutlich sichtbar prangte der Schriftzug MARIA an ihrer Schürze. Filipe war beeindruckt und musste lachen. Die junge Frau erklärte ihm stolz aber mit gebührendem Abstand, dass Catarina ihr die Buchstaben beigebracht hätte, sie hätten gemeinsam gelernt, und Maria finge genauso mit einem ‚M‘ an wie Mandoza. Also hätten sie den Buchstaben vom Schild vorn am Haus abgemalt. Jetzt war Filipe noch mehr beeindruckt.

Maria überreichte ihm einen großen Umschlag den Ribeira für ihn abgegeben hatte, es würde ihn sicher interessieren, hätte er gesagt. Dann verschwand sie wieder um gekühlten Saft und Kekse zu holen.

In dem Umschlag befand sich eine detaillierte Karte der Roca, alle Plantagen waren eingezeichnet mit Nummern und einem Vermerk, was dort angebaut wurde: Fast überall Kakao. Straßen, Wege und vor allem alle Schienen waren dargestellt. Filipe fand auch die zerstörte Brücke, sie war mit einem Kreuz markiert, das Gleis dahinter war gestrichelt. Das Gelände umfasste mehrere hundert Hektar und beinhaltete Höhenunterschiede von mindestens dreihundert Metern. In langen Schleifen führten die Gleise bis in die höchsten Bereiche, ausgehend von einem Verschiebebahnhof etwa fünfhundert Meter hinter dem Krankenhaus. Außerdem bestand eigentlich eine Verbindungen zu den Plantagen der benachbarten Roca; eben jene, die wegen der beschädigten Brücke nicht benutzbar war. Die Gebäude waren auch eingezeichnet, hinter den Behausungen der Arbeiter war ein Areal als ‚Gärten‘ beschrieben, es handelte sich wohl um die halb verwilderten Anlagen, in denen Gemüse zur Selbstversorgung angebaut wurde, und an dem sich die Schweine und Ziegen so gütlich taten. Aber dahinter schien es noch weitere Behausungen zu geben: Ein kleineres Areal war mit „Hütten“ betitelt, Filipe hatte es auf seinem Rundgang nicht gesehen. Auf der anderen Seite des Steindamms rechts unterhalb der Werkhallen von Alves waren ‚Felder‘, wahrscheinlich die Gebiete, auf denen Alfonso seine Züchtungen ausprobierte. Daneben befanden sie die Holzhäuser, die er eben gesehen hatte: Chalets stand daneben.

Während Filipe die Karte studierte, reifte der Plan seines weiteren Vorgehens: Er wollte Almeida bitten, ihn und vielleicht Alves zu der zerstörten Brücke zu führen; möglicherweise wollte Ribeira ja auch mitkommen. Um den Verwalter nicht zu verpassen, rief er nach Carlos; der sollte die Sitzecke vom Garten vor das Haus stellen. Filipe hatte den Diener nach seiner Fegerei nicht mehr gesehen, aber nun stand er plötzlich vor ihm, wie aus dem Nichts. Irgendwie unheimlich, dieser Mann. Aber er schleppte wie angeordnet das Gartenmobiliar nach vorne vors Haus. Und da es bald Abend war, bat Filipe Maria um einen Reserva, mit dem er es sich im Angesicht der gepflegte kleinen Anlage gemütlich machte.

Vereinzelte Bedienstete machten sich auf der Balustrade des Herrenhauses zu schaffen, die Haushälterin von Ribeira schleppte Gemüse und Wasser in dessen Haus, weiter unten kamen die Züge von den Plantagen und brachten die geernteten Kakaobohnen runter in die Hallen.

Almeidas Ankunft war schon von weitem zu hören: Der unverkennbare Lärm seines Jeeps, und in Filipe keimte der Verdacht, dass er seinen Auspuff absichtlich nicht reparierte; es war ein Alarmzeichen, eine Warnung, er fühlte sich an die Stukas der Deutschen im spanischen Bürgerkrieg erinnert. Aber bevor er sich in schlechten Gedanken an den Krieg verlieren konnte, parkte Almeida seinen Wagen vor dessen Haus, er sah Filipe und kam zu ihm rüber:

„Na? Hier vorne gibt es mehr zu sehen als im Garten, was?“

Filipe deutete ihm sich zu setzen und bot ihm einen Wein an.

„Habt Ihr auch ein Bier, Mandoza?“ Filipe rief Maria um das Gewünschte zu bringen.

Almeida nahm einen ordentlichen Schluck, dann sah er sich amüsiert um: „Der Carlos hat ja mal wieder ganze Abeit geleistet, da kann man ja vom Fußboden essen!“

„Dann fegt Carlos öfter hier?“

„Genau. Ich glaub, der geht mit seinem Besen auch ins Bett. Wundert mich nur, dass er keine Muster in die Erde am Rand gemacht hat. Und seine Machte benutzt er nur um die Rasenränder grade zu hacken: Hack! Hack! Hack!“ Almeida machte eine entsprechende Bewegung mit der Hand.

Filipe grinste. „Aber so ist es doch besser als so dreckig wie da unten bei den Arbeiterwohnungen.“

„Das stimmt. Zum Glück scheißen hier auch keine Schweine hin. - Wie gut könnte ich diesen kräftigen Kerl bei der Ernte gebrauchen. Aber dabei würde er mir wahrscheinlich nur die Bäume kaputt machen.“

„Und warum lasst Ihr ihn dann hier fegen und meinen Diener sein? Er muss ja nicht die Früchte von den Stämmen schlagen, er könnte ja beim Tragen der Säcke helfen.“

„Anordnung von oben,“ und mit einer Kopfbewegung deutete er zum Herrenhaus. „Wenn man da auf der Balustrade steht sieht man den gepflegten Park mit unseren Häuschen rechts und links, dann über den Damm zum Krankenhaus, keine Spur von Arbeit, Werkhallen und so, wie im Paradies. Ich glaube, dass das Krankenhaus deswegen aussieht wie ein Schloss, damit sich die Herrschaften wie Gott in Frankreich fühlen – wenn sie denn mal hier sind! Und warum er Euer Diener ist?“ Almeida lachte, „weil er unser aller Diener ist. Ich brauche zwar keinen, und Ihr wahrscheinlich auch nicht. Vielleicht fegt er ja deswegen so viel.“

Filipe schenkte sich Wein nach und Almeida trank noch ein Bier.

„Sagt mal,“ begann Filipe nach einem guten Schluck, „ich war bei Alves in der Werkstatt. Daneben wohnen ja auch noch Arbeiter. Denen scheint es besser zu gehen als denen in den Häusern ….“

„Da wohnen die Forros,“ unterbrach ihn Almeida, „die sind sowas wie die obere Gesellschaftsschicht unter den Schwarzen – übrigens, da gegenüber am Fenster steht Ribeiro,“ grinste er nun und führte zu den Forros nichts weiter aus, „passt auf, gleich kommt er wie zufällig hier vorbei und zweigt was von Eurem Wein ab, er überlegt sich grade nur noch einen Grund.“

Filipe fragte nicht weiter nach, das hatte ja Zeit. Amüsiert beobachtete er stattdessen zusammen mit Almeida Ribeiras Haustür. Und tatsächlich, keine zwei Minuten später kam er raus, zügigen Schrittes ging er in Richtung des Dammes, sah wie zufällig zu ihnen herüber: „Ach,“ rief er, „Euch habe ich ja gar nicht gesehen,“ und an Almeida gewandt: „ich wollte Euch sowieso schon fragen, wie es mit der Ernte vorangeht.“ Er hatte es plötzlich gar nicht mehr eilig, kam zu ihnen rüber, grinsend rief Filipe nach Maria, sie möge noch ein Glas und eine Flasche Wein bringen.

„Reserva. Guter Tropfen,“ lobte Ribeira, „Ihr habt Geschmack.“ Filipe und Almeida feixten sich an.

Von unten schallte ein Kommando zu ihnen herauf, ein militärisches Kommando. Dann beobachteten sie eine Trupp Soldaten, befehligt von einem Unteroffizier, wie sie von der Rampe her auf den Damm marschierten, dort nahmen sie Haltung an.

„Was machen die denn hier?“ fragte Filipe irritiert.

„Manöver,“ antwortete Almeida trocken, „die wollen den Dschungelkrieg üben!“

„Aha.“

„Das ist unsere Schutztruppe,“ warf Ribeira erklärend ein, „die Roca stellt ihnen Quartier zur Verfügung.“

„Schutztruppe? Was wollen die denn schützen?“

„Im Regen höchstens ihre Uniformen,“ spottete Almeida, „im letzten Jahr waren die auch hier, ein Manöver war angesagt, aber dummerweise regnete es an dem Tag wie aus Eimern, da wurde die Übung abgesagt.“

„Man weiß nie, was die Nigger alles so vor haben,“ erklärte Ribeira ernst mit erhobenem Zeigefinger, „in Angola haben die Soldaten schon gute Arbeit geleistet.“

Ein zweiter Trupp marschierte herauf und nahm hinter dem ersten Stellung, ein dritter folgte und dann fuhr ein höherer Offizier im Militärwagen vor, alle standen stramm. Almeida bekam sein Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Kommandos wurden gerufen, dann machte sich der Trupp auf den Weg zum Krankenhaus um dahinter zu verschwinden.

„Jetzt passen sie auf, dass die Schwatten keine Kakaobohnen klauen,“ lachte Almeida und leerte sein Bier in einem Zug.

Filipe schenkte Wein nach und schob Almeida ein weiteres Bier rüber:

„Tun sie das denn?“

„Was sollen sie denn damit anfangen? Essen? Die frischen Früchte fressen, das hält doch der stärkste Magen nicht aus!“

„Wo wir hier schon mal so nett zusammensitzen,“ wechselte Filipe das Thema und erklärte seinen Plan, sich um die Brücke und den abgestürzten Zug zu kümmern.

Die beiden sahen ihn einen Moment schweigend an. „Was wird das denn kosten?“ fragte Ribeira schließlich.

„Im Prinzip finde ich Eure Idee gut,“ antwortete Almeida ohne auf die Frage des Buchhalters einzugehen. „Aber – Euer Vorgänger hatte sich seinerzeit auch damit beschäftigt.“

„Aber?“

„Die Brücke war eine Bogenbrücke, die auf zwei Fundamenten gelagert war. Das Wasser hat eines davon unterspült. Die Konstrukteure glaubten die Brückenköpfe auf festem Vulkangestein gebaut zu haben. Aber das Gestein dort besteht aus großen Felsbrocken, schon halb erkaltete Lava, die auf dem heißen Strom schwamm oder von ihm vorangeschoben wurde. Das bedeutet, dass zwischen den Felsen lockeres Gestein ist. Und bei starkem Regen dringt da Wasser ein. Auf diese Weise wurde einer der Brückenköpfe unterspült und hat sich aus der Verankerung gelöst, wohl nur wenige Zentimeter. Jedenfalls hat der Zugführer, der dann von oben her über die Brücke fahren wollte, den Schaden nicht gesehen. Als die Lok dann schon fast auf dieser Seite war, kam das Ganze ins Rutschen; der Zug ist samt Brücke in die Tiefe gestürzt.“

„Und der Lockführer?“

„Verluste gibt’s überall,“ bemerkte der Buchhalter, und Almeida zuckte mit den Schultern.

„Ribeira!“ Filipe war doch empört über dessen Gleichgültigkeit, „und der liegt jetzt auch noch da unten?“

„Keine Sorge, Mandoza,“ beruhigte Ribeira ihn, „Ihr werdet seine Knochen da nicht finden, sein Seelenheil ist gerettet, dafür hat Santos schon gesorgt, christliches Begräbnis.“ Und er verzog spöttisch seine schmalen Lippen.

„Lopes ist mit dem Kran da rauf,“ fuhr Almeida fort, „zwei von den Waggons konnte er hochziehen lassen, die Brückenkonstruktion war aber zu schwer, sie hängt quer in der Schlucht, da drunter die Lok und die anderen Waggons.“

„Hm.“ Filipe überlegte. „Ist die Konstruktion geschweißt oder genietet?“

„Keine Ahnung. Da müsst Ihr Alves fragen, der weiß das bestimmt.“

„Die Strecke ist doch um 1900 gebaut worden. Oder vorher schon. Dann ist sie bestimmt genietet. Wir werden sie auseinander nehmen und Stück für Stück rauf holen. Vielleicht sind die Teile ja noch zu gebrauchen.“

„Wenn Ihr meint. Aber, bevor Ihr da viel Zeit und Energie investiert: Habt Ihr auch einen Plan, wie die Brücke wieder aufgebaut werden soll?“

„Noch nicht, ich muss mir das alles erst mal ansehen.“

„Ich mein, es nützt ja niemandem, wenn das Ding beim nächsten Regen wieder unten ist.“

„Versteht Ihr denn überhaupt was vom Brückenbau?“ mischte Ribeira sich ein. „Ohne die Brücke sind wir in den letzten beiden Jahren doch auch zurecht gekommen; lohnt sich das alles überhaupt?“

„Also, die Erbauer der Bahnstrecke werden sich schon was dabei gedacht haben, die Plantage VII an das Schienenetz anzuschließen! Was ist das für eine Verschwendung von Arbeitskräften, die alles mit Esel und zu Fuß transportieren müssen! Außerdem habe ich auf der Karte gesehen, dass diese Bahnlinie eine Verbindung zur benachbarten Roca Fernao Gomes darstellt. Eine Transportalternative ist nie verkehrt, Fernao Gomes hat nämlich einen Anleger, den wir im Notfall sicherlich auch benutzen könnten.“

„Dann können wir den Kakao doch gleich dahin verfrachten.“

„Wir bringen doch keine rohen Früchte zum Schiff sondern fertige Bohnen! Und dazu müssen die erst hierher!“ Filipe schüttelte genervt den Kopf.

„Ich stimme Euch zu,“ sprang Almeida ihm zur Seite, „ansehen können wir uns das ja mal.“

„Er soll nicht ausweichen,“ blieb Ribeira stur, „versteht er was vom Brückenbau oder nicht?“

„Ich habe noch nie eine gebaut,“ antwortete Filipe, „aber ich denke, mit technischem Verständnis und einem gesunden Menschenverstand wird es schon gelingen.“

„Euer Wort in Gottes Ohr,“ murmelte der Buchhalter, trank sein Glas leer und wollte sich verabschieden.

„Ich werde mir das morgen ansehen. Wollt Ihr nicht mit, Ribeira?“

Der schüttelte den Kopf: „Was soll ich denn da? Aber Alves solltet Ihr vielleicht fragen, ich mein, so wegen des technischen Verständnisses.“ Dann trottete er zu seinem Haus.

„Der ist zu trocken für sowas,“ meinte Almeida, „der kennt nur Zahlen. Aber ich denke, ich werde mitkommen. Und Alves solltet Ihr wirklich Bescheid geben.“

 

Nach dem Frühstück begab Filipe sich zügigen Schrittes zum Steindamm, den sie als Treffpunkt vereinbart hatten. Noch am Abend hatte er Carlos zu Alves geschickt; der hatte keine Zeit – oder keine Lust? Miguel sollte mitkommen. In der Mitte des Dammes wartete schon Almeida, Miguel kam auch grade dazu.

„Solln wir?“ fragte Filipe auffordernd.

„Zu Fuß?“ fragte Almeida zurück, „viel zu weit. Wir warten auf die Pferde.“

In diesem Moment ertönten von unten wieder Befehle, wie gestern abend.

„Die schon wieder!“ stöhnte Filipe; es war nicht so, dass er Militär nicht mochte, aber die Männer hier herum marschieren zu lassen erschien ihm als reine Beschäftigungstherapie und Wichtigtuerei. Und das mochte er nun wirklich nicht.

„Das sind jetzt andere,“ kommentierte Almeida trocken, „der Cabeca hat eine andere Mütze auf und nen Orden mehr an der Brust.“

Die anderen grinsten. Aber als der Cabeca, der sich als Tenente de Costa vorstellte, ihnen eröffnete, dass er und seine Männer sie begleiten würden, war ihnen das Grinsen vergangen.

„Gut,“ meinte Almeida dezent genervt, „dann besorgt Euch Pferde, wir brechen gleich auf.“

„Darf ich den Grund Eures Interesses erfahren?“ fragte Filipe, „wir wollen uns doch nur die zerstörte Brücke ansehen.“

„Verkehrsverbindungen sind immer im Interesse des Militärs!“

„Na, dann könnt Ihr ja auch im Interesse des Militärs ein paar Escudo zur Wiedererrichtung der Brücke rüberrollen lassen!“ Der Tenente ging auf diese Bemerkung nicht ein.

„Wir nehmen den Zug,“ konstatierte de Costa stattdessen, „bitte besorgt uns eine Lokomotive und zwei Personenwagen.“

Inzwischen war ein Schwarzer auf einem Pferd eingetroffen, drei weitere führte er am Zügel. Der Mann sprach kein Wort, wusste aber wohl genau, was Almeida von ihm erwartete. Etwas abseits auf seinem Pferd sitzend verfolgte er demonstrativ desinteressiert die Unterhaltung.

„Die Loks sind alle in den Plantagen,“ belehrte Almeida den Offizier, „wir haben hier keine.“

„Ich erwarte, dass Ihr die erste Lokomotive, die Euch begegnet, zu uns beordert!“

„Wird gemacht, Tenente,“ und damit schwang er sich auf eins der Pferde, der Schwarze trabte los und die drei folgten ihm über den Damm zum Krankenhaus, dahinter neben den Gleisen in die Plantagen.

„Ihr wollt denen eine Lok zur Verfügung stellen?“ fragte Filipe entrüstet, „wir haben doch ohnehin schon zu wenige im Einsatz!“

„Der will einen Zug weil er nicht reiten kann,“ grinste Almeida.

„Dann sollen sie zu Fuß gehen!“

„Seht, Mandoza, ich habe mich in den letzten Minuten doch redlich bemüht, eine Lok aufzutreiben, oder? Und? Habe ich eine gefunden?“

„Dann müssen sie wohl etwas länger warten,“ mischte Miguel sich schmunzelnd ein.

„Und? Ist das mein Problem?“

Die drei lachten und gaben den Tieren die Sporen.

Ab und zu zweigte ein Gleis zu der einen oder anderen Plantage ab; der schwarze Guide ritt vorweg, er kannte den Weg. Zuerst ging es durch ausgedehnte Kakaoplantagen, beschattet von großen Ocabäumen. Dann schlängelte sich die Trasse am Hang entlang durch dichten Dschungel bergauf. Natur pur, oder die grüne Hölle? Nur die Bahnschienen zeugten davon, dass hier auch die Zivilisation ihre Fühler ausgestreckt hatte, und vereinzelte Spuren von Müll, vermoderte Jutesäcke und anderes, was wahrscheinlich vom Zug gefallen war oder achtlos Weggeworfenes, Unbrauchbares. Die kleine Gruppe erreichte nach einer guten halben Stunde einen auf dem Gleis stehenden Zug, die Lok stand zuunterst, dahinter zehn Güterwagen. Rechts und links vom Gleis hatte man das Gebüsch ein wenig gerodet, damit dort eine große Zahl an Jutesäcken gestapelt werden konnte. Eine Gruppe von Männern war damit beschäftigt, diese in die Waggons zu laden. Filipe grüßte zu den Männern hin, als einziger. Und bekam außer skeptischen Blicken auch nichts zurück. Vom Hang her schleppten Arbeiter, Männer, Frauen und ältere Kinder über einen Trampelpfad weitere Säcke heran. Die Männer trugen die Säcke auf den Rücken, die Frauen auf den Kopf; das war ihm hier schon öfter aufgefallen, dass selbst schwere Lasten von den Frauen auf dem Kopf balanciert wurden. Viele der Kinder taten es ihnen gleich, allerdings trugen sie meist nur einen mit Bohnen gefüllten Bastkorb; andere Kinder schütteten die Bohnen dann in einen Sack.

Vor dem vordersten Wagen bogen sich die Gleise nach links unten, frei hängend in Richtung Abgrund. Rechts war ein Geröllhang, über den ein Wasserfall rauschte. Ein weiterer Pfad führte über dieses Geröll zur anderen Seite des Geländebruchs, wo man ebenso frei hängende Schienen erkennen konnte. Auch über diesen, nicht ganz ungefährlichen Pfad wurden Säcke herangeschleppt, wobei die Männer versuchten die Fracht so gut wie möglich vor dem Wasser zu schützen.

Die Vier pflockten ihre Pferde an, sinnierend standen sie nebeneinander vor dem Abgrund und starrten auf die überwucherten und kaum zu ortenden Trümmer der Brücke: Das große eiserne Bogenstück hing verkeilt zwischen den Geröllhalden zu oberst, darunter steinerne Bruchstücke des Brückenkopfes und vereinzelte Räder der Waggons waren zu erkennen.

„Auf geht’s!“ rief Filipe schließlich, „wir müssen da runter!“

„Wartet, Senhor,“ hielt ihn der Schwarze auf, „Ich werde voran klettern und das Gestrüpp beseitigen.“ Filipe sah ihn erstaunt an: Zum einen, weil der Mann offensichtlich doch sprechen konnte und zum anderen war er der erste Farbige, der ganz normal mit ihm kommunizierte; keine albernen Bücklinge und keine unnötige Distanz. Und dazu noch mit einem Hilfsangebot ohne dazu aufgefordert worden zu sein.

Mit seiner Machete schlug er eine Schneise, vorsichtig kletterten die Männer nach unten, immer bedacht, keine Steine loszutreten, die den Vorausgehenden treffen könnten. Am Brückenbogen angekommen testeten sie dessen Standfestigkeit, Miguel nahm sein Hämmerchen vom Gürtel und klopfte hier und da, dann war er der Meinung, dass man die Nieten würde rausschlagen können um so die Konstruktion zu zerlegen. „Ein hartes Stück Arbeit, sag ich Euch! Und wenn wir da Teile rausnehmen, rutscht der Rest natürlich weiter ab.“

Mühsam hangelten sie sich über das Eisengerüst, von der Mitte konnten sie besser in die Tiefe sehen: Mehrere Waggons lagen da und ganz unten mit den Rädern im Wasser stand aufrecht die Lok.

„Geht es oder geht es nicht?“

„Es muss gehen!“

„Das wollte ich hören.“

Nachdem sie wieder oben angekommen waren diskutierten sie über die Möglichkeiten, die Brücke so wieder herzurichten, dass sie nicht beim nächsten Starkregen erneute fortgespült wurde. Schließlich einigte man sich darauf, ein Betonbett zu bauen, durch das auch große Mengen Wasser schnell in die Tiefe stürzen würden. Dieses Bett sollte mit hundert oder mehr meterlangen Stahlankern im umliegenden Vulkangeröll fixiert werden. Selbst wenn das Bett unterspült würde, müsste es dem Wasser stand halten, notfalls auch frei schwebend. Wichtig war, dass der Beton an den Brückenköpfen hochgezogen wurde, damit diese geschützt waren.

Insgeheim schätzte Filipe die Zahl der Arbeiter, die zur Zeit die Kakaofrüchte von der anderen Seite heran schleppten: Es mussten hunderte sein!

Zufrieden traten sie den Rückweg an, an der Rückseite des Krankenhauses wählten sie jedoch einen anderen Weg, der sie von der Gartenseite zu ihren Häusern führte. Aus der Ferne konnten sie den Steindamm sehen, auf dem die Soldaten immer noch Stellung bezogen hatten: Filipe lud die drei auf einen Umtrunk ein: der Guide lehnte ab, Almeida und Miguel entschieden sich für kühles Bier, das Catarina servierte.

Sie besprachen das weitere Vorgehen; Almeida war offensichtlich daran gelegen, das Projekt, wo es nun einmal angefasst wurde, auch zügig fertig zu stellen: In der nächsten Ernte wollte er die Bahnlinie zur Plantagen VII wieder benutzen. Miguel machte klar, dass Alves ihn wohl kaum dauerhaft werde entbehren können, aber er wollte versuchen, diejenigen, die die Arbeiten durchführen sollten, einzuweisen.

Die Arbeiter! Woher nehmen, jetzt, mitten in der Ernte?

Almeida grinste, er würde schon den einen oder anderen besorgen, und Filipe erinnerte sich an die Szene, in der der Verwalter die Frauen auf dem Lastwagen in die Plantagen gebracht hatte. Sie verabredeten, sich am frühen Morgen auf dem Steindamm zu treffen und mit dem ersten Erntezug zur Baustelle zu fahren. Nachdem sie de Costa mit einigen Sprüchen bedacht hatten ‚der kommt nicht so früh aus dem Bett‘ oder ‚Manöver können erst ab acht Uhr stattfinden‘, trennten sie sich und hofften, dass der Tenente wirklich nicht so früh erscheinen würde, denn darüber waren sie sich im Klaren: Der würde bestimmt erneut versuchen sich einzumischen!

 

Filipe hatte hastig das Frühstück eingenommen, dass Catarina ihm bereitet hatte, die Zeitungen unbeachtet zur Seite gelegt und noch vor Sonnenaufgang begab er sich zum Damm. Dort wartete die dampfende Lokomotive, vor der zehn Lastwaggons gespannt waren und ganz vorne der Kranwagen. Filipe erinnerte sich an seinen Besuch bei Ribeira: War das jetzt die 1028013001 mit zehn 1028014001 – 010? Oder die 1021015005? Oder 1024015? Er musste in sich hinein lächeln, Ribeira wusste das bestimmt, aber sowas war nicht sein Geschäft!

Vor den Wagen waren etwa zwanzig Frauen damit beschäftigt, Leitern, Stricke und Werkzeug aufzuladen, laut diskutierend und lärmend mit den beiden Reitern daneben, die immer wieder mit ihre langen Nilpferdpeitschen in die Luft oder auf den Boden schnalzten. Von unten hörte man das Knattern von Almeidas Jeep, mit dem er fünf weitere Frauen brachte; alle mussten den Zug betreten, Miguel war auch inzwischen eingetroffen mit einer Karre voller Werkzeug. Nachdem auch die drei Weißen zugestiegen waren schnaufte die Lok qualmend los und schob den Zug hinauf zu den Plantagen.

Filipe war sich sicher, dass die Frauen die versprochenen Arbeiter sein sollten, was ihm nicht wirklich gefiel: Zum einen war seiner Meinung nach die notwendige Arbeit nicht unbedingt geeignet für Frauen, zum anderen dämmerte ihm, dass die nicht ganz freiwillig mit zur Baustelle kamen.

Am Ziel angekommen wurde das Material abgeladen, dort wartende Männer begannen die neben dem Gleis gestapelten Säcke und Körbe mit Kakaobohne in die Waggons zu laden. Wenn sie dann wieder über den Trampelpfad zurück in die Plantage wollten, wurden sie von Almeida aufgehalten und zu Filipe geschickt; stattdessen befehligte er für jeden Mann zwei der Frauen mit Körben in den Dschungel. Wieder gab es Krakeelen und Diskussion, aber Almeida war unerbittlich. In der einheimische kreolischen Sprache, die Filipe nicht beherrschte, kommandierte er ihm letztlich zwölf Männer zu; Almeidas Ton ließ vermuten, dass es sich dabei nicht um freundliches Bitten handelte!

Filipe beobachtete das mit dezentem Unmut; so waren sie zu Hause nicht mit ihren Arbeitern umgegangen! Aber er sagte nichts, schließlich brauchte er ja die Leute. Jedoch beschloss er, Kreolisch zu lernen, er würde noch am Abend Catarina und Maria bitten, ihn zu unterrichten.

Die Leitern waren inzwischen angelegt, mit Machten und Sägen wurde der Geröllhang von störenden Pflanzen befreit, dann schallten helle Hammerschläge durch den Urwald. Mit Hilfe eines Dorns, den Miguel an einer Stange auf die Nieten hielt, ließ er mit einem Vorschlaghammer selbige aus dem Eisengestell der Brücke schlagen. Es war eine mühsame Arbeit, aber es funktionierte. Die etwa einen Meter langen Eisenträger waren jeweils mit Platten verbunden, jede Platte war mit zehn Nieten fixiert. Die Männer entschlossen sich, die Brücke in zwei Meter Stücke zu zerlegen, die würde der Kran mit einer maximalen Tragelast von 5000 Kilo wohl schaffen. Das bedeutete, fünfundzwanzig Stücke, also zweihundertfünfzig Nieten! Das wird dauern! Filipe selbst ließ sich die Bedienung des Krans erklären, mit dem er dann nach und nach die Trägerstücke nach oben hievte.

Der Zug war inzwischen bis über den Rand der Loren mit den Säcken beladen, der Kranwagen wurde abgekoppelt, und die Lok brachte die Fracht zurück zur Roca; Almeida und Miguel fuhren mit. Am späteren Vormittag kam er zurück um die nächste Ladung, die sich inzwischen neben dem Gleis stapelte abzuholen. Und es bestätigte sich, was Filipe befürchtet hatte: De Costa und seine Mannen hatten die Gelegenheit genutzt und sich hierher bringen lassen!

Befehle. Die Soldaten nahmen Aufstellung neben dem Gleis, Gewehre geschultert, das vielfältige Rufen und die Unterhaltung der Arbeiter verstummte augenblicklich, schweigend verrichteten sie ihre Tätigkeit, nur der helle Klang der Nietenschläge durchbrach die bedrohliche Stille. De Costa inspizierte in aller Ruhe die Baustelle, Filipe beobachtete ihn, von gestern fiel kein Wort.

Nach einer Stunde, der Zug war beladen, war der Spuk vorbei, wieder Befehle, die Soldaten verteilten sich auf den Kupplungen und Trittbretter der Waggons, woanders war kein Platz mehr. De Costa und Filipe hatten kein Wort miteinander gesprochen. Aber die bedrückende Stimmung blieb.

 

Es war schon spät, als Felipe endlich wieder zu Hause war. Er wusste zwar nicht, ob er seine Befugnisse überschritt, aber er hatte angeordnet, dass die Arbeiter und die Frauen oben im Dschungel bleiben sollten. Die Männer waren das offensichtlich gewohnt, die Frauen murrten, schimpften in kreolischer Sprache, aber Filipe bestieg den letzten Zug und signalisierte dem Zugführer, er solle losfahren.

Erschöpft setzte er sich in der Diele an den Tisch, Catarina bediente ihn, brachte Wein, Früchte und die obligatorischen Matabala-Chips. Filipe unterbreitete ihr seinen Wunsch, Kreolisch zu lernen. Sie lächelte, empfand es offensichtlich als Ehre, dass er sie damit betrauen wollte, schlug aber vor, dass Maria ihr dabei helfen sollte: Sprachschule zu dritt: Sie beide wollten richtig schreiben und lesen lernen, er würde ihre Sprache kennenlernen. Catarina hatte sich während der Unterhaltung zu ihm an den Tisch gesetzt, und Filipe war erfreut, dass diesbezüglich ihre Scheu weitgehend gewichen war. Diesen lockeren Umgang pflegte sie allerdings nur, wenn niemand sonst in der Nähe war. Er bot ihr auch ein Glas Wein an, aber das lehnte sie ab, es sei dem Personal streng verboten im Hause der Herrschaft Alkohol zu trinken. Filipe dachte an seinen Vorgänger Lopes; er war sich sicher, dass dieser mit seiner Patricia durchaus bei einem gemeinsamen Glas Wein den Abend genossen hatte.

Senhor,“ begann Catarina vorsichtig als Filipe mit dem Essen fertig war, „Ihr habt mir schon so viele Wörter zum lesen beigebracht, ich möchte Euch nun auch gleich ein paar Worte in unserer Sprache lehren.“

Filipe grinste, Catarina schritt ja gleich zur Tat, das gefiel ihm. „Gut, dann fangt mal an. Welche Wörter soll ich zuerst lernen, welche erachtet Ihr als wichtig?“

Senhor, es gibt natürlich so alltägliche Dinge, wie die Schale dort, die heißt bãdéza, und die Bananen, die darauf liegen, heißen baná, Früchte allgemein heißen fúta. Und Wein, den Ihr so gerne trinkt, heiß iví. Aber vielleicht sollten wir Euch erst mal die wichtigeren Dinge beibringen.“

Sie machte eine kurze Pause, spielte ein wenig mit ihren Fingern, offensichtlich überlegte sie, wie sie am besten beginnen sollte.

„Ihr seid ein Mann, der heißt óme. Und ich bin eine Frau, die nennen wir myé. Ihr arbeitet sehr viel, Arbeit heiß in unserer Sprache ???. Ihr steht früh auf und geht abends spät ins Bett, bis tief in die Nacht sitzt Ihr über Euren Büchern und Zetteln. Ihr nehmt Euch keine freie Zeit zum Ausspannen. Das ist nicht gesund. Ihr seid ein kräftiger Mann, ein vidò óme, ohne myé. Das geht nicht, ein óme darf nicht ohne myé sein wenn er so viel arbeitet wir Ihr, denn die myé hat auch die Aufgabe, dem òme Entspannung und Erholung zu bereiten, sawídi, , versteht Ihr?“

Filipe wusste zwar nicht, was sawídi hieß, er konnte es sich aber denken. Es war klar, wo Catarina drauf hinaus wollte, es war ja nicht das erste mal, dass sie sich ihm anbot, und er fragte sich, warum sie das tat. War es ein hier üblicher lockerer Umgang mit der Sexualität? In dem Gerede der anderen Weißen war dieser Zusammenhang ja auch schon des Öfteren beschrieben worden. Und es war ja wohl die Aufgabe der Hausmädchen, sich auch um die erotischen Belange der Herrschaft zu kümmern, wenn diese ohne Partner oder Partnerin hier waren. Aber es betraf ja offensichtlich nur die Männer; weiße Frauen hatte er hier auf der Roca noch nicht gesehen. Oder war es auch das persönliche Bedürfnis der Frauen nach erotischen Erlebnissen?

„Was heißt denn sawídi, liebe Catarina?“ fragte er nach seiner gedanklichen Pause, er wollte es nun doch genau wissen, die Frauen lachten sich an.

sawídi heißt wohlergehen,“ antwortete sie lachend, „sonst nichts.“

„Das andere heißt tetá,“ grinste Catarina.

tetá?“

„Verführen.“ Sie hatte jetzt mit dem Ellenbogen ihren Kopf auf dem Tisch abgestützt, sah ihm offen ins Gesicht.

„Catarina,“ Filipe genoss diesen doch irgendwie intimen Moment, wurde dann aber doch ernst: „ich weiß Eure Dienste zu schätzen, sehr sogar. Aber ich bin mir nicht sicher, ob diese Dienste auch die von Euch angesprochene Entspannung beinhalten sollten. In Portugal ist das nicht so, dort verwöhnen die Frauen die Männer nur, wenn sie mit ihnen verheiratet sind. Seid Ihr verheiratet?“

Catarina lachte: „Nein, Senhor, das wäre nicht gut.“

„Warum wäre das nicht gut? Ihr seid eine schöne Frau, es gibt doch bestimmt viele Männer, die Euch begehren würden.“

„Ja, wahrscheinlich,“ erwiderte sie wieder ernst, „aber ich glaube, dass unsere Männer da nicht besonders wählerisch sind. Wisst Ihr“ – sie zögerte einen Moment – „es ist etwas Besonderes für uns in den Häusern der Weißen arbeiten zu dürfen. Meine Schwester Maria und ich sind sehr froh darüber, dass Senhor Almeida uns ausgewählt hat, hier zu sein.“

„Almeida hat euch ausgewählt?“

„Ja. Er hat das meiste hier zu sagen wenn die Herrschaft nicht da ist, und die ist ja nur selten hier. Wenn ein neuer Weißer eingestellt wird und der ohne Frau ist, werden die Angestellten auch nach diesen Gesichtspunkten ausgewählt.“

Filipe wunderte sich, wie offen und unbekümmert Catarina über dieses in seinen Augen heikle Thema sprechen konnte. „Ihr meint die Gesichtspunkte, den Mann zu verwöhnen?“

„Ja, Senhor.“ Wieder lächelte sie. Ihre anfängliche Scheu hatte sie vollkommen abgelegt und Filipe freute sich, dass sie sich so mit ihm unterhielt, wie es ihr seiner Meinung nach auch zustand, nämlich als erwachsene Frau!

„Und woher weiß Almeida, dass Ihr auch bereit seid einen Mann zu verwöhnen?“ fragte er dann, und er ahnte, wie die Antwort lauten würde: Man setzte das hier voraus!

Catarina schwieg einen Moment, lächelte in sich hinein. Filipe stand auf und holte selbst ein zweites Glas aus der Küche, schenkte Wein ein und schob es zu ihr hinüber: „Nun trinkt mal einen Schluck mit mir, ist ja sonst niemand hier und ich erlaube es Euch ausdrücklich. Es ist ja auch ein Verwöhnen, wenn Ihr mir bei einem gemütlichen Glas Wein Gesellschaft leistet. Oder mögt Ihr keinen Rotwein?“

Catarina lachte erneut: „Doch, Senhor …“

„Na, dann zum Wohle.“ Er hob sein Glas und stieß mit ihr an, jetzt nahm sie auch einen Schluck und kicherte leise.

Sie sahen sich an.

„Die meisten jungen Frauen werden früh auf diese Rolle vorbereitet,“ fuhr sie nun wieder ernst fort, „und alle hoffen, eine Stellung hier oben zu bekommen. Sonst müssen sie nämlich unten in den Häusern wohnen bleiben. Das Leben dort ist schwer und hart, Wäschewaschen, im Garten arbeiten, Essen kochen, beim Schlachten der Schweine helfen, und einen Mann verwöhnen müssen die Frauen da auch, oft sogar mehrere.“

„Oft sogar mehrere?“

„Ja, das ist hier nicht ungewöhnlich.“

Filipe wunderte sich, irgendwie war das hier anders mit der Sexualität, denn für Catarina schien das Beschriebene selbstverständlich zu sein.

„Aber Essen kochen, Putzen und Wäsche waschen müsst Ihr hier doch auch.“

„Das schon, aber nur für einen Mann und nicht für eine große Familie. Außerdem ist hier das Essen besser, Maria und ich essen ja das Gleiche wie Ihr. Und alles ist ordentlich. Ich hörte, dass Ihr Euch die Häuser unten angesehen habt, findet Ihr nicht, dass es hier oben viel besser ist?“

Das musste er zugeben, er würde auch nicht unten in den dreckigen Slums wohnen wollen.

„Und außerdem müssen wir oft auch noch andere Arbeiten machen, in der Ernte helfen, in den Trocknungsanlagen, in den Hallen beim Bearbeiten der Kakaofrüchte und so.“

„Davon seid ihr befreit, wenn ihr Arbeit hier oben habt?“

„Ja, Senhor. Das sind Arbeiten, bei denen man schmutzig wird und schwitzt. Wer hier oben arbeitet muss immer gut riechen und sauber sein.“

Filipe hatte ja gesehen, wie die Frauen in die Plantagen gebracht wurden, regelrecht getrieben wurden. Dass es den beiden dann hier bei ihm besser gefiel, konnte er verstehen. Und als Gegenleistung sozusagen mussten sie ihn verwöhnen. Mussten? Oder wollten sie das auch? Und wenn sie es wollten, dann nur, weil sie einen guten Eindruck hinterlassen wollten um nicht zurück nach unten in die Häuser geschickt zu werden? Oder hatten sie auch Spaß daran, wie Almeida es behauptete? Gedankenverloren nahm er noch einen Schluck Wein; dann fiel ihm ein, dass er sie ja aufgefordert hatte ihn nicht allein trinken zu lassen, er lachte Catarina an und prostete ihr zu. Sie lächelte und nahm auch einen Schluck.

Senhor Filipe,“ sagte sie mit sanfter Stimme; zum ersten mal hatte sie ihn beim Vornamen genannt, „habt Ihr eine Liebste in Portugal, der Ihr Treue geschworen habt?“

Er lachte. „Nein, da wartet niemand auf mich, Catarina.“

Sie nahm noch einen Schluck. „Dann …“ sie stand auf und trat hinter ihn „… solltet Ihr versuchen ein wenig zu entspannen.“

Zart spürte er ihre Hände auf seinem Nacken, zögerlich, sie wartete auf seine Reaktion, ablehnend oder zustimmend. Filipe fragte sich, ob es auch weiße Männer hier gab, die Derartiges als schlimme Grenzüberschreitung empfinden und die Frau entsprechend bestrafen würden. Auf der anderen Seite waren die Angestellten wohl, wie wahrscheinlich jeder Mensch, sensibel genug um zu wissen, ob Derartiges versucht werden kann oder nicht. Es war bestimmt auch schon vorgekommen, dass die Männer bei einem solchen Angebot hemmungslos über die Haushaltshilfe hergefallen waren – oder vielleicht auch gar nicht gewartet hatten, bis das Angebot unterbreitet wurde.

Aber warum machte er sich überhaupt Gedanken darüber? Catarina machte das gut, er wiegte seinen Kopf nach rechts oder links, um ihren Fingern mehr Platz zu geben, oder auch nach vorn, wenn sie mit flachen Händen seinen Nacken sanft massierte, was für ein Genuss! Seine zustimmende Gestik animierte sie, nach einigen Minuten den obersten Knopf seines Hemdes zu öffnen, damit sie auch seine Brust liebkosen konnte, er lehnte sich nach hinten, schloss die Augen und ließ es geschehen, warum auch nicht? Er hatte das so lange vermisst!

Es schien ihm eine Ewigkeit als Catarina ihre knetenden Hände zurück nahm, noch einmal zart über sein Haar strich.

„Ich werde Euch jetzt ein Bad einlassen, Senhor, schön heiß, das ist gut für die Muskeln und Sehnen, das fördert die Durchblutung, Ihr werdet sehen, dass Ihr Euch danach viel besser fühlt.“

Er lächelte sie an: „Catarina, ich fühle mich jetzt schon viel besser!“

Sie neigte den Kopf und lächelte zurück, dann verschwand sie nach oben um das Wasser in die Wanne zu lassen.

Filipe überlegte, wie sie sich das gedacht hatte. Wollte sie dabei bleiben? Er nackt in der Wanne und sie bekleidet daneben? Er als weißer Hausherr ausgeliefert, sie als schwarze Bedienstete das Heft in der Hand? Was für bescheuerte Gedanken! Derartige Ressentiments waren doch eigentlich gar nicht seine! Er fühlte sich nicht als Hausherr und Catarina empfand er nicht als Bedienstete, der er stets zeigen musste, wer das Sagen hier hatte; er empfand sie und ihre Schwester eher als Gesellschaft, und war froh, dass die beiden da waren. Allmählich tauten sie ja auch auf, er hatte den Eindruck, dass sie ihn nicht als Herren empfanden, sondern einfach als Menschen. Und das wollte er ja auch nur sein. Aber jetzt war alles ganz anders, darauf war er nicht vorbereitet. Vielleicht wollte Catarina ihn im Bad ja auch weiter massieren. Oder wollte sie ihm Erlösung verschaffen? Dann müsste sie ja auch ins Wasser greifen. Wollte sie sich auch entkleiden, gar mit ihm in die Wanne steigen? Eine gewisse Nervosität konnte er nicht verleugnen, Catarina hatte hier die Regie übernommen, und er wusste nicht, was auf ihn zukommen würde.

Senhor, das Bad ist fertig,“ unterbrach sie seine Gedanken, lächelnd stand sie oben an der Treppe, wartete. Er stand auf und kam zu ihr herauf, immer noch einladend lächelnd hielt sie ihm die Tür auf, ließ ihn voran gehen und kam mit ins Badezimmer.

„Bitte fasst einmal in das Wasser, ob es nicht zu heiß ist,“ forderte sie ihn auf: Es war heiß, aber gut, er nickte zufrieden. Catarina war offensichtlich erfreut, dass sie es ihm recht gemacht hatte. Dann ging sie zum Schrank an der Wand und holte ein Fläschchen heraus, wohlig duftendes Elixier tröpfelte sie in das Badewasser, sah ihn fragend an, er nickte, und wieder lächelte sie zufrieden.

Sie stellte das Fläschchen weg, langsam drehte sie sich wieder zu ihm hin: „Darf ich Euch beim Entkleiden helfen, Senhor, oder möchtet Ihr lieber alleine bleiben?“

Mit dieser Frage hatte er nun gar nicht gerechnet, er hatte gedacht, sie wird was tun und er würde folgen. Nun musste er entscheiden, aber wie?

„Äh – ja.“

Catarina sah ihn fragend an, dann wurde auch ihm bewusst, dass das ja gar keine Antwort war, und er musste lachen. Auch sie lachte, die Spannung wich.

„Ihr dürft mir beim Entkleiden helfen,“ meinte er nun, immer noch lachend, und er wusste nicht, was es da zu helfen gab.

Aber Catarina wusste es: Sie trat auf ihn zu, Knopf für Knopf öffnete sie sein Hemd, so dicht waren sie noch nie beieinander gewesen. Sie streifte es ab, mit den Händen fuhr sie über seine Brust, nach unten zum Hosenbund. Sie ging vor ihm in die Hocke, öffnete den Gürtel.

Filipe schaute an die Decke! Wo sollte das hinführen? Er war erregt, war ja auch kein Wunder: Wann hatte ihn eine Frau zuletzt so angefasst? Gleich wird sie es sehen! Was sollte er tun? Aber sie hatte seine Hose schon abgestreift, zärtlich strich sie über die Ausbuchtung, lächelte zufrieden.

„Bitte setzt Euch doch mal,“ forderte sie ihn auf, als sie sich wieder erhoben hatte. Filipe kam sich ziemlich albern vor, so mit runtergelassener Hose um die Stiefel, irritiert sah er sich um.

„Am besten auf den Rand der Wanne,“ half sie ihm, und er folgte. Wieder hockte sie sich vor ihn, sanfter Blick von unten, vorsichtig zog sie Stiefel, Hose und Socken von seinen Beinen sich immer wieder durch Blicke versichernd, dass sie nicht zu weit ging. Dann strich sie mit den Händen über seine Beine, näherte sich seinem intimsten Bereich, geschickt befreite sie ihn von seinem letzten Kleidungsstück, er war unfähig sich zu wehren.

Mit einer Handbewegung forderte sie ihn auf in die Wanne zu steigen, was er auch tat: Es war heiß, vorsichtig setzte er sich in das duftende Nass, wie gut! Wohlige Entspannung!

Catarina war hinter ihn getreten, rumorte irgendwas, dann spürte er wieder ihre zarten Hände auf seinen Schultern, den Nacken, sie strich über seine Arme, zurück zu den Schultern, jetzt über die Brust, ins Wasser, über den Bauch, sanft berührten ihre weichen Brüste sein Haar.

Dann stand sie auf, ging zum Schränkchen, sie war nackt wie Gott sie schuf! Keck schaute sie sich um, sie freute sich offensichtlich über seine faszinierten Blicke: Was für eine schöne Frau!

Einen großen weichen Schwamm beträufelte sie mit einer anderen duftenden Flüssigkeit, dann kniete sie sich neben die Wanne und begann seinen Körper von oben bis unten abzureiben, mit dem Schwamm zu streicheln, mal fester, mal sanfter, keine Stelle seines entspannt genießenden Leibes ließ sie aus. Zwischendurch reinigte sie auch ihre Haut, stieg dabei aber nicht zu ihm in die Wanne, sodass sich ein großer nasser Fleck auf dem Boden bildete.

„Ihr seid ein schöner Mann,“ lobte sie leise, als er aus der Wanne stieg und sich von ihr in ein großes Handtuch wickeln ließ, „groß und kräftig, überall.“

„Und Ihr seid eine wunderbare Frau, Catarina,“ gab er das Kompliment zurück, „es ist lange her, dass ich eine Frau so bewundern durfte, Ihr übertrefft sie an Grazie und Schönheit noch in erheblicher Weise.“

Catarina lächelte geschmeichelt und er fühlte sich wie ein richtiger Kavalier!

„Wenn das so lange her ist, Senhor, dann ist es vielleicht angebracht, wenn ich Euch auch noch in den Schlaf hinein verwöhne,“ sie neigte den Kopf, ließ das Handtuch fallen, dicht standen sie voreinander und fragend lächelnd sah sie ihn an.

Filipe hatte sie bisher noch nicht berührt, aber wie sie da so unbekleidet vor ihm stand konnte er nicht widerstehen. Mit beiden Händen strich er über ihre Brüste, nach hinten, Rücken, er knetete ihre strammen Backen und drückte sie an sich, innige Umarmung, er sie und dann auch sie ihn. Kräftig zupackend nahm er sie auf die Arme und trug er sie ins Schlafgemach, was sie sich kichernd gefallen ließ, das Moskitonetz zur Seite schob und sich seinen Armen entwindent aufs Bett fallen ließ.

Catarina verstand es wirklich, einen Mann zu verwöhnen, übernahm auch hier die Regie indem sie ihn immer wieder sanft aber bestimmt in die Laken drückte, wenn er aktiv werden wollte: Sie wolle ihn verwöhnen! Geschickt zog sie seine Erleichterung immer wieder hinaus, aber irgendwann gab es einfach kein Halten mehr und er ergab sich ihren liebkosenden Händen.

Einen Moment bettete sie sich neben ihn, legte ihren Arm auf seine Brust, sie küssten sich. Dann machte sie Anstalten aus dem Bett zu steigen.

„Wo willst du denn hin?“ fragte er erstaunt.

„Ich muss gehen. Ich kann doch nicht hier bei Euch übernachten, Senhor.“

„Liebe Catarina. Ich bitte dich inständig, diesen Senhor wegzulassen. Und ich möchte, dass du mich Filipe nennst. Außerdem, wir haben schöne Stunden miteinander verbracht, da ist es doch gut, wenn wir ‚du‘ zueinander sagen. Wenn es dir unpässlich in der Öffentlichkeit erscheint, dann wenigstens, wenn wir unter uns sind.“ Und nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Ich würde mich freuen, wenn du die Nacht über bei mir bleiben würdest, ich möchte dich nämlich auch gerne ein wenig verwöhnen.“

Catarina blieb auf der Bettkante sitzen. „Senhor – Filipe, ich möchte nicht, dass – dass du“ es ging ihr offensichtlich schwer über die Lippen, unsicher sah sie ihn an, „dass du etwas entscheidest, was du nachher bereust. Ich bin deine Bedienstete, du hast hier eine andere Stellung auf der Roca. Sicher, Sex haben alle Weißen mit ihren Angestellten, auch wenn sie mit einer weißen Frau verheiratet sind. Aber die Vertrautheit ist nicht üblich. Und.,..“ sie zögerte, mit einem Kopfnicken ermutigte Filipe sie, weiter zu sprechen. „Und, ich weiß zwar, dass es die Aufgabe der Frauen ist, Kinder zu bekommen, und je mehr Kinder sie zur Welt gebracht haben um so höher sind sie angesehen. Aber ganz ehrlich, Sen – Filipe, ich möchte noch keine Kinder. Meine Mutter würde sehr böse werden, wenn sie das wüsste, aber Maria und ich, wir haben uns besprochen: Es ist nicht richtig, unten in den Häusern Kinder zu bekommen.“

„Du müsstest zurück in die Häuser, wenn du schwanger würdest?“

„Wahrscheinlich schon. Eine Herrschaft will doch keine Mutter mit Kind. Und Almeida würde es bestimmt nicht erlauben.“

Almeida schien ja wirklich eine beeindruckende Macht hier zu haben, obgleich Filipe noch nicht gesehen hatte, dass er das irgendwo gezeigt hätte; seine Erscheinung, sein Auftreten alleine reichte da wohl schon aus. Und die Tatsache, dass er der Verwalter hier war.

„Bleib bitte trotzdem die Nacht über bei mir. Es gibt viele Möglichkeiten zu verhüten, wir werden Kondome besorgen. Und bis dahin werden wir halt nur schmusen, und ich werde dich verwöhnen so wie du mich verwöhnt hast.“

Catarina lachte, sah ihn an. „Ich weiß nicht, ob das gut ist,“ schmunzelte sie und legte sich wieder zu ihm, „aber schön ist es auch hier mit dir.“

Am nächsten Morgen verließ Catarina mit dem Sonnenaufgang das Bett, gab ihm noch einen Kuss und verschwand nachdem sie das Netz gegen die Mücken wieder sorgfältig geschlossen hatte. Filipe genoss noch eine halbe Stunde die Wärme der vergangenen Zweisamkeit, roch den Duft der schönen Frau, beschwingt begab er sich dann zum Frühstück.

Heute bediente ihn Maria, Catarina blieb in der Küche. Aber ihr vielsagendes Lächeln sagte ihm, dass die Schwestern über die amouröse Nacht gesprochen hatten; gern hätte er seine Liebste noch gesehen, aber sie zeigte sich nicht, wahrscheinlich war sie unsicher, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte, und er wollte ihr diese Zeit gerne geben.

 

Mit dem Erntezug fuhr er wieder zur Baustelle, Almeida begleitete ihn, dem fiel Filipes Entspanntheit sofort auf, er grinste, sagte aber nichts. Die Arbeiter und Arbeiterinnen hatten dort oben im Dschungel übernachtet, jetzt standen sie bereit, um die Arbeit fortzusetzen, auch ohne die Drohung von Almeidas Stukajeep! Aber er sorgte dafür, dass alle seine Anwesenheit bemerkten; morgen musste er dann nicht mehr hier erscheinen. Mit dem Zug wollte er zurück, bis dahin unterhielt er sich mit diesem oder jenen der Arbeiter, fragte nach deren Wohlergehen, was sie stets als „ist in Ordnung“ beschrieben. Was sollten sie auch sonst sagen, dachte Filipe. Aber dieser interessierte Umgang war eine Kontaktpflege, die den harten Ton des Verwalters vergessen ließ. Filipe konnte nicht sagen, ob die Leute Almeida als Autorität anerkannten, weil er authentisch diese darstellte oder ob es aus Furcht vor Sanktionen war.

Mit dem letzten Kakaotransport fuhr Filipe zurück zur Roca. Gedankenverloren stand er auf den Trittbrettern des ersten Waggons, schaute dem Lokführer über die Schulter oder zurück zu den auf den unebenen Gleisen schwankenden Hängern; überladen wie sie waren war es zwangsläufig, dass der eine oder andere Sack herunter fiel. Der erste Zug morgen früh wird sie wohl wieder einsammeln, dachte er, aber dann fielen ihm die verrotteten Jutesäcke ein, die immer noch neben den Gleisen zu finden waren: Wahrscheinlich wurden sie doch nicht eingesammelt, was für eine Verschwendung! Aber sein Hirn konnte sich jetzt nicht auf Derartiges konzentrieren, anderes interessierte ihn viel mehr: Wie wird ihm Catarina heute abend wohl begegnen, oder ob Maria wieder Dienst tat?

Tat sie nicht, zumindest bediente sie ihn nicht. Catarina war sehr zuvorkommend, zwischendurch wagte sie sogar eine dezente Berührung, und als er mit Essen fertig war, lud er sie wieder zum Wein ein; diesmal nahm sie ohne zu zögern an. Auch der Rest des Abends verlief im Sinne ihrer beider Zuneigung, sie badeten zusammen, diesmal stieg Catarina mit in die Wanne, und entspannende amouröse Zärtlichkeiten begleiteten die beiden in die Nacht.

 

Das Wochenende nahte, und damit der Abend des neu ins Leben gerufenen Umtrunks. Filipe instruierte seine Hausmädchen entsprechend: Obst, Matabala-Chips, Brot und verschiedene Soßen zum Tunken, und natürlich Wein, Bier und portugiesischen Weinbrand. Filipe als Gastgeber hatte sich umgezogen, die Arbeitskleidung fand er irgendwie unpassend. Das sahen die anderen nicht so: Almeida kam zuerst, Jeans, Lederweste und Cowboyhut. Ribeira kam in akkurater Buchhalterkleidung, wie im Büro mit Fliege, Alves dafür mit Ölflecken an der Hose, und Silva hatte wenigstens seinen weißen Kittel abgelegt. „Santos“ Oliveira kam wie zu erwarten in seinem langen schwarzen Ornat. Einer nach dem anderen lobte Filipes Engagement, zum einen, was seine Arbeit anging, davon hatten sie offensichtlich alle in Ausführlichkeit erfahren. Aber besonders das Wiederaufleben des Umtrunks gefiel ihnen, und Alves erklärte gleich zu Beginn, dass sie sich das nächste mal bei ihm treffen sollten.

Dem Alkohol wurde reichlich zugesprochen, und in Filipe keimte der Verdacht, dass das der eigentliche Sinn der Zusammenkunft war. Maria und Catarina waren die perfekte Bedienung, elegant schenkten sie Wein nach, reagierten höflich auf die Anzüglichkeiten, die mit zunehmendem Alkoholkonsum immer deftiger wurden und auch den einen oder anderen Klaps auf den Hintern beinhalteten, anzügliche Fragen an Filipe eingeschlossen: Ob er denn schon probiert habe, er dürfe niemanden vernachlässigen, bei zwei Frauen könne er vielleicht Hilfe gebrauchen. Der reagierte eher zugeknöpft; derartige Übergriffe waren nicht sein Ding, schon gar nicht, wenn es um Catarina ging. Almeida war sensibel genug, diese Unstimmigkeiten nicht zu übersehen, und als der Doc mal wieder kräftig in Marias Hintern griff, riet er ihm, sich mal besser um seine eigenen Frauen zu kümmern: Filipes guter Ruf unter den Arbeitern beträfe nicht nur seine höflichen Umgangsformen, auch die Frauen hätten ihn genau ins Auge gefasst! Schallendes Gelächter und zweifelnde Fragen nach Silvas erotischen Fähigkeiten entspannten die Situation. „Santos“ erinnerte in ernstem Ton an die christlichen ehelichen Pflichten und den außerehelichen Verboten, worauf Alves sich einen Toast auf Gottes Gnade und Nachsichtigkeit nicht verkneifen konnte. Daraufhin polterte der Pfaffe über die Verderbtheit dieser Welt und drohte allen mit dem ewigen Fegefeuer, eine nette Einlage, die den Anwesenden offensichtlich zur Genüge bekannt war und nur ein müdes Lächeln provozierte. Die beiden Frauen ertrugen die Anzüglichkeiten souverän, sowas waren sie wahrscheinlich gewohnt von dem Moment an, in dem sich ihre Weiblichkeit ausgeprägt hatte. Es gelang ihnen auch, stets diese scheue Distanz zu den weißen Männern zu wahren, obgleich es nicht mehr so aufdringlich mit dauerndem Knicks und „Ja, Senhor“ war.

Aber auch über die Arbeit wurde gesprochen, und als es um den Neubau der Brücke ging, warf Ribeira mit erhobenem Zeigefinger ein, dass er kein Geld zur Verfügung stellen könne. Wieder lachte die ganze Runde, diesen Satz hatten sie aus seinem Mund schon allzu oft gehört.

Zu fortgeschrittener Stunde nutzte Silva einen Moment des Schweigens um an Lopes zu erinnern, er forderte die Runde auf sich zu erheben und einen kurzen Moment seiner zu gedenken.

„Ist er denn schon unter der Erde?“ fragte Almeida trocken, was „Santos“ mit empörtem Blick quittierte: Ohne seine Hilfe käme hier niemand unter die Erde! Worauf der Biologe grinste, er habe dem Pfaffen doch gar keine Pilze zur Verfügung gestellt.

Trotzdem erhoben sie sich, zögerlich, denn das Stehen offenbarte gewisse Zweifel an der Standfestigkeit der Runde, was Alves das Angebot unterbreiten ließ, seine beiden Gesellen könnten ja mit der Schubkarre kommen falls jemand nach Hause wollte. Was natürlich für keinen eine Option darstellte, Filipe hielt es aber als gute Idee im Hinterkopf.

Die Gesellen mussten nicht kommen. „Santos“ klagte plötzlich, der Messwein sei ihm wohl nicht recht bekommen, er müsse mal kurz zur Toilette. Aus Silvas Ecke war ausgeprägtes Schnarchen zu vernehmen, Alves beschwerte sich über die Flasche, die keinen Wein mehr absondern wollte bis Almeida ihn darauf aufmerksam machte, er möge vielleicht mal den Korken entfernen, und Ribeira fing an in langen Monologen den finanziellen Ruin der Roca herauf zu beschwören.

Es war schon in den frühen Morgenstunden, als Catarina Filipe die Hand reichte um ihn nach oben in die Schlafstube zu begleiten, Almeida beobachtete es mit zufriedenem Grinsen.

 

Der kommende Tag, ein Sonntag, war arbeitsfrei. Filipe wäre es auch recht schwer gefallen, früh aufzustehen, in seinem Kopf rissen die Presslufthämmer grade eine Straße auf! Als Catarina wie immer früh aus dem Bett wollte, hielt er sie zurück: „Meinst du nicht, dass die Hausarbeit am heiligen Sonntag auch mal ruhen darf? Es gibt doch – ja, nicht Pflichten, aber vielleicht Wünsche, die zu erfüllen wichtiger ist, oder?“

Catarina lachte und strich ihm zart über den Kopf. „Aber dann muss Maria ja alles allein machen,“ und da sie sich wieder zu ihm legte, konnte ihr das nicht wirklich Probleme bereitet haben.

Am gestrigen Abend war es doch später geworden, und mit dem reichlichen Alkohol, den auch Filipe genossen hatte, waren die Schuldigen in Bezug auf seine reduzierte Manneskraft gefunden. Jetzt, am fortgeschrittenen Vormittag, fragte er Catarina, ob sie nicht nun die verpassten Gelüste nachholen sollten; sie stimmte seinem Wunsch freudig zu.

Es war schon fast Mittag, als es vorsichtig an die Tür klopfte. Einen Moment überlegte Filipe, ob sie sich bedecken sollten, aber seiner Meinung nach war das Moskitonetz Schutz genug, er rief „Herein“ und Maria lugte um die Ecke, sie wollte erkunden, ob die Turteltauben grade eine Pause machten. Kichernd brachte sie dann ein großes Tablett mit allerlei Früchten, Gebäck, Säften und vor allem viel Kaffee ans Bett, naja, vielleicht hätten sie sich doch bedecken sollen, aber nun war es zu spät. Immer noch kichernd ließ Maria die beiden allein.

„Das finde ich aber sehr zuvorkommend, dass deine Schwester uns im Bett bedient,“ lobte Filipe ohne auf ihre offenbarte Nacktheit einzugehen, „sie scheint ja kein Problem mit unserer Liaison zu haben.“

Catarina lachte: „Nein, wir haben ja schon drüber gesprochen.“

„Du hast ihr von uns beiden erzählt?“

„Ja, wir haben keine Geheimnisse voreinander.“

„In allen Einzelheiten?“

Wieder lachte sie: „In fast allen Einzelheiten“, kicherte sie.

„Und sie ist nicht eifersüchtig oder sowas?“

„Nein, warum sollte sie?“

Filipe dachte darüber nach, was Catarina erzählt hatte, dass es ein Privileg sei, hier oben zu arbeiten, aber ein erotisches Verhältnis war ja doch noch eine Intensivierung dieses Privilegs, so jedenfalls vermutete er. Aber die Frauen sahen das offensichtlich anders; die Einstellung zum Sex war hier wirklich nicht so festgelegt, wie er das von Portugal kannte.

Am frühen Nachmittag pellten sie sich dann endlich aus dem Bett, duschten zusammen, kleideten sich an und begaben sich in die Diele. Filipe legte dabei den Arm um ihre Hüfte, sie sah ihn an: „Wenn da unten nun jemand ist der uns sieht?“

„Na und? Kann doch ruhig jeder sehen, dass wir ein Liebespaar sind.“

„Ein Liebespaar, wie schön,“ lächelte sie, „aber das ist so ja eigentlich nicht erlaubt hier, du könntest Probleme kriegen.“

„Warum sollte ich Probleme kriegen?“

„Die Weißen schlafen zwar alle mit ihren Angestellten und auch sonst mit den Frauen, aber nach der Liebesnacht ist dann wieder alles wie vorher. Sie nehmen ihre Angestellte nicht in den Arm.“

„Ist es dir unangenehm?“

„Nein, bestimmt nicht …“

„Dann nimm mich doch auch in den Arm.“

Wieder sah sie zu ihm auf: „Dein Vorgänger Lopes wurde von den anderen lange geschnitten nachdem er sich zu Patricia bekannt hatte.“

„Die anderen können mich mal,“ brummte er, nahm ihren Arm und legte ihn um seine Hüfte: „So!“

In der Diele war niemand. Draußen schien die Sonne, und Filipe schlug vor, in den Garten zu gehen. Aber dann zögerte er: „Wo ist denn deine Schwester?“

„Bestimmt in der Küche. Oder im Zimmer.“

Er ließ sie los und sah in der Küche nach. Maria saß am Tisch vor einem losen Haufen Zettel, daneben diverse Flaschen und Packungen mit Lebensmitteln, von denen sie Buchstaben abmalte. Außerdem fielen ihm mehrere zerfledderte Bücher auf, die überall in der Küche herum lagen. Erstaunt, ja fast erschrocken sah sie ihn an.

„Catarina und ich wollen in den Garten. Kommt doch mit und leistet uns Gesellschaft, Maria.“

Darauf wusste sie nun gar nichts zu sagen, mit offenem Mund starrte sie ihn an.

„Nun kommt schon,“ er nahm sie an die Hand und führte sie in die Diele. „Ich werde jetzt mal einen Kaffee für euch beide kochen.“

Unschlüssig standen die Schwestern in der Diele herum.

„Nun los, ab in den Garten, ich komme gleich“; unsicher befolgten die Frauen seine Aufforderung. Derweil begab sich Filipe in die Küche, setzte Wasser auf und suchte Kaffee, Filter, Kanne, Tassen, Milch und Zucker. Als Student hatte er sich immer selbst bekocht, der Kaffe würde ihm schon gelingen. Trotzdem dauerte es, bis er sich in der ihm fremden Küche zurecht gefunden hatte, aber nach einer Viertelstunde hatte er alles auf ein Tablett gestellt und brachte es in den Garten. Er schenkte den Frauen sogar ein, kichernd nahmen sie den ersten Schluck.

„Ich hoffe, es schmeckt euch,“ bemerkte er etwas unsicher.

„Der Kaffee ist etwas dünn geraten,“ grinste Catarina, „aber für den Anfang schmeckt er ganz gut.“

„Als Student musste ich immer sehr sparsam sein,“ entschuldigte er sich, „auch mit dem Pulver. Soll ich es noch mal versuchen?“

„Nein, nein, bleib hier! Wir werden schon nicht dran sterben,“ lachte sie und nahm einen weiteren großen Schluck.

Maria warf ihrer Schwester einen kurzen erstaunten Blick zu, dass sie ihn duzte war ihr offensichtlich doch fremd. Catarina reagierte nicht, aber Filipe hatte den Blick auch gesehen: „Maria, Catarina und ich sagen „du“ zueinander. Wäre es sehr anmaßend, wenn wir beide uns auch duzen würden? Ich würde mich dann doch wohler fühlen.“

Die Angesprochene warf einen erneuten Blick zu ihrer Schwester, dann sah sie ihn an, unsicher.

„Ja … es ist … es ist unüblich …“

„Ich weiß. Aber erstens ist es mir egal, was üblich ist und zweitens ist doch niemand hier, der es bemängeln könnte.“

„Tiago und Jorge werden es nicht erfahren,“ munterte Catarina ihre Schwester auf.

„Wer sind Tiago und Jorge?“ fragte Filipe.

„Unsere Brüder.“

„Und warum dürfen die es nicht erfahren?“

„Die meisten der Arbeiter hier sind Contrados, unsere Eltern oder Großeltern sind von den weißen Herren hier gebracht worden um zu arbeiten. Wir als Nachkommen werden gar nicht gefragt, ob wir was anderes machen wollen, sondern wir sind eben auch Contrados. Unsere Leute mögen die Weißen nicht, sie heißen bei uns Colomba, das ist ein Schimpfwort. Unsere Leute sind nur zum Arbeiten hier, und das Geld, das mit dem Kakao verdient wird, geht zu den Weißen. Wenn sie dann noch mehr arbeiten müssen, wie das in der Ernte immer so ist, kommt Unzufriedenheit auf, an dem die Weißen die Schuld tragen. Dieses gemeinsame Schicksal ist nur zu ertragen, wenn man zusammen hält. Wenn man diesem Zusammenhang nicht folgt, zum Beispiel indem man sich mit den Weißen anfreundet, wird das als Anbiederung gesehen, als etwas Schlechtes.“

Sie machte eine Pause, Filipe setzte sich, er spürte, dass hier ein tieferes, ernstes Problem angesprochen worden war, womit er in dieser lockeren Atmosphäre nicht gerechnet hatte. Aber nun, wo es einmal auf dem Tisch war, wollte er auch Genaueres wissen.

„Erzähl weiter,“ forderte er Catarina auf.

Sie sah ihn direkt an; sie mochte Filipe und wollte nun auch, dass er mehr erfuhr über das ihrer Meinung nach nicht ganz spannungsfreie Verhältnis der Schwarzen und Weißen zueinander. Sie wusste ja auch, dass Filipe die von ihr angesprochene Distanz nicht verborgen geblieben war, und sie war der Meinung, dass er ein Recht darauf hatte, zu erfahren, was es damit auf sich hatte, auch wenn er es als Kritik empfinden würde.

„Die Weißen spielen sich als Herren auf, was sie ja auch sind. Die Contrados sind oft nicht viel besser dran als damals die Sklaven, sie sind abhängig. Das können wir mit unserm Stolz nur schwer vereinbaren. Und eine allzu große Nähe zu den Weißen wird vielleicht als .. als …“

„Als Verrat aufgefasst?“ ergänzte Fillipe.

„Ja, vielleicht.“

„Und eure Brüder würden es nicht gerne sehen, wenn ihr beide eine Nähe zu mir zeigen würdet, indem ihr mich duzt?“

„Ja, so ist es.“

„Dann darfst du ihm auch nicht von uns beiden erzählen?“

„Er weiß, dass du mit mir schläfst, und er glaubt, dass du auch mit Maria schläfst. Wie ich dir schon sagte, das tun alle Weißen mit ihren Hausmädchen. Dass du den halben Tag mit mir im Bett verbringst und uns Kaffee servierst, das dürfte er nicht erfahren.“

„Ich möchte euch nicht in Schwierigkeiten bringen, wir können ja auf jeden Fall nach außen die Form wahren.“

„Ja, das müssen wir wohl,“ lächelte sie.

„Wie ist es denn Patricia ergangen, als sie sich zu Lopez bekannt hatte?“

„Als ihre Familie das mitbekommen hatte, wurde sie sozusagen verstoßen. Bei Senhor Lopes war von da an ihr zuhause. Wenn der sie nicht mehr gewollt hätte, wäre sie allein gewesen. Sie hätte zwar zurück in die Häuser zu ihrer Familie gekonnt, dort hätte sie aber wohl einiges ausstehen müssen.

„Deswegen ist sie auch mit ihm ins Krankenhaus gegangen?“

„Wohl nicht nur deswegen. Ich glaube schon, dass die beiden sich mögen, immer noch. Aber wenn Senhor Lopes sterben sollte, bleibt sie allein zurück, Sie hat dann weder bei den Weißen noch bei ihrer Familie einen richtigen Platz.“

„Und euch ginge es genauso, wenn wir uns einmal nicht mehr verstehen sollten.“

„Oder wenn du die Insel wieder verlässt.“

Filipe schwieg. Er hatte eigentlich nicht vor, den Rest seines jungen Lebens hier auf Sao Tome zu verbringen. Die Problematik, die Catarina hier ansprach, war ihm bisher überhaupt nicht bewusst gewesen. Es ging dabei ja nicht nur um ihn, sondern, wenn die Liaison mit Catarina nicht nur ein amouröses Verhältnis sein sollte, auch um sie. Wem war damit geholfen, wenn er das Zusammenleben einigermaßen locker sah, diese Sichtweise aber nicht in die gesellschaftlichen Strukturen dieser Insel passten? Eigentlich nur ihm, solange er hier blieb.

„Wenn du sagst, alle Weißen schlafen mit ihren Hausmädchen: Wie fühlen sich die Frauen denn dabei? Kommen sie sich nicht vor wie eine – eine…“

„Wie eine, die sich verkauft? Nein, eher nicht. Der Sex macht uns Frauen ja auch Spaß, und wenn der Mann nicht zu egoistisch und rücksichtslos ist, dann geht das schon in Ordnung. Unsere Leute verfahren untereinander ja auch, wie soll ich sagen, unkompliziert, ihr Portugiesen würdet es vielleicht unmoralisch nennen. Aber normalerweise werden die Regeln eingehalten, Annäherungen, wie du sie uns beiden anbietest, kommen normalerweise nicht vor.“

„Die Schwarzen leben in der Welt der Schwarzen und die Weißen in der der Weißen,“ sinnierte Filipe.

„Ja. Da ist jeder zu hause, niemand verliert seinen Stolz, und das ist ganz wichtig für uns. Ich sagte ja schon, dass es für die Frauen aus den Häusern da unten ein Ziel ist, hier oben zu arbeiten, sie haben ja ein deutlich besseres Leben. Das könnte man auch ‚sich verkaufen‘ nennen, auch schon ohne den Sex. Aber würden die Männer sich dann nicht auch verkaufen, wenn sie für Geld die harte Arbeit für die Weißen machen? Wir empfinden das aber nicht so. Für ‚das Sich verkaufen‘ gibt es in unserer Sprache kein Wort. Wir Contrados empfinden uns tief im Herzen als freie Menschen, auch wenn es in Wirklichkeit nicht so aussieht, und wohl auch nicht so ist. Aber was wir tun, oder tun müssen, das bringt das Leben mit sich, und so ist es dann eben: Gut oder auch mal nicht so gut.“

„Dazu gehört eben auch,“ mischte Maria sich ein, „dass man ein Contrado bleibt. Es ist zwar ein portugiesisches Wort und hat mit unserer Sprache nichts zu tun. Aber im Laufe der Zeit ist es ein Wort geworden, das wir angenommen haben, das sind eben wir so wie ihr die Portugiesen seid. Das Zusammengehörigkeitsgefühl als Familie und als Menschengruppe ist die Sicherheit, die jeder braucht um leben zu können, ohne die es auch keine Freiheit gibt.“

Filipe war beeindruckt von den Gedanken dieser einfachen Frauen. Und er schämte sich umgehend, dass er sie in seinem Empfinden als einfache Frauen abklassifiziert hatte, die solche Gedanken nicht hätten.

„Und du hast Sorge, dass meine Annäherungen, wie du sie genannt hast, euch in Bezug auf diese Zusammengehörigkeit unsicher machen könnten?“ sprach er Catarina wieder an, nachdem er ihrer Schwester aufmerksam zugehört hatte.

Diese zögerte.

„Ich will ehrlich zu Euch – zu dir sein,“ antwortete Maria stattdessen, „Catarina hat mir erzählt, dass sie dich mag, und ich glaube, dass du sie auch magst. Ihr geht miteinander ins Bett, das bindet nicht wirklich. Die Vertrautheit, die durch dein Verhalten zwischen uns dreien entsteht, verbindet viel mehr. Wir sind so etwas hier nicht gewohnt, und daher freuen wir uns natürlich darüber und sind nur allzu leicht bereit, uns darauf einzulassen. Aber das bedeutet auch, dass wir aufpassen müssen, uns von unserer Welt nicht zu entfernen.“ Und nach kurzer Pause fuhr sie fort: „Hälst du es denn für möglich, dass wir stattdessen in deiner Welt ein zuhause finden?“

Filipe musste vor sich selbst zugeben, dass er sich da keineswegs sicher war. Das ganze Leben hier auf Sao Tome war ihm derartig neu und fremd, dass er sich in Bezug auf Zukunft über nichts wirklich im Klaren war.

„Das kann ich dir nicht sagen,“ sagte er ernst und ehrlich, „ich weiß es einfach nicht. Ich muss zugeben, dass ich mir über meine Zukunft bisher noch nie wirkliche Gedanken gemacht habe, erst recht nicht, seitdem ich hier bin.“

„Du bist ja auch noch nicht lange hier, und alles kann sich sehr schnell ändern,“ meinte sie dazu und lächelte ihn an, nicht abweisend, sondern lieb, aus dem Herzen.

„Ich möchte dir aber sagen,“ unterbrach Catarina die Stille, die entstanden war, „dass ich gerne mit dir schlafe und mich nicht fühle wie eine, die sich verkauft. Ich weiß nicht, ob es einmal ein Problem geben wird zwischen unserer Welt und dem Leben hier oben bei dir.“

„Nein,“ stimmte Maria ihr zu, „das weiß ich natürlich auch nicht. Ich glaube, das hängt auch hauptsächlich mit uns zusammen. Denn, ehrlich, ich finde es auch schön, wie du uns behandelst und ich möchte eigentlich nicht, dass du das änderst. Wir müssen sehen, wie wir, also Catarina und ich damit zurecht kommen.“

Still tranken sie den Kaffee aus, nur Filipe naschte von den Keksen. Dann fragte er: „Ich will mich nicht aufdrängen. Aber ich würde mich freuen, wenn ich eure Brüder kennenlernen dürfte.“

Die Schwestern sahen sich an, dann Filipe. Catarina begann zu lachen und nahm damit der Situation die plötzlich aufgekommene Spannung: „Ich werde sie fragen,“ grinste sie, und ihr Gesicht verriet nicht, ob sie dieses Unterfangen schon ad acta gelegt hatte oder doch eine Chance auf Verwirklichung sah.

 

 

Die Arbeiten an der Brücke gingen gut voran, nach zwei Wochen waren die Eisenträger, Mittelstücke, Schienen und Platten nach oben gebracht worden, fein säuberlich neben den Gleisen gestapelt wo sie auf die Erneuerung der Brücke lagerten. Anschließen mussten die Waggons und die Lokomotive geborgen werden. Die Wagen wurden auf Holzbohlen nach oben gezogen, das konnte der Kran problemlos leisten, sie waren sogar noch fahrtüchtig. Die Erntezüge brachten sie nach und nach in die Werkstatt, wo sie überarbeitet wurden um dann dem Fuhrpark wieder zur Verfügung gestellt zu werden. Schwieriger gestaltete sich die Bergung der Lok, sie war zu schwer. Alves und seine Leute sollten sie auseinandernehmen und in der Werkstatt wieder zusammensetzen; dafür war aber erst nach der Ernte Zeit, die sich ja allmählich dem Ende näherte.

Filipe bemühte sich, jeden Tag an der Baustelle zu sein, er befürchtete, dass es ohne seine Anwesenheit Verzögerungen geben könnte. Aber gleichzeitig wollte er die nächsten Schritte einleiten, er musste sich um das Betonbett kümmern, das den Bach unter der Brücke hindurch leiten sollte. Almeida empfahl ihm, die Firma Construcão São Tomé e Co in Sao Tome Stadt aufzusuchen, er würde veranlassen, dass ihm ein Auto mit Fahrer zur Verfügung gestellt wurde. Der Chauffeur, übrigens derselbe, der ihn bei seiner Ankunft hierher gebracht hatte, holte ihn vom Frühstück ab und brachte ihn runter in die Stadt.

Construcão São Tomé e Co gehörte wohl wirklich zu den größeren Firmen hier auf der Insel: Mehrere Schütten mit verschieden gekörntem Sand oder Kies, eine große Halle in der durch das offene Tor aufgestapelte Säcke zu sehen waren, Zement vermutlich, und überall Arbeiter, die nach Anweisungen eines schwarzen Riesen Lastwagen beluden, Schubkarren umherschoben oder verschiedene Mischungen in den per Hand betriebenen Mischmaschinen anfertigten. Alles erschien Filipe ausgesprochen unorganisiert, aber der Riese behielt offensichtlich den Überblick, so hoffte er wenigstens. Schließlich musste er sicher sein, dass für sein Projekt hier auch die richtige Mischung zusammengestellt wurde. Worüber er sich auch wunderte war die Tatsache, dass hier ein Schwarzer Schwarze befehligte. Irgendwie waren die untereinander auch nicht alle gleich; das war ihm ja schon auf der Roca aufgefallen: Die Reiter mit den Peitschen, der in der Kommunikation wesentlich unkomplizierte Guide, der sie anfangs zur Brücke gebracht hatte.

Aber darüber zu grübeln war jetzt nicht seine Aufgabe. Im vergleichsweise kleinen Büro empfing ihn Senhor Sousa. Nachdem Filipe ihm seine Wünsche vorgetragen hatte, starrte er ihn an als hätte er nichts verstanden. Dann fing er schallend an zu lachen.

„Was ist denn jetzt so komisch?“ fragte Filipe irritiert.

„Ich muss mir das ansehen,“ entgegnete Sousa. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr einen Bach in einer Weise zähmen könnt, dass selbst bei Sturzregen keine Schäden am Ufer entstehen. Habt Ihr hier schon mal einen Sturzregen erlebt? Das ist wie eine Sintflut! Man hat den Eindruck, dass der Herrgott die Insel fortschwemmen wollte!“

„Die ist zum Glück aus vulkanischem Gestein, da kann selbst der Herrgott nicht allzu viel ausrichten,“ entgegnete Filipe dezent genervt.

Der kleine Mann sah ihn skeptisch von der Seite an: „Wann wart Ihr zuletzt in der Kirche, Senhor Mandoza?“

„Ich bete jeden Tag und gehe immer in die Kirche, wenn ich eine sehe. Auf der Roca ist aber keine,“ log er jetzt doch langsam sauer, und er bezweifelte, dass Almeidas Tipp, diese Firma aufzusuchen, so der richtige war. „Aber wenn Ihr kein Vertrauen in Eure bautechnischen Fähigkeiten habt, kann ich mich auch woanders umsehen. Ich möchte nicht, dass das Betonbett nur mit Gottes Hilfe Bestand hat!“

„Nun beruhigt Euch“, lenkte Sousa ein, sah Filipe noch mal an und schüttelte den Kopf, „ich werde in dieser Woche hinfahren und mir das Ganze mal in aller Ruhe ansehen.“

„Gut. Aber nehmt es mit der Ruhe nicht allzu genau,“ konnte Filipe sich nicht verkneifen, drehte auf dem Absatz um und ging hinaus. Der schwarze Riese kommandierte immer noch mit Worten und Gesten seine Leute, rannte hier hin und dort hin, und als er Filipe festen Schrittes von Hof gehen sah, rief er ihm nach: „Senhor?“

Filipe blieb stehen, breit grinste ihn der Riese an und kam auf ihn zu.

„Netter Kerl, der Suosa, nicht wahr?“

„Ist mir egal ob der nett ist. Er soll seine Arbeit vernünftig machen!“

„Um was dreht es sich denn?“

Filipe schaute ihn skeptisch an, sollte er einem Angestellten erneut erklären worum es ging? Wenn der Chef es schon nicht verstand, warum dieser Mann, der doch nur ausführendes Organ der Firma war. Aber warum nicht. Also trug er sein Anliegen noch einmal vor.

„Ich komme mit,“ erklärte sein Gegenüber nun bestimmt. Und auf Filipes fragenden Blick: „Es scheint sich um etwas Schwierigeres zu handeln. Bei schwierigen Vorhaben bin ich besser dabei, dann klappt das auch.“

„Aber Senhor Suosa ist doch hier der Chef, oder?“

Der Riese lachte und zeigte seine weißen Zähne, in kreolischer Sprache brüllte er ein paar Sätze zur Halle rüber, dann lachte er Filipe wieder an: „Wenn der hier das Sagen hätte wären wir längst pleite! Euren Bach werden wir schon zähmen.“

Die beiden sahen sich an, verstehender Blick unter Männern und ein Händedruck, mit dem der Riese seinem Chef wahrscheinlich die Finger gebrochen hätte. Zufrieden ließ Filipe sich zurück fahren.

Schon am übernächsten Tag kamen die beiden in einem Lastwagen die Rampe heraufgefahren, der Riese am Steuer. Er sprang aus dem Führerhaus, Suosa kletterte eher, nachdem sie vor Filipes Haus angehalten hatten. Kurze Begrüßung, und wie der Teufel das will, kam Ribeira aus seinem Haus, zufällig? Er und Suosa kannten sich offenbar, umgehend wurde das Thema Kosten angesprochen. Filipe verdrehte die Augen: „Die reden über Geld und wir haben noch nicht mal einen Plan!“ schimpfte er.

„Dann sollten wir einen machen,“ forderte der Riese ihn auf, der sich mit Rui vorstellte, „möglichst sofort!“ setzte er mit einer Kopfbewegung zu seinem Chef und Ribeira hinzu, die diskutierend in dessen Haustür verschwanden.

„Könnt Ihr reiten, Rui?“

Er sah ihn an als ob er ihn beleidigt hätte, Filipe lachte, rief nach Carlos, er solle sofort zwei Pferde bringen.

„Ihr dürft ihm das nicht krumm nehmen,“ verteidigte Rui seinen Chef während die beiden über die Bahnschienen zur Baustelle ritten, „er ist hier auf der Insel versauert.“

„Wie, versauert?“

„Er wollte gar nicht hierher. Er ist auch weder Geschäftsmann noch versteht er was vom Bauen. Alles was er weiß, habe ich ihm schonend beigebracht.“

„Und warum betreibt er die Firma dann?“ Ruis offene Art gefiel ihm und es keimte der Gedanke, dass der kein Contrado sein konnte.

„Muss er,“ antwortete der.

„Wie, muss er?“

„Der ist irgendwas geistliches, Pfaffe oder Mönch oder sowas. Während des Krieges hat er sich wohl auf die falsche Seite geschlagen, mit Worten versteht sich, in Portugal oder in Spanien, weiß keiner so genau. Deswegen wurde er hierher verbannt, die Schergen beobachten ihn Tag und Nacht. Seine Stellung bei Construcão São Tomé e Co hat er nur zur Tarnung angenommen. Oder annehmen müssen. Das Praktische des Betriebs liegt in meiner Hand, Suosa macht nur die Finanzen.“

„Na, dann wird er sich mit Ribeira ja gut verstehen.“

„Hoffentlich. Soweit ich weiß ist der genau so ein Geizhals wie Suosa.“

Während des weiteren Ritts erklärte Filipe in aller Ausführlichkeit seinen Plan. An der Baustelle waren die Arbeiter damit beschäftigt, die Bohlen neu zu verlegen, auf denen die zerlegte Lok hochgezogen werden sollten. Rui sprang vom Pferd, machte sich von hier oben ein Bild und kletterte dann mit einem Vorschlaghammer in das Bachbett um den Boden zu prüfen. Er schlug gegen diesen Felsen oder jenen, hackte auf dem Boden herum, und nachdem er sich alles genau angesehen hatte, kam er wieder rauf.

„Wir werden zuerst weiter oben einen Trichter bauen, in dem wir das Wasser auffangen um den Bach in ein Rohr zu zwängen, das wir auf Stelzen durch das Bachbett führen. Dann können wir im Trockenen arbeiten, das lose Geröll muss weg, das heißt, wir können es auch in die Betonsohle einarbeiten, ist vielleicht einfacher. Mit tief ins Gestein gebohrten Ankern fixieren wir das Betonbett damit es nicht verrutscht; ich stimme Eurem Vorschlag zu, wird schon funktionieren.“

Er holte Papier und Stift aus der Umhängetasche und machte sich Notizen, mit den Augen vermaß er Breite und Länge des Geländes, als er fertig war holte er Pfeife und Tabak aus seiner Weste und rauchte um dabei noch einmal alles zu überdenken.

Schreiben und Rechnen kann der auch, bemerkte Filipe anerkennend.

Auf dem Rückweg besprachen sie den Zeitplan, und als sie unten das Krankenhaus erreichten, waren sie sich einig.

Vor der kleinen Kirche neben dem Hospital stand Suosa und sah zum kleinen Türmchen hinauf. Als er die Reiter gewahr wurde, kam er auf sie zu, streng blinzelte er Filipe an:

„Ja, ja, auf der Roca gibt es keine Kirche! Der Herr wird Euch strafen, Ihr Lügenbold!“

Filipe musste lachen, er wollte grade etwas antworten, da wurde Suosas Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt; hastig wandte er sich ab und stieg die Stufen zum Eingang des Krankenhauses empor. Filipe drehte sich um, auch Rui sah ihm nach. Im Eingangstor des Hauses stand Silva in seinem weißen Kittel; auch die beiden schienen sich zu kennen, heftig gestikulierend begannen sie einen Disput. Sousa wollte offensichtlich hinein, aber der Doc verwehrte ihm den Weg.

„Liegt da irgendwelche Verwandtschaft von Eurem Chef?“ fragte Filipe an Rui gerichtet; der zuckte die Schultern. „Aber der ist doch nicht zum ersten mal hier oben,“ konstatierte Filipe, „hat er nie was erzählt über diese Roca?“

„Mir zumindest nicht. Aber vielleicht kennen die sich auch von anderswoher.“

„Hm!“

Filipe ließ seinen Blick über das Portal wandern, die vielen Fenster, noch nie hatte er dort hinter den Scheiben jemanden gesehen. Und die lange Gebäudeflucht parallel zur angrenzenden Plantage, er hatte sich schon immer gefragt, wieviele Zimmer dieses Hospital wohl haben mochte. Und wozu! Man konnte immer nur vereinzelte Menschen auf dem Platz davor sehen, nur selten hatte er beobachtet, dass ein Kranker eingeliefert wurde. Vielleicht war es ja auch gleichzeitig Altenheim; Lopes lebte mit seiner Patricia ja auch hier. Und warum waren dann vor den Fenstern der unteren Etage überall Gitter? Damit niemand einbrach um Medikamente und Drogen zu stehlen, klar.

Von unten waren Befehle und der Gleichschritt von Soldaten zu hören. De Costas Leute spielten wieder Krieg! Auf dem Steindamm bezogen sie Stellung, Kommandos schallten herauf.

Filipe sah zu den Soldaten runter, dann wieder rauf zum Krankenhaus mit den vielen Zimmern, die seiner Meinung nach nicht alle mit Kranken belegt sein konnten; er wusste nicht warum, aber für einen kurzen Moment beschlich ihn ein ungutes Gefühl: Suosa war hierher verbannt worden; Filipe hatte gar nicht gewusst, dass die Insel als Verbannungsort benutzt wurde. Suosa kannte Silva, wollte ins Haus. Kannte er einen der Patienten? Warum durfte er nicht rein? Ansteckende Krankheiten? Tuberkulose? Er dachte an Ruis Worte: ‚die Schergen bewachen ihn Tag und Nacht‘. Welche Schergen? Das Militär? Ihm war ja immer noch nicht klar, was die hier wirklich trieben …

„Er geht zum Auto,“ unterbrach Rui seine Gedanken; Souso stapfte offensichtlich wütend die Promenade vom Krankenhaus zum Damm hinunter, die beiden folgten ihm zu Pferde.

Filipe grüßte de Costa mit einem lauten „Hallo“ und freundlichem Winken; dieser würdigte ihn keines Blickes.

 

Als das Wochenende nahte wusste Filipe, was er getan hatte: Jeden Morgen früh raus, den ganzen Tag packte er auf der Baustelle kräftig mit an, und erst mit der Dunkelheit kam er zur Ruhe. Catarinas fürsorgliche Zuneigung ließ ihm aber alles vollkommen problemlos erscheinen. Und auch Maria tat ihr Bestes; das ernste Gespräch vor einer Woche hatte der Sympathie offensichtlich auch bei ihr keinen Abbruch getan.

Samstag am Abend saßen sie zusammen am Tisch, inzwischen aßen sie oft zusammen und Filipe genoss die fröhliche Unbekümmertheit, die die Frauen ausstrahlten; so war es viel besser als zwar bedient zu werden, aber immer allein essen zu müssen. Und morgen, am Sonntag, würde er mit Catarina wieder bis mittags im Bett bleiben.

Nachdem die beiden abgeräumt hatten, dabei ließen sie sich nicht von ihm helfen, er würde doch sowieso nur alles durcheinander bringen, setzten sie sich wieder zu ihm an den Tisch. Filipe sah sie erwartungsvoll an, offensichtlich gab es etwas zu bereden; es konnte nichts ernsthaftes sein, die beiden grinsten übers ganze Gesicht.

„Filipe,“ begann Catarina, „am letzte Wochenende hat Maria die Arbeit hier gemacht, während wir uns im Bett vergnügt haben.“

Sollte es doch was Ernstes werden?

„Maria muss aber auch mal frei haben …“

„Nein, das muss ich nicht, ich würde euch auch wieder das Frühstück ans Bett bringen,“ warf diese ein, „aber Catarina will das ja nicht.“

„Du willst nicht im Bett frühstücken?“

„Ich frühstücke gern mit dir im Bett, aber es geht nicht, dass meine Schwester uns immer bedient.“

„Das bedeutet?“

„Wir tauschen.“

„Dann musst du ja früh aus dem Bett, und ich bin dann ganz allein da,“ schmollte Filipe spaßhaft.

„Nein, nein, du bist nicht allein. Wir tauschen mit allem.“

„Wie…?“ Ihm dämmerte, wo das hinführen sollte.

„Maria ist genauso schön wie ich.“

„Ja, das ist sie,“ und er lache sie an.

„Und sie ist auch genauso lieb zu dir.“

Filipe wusste nicht, was er sagen sollte! Die beiden wollten tatsächlich auch in erotischen Angelegenheiten tauschen.

„Was sagst du dazu?“ drängte Catarina, als er mit großen Augen von einer zur anderen sah.

Maria hatte das Kinn in ihre Hände gestützt, sah ihn lächelnd an, ein Hauch von Frivolität in den Augen.

„Aber … aber …“

„Wir haben das schon alles besprochen.“

„Macht dir das denn nichts aus?“ Was anderes fiel ihm nicht ein.

„Wieso soll mir das was ausmachen?“

„Naja, ich mein …“

Sie lachte herzhaft: „Maria weiß doch sowieso alles.“

„Wie alles?“

„Na, alles, was wir miteinander tun.“

„Ihr sprecht darüber?“ Sie hatte es ihm ja schon erzählt, trotzdem musste er noch mal nachfragen.

„In allen Einzelheiten,“ warf Maria ein. „Es ist so schön, über die Liebe zu sprechen. Und ich weiß, dass du ein schöner Mann bist,“ setzte sie kichernd hinzu, „habe ich ja schon gesehen.“

Erwartungsvoll sahen ihn die beiden an, sie amüsierten sich in liebevoller Weise über sein sprachloses Gesicht.

Dann stand Maria auf: „Komm. Ich weiß ja, wie meine Schwester dich verführt hat. Nun will ich dir zeigen, wie ich es mache.“ Sie nahm ihn an die Hand und zog ihn sanft aber bestimmt zur Treppe. Hilflos schaute er zu Catarina, die lachte ihm aufmunternd zu, und als sie die Stufen emporstiegen, hörte er sie unten in hellen Tönen singen.

Oben im Bett schmolz sein Widerstand schnell dahin und er ergab sich die zarten Händen dieser schönen Frau.

Am nächsten Morgen serviere Catarina tatsächlich das Frühstück, für Filipe und Maria. Filipe versuchte sie zu überreden, sich zu ihnen zu legen, aber das lehnte sie ab; heute sei es ihre Aufgabe, sie beide zu verwöhnen. Und die blieben bis zum Mittag im Bett wie er es mit Catarina ja auch gewohnt war.

Den Nachmittag verbrachten sie im Garten. Auch hier betrachtete es Catarina als ihre Aufgabe, für Getränke, Obst du Café zu sorgen, ja, diesmal gab es wieder den leckeren Café, und als der Nachmittag schon fortgeschritten war, genehmigten sie sich auch mal ein Schnäpschen. Die Schwestern verhielten sich dabei ganz ungezwungen, wie es Menschen untereinander tun, die sich mögen. Filipe war sich nicht sicher, ob man sie nicht von den Nachbarhäusern hören oder sehen konnte; es war ihm auch egal, er hatte ja sowieso kein Problem mit dem lockeren Umgang.

„Übrigens,“ begann Catarina als sie eine neue Schale mit Obst brachte, „ich habe Tiago und Jorge gefragt ob sie dich auch kennenlernen wollten.“

„Und? Was haben sie gesagt?“

„Sie sind misstrauisch geworden. Sie wissen nicht, warum du sie sehen willst und denken, dass da ein Trick oder sowas hinter stehen könnte.“ Sie setzte sich wieder an den Tisch und naschte zuerst vom frischen Obst.

„Eine Anbiederung?“

„Ja, das vielleicht.“

„Aber sie sind nicht misstrauisch euch gegenüber geworden, dass ihr eine zu große Nähe zu mir habt?“

„Weiß ich nicht. Ich glaube nicht.“ Und dann kicherte sie: „ Sie wissen ja, dass die Hausmädchen eine gewisse Nähe zu ihren Herren haben.“

Filipe schmunzelte, dann meinte er: „Aber es ist wichtig für eure Brüder, dass eine Distanz gewahrt bleibt, nicht wahr?“

„Ja. Ich glaube, dass sich das auch nicht ändern wird. Es gibt eben Contrados und Weiße, irgendwie ein unten und oben. Wir Schwarze fühlen uns besser dabei, wenn wir in unserem Unten bleiben.“

„Manche sagen,“ mischte Maria sich ein, „wir müssten dafür kämpfen, auch nach oben zu kommen. Ich glaube aber, dass das nicht so einfach geht. Was macht ihr Weißen denn dann, wenn wir Schwarzen oben sein wollen?“

„Ich denke,“ sinnierte Filipe, „dass wir Weißen dann wohl hier verschwinden müssten. Es wäre ja wie ein Aufstand, eine Revolution.“

„Was ist denn eine Revolution?“

„Sowas hat es in anderen Ländern auch schon gegeben, in Russland zum Beispiel. Das entsteht immer dann, wenn der große Teil der Bevölkerung mit den Herrschern unzufrieden ist, weil sie sich schlecht behandelt fühlt oder hungern muss. Bei den Auseinandersetzungen gibt es immer viele Tote, und ob hinterher alles besser ist wage ich auch zu bezweifeln.“

„Ich glaube aber nicht, dass hier die Schwarzen eine Revolution machen wollen. Hungern tut hier doch keiner, es wächst doch genug überall.“

„Aber Tiago schimpft oft darüber, dass die Arbeit immer mehr würde,“ meinte Catarina, „und er findet es ungerecht, er sagt, man müsse was dagegen unternehmen.“

„Ja, das tut er. Aber das tut er doch eigentlich immer. Außerdem hat er keine Idee, was er dagegen unternehmen könnte.“

„In der Ernte ist natürlich immer mehr Arbeit, da werden alle gebraucht,“ meine Filipe, „aber das wird doch auch wieder weniger.“

„Zwischen den Ernten muss alles repariert werden, die Wege, die Häuser, Maschinen, eben alles. Das ist auch harte Arbeit.“

„Ich muss zugeben, dass ich hier auch einiges nicht in Ordnung finde. Der Maschinenpark ist völlig veraltet, allein die Tatsache, dass hier holzbeheizte Dampfzüge eine so wichtige Rolle spielen, hätte ich nicht für möglich gehalten. In Europa gibt es kaum noch so alte Lokomotiven wie hier, und Dampfloks werden überhaupt nicht mehr gebaut.“

„Womit fahren die Züge denn dann?“

„Mit Öl oder Strom. Strom wäre hier auf der Insel das Beste.“

Die Schwestern schwiegen, davon verstanden sie nichts.

„Die meisten Maschinen, die Trocknung, alles könnte man mit Strom betreiben,“ fuhr Filipe erklärend fort, „Strom ist viel leistungsfähiger und dadurch könnte die Arbeit der Männer deutlich einfacher werden.“

„Dann musst du deine Ideen mal umsetzen,“ grinste Maria, die ahnte, dass diese Ideen etwas komplexer waren als der Bau einer neuen Brücke.

„Gibt es in deinem Land auch Rocas?“ wollte Catarina dann wissen.

„Im Prinzip schon, nur nicht so unglaublich groß wie hier. Und sie heißen auch anders.“

„Was wird denn da gepflanzt, auch Kakao?“

„Nein, Kakao wächst bei uns nicht. Es ist ganz verschieden: Korn, Sonnenblumen, Oliven und ganz viel Wein. Ich bin auch auf einem Weingut groß geworden, das heiß bei uns Adega.“

„Gehört dir die Adega?“

„Meiner Familie, ja. Meine Schwestern bewirtschaften sie.“

„Dann haben deine Schwestern bestimmt auch viele schwarze Arbeiter?“ warf Maria ein.

„Auch schwarze. Aber auch viele weiße.“

„Hast du noch mehr Schwestern und Brüder?“ wollte Catarina wissen.

Filipe schwieg einen Moment. Dann sagte er traurig: „Zwei Schwestern habe ich. Mein älterer Bruder ist im Bürgerkrieg gefallen.“

„Was heißt ‚im Bürgerkrieg gefallen‘ Ist er tot?“

„Ja. Bürgerkrieg ist ein Krieg zwischen den Menschen in einem Volk.“

„Warum gibt es denn Kriege in einem Volk?“

„Unser Land ist Portugal. Daneben liegt ein anderes Land, Spanien. Ein General des Militärs, Franco, wollte dort die Macht an sich reißen, man nennt sie Faschisten. Ist ihm auch gelungen, indem er mit seinen Soldaten einen Krieg gegen die bestehende Regierung geführt hat, die von den Republikanern gestellt wurde. Auch in Portugal gab es Unruhen und Streit zwischen den Menschen, die einen waren für die Republikaner und die anderen für die Faschisten. Meine Familie hat immer versucht, sich da raus zu halten, wir wollten nur Wein anbauen und verkaufen und Frieden haben. Aber dann forderte der spanische Bürgerkrieg auch in dieser Idylle nahe Evora seinen Tribut: Republikanische Schergen demonstrierten gegen die Unterstützung Francos durch das portugisiesche Remie unter Oliviers Salazar. Mein Vater ist bei einem Streit zwischen den Gruppen auf offener Strasse zwischen die Fronten geraten und dabei so schwer verletzt worden, dass er wenige Wochen später starb. Jetzt musste mein Bruder Paolo die Geschäfte der Adega führen, er war grade mal achtzehn Jahre alt. Mein Vater hatte ihn ohnehin als Nachfolger vorgesehen, ich sollte an der Universität in Lissabon Jura studieren. Aber der Schock über den Tod des Vaters saß tief, Paolo war kaum in der Lage, sich in notwendiger Weise auf die Geschäfte zu konzentrieren, seine Anweisungen wurden zunehmend autoritärer, ja, fast brutal; durch übertriebene Anforderungen an das Personal versuchte er seine Wut auf die republikanischen Sympatisanten in den Griff zu bekommen, denen er die Schuld am Tod des Vaters gab. Mit neunzehn schloss er sich den Faschisten in Spanien an, im März 1939 fiel er in einem der letzten Gefechte vor Madrid, der Hauptstadt Spaniens. Als Zweitgeborenem wäre es nun meine Aufgabe gewesen, die Geschäfte der Familie weiter zu führen, aber ich hatte in Lissabon mein Studium der Rechtswissenschaften begonnen. Ich litt so sehr unter Paolos und meines Vaters Tod, dass ich nicht nach Evora, meiner Heimatstadt, zurückkehren wollte. Auf dem Weingut hatte ich mich immer sehr wohl gefühlt, behütet aufgewachsen, alles war gut. Und nun hatte dort der Tod Einzug gehalten, ich konnte nicht zurück.“

Bedrückt saßen die drei beieinander, Filipe hatte zum ersten mal über sein Schicksal gesprochen, und die Schwestern hatten die politischen Zusammenhänge zwar nicht ganz verstanden, sein Leid konnten sie aber gut nachempfinden.

„Du hast deine Mutter und deine Schwestern nie wieder gesehen?“ fragte Catarina schließlich, „wie furchtbar.“

„In einem langen Brief habe ich der Mutter und meinen beiden jüngeren Schwestern mitgeteilt, dass ich nicht nach Evora zurückkehren würde. Die folgenden Jahre waren schwer gewesen. Ich habe mein Studium abgebrochen um mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten, da ich jeden Kontakt zur Familie abgebrochen hatte. Ich habe später bei einem gütigen älteren Mann gewohnt, er betrieb eine kleine Maschinenfabrik, in der ich Arbeit gefunden hatte. Er riet mir, Ingenieurwissenschaften zu studieren, und er unterstützte mich auch dabei bis zum Examen. Aber in Europa tobte der große Krieg und die Geschäfte gingen schlecht, die Regierung wollte, dass er Waffen herstellen sollte, was er abgelehnt hat. Aus Gram wegen des wirtschhaftlichen Niedergangs ist er kurz nach Ende des Krieges gestorben. Ich habe mein Studium beendet und wollte nur noch weg. Ich wäre überall hin gegangen, aber diese Stelle hier bot sich als erste an, und da habe ich zugegriffen.“

Wieder schwiegen die drei, und Maria dachte, sie sollte diese Geschichte ihrem Bruder erzählen, damit er erkennen könnte, dass es den Weißen auch nicht immer gut geht. „Glaubst du, dass es hier auch einen Krieg geben könnte?“ fragte sie nach einer Weile.

„Ich hoffe nicht. Krieg ist immer ganz furchtbar, er bringt nur Leid und Tod. Wir sind eine kleine Insel, und ich hoffe, dass wir alle uns hier auch friedlich verständigen können.“ In Gedanken schweifte er ab, dachte an de Costa und seine Mannen und an das viele Militär, das er hier gesehen hatte. Es keimte in ihm der Verdacht, dass die nicht umsonst hier waren; gab es versteckte Unzufriedenheit in der schwarzen Bevölkerung, so wie Maria es in Bezug auf ihren Bruder angedeutet hatte. Befürchtete die Regierung in Lissabon einen Aufstand? Oder sollten die nur hier sein um Präsenz zu zeigen um so jede Rebellion im Keim zu ersticken?

Die beiden Frauen nahmen seine Hand um ihn zu trösten und auf andere Gedanken zu bringen.

 

Es war schon zu einer Gewohnheit geworden: Nachdem Filipe sein Gartenmobiliar zum Teil nach vorne vor das Haus hatte stellen lassen, genossen auch die anderen dieses unausgesprochene Angebot, sich nieder zu lassen und ein Glas Wein oder Bier zu trinken.

So auch an diesem Abend. Catarina hielt wieder die Distanz zu Filipe, die ihr als Hausmädchen geboten schien, und die ihr nach außen zu zeigen so wichtig war. Ribeira kam nimmer zuerst, als wenn er hinter seiner Tür gewartet hätte, dass Filipe nun endlich den Wein auftischen möge. Auch Oliveira schien es sich zur liebgewonnenen Angewohnheit zu machen, vorbei zu schauen. Filipe fühlte sich an Lissabon erinnert, in der Gasse, in der er Quartier bezogen hatte, gab es ein Straßencafe, in dem sich die Anwohner regelmäßig trafen, er empfand es als eine Art der mediterranen Gemütlichkeit, obgleich Portugal ja gar nicht am Mittelmeer lag. Es wurde über dieses und jedes gesprochen, Tagesereignisse kommentiert und Pläne geschmiedet, die dann doch alle im Sande verliefen. Filipe nutzte die Gelegenheit eine Frage anzusprechen, die ihm schon seit Tagen unter den Nägeln brannte:

„Meine Herren, was ist eigentlich genau ein Contrado? Die Mädchen haben mir zwar schon erzählt, dass es die Arbeiter sind, deren Vorfahren hierher gebracht wurden. Aber ich habe den Eindruck, dass es irgendwie verschiedene Arbeiter gibt.“

„Die Contrados sind die Sklaven hier,“ antwortete Ribeira wie aus der Pistole geschossen.

„Die Sklaven? Hier gibt es doch gar keine Sklaven!“

„Er meint die schwarzen Arbeiter. Contrados sind die Schwarzen hier,“ versuchte Oliveira die diskriminierende Beschreibung abzumildern.

„Na ja, dann eben die Schwarzen, die Hottentotten, ist doch egal, Hauptsache, sie arbeiten!“

„Ribeira,“ ermahnte der Pater nun, „bringt unseren jungen Freund hier nicht in Verwirrung: Das sind keine Hottentotten. Die haben in Zentralafrika gelebt – oder, mit Gottes Gnade, leben sie ja vielleicht auch noch. Die Eroberer unsere hochherrschaftlichen Majestäten jedenfalls hatten wenig Kontakt mit denen. Die Neger hier stammen hauptsächlich von den Capverden oder Angola.“

„Aha,“ bemerkte Filipe brav, „sind es nur die hier oder auf anderen Rocas arbeitenden oder beschreibt der Begriff alle Schwarzen?“

Inzwischen war Alves eingetroffen, die Ausführungen von Oliveira hatte er noch mitbekommen: „Die kommen doch nicht aus Angola! Also, meine stammen aus Mosambique, das haben die mir …“

„Ihr seid da nicht richtig informiert,“ wehrte sich der Angesprochene, die Mehrzahl der Neger hier stammt aus Angola oder den Capverden! Als die Sklaverei abgeschafft wurde, weil sie nicht den Segen des Herrn trug, konnten die sogar auf die Capverden zurückkehren, wenn sie wollten. Wollten sie aber nicht. Und soweit ich weiß, gibt es da in deren Sprache ein Wort, das so ähnlich gesprochen wird wie Contrado. Deswegen heißen die so!“

„Das glaube ich nicht! Dann müssten meine ja Mosamiccos heißen, oder so ähnlich!“

„Den Glauben lasst mal meine Sorge sein, Alves, und Eure Mosambiccos gibt es natürlich nicht!“

In zwischen hatte sich Almeida zu der Runde gesellt; er verfolgte den Disput mit zunehmendem Amüsement, woraus Filipe schloss, das die beiden so klug diskutierten wie die Blinden über die Farbe.

„Habt Ihr Euch denn nicht über diese Insel informiert, bevor Ihr hierher gekommen seid?“ wandte sich der Pater nun an Filipe.

„Nein, nicht so richtig. Wisst Ihr, Pater, ich bin ziemlich Hals über Kopf los.“

„Ja, ja, die Jugend,“ lachte dieser, „immer auf Abenteuer aus! Ich kann mich noch gut an meine Jugend erinnern, alles wollte ich haben, die Weite des Universums sollte mir zur Verfügung stehen.“ Und er wandte den Blick gen Himmel und breitete die Arme aus.

„Nur dumm, dass Ihr damals im Kloster festsaßest, Pater,“ warf Alves trocken ein, schallendes Gelächter.

„Lacht nicht! Ich habe dort den Weg zum Herrn gefunden!“

„Und ich hab‘ in der Zeit den Weg zu den Frauen gefunden,“ geierte Alves und ließ seine Zähne blitzen.

„Ich weiß, dass Ihr ein Sünder seid, Alves, „Ihr könntet ruhig mal zur Beichte kommen. – Euch habe ich auch noch nicht in der Kirche gesehen, Mandoza!“

„Das werde ich bei nächster Gelegenheit nachholen, bestimmt, Pater.“

„Ich habe verlauten hören, dass Ihr den Sonntagmorgen immer im Bett verbringt. Ich glaube nicht, dass Ihr dort unseren Herrn um Gnade bittet.“

„Ach, erzählt mal,“ war Alves höchst interessiert, „was habt Ihr denn sonst noch so vernommen? Was treibt unser junger Freund den so im Bett am Sonntagmorgen?“

Alle sahen Filipe an. Der grinste: „Der Kavalier genießt und schweigt, meine Herren!“

Zustimmendes und verstehendes Gelächter.

Almeida öffnete sein drittes Bier und legte seine staubigen Stiefel auf den Tisch; Oliveira rückte mit empörtem Blick ein wenig zur Seite. Catarina brachte grade eine neue Flasche Wein, öffnete sie und schenkte nach. In dem Moment kam Alfonso aus der Dunkelheit:

„Ach, Catarina, bring mir doch einen ordentlichen Brandy …“

„Habt Ihr was zu feiern?“ fragte Alves interessiert.

„Ja! Ich glaube, meine Zucht ist ein grandioser Erfolg!“

Alle sahen ihn gespannt an.

„Ich habe die Bohnen meiner neuen Kreuzung getestet. Ich denke, die sind an Aroma nicht zu überbieten! Wir müssen sie morgen mal fermentieren und trocknen. Das wird ein Renner!“

„Eure Bohnen, soso.“ Besonderes Interesse schienen die anderen nicht an seinem Erfolg zu haben.

„Eure Bohnen können nur ein Erfolg werden, wenn die Bäume auch ordentlich tragen,“ bemerkte Almeida. „Unser Kakao hat einen guten Ruf, die Produktionsmenge darf auf keinen Fall reduziert werden.“

„Nun nehmt ihm doch nicht seine Freude,“ versuchte der Pater Almeida zu bremsen.

„Nein, nein,“ antwortete Alfonso, „beste Qualität, bestes Aroma und große Ausbeute! Das ist meine Devise!“

„Das wird uns aber nur etwas bringen, wenn wir das Transportwesen und die technischen Anlagen modernisieren,“ nutze Filipe den Moment, um sein Lieblingsthema anzusprechen.

„Ja, ja, Mandoza, Ihr werdet Eure Brücke schon kriegen,“ wiegelte Ribeira ab, was Filipe mit Genugtuung zur Kenntnis nahm: Die Finanzierung der Brücke schien gesichert.

„Was wollt Ihr denn sonst noch modernisieren?“ fragte der Buchhalter dann kritisch.

Catarina brachte den Brandy, nicht nur Alfonso schenkte sich ein, die anderen nahmen auch ein Gläschen, wobei der Pater sich noch pro Forma ordentlich bitten ließ.

Und dann noch einen Brandy.

Nach dem dritten oder vierten hatte niemand mehr Lust Filipes Pläne zu hören und der Abend glitt hinüber in eine wohlige alkoholische Glückseligkeit.

 

Die Rodungen des Gestrüpps im unwegsamen Bett des Baches und andere Vorbereitungen zogen sich wochenlang hin. Auch die hinter der beschädigten Brücke liegende Bahnstrecke wurde inspiziert, kleinere Schäden, die in den letzten beiden Jahren entstanden waren, wurden repariert. Aber die hauptsächliche Arbeit bestand in der Beseitigung des Buschwerks, das sich im Laufe der Zeit die Schneise der Bahnlinie zurück erobert hatte. Rui und seine Leute hatten damit begonnen, ein Rohrsystem auf kurzen Stelzen aufzubauen, durch das in naher Zukunft das Wasser fließen sollte. Der Bau des Trichters zum Einlaufen des Wassers in das Rohr gestaltete sich schwierig, aber nach mehreren Wochen war es soweit: Das Bachbett war trocken, die Schale aus Beton konnte gegossen und im Vulkangestein verankert werden.

Filipe, Almeida und Rui standen an den Gleisen über der Baustelle, zufrieden betrachteten sie den frischen Beton, köpften eine Flasche Sekt und begossen den Erfolg. Mit dem Zug, der ihnen nun zwischen den Ernten dauerhaft zur Verfügung stand, fuhren sie zurück zur Roca; unterwegs begann es zu regnen, was sie aber in Anbetracht ihrer guten Laune nicht störte. Der Regen war warm, und das letzte Stück zum Haus gingen Filipe und Almeida zu Fuß, sie zogen ihre Hemden aus, sich von warmen Regen berieseln zu lassen, war ein Genuss.

Catarina teilte mit Filipe das Bett, als er von heftigem Donner geweckt wurde, gnadenlos prasselte der Regen gegen das Fenster des Schlafzimmers, grelle Blitze zuckten durch die Dunkelheit.

Der frische Beton!

Senkrecht saß Filipe im Bett, Catarina fasste ihn am Arm, er möge sich beruhigen. „Manche Dinge kann man sowieso nicht ändern,“ erklärte sie mit sanfter Stimme. Aber er wollte sich nicht beruhigen, hastig stieg er in Hose und Stiefel, Hemd an, und raus: Der heftige Wind blies ihm das Wasser platschend ins Gesicht, er musste zur Baustelle! Eine Lokomotive! Nein, ein Pferd!

Catarina war ihm gefolgt: „Bleib hier, Filipe,“ rief sie, nur mit einem übergeworfenem Nachthemd bekleidet, „du kannst da sowieso nichts richten!“

„Wo ist Carlos? Er soll mir ein Pferd bringen,“ rief er zurück, „Carlos!!“

Niemand antwortete, niemand war da, Catarina fasste ihn wieder am Arm, aber er ließ sich nicht ins Haus bringen. Gegenüber bei Almeida wurde Licht gemacht, kurze Zeit später stand er in der Tür

„Scheiße, der Beton,“ fluchte er, schon nach wenigen Sekunden nass bis auf die Haut. Dann sah er Filipe: „Das sieht nicht gut aus, Mandoza!“

„Wir müssen zur Baustelle! Carlos soll mir endlich ein Pferd bringen!“

„Und? Was wollt Ihr dann da? Die Hand vor den Sturzbach halten?“

„Dann geh ich eben zu Fuß, verdammt!“ Ohne ein weiteres Wort rannte er los, verschwand im dunklen Nass. Catarina sah bittend zu Almeida auf, nur das Weiße in ihren Augen war in der Finsternis zu sehen.

„Keine Sorge, Catarina, ich passe auf ihn auf,“ und hastig lief er zum Stall um zwei Pferde zu satteln. Die Tiere stiegen, scheuten vor dem Gewitter, nur mit Mühe gelang es Almeida aufzusitzen und das Pferd im Zaum zu halten, mit den Sporen zwang er ihm seinen Willen auf. Gefährlicher Galopp durch die Dunkelheit, das andere Pferd am Zügel hinterher, schlagender Schweif, die nasse Mähne klebte am Hals. Am Ende des Verschiebebahnhofs hinterm Krankenhaus hatte er Filipe eingeholt. Wortlos reichte er ihm die Zügel, der saß auf, weiter ging es über diesen unwegsamen Grund der Bahnschienen. Die Trasse schlängelte sich am Hang der Plantage entlang, zwischendurch erhellten die Blitze den Urwald, dann wieder vollkommene Dunkelheit. Rauschen vom herabstürzenden Wasser überall, auch dort, wo normalerweise gar kein Bach war, Schlamm bedeckte die Gleise immer wieder. Und dann war Schluss: Ein Erdrutsch versperrte den Weg, erst im letzten Moment hatten sie das Hindernis erkannt. Große Mengen an Geröll und Schlamm, bedeckt mit kleineren entwurzelten Bäumen, immer mehr türmte sich auf, Wasser überall, die Pferde drohten mit den Beinen einzusinken.

Almeida hatte gewusst, dass der Ritt so enden würde, er erlebte das jetzt nicht zum ersten mal. Aber er wusste auch, dass Filipe das Dilemma mit eigenen Augen sehen musste, sonst hätte er keine Ruhe gegeben.

„Wir müssen umkehren,“ brüllte er zu ihm hinüber. Aber Filipe machte Anstalten abzusitzen.

„Lasst das nach, verdammt! Ihr werdet einsinken. Und denkt an die Schlangen da drin, ein Biss der Schwarzen Cobra bringt Euch um!“

Filipe zögerte.

„Und was wollt Ihr denn an der Brücke ausrichten? Ihr seht doch, wie das hier aussieht!“

Kurzerhand griff Almeida die Zügel seines Pferdes und wendete es, die Tiere hatten mit dem klebrigen Untergrund zu kämpfen, bewegten sich unkoordiniert, und so blieb Filipe nichts anderes übrig, als sich wieder im Sattel zu sichern. Wütend sah er Almeida an, aber der ritt schon vorneweg; sie mussten zusehen, dass ihnen nicht der Rückweg abgeschnitten wurde.

Wieder zurück auf der Roca klopfte Almeida Filipe auf die Schulter, völlig durchnässt nahm er ihn mit zu sich ins Haus und holte den Brandy.

„Macht Euch nichts draus,“ versuchte er ihn zu beruhigen, „das Wetter könnt Ihr nicht bezwingen, damit müssen wir alle hier leben. Morgen wird die Sonne scheinen, das ist hier in den Tropen so. Und dann werden wir uns die Schäden ansehen. Die Hindernisse werden wir schnell beseitigt haben, vielleicht muss an einigen Stellen das Fundament der Trasse ausgebessert werden, kein Problem, das kommt immer wieder mal vor.“

„Und was ist mit dem Betonbett?“

„Das werden wir sehen. Vorher sollten wir nicht spekulieren.“ Aber er glaubte auch nicht, dass der frisch gegossene Beton das Unwetter überlebt haben könnte. Sie schütteten noch einen Brandy runter, dann verabschiedeten sie sich.

Catarina hatte ein heißes Bad angerichtet, mit ihren zarten Händen versuchte sie ihn abzulenken, und als sie zu ihm in die Wanne stieg, gab es anderes, das seine Aufmerksamkeit verlangte.

 

Bei strahlendem Sonnenschein fuhren Filipe, Almeida, Alves und eine Gruppe von Arbeitern mit dem Zug voller Geräte zum Aufräumen in die Plantagen. Überall musste der Schlamm, Geröll und querliegende Bäume beseitigt werden, ansonsten hatte zumindest diese Trasse keinen Schaden genommen. An der Baustelle dagegen sah es verheerend aus! Die Rohre, die Rui mit seinen Leuten zur Umleitung des Baches gebaut hatte, waren vollkommen zerstört, die Bruchstücke lagen nun dort unten, wo vorher der Zug gelegen hatte. Das Betonbett war an vielen Stellen unterspült und gebrochen: Sie konnten von vorne beginnen!

Während die anderen mit dem Bauzug die übrigen Strecken kontrollierten und wieder befahrbar machten, fuhr Filipe mit einem kleinen Laster, ein anderes Auto stand grade nicht zur Verfügung, runter nach Sao Tome, wo er die Betonfirma Construcão São Tomé e Co aufsuchte. Die Fahrt dauerte deutlich länger als normalerweise; auch an der Straße waren Schäden entstanden, die er umständlich umfahren musste.

„Ihr wolltet den Herrgott herausfordern!“ begrüßte ihn der Alte, und Filipe hatte ihn am liebsten ungespitzt mit dem Kopf in den Boden gerammt. In der Halle hörte er Rui herumkommandieren; als er eintrat, grinste ihn dieser breit an: „Na, alles noch mal von vorne?“

„Wie lange werdet Ihr brauchen?“

„Vier Wochen, denke ich. Genauso lange wie beim ersten Versuch.“

„Geht das nicht schneller? In zwei Monaten beginnt die nächste Ernte, bis dahin muss die Brücke fertig sein!“

Der Hüne atmete tief durch: „Ist die Strecke denn schon wieder befahrbar?“

„Bis morgen haben wir alles vorbereitet.“

„Könnt Ihr denn noch ein paar Leute entbehren? Dann geht es vielleicht schneller.“

„Wieviele wollt Ihr haben?“

„So zwanzig oder dreißig. Ist ja viel zu schleppen.“

„Ich erwarte Euch gleich morgen früh!“

Rui wollte noch was sagen, aber Filipe war schon aus der Halle gestampft, bedachte Sousas, der eigentlich immer nur irgendwo nichts tuend rumsaß, mit bösen Blicken, und als dieser triumphieren zurück schaute, hätte er ihn am liebsten noch mal in den Boden gerammt!

 

Am nächsten Morgen lümmelten sich dreißig Arbeiter auf dem Steindamm, währen Filipe nervös hin und her lief, die Lokomotive des Zuges, der sie und die Rohre von Rui zur Baustelle bringen sollte, dampfte leise vor sich hin, nichts passierte.

Wann kommt der den endlich mit dem Rohren!

Gegen Mittag hörten sie den schwer beladenen Lastwagen die Rampe herauf schnaufen, das Baumaterial wurde umgeladen, Filipe fasste genauso an wie die Schwarzen, ihm ging das alles zu langsam. Mit einer Seelenruhe entluden sie Rohr für Rohr vom Laster, immer vier Mann pro Stück. Und dann genauso langsam auf die Waggons; hätte er doch nur den Kran geordert! Dass Filipe mit anfasste, löste wenig Begeisterung aus. Er war zu hastig für die Vorstellung der anderen Arbeiter, hatte nicht deren Rhythmus. Einer stolperte, als Filipe zu sehr drängte, und konnte das Rohr nicht halten; es zerschellte auf dem Boden.

„Mensch! Verdammt! Pass doch auf!“

Aus ihren dunklen Gesichtern sahen sie ihn an, kein Lächeln, kein entschuldigendes Axelzucken, nur das Weiße blitzte in ihren Augen.

Rui hatte auch aufgehört zu arbeiten, betrachtete Filipe und schüttelte den Kopf, dann fasste er wieder an.

Wütend nahm Filipe seine Handschuhe und begann Kleinmaterial umzuladen, die anderen nahmen ihre Schlepperei wieder auf. Das letzte Stück war grade verladen, da sprang Filipe, inzwischen nass geschwitzt, auf die Lok: „Los! Steigt ein, wir wollen los!“

Wieder sahen ihn die Schwarzen an, wieder ernste Gesichter, Weißes in den Augen; in ihrem gemächlichen Trott bestiegen sie den Zug. Auch Ruis Leute stiegen zu, er selbst kam zu Filipe auf die Lok. Ungeduldig schaute dieser immer wieder zu den Waggons, dann nach vorne, es ging alles so furchtbar langsam, der Zug fuhr im Schneckentempo, die Lokomotive dampfte und schnaufte, an der Steigung hinter den Verschiebegleisen hatte sie ernsthafte Schwierigkeiten. Oder drehte der Lokführer einfach nicht Volldampf auf? Filipe griff zum Hebel, drückte ihn ganz nach unten, wild schnaufte die Maschine los, alle Räder drehten durch.

Rui schüttelte wieder den Kopf, böser Blick vom Lokführer. Dieser brachte den Zug zum Stehen, geschickt mit wohldosierter Kraft schaffte er es dann doch, den Zug wieder in Bewegung zu bringen.

Auch, nachdem sie endlich obenan der Baustelle angekommen waren, trieb Filipe seine Leute ununterbrochen an. Ruis Männer begannen unter dessen Regie mit dem erneuten Bau des Rohrsystems, sie grenzten sich ab von den anderen Arbeitern. Die Stimmung unter diesen wurde zunehmend gereizter, immer wieder trafen Filipe böse Blicke, aber keiner wagte etwas zu sagen. Am Abend war er völlig fertig, mit seinen Kräften und seinen Nerven. In dem Tempo würde es Monate dauern, bis die Brücke fertig war! Er befahl den Leuten hier oben zu übernachten und morgen mit Beginn des Tageslichtes gleich weiter zu arbeiten. „Wenn ich dazu komme, will ich Fortschritte sehen!“

Der nächste Tag verlief genauso frustrierend wie der erste: Die Männer waren nicht dazu zu kriegen, schneller zu arbeiten! Filipe hatte manchmal sogar den Eindruck, dass sie ihre Schritte absichtlich verlangsamten; wenn er morgens kam, konnte er keine Fortschritte feststellen, wütend trieb er die Leute immer wieder an, aber es brachte nichts.

Am Abend des dritten Tages erwartete Almeida ihn auf dem Steindamm.

„Kommt, ich muss mal mit Euch reden.“ Wieder klopfte er ihm auf die Schulter und nahm ihn mit zu sich nach Hause. Seine Haushälterin, eine Frau im gleichen Alter wie Maria und Catarina, servierte Salzgebäck, Bier und Brandy: Almeida stand wohl auf Bier und Brandy.

„Ihr wolltet doch wissen, was ein Contrado ist,“ begann er. Es gibt in der Sprache der Schwarzen kein Wort, das so ähnlich wie Contrado heißt, so wie der Paffe es Euch weißmachen wollte. Ein Contrado ist das, was es heißt: Ein Kontraktarbeiter. Wie ich Euch schon sagte, wurden deren Vorfahren hierher gebracht um die Verluste durch Krankheit und Tod unter den Arbeitern auszugleichen. Diese Männer und Frauen haben als Volk natürlich keine gemeinsame Abstammung, die Leute stammten ja aus allen möglichen Kolonien, nicht nur unseren. Hier mussten sie sich notgedrungen zusammen finden, und der Begriff Contrados beschreibt sie als gemeinsame Gruppe, fast so etwas wie ein Volk. Sie selbst haben diesen Begriff sogar als eine Möglichkeit der Identifikation übernommen. Daraus ist ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entstanden. Das ist sehr wichtig für die Schwarzen. Da sie aus ihren Stämmen und Familien herausgerissen wurden, ich vermute mal nicht immer so ganz freiwillig, haben sie in diesem Gefühl des Zusammengehörens einen Ersatz gefunden, Ersatzvolk, Ersatzfamilie. Die meisten der heutigen Contrados sind ja hier geboren und sie sind aufgewachsen im Bewusstsein eben dieses Gefühls der Zusammengehörigkeit. Dieses Gefühl beinhaltet aber gleichzeitig eine Abgrenzung gegenüber anderen Volksgruppen, da sind hauptsächlich die Weißen die Forros und die Angolares zu nennen. Leider befinden sich die Contrados am unteren Ende der Hierarchie. Das macht sie besonders empfindlich, wenn sie das Gefühl haben, nicht ihren Vorstellungen entsprechend geachtet zu werden; sie haben so etwas wie einen Underdog-Stolz. Sie wissen, dass sie eigentlich in ihrem Leben nur arbeiten müssen, eine Zukunftsperspektive gibt es bestenfalls in der Weise, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern, zum Beispiel für die Mädchen, die hier oben bei den Weißen arbeiten. Aber auch das kann ja jederzeit vorbei sein. Sie fügen sich also in ihr Schicksal, also, die meisten von ihnen, und wenn Ihr an Gott glaubt, betet, dass sie es auch in Zukunft tun. Dies Sich fügen bedeutet, dass sie ihre Aufgaben so gut verrichten, wie sie es können beziehungsweise für nötig halten. Um ihre, in unseren Augen nicht immer zufriedenstellende Arbeitsintensität zu verstehen, muss man ihre Mentalität verstehen: Ihre Vorfahren oder auch sie selbst stammen aus feuchten, tropischen Gegenden. So gesehen passen sie gut hierher. Aber das Klima zwingt auch zu gemächlichen Bewegungen. Wenn Ihr eine längere Strecke laufen wollt und diese im Sprint beginnt, seid Ihr schnell erschöpft, müsst pausieren, und Ihr seid demjenigen, der kräftesparend beginnt, in Ausdauer und Erfolg unterlegen. Ihr müsst bedenken, dass die Menschen in Afrika mehr oder weniger von der Hand in den Mund leben, in Anbetracht des Überflusses an Nahrung, der auch hier von der Natur gegeben wird, ist eine Vorratshaltung kaum erforderlich. Sie sind es eigentlich gewohnt, nur so viel zu arbeiten, wie sie für den täglichen Bedarf benötigen. So gesehen ist es schon ein Zugeständnis an ihre zugegebenermaßen missliche Lage, für uns Weiße mehr zu tun. Aber eben in dem Rhythmus, den sie gewohnt sind. Wenn man ihnen mehr abverlangt, wie es ja auf anderen Rocas immer wieder versucht wird, passieren drei Dinge: Erstens kommen sie an den Rand der Erschöpfung und können dann wirklich nicht mehr. Zweitens fühlen sie sich nicht akzeptiert, ihr Stolz wird verletzt und das führt drittens zu Unzufriedenheit, die sich in Protesten und Unruhen entladen kann. Und Letzteres können wir hier nun wirklich nicht gebrauchen. Die Erfahrung zeigt, dass eine gewisse gegenseitige Achtung voreinander am erfolgversprechendsten ist, heiß mit anderen Worten: Die arbeiten so gut sie können und ich lasse meine Peitsche im Gürtel.“

Er nahm sein Glas und prostete Filipe zu, der prostete zurück, machte ein nachdenkliches Gesicht und schwieg eine längere Zeit.

„Ihr meint, ich gehe zu forsch mit den Arbeitern um,“ fragte er schließlich. Nein, er fragte es nicht, er stellte es fest.

„Es wird Euch kaum gelingen, dadurch bessere Leistungen zu erreichen.“

„Und wie erreiche ich die?“

„Vergesst es. Sie arbeiten, wie sie eben arbeiten.“

„Und nachher einen extra Tag frei? Oder eine Woche?“

Almeida lachte: „Was sollen die denn mit einem freien Tag extra? Jetzt haben sie den Sonntag frei. Und was tun sie? Saufen. Selbstgebrannten Rum oder Palmwein. Ihr müsst mal Sonntagabend durch die Häuser da unten gehen, dann seht Ihr das Dilemma.“

„Und mehr Geld?“

„Da hätten sie nichts von.“ Und auf Filipes fragenden Blick erklärte er: „Die Contrados, beziehungsweise deren Vorfahren haben einem Vertrag zugestimmt. Leider konnten und können sie ihn nicht lesen, und so ist der dann auch gestaltet: Sie bekommen einen bestimmten, recht niedrigen Lohn. Für ihre Wohnungen und das Essen müssen sie aber Geld an die Roca abführen, das hebt sich in etwa auf. Die meisten haben aber Schulden. Wenn ein Fest ansteht, eine Hochzeit zum Beispiel, wollen sie glänzen; die Verwaltung, sprich Ribeira leiht ihnen einen bestimmten Betrag. So sind die meisten Familien gegenüber der Roca verschuldet. Wenn Ihr ihnen mehr Geld gebt, würdet Ihr nur diese Schulden reduzieren.“

Filipe war entsetzt, das hatte er nicht gewusst! „Die arbeiten hier also de facto für Essen und Wohnen!?“

„So ist es.“

„Aber sie bauen ihr Gemüse doch selbst an, und füttern ihre eigenen Schweine.“

„Auf dem Gelände der Roca, das kostet Pacht.“

„Pacht? Für die verwilderten Gärten da unten?“

„Sie könnten ja mehr draus machen. Tun sie aber nicht. Die Schweine könnten auch besser aussehen. Aber solange es zur Deckung des Bedarfs reicht, warum sollen sie dann was ändern? Sie kennen nur das Leben von der Hand in den Mund. Wie gesagt, Vorratshaltung ist ihnen fremd; ist hier in den Tropen ja auch nicht nötig, hier wächst immer was.“

„Wie groß sind die Gärten denn? Das kann doch nicht viel kosten an Pacht.“

„Weiß ich nicht genau, ist ja auch irrelevant. Hier geht es ums Prinzip: Die Pacht muss so hoch sein, dass für die Contrados nichts übrig bleibt.“

„Und das wird alles von Ribeira so verordnet?“

„Ribeira dürft Ihr nicht die Schuld geben, er ist Buchhalter. Auf dem Gebiet der Menschlichkeit ist er, sagen wir, etwas minderbemittelt. Aber er hat diese Normen nicht erfunden, das war schon immer so und wird auf der ganzen Insel so gehandhabt.“

„Und Ihr? Findet Ihr das gerecht?“

„Ach, Mandoza, was ist schon gerecht? Die Menschen kennen hier nichts anderes. Nehmen wir an, sie würden so viel Geld erhalten, dass sie jede Woche etwas übrig hätten. Was meint Ihr, werden sie damit tun?“

„Ihr denkt, sie versaufen es.“

„Wahrscheinlich. Der Alkohol würde den sozialen Frieden nicht fördern. Jetzt sind sie nur einmal in der Woche im Delirium, schlagen sich oder die Kinder und vergewaltigen die Frau vom Nachbarn, die vielleicht genauso blau ist. Ich glaube, dass so ein Ausnahmezustand, wie ich es mal nennen möchte, ganz gut ist, da reagieren sie sich ab, benebeln sich, verdrängen für einen Moment ihre Lage. Aber als Dauerzustand? Wer soll denn dann die Arbeit machen?“

„Ihr glaubt wirklich, dass sie nicht was anderes mit dem Geld machen würden? Einen Laden betreiben oder so?“

„Sie haben nie gelernt mit Geld umzugehen, sie können auch nichts anderes als das, was sie hier schon immer gemacht haben. Wie sollen sie denn eine Genehmigung für einen Laden erwerben? Sie können nicht lesen, nicht schreiben und nicht rechnen.“

„Und da ist niemand, der es nicht wenigstens mal versucht?“

„Nicht von den Contrados. Es hat schon schwarze Grundbesitzer gegeben, die Rocas betrieben haben, erfolgreich, aber die gehörten zu den Forros, das ist ein anderes Volk. Und, um Eurer Frage gleich vorzugreifen, will ich Euch erklären, was Forros sind: Schon als diese Inseln besiedelt wurden, war im 15. Jahrhundert, glaube ich, wurden viele Arbeiter, sprich Sklaven für die Feldarbeit gebraucht. Diese wurden damals hauptsächlich von den Capverdischen Inseln hierher gebracht. Es gab immer wieder Ärger mit denen, Unruhen wegen schlechter Behandlung und so, wie das eben ist zwischen Herren und Sklaven. Das sprach sich bis nach Portugal rum, und der damalige König, fragt mich nicht, wie der hieß, hat die Carta de Alforria erlassen, mit dem alle Sklaven und deren Nachkommen die Freiheit erlangten, daher der Name Forro. Man hat ihnen sogar freigestellt, auf die Capverden zurück zu kehren, was sie aber ablehnten. Sie fühlten sich hier heimisch und inzwischen als Volk. Den nachher hierher gekommenen Sklaven, die ja eigentlich gar keine sein durften, fühlten sie sich überlegen, eben als freie Menschen. Und das ist bis heute so geblieben. In Zeiten, in denen es wirtschaftlich mit den Inseln bergab ging und die Weißen mehr und mehr das Eiland verließen, so sie denn überlebt hatten, wurden die Forros zur gesellschaftlichen Führungsschicht hier, und das sind sie eigentlich immer noch. Es galt unter ihnen als besonders erstrebenswert, eine weiße Frau zu haben, und die aus solchen Ehen hervorgegangenen Kinder, die xxxx, fühlten sich als Weiße, und benahmen sich auch so. Die Contrados waren auch deren moderne Sklaven. Das Handwerk, das Geschäftswesen und die Kleinindustrie, die Ihr hier findet, ist bis heute in Forrohand. Als die Rocas durch Kaffee- und Kakaoanbau wieder luktrativ wurden, fielen sie nach und nach durch Verkauf, Erbschaften und so weiter wieder in die Hände der Weißen. Die benötigten Arbeiter mussten wieder von Afrika heran geschafft werden, denn die meisten Forros weigerten sich als freie Menschen, für die weißen Herren zu arbeiten. Die Forros, die hier bei uns arbeiten, tun dies aus freien Stücken, sie sind sowas wie Subunternehmer, die meisten im Handwerk oder in der Aufsicht. Von den Contrados haben es immer wieder einige versucht aus ihrem Dilemma auszubrechen: Sie sind alle gescheitert, Ihr wisst ja, der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen! Auch bei mehr Lohn würde das Startkapital, dass sie vielleicht in mehreren Jahren ansparen könnten, kaum ausreichen. Ihre Familien können sie nicht unterstützen, die haben auch nichts. Und von wem sollten sie ein Ladenlokal mieten? Von den Forros? Oder den Weißen?“

Filipe schwieg eine kurze Zeit, das war ja alles ganz fürchterlich. Von zuhause kannte er auch abhängige Landarbeiter, aber denen ging es doch deutlich besser.

„Warum stimmen die Nachkommen unter den Contrados den Arbeitsverträgen denn zu? Sie könnten doch auch sagen, dass sie lieber woanders arbeiten wollen, wenn es nicht bessere Bedingungen gibt.“

„Wo sollen sie denn arbeiten? Auf einer anderen Roca? Bei Construcão São Tomé e Co? Die Verträge sind überall gleich. Außerdem haben viele gar keinen Vertrag mehr. Der wurde irgendwann mit den Eltern oder Großeltern geschlossen. Die Kinder gingen automatisch den gleichen Weg; wenn sie alt genug waren, mussten sie mitarbeiten. Nur wenn einer fragt oder wenn es Ärger gibt, wird ein Vertrag gemacht, oder eben einfach aus dem Ärmel gezaubert: das Kreuzchen darunter kann schließlich jeder machen. Aber Ihr dürft auch das Phlegma der Leute nicht unterschätzen: Sie kennen nichts anderes. Für sie besteht die Welt aus denen da unten, den Contrados, dann kommt lange nichts und dann die Forros gleich unter den Weißen oder sogar gleichberechtigt. Solange sie nicht hungern müssen, ihren Rum haben und ihre Frauen, mehr wollen sie nicht, sie könnten mit mehr wahrscheinlich gar nichts anfangen.“

„Ich weiß nicht. Wenn ich Catarina und Maria sehe, dann denke ich schon, dass sie auch Interesse an mehr hätten.“

„Und woran? Die Hausmädchen haben Glück gehabt, sie müssen nicht so hart arbeiten, haben besseres Essen, besser Kleidung und leben nicht in den Häusern unten. Aber wenn die Herrschaft wieder geht, müssen sie zurück in ihr früheres Leben. Und ich kann Euch sagen, sie werden zwar von ihren Familien wieder aufgenommen, aber das ist auch alles, die haben da keinen leichten Stand. Meist versuche ich, sie im Haus zu lassen damit sie dem Nachfolger dienen können. Wenn der aber eine Frau hat, sieht das oft schlecht aus. Oder wenn der eine Jüngere haben will. Sowas wie bei Lopes mit seiner Patricia kommt doch selten vor. Und wenn Lopes stirbt, was soll dann aus ihr werden? Ich hoffe, dass Silva sie als Pflegekraft im Krankenhaus behält, damit kennt sie sich ja nun aus. Die Hausmädchen können genauso wenig woanders hin wie alle anderen auch, sie haben ja auch kein Geld.“

Filipe schwieg, das musste er erst mal verarbeiten.

„Grämt Euch nicht,“ versuchte Almeida ihn aufzumuntern, „Oliveira sagt immer, das sei alles Gottes Wille. Ich denke, dass es eher eine Frage von Macht und Geld ist. Und wir stehen dazwischen und müssen versuchen, das Beste draus zu machen; können ja froh sein, nicht als Schwarze geboren zu sein.“

Eine warme feuchte Nacht empfing Filipe, als er Almeidas Haus verließ um rüber in seines zu gehen. Er atmete noch mal tief durch, dann trat er ein und kuschelte sich zu Catarina ins Bett.

Am nächsten Morgen fuhr er mit Rui wieder rauf zur Baustelle. Er hatte schon vor, wieder mit anzufassen, aber bevor er das tat, stellte er sich oben an die Trasse und rief mit lauter Stimme, die Arbeiter mögen ihm einen Moment zuhören. Die ließen ihre Werkzeuge sinken, schweigend sahen sie ihn an, undurchdringliche Minen.

„Männer. Ich muss mich bei Euch allen entschuldigen. Ich habe Euch nicht richtig behandelt. Ihr macht Eure Arbeit gut, und es war falsch, immer noch mehr zu treiben. Bitte betrachtet es als meinen Fehler, der meiner Unerfahrenheit geschuldet sei. Vielen Dank.“

Sie standen noch einen Moment reglos da, sowas hatten sie noch nie gehört, und auch Rui wunderte sich, nickte anerkennend. Dann widmete sich Filipe wieder der Arbeit, nach und nach folgten die Männer seinem Beispiel.

 

Es ging auf den Sonntag zu, dem freien Tag. Filipe konnte nicht sagen, warum, aber er verspürte schon seit Tagen den Wunsch, sich noch einmal die Häuser der Schwarzen anzusehen. Er lebte nun schon mehrere Monate hier, hatte viel über die Menschen hier erfahren, und er hatte das Bedürfnis, mit dem erworbenem Wissen diesen Bereich der Roca noch einmal zu betrachten. Er wusste, dass kaum ein Weißer den Fuß in dieses Areal setzte, außer Almeida, wenn er Leute brauchte. Den kannten sie, wenn er kam hörten sie schon von Weitem seinen Jeep. Bei allen anderen waren sie äußerst misstrauisch, wie er es ja bei seinem ersten Besuch selbst erfahren hatte. Am Samstag abend lag er mit Catarina im Bett als er ihr den Wunsch unterbreitete, ihn zu begleiten.

Sie schwieg, rollte sich langsam auf seine Brust und stützte sich ab, ernst sah sie ihn an: „Als was soll ich dich den begleiten?“

Erstaunt sah er sie an: „Als eine meiner beiden Freundinnen. Maria kann auch gerne mitkommen, aber ihr sagt ja, eine von euch muss immer das Haus hüten.“

„Die Leute dort unten in den Häusern betrachten mich als deine Bedienstete, mit der du auch schläfst. Tust du ja auch,“ setzte sie grinsend hinzu. „Aber eine Bedienstete hat in der Freizeit des Herrn nichts an dessen Seite verloren, außer wenn es was zu bedienen gibt.“

„Aber Carlos ist doch auch mit mir da runter gegangen.“

„Weil du es angeordnet hast. Außerdem warst du fremd hier auf der Roca und er war dir beim Umsehen behilflich.“

„Und warum kannst du das nicht auch so machen? Ich verstehe dein Problem nicht.“

„Solange ich dich nur bediene, bei Tisch genauso wie im Bett, sind die Rollen klar verteilt. Ich gehöre zu den Schwarzen da unten und du zu den Weißen hier oben. Wenn wir aber auch die Freizeit miteinander teilen, sind diese klaren Rollen verschoben.“

„Aber wir teilen die Freizeit doch jetzt auch oft zusammen.“

„Aber das sieht keiner und weiß keiner. Wenn wir in der Öffentlichkeit sind, nehme ich wieder die Rolle deiner Dienerin ein. Wir haben doch schon darüber gesprochen, Filip“

„Hm.“

Sie streichelte ihn, räkelte ihren Körper auf seinem: „So ist es einfacher für mich,“ flüsterte sie und küsste seine Brust.

„Und was würde passieren, wenn es andere wüssten?“

„Du würdest vielleicht von den anderen Weißen hier komisch angesehen; ich glaube, Senhor Lopes hatte einen schweren Stand, als er sich zu Patricia bekannte. Und meine Familie würde mich fragen, wo ich denn nun hingehören wollte. Sie würden es nicht gern sehen, wenn ich mich – sagen wir – nicht standesgemäß binde.“

Filipe schwieg. Warum war das bloß alles so kompliziert? Diese bescheuerten Standesdünkel, von oben sowieso, und offensichtlich umgekehrt genauso.

„Sie würden dich sozusagen als Verräterin ihrer Sippe betrachten?“

Catarina nickte.

„Das möchtest du natürlich nicht, kann ich verstehen.“

„Filipe,“ fuhr sie nacheiner Weile leise fort, „ich habe dich sehr gern. Und ich weiß, dass Maria dich auch sehr gern hat. Dafür würden wir den Konflikt mit unserer Familie in Kauf nehmen. Aber was wird dann aus uns, wenn du die Roca wieder verlässt?“

Nach der Unterhaltung mit Almeida wusste Filipe, dass er in dieser Angelegenheit eine Entscheidung treffen musste. Wenn die Frauen bereit waren zu ihm zu stehen war es nur fair, dass er auch zu ihnen stand, was nichts anderes bedeutete, dass er sie im Falle seiner Abreise mit nach Portugal nehmen musste. Wollte er das wirklich? War er sich über die Tragweite einer solchen Entscheidung bewusst? Was wäre denn, wenn er in einigen Jahren nicht mehr verliebt ist?

Catarina nahm sein Schweigen als Antwort, gab ihm einen zarten Kuss und wollte aufstehen; er hielt sie zurück: „Warte.“

Einen Moment sahen sie sich in die Augen; die Kerzen waren fast runter gebrannt, das fahle Licht schimmerte in ihrem Gesicht.

„Ich habe euch beide auch sehr gern, und ich möchte nicht, dass ihr meinetwegen Schwierigkeiten bekommt. Eigentlich habe ich nicht vor, die Roca zu verlassen, aber niemand weiß, wie das Leben weitergeht. Wenn ich abreisen sollte, werde ich euch beide mitnehmen.“

Catarina legte sich wieder auf seine Brust, streichelte ihn zärtlich. „Und wenn du uns in ein paar Jahren nicht mehr so gern hast?“

„Wenn wir nicht mehr beisammen bleiben wollen, werde in einem Kistchen hier unter meinem Bett zehntausend Escudo deponieren, dazu einen Brief an meine Schwestern. Mit dem Geld könnt ihr die Überfahrt nach Lisboa bezahlen und auch die Fahrt von dort nach Evora, dem Ort, in dessen Nähe die Adega liegt, auf der ich aufgewachsen bin. Meine Schwestern führen jetzt das Weingut, wenn ihr denen meinen Brief zeigt, werden sie euch herzlich aufnehmen. Diese Möglichkeit steht euch jederzeit offen, auch zum Beispiel, wenn ihr mich nicht mehr gern habt und hier fort möchtet. Das Geld und der Brief sind sozusagen eure Sicherheit, in Portugal ein anderes Leben führen zu können. Trotzdem hoffe ich natürlich, dass ihr bei mir bleibt, auch wenn wir uns mal streiten.“

Catarina schmiegte sich an ihn, streichelte ihn überall: „Du liebst uns, kann das sein?“

„Ja, ich liebe euch,“ sagte er ernst und leise.

„Komm, dann zeig es mir noch mal,“ bat sie ebenso leise und begann ihn überall zu küssen.

 

Am nächsten Morgen hatte Maria schon das Frühstück bereitet. Filipe und Catarina setzten sich, und beide wurden von Maria formvollendet bedient, was beide immer wieder zum Lachen animierte. Zum letzten Café setzte sie sich dann dazu, das war so zur Gewohnheit geworden. Ihre Schwester nutzte die Gelegenheit, ungeniert vom gestrigen Gespräch zu erzählen; Filipe war es schon etwas peinlich, insbesondere als es um die Liebeserklärung ging, etwas diskreter hätte er es schon gerne gehabt. Aber die beiden fanden nichts dabei, Geheimnisse zwischen ihnen gab es sowieso nicht, und Filipe sollte nun wohl der Dritte im Bunde werden. Freudig sprang Maria auf und umarmte ihn, küsste ihn, und als Catarina erzählte, wie sehr sie seine Liebe in der letzten Nacht genossen hätte, zog Maria eine Schnute: „Dann musst du mir deine Liebe aber auch noch mal zeigen!“

„Jetzt sofort?“

„Nein, nein,“ lachte sie, „heute abend ist früh genug.“

Filipe sah zu Catarina, eigentlich waren es an diesem Wochenende ja ihre Nächte mit ihm, aber sie nickte zustimmend.

„Komm doch einfach mit,“ forderte Maria sie keck auf, die Frauen kicherten, im gleichen Moment hatten sie das Liebesspiel zu dritt verabredet, Filipe hatte da nicht mitzureden.

 

Arm in Arm begaben sich Filipe und Catarina hinunter zu den Häusern. Die Menschen, die Ihnen begegneten, sahen sie teils verwundert, teils mit unverholenem Grimm an, insbesondere Catarina war diesen Blicken ausgesetzt. Filipe nahm sie fester in den Arm, aber er spürte auch, wie sich ihr ganzer Körper verspannte, wie es sie Überwindung kostete, diese Umarmung zuzulassen. Nur zögerlich legte sie ihren Arm um seine Hüfte, und immer wieder ließ sie ihn auch wieder sinken. Filipe verstand ihr Problem, wollte sie zu nichts drängen, auch wenn sie seine Umarmung abgelehnt hätte. Dass sie das nicht tat, erfüllte ihn mit Stolz, auf seine Person bezogen, aber vor allem auf Catarinas Mut, zu ihm zu stehen.

Auf dem Pflaster zwischen den Häusern, so es denn noch vorhanden war, fühlte er sich beinahe wie in einer bedrohlichen Schlucht: Alles grau, schmutzig, bellende Hunde oder solche, die einfach nur herum lagen, Schweine, Hühner, alles wie bei seinem ersten Besuch. Die Türen und Fensterhöhlen erschienen ihm nun noch dunkler, geradezu drohend als wollte das Unheil dahinter lauern. Tat es aber wohl nicht, jedenfalls sprangen und tobten die Kinder unbekümmert hinein und heraus, schreiende Mütter, lümmelnde Jugendliche, flirtende Pärchen, Männer, die Fässer, Maschinen oder anderes schleppten, Frauen mit den Wäschekörben auf dem Kopf. Aber alle machten einen Bogen um sie, grimmige Blicke, vereinzeltes Ausspucken vor ihnen. Wenn Filipe etwas sagen wollte, zog Catarina ihn weg: „Lass es, es würde alles nur schlimmer machen."

Die Waschweiber an den Brunnen hielten inne, starrten sie an, tuschelten so laut, dass die beiden die Beschimpfungen hören mussten, auch auf portugiesisch, damit Filipe es auch mitbekommen sollte; sie wussten ja nicht, dass er inzwischen die creolische Sprache ganz gut beherrschte. Das Verhalten der Menschen sprach Bände, Catarina zog ihn weiter die Gasse hinunter.

Den Schmutz auf den Pflastersteinen hatten sie vergessen, ihre Schuhe waren beschmiert mit Schlamm und Kot, als sie das Ende der Häuserreihe erreicht hatten.

In den angrenzenden Gärten war niemand außer vereinzelten Schweinen, die den Boden auf der Suche nach Essbarem umpflügten. Weiter rechts verschwand ein Trampelpfad zwischen dem halb verwilderten Grün, vereinzelte Männer, Frauen und Kinder kamen von dort, beachteten die beiden nicht, aber sie gingen auch nicht zwischen den Häusern hindurch sondern außen herum. Filipe steuerte auf den Pfad zu, fragend sah er Catarina an.

„Dort geht es zu den anderen Häusern, wir nennen sie die Hütten."

„Ja, die Hütten. Ich habe sie auf Ribeiras Plan gesehen," murmelte er mehr zu sich selbst als zu Catarina.

"Da wohne die Tongas; sie dürfen nicht zusammen mit den Contrados leben, sie gehören nicht dazu."

„Die Tongas?“ Davon hatte Almeida gar nichts erwähnt, wieder sah er seine Geliebte fragend an.

„Ja, wir nennen sie so. Sie sind nicht hier geboren. Wenn neue Arbeiter gebraucht werden, werden aus Afrika neue hierher gebracht. In den Häusern ist kein Platz, deswegen müssen sie hier draußen leben.“

Filipe nickte gedankenverloren; nach den Tongas musste er Almeida noch mal fragen. Warum war das alles nur so kompliziert?!

Catarina wollte ihn zurück halten, aber nun wollte er auch alles sehen. Der Pfad schlängelte sich etwa hundert Meter durch das Grün, neben vereinzelten Schweinen tummelten sich hier auch mehrere Ziegen. Dann tat sich ein größeres Areal auf, auf dem wild durcheinander die verschiedensten Hütten aus Holz oder Wellblech gebaut waren. Brunnen mit Wasser gab es hier nicht, der Boden war lehmig aber trocken, die Menschen hier schienen ihnen neugierig bis gleichgültig gegenüber zu sein, sie schimpften nicht, und die Ausstrahlung war nicht feindselig wie oben bei den Häusern, interessiert und lärmend liefen die Kinder hinter ihnen her. Vereinzelte schwarze Tonnen dienten offensichtlich als Feuerstellen, Wasser wurde von den Frauen in großen Kübeln von irgendeinem Bach in der Nähe geholt, herumlümmelnde Männer schienen angetrunken zu sein. Eine säugende Hündin lag auf der Seite, sechs Welpen tollten auf ihr oder erkundeten die nähere Umgebung, abgemagert, zum Teil verschmiert, Durchfall, konstatierte Filipe. Catarina blieb stehen, betrachtete das Ensemble, armselig, irgendwie traurig. Sie bückte sich um eine der Kleinen zu streicheln, aber der wich aus, scheu. Ein anderer weniger, schwanzwedelnd beschnupperte er ihre Hand, ließ sich sogar anfassen, das Muttertier schien desinteressiert.

Schweigend tätigte sie ihre Runde, hinter einem Schuppen waren mehrere Männer damit beschäftigt, Zuckerrohrstangen durch eine Presse zu drehen, der Saft sammelte sich in einem eisernen Bottich, der über einer Feuerstelle hing; das Holz darunter war aber noch nicht angezündet. Daneben befand sich ein gemauertes Becken, gefüllt mit Wasser; ein instabiles, rostiges Rohrsystem begann über dem Bottich, führte in das Wasser, und unten an der Mauer des Beckens war das Ende unter einer kleinen, zur Hälfte gefüllten Flasche. Die Männer diskutierten laut über dieses und jenes, verstummten aber, als Filipe und Catarina bei ihnen stehen blieben.

Filipe betrachtete die Szene eine Weile, bis Catarina ihm erklärte, dass so der Zuckerrohrschnaps hergestellt würde, neben Palmwein das Betäubungsgetränk der Menschen hier. Einer der Männer bot ihnen schließlich einen Schluck an, Filipe lehnte ab, später gern, aber nicht jetzt in der Mittagshitze; Catarina sah ihn von der Seite an, offensichtlich froh, dass er so eine höfliche Ausrede gewählt hatte.

Auf dem Rückweg kam ihnen die Hündin entgegen, aufgescheucht von einer Gruppe herumtollender Kinder in ärmlichen Kleidern, das geschwollene Gesäuge schaukelte unter dem mageren Gerippe, die Welpen folgten ihr. Wieder kam der eine schwanzwedelnd auf Catarina zu, ließ sich streicheln, sie konnten nichts für ihn tun, vielleicht erwartete er auch nichts außer ein paar Streicheleinheiten.

Über den Trampelpfad verließen sie dieses Areal; auf der einen Seite so trostlos, aber andererseits empfand Filipe die Hütten nicht so bedrohlich wie die dunklen Häuser, und irgendwie war es bei den Tongas auch lebendiger. Der kleine Hund folgte ihnen mit respektablem Abstand. Filipe versuchte ihn zurück zu scheuchen, der Kleine blieb stehen, sah ihn mit seinen treuen Welpenaugen an. Wieder gingen sie ein Stück, er folgte bis an den Rand der Häuser, dort blieb er sitzen. Langsam gingen sie weiter, nicht über das Pflaster zwischen den Bauten sondern außen herum, sie wollten sich nicht noch einmal den ablehnenden Blicken aussetzen. Der Welpe schaute ihnen nach, saß immer noch an der gleichen Stelle, immer wieder sah Catarina sich um, seine treuen Augen, irgendwie traurig legte er seinen Kopf ein wenig zur Seite.

„Er will mit uns kommen," meinte sie schließlich, „sieh doch mal, wie er uns anschaut, können wir ihn nicht mitnehmen?"

Filipe hatte das befürchtet, eigentlich schon von dem Moment an, an dem er sich hatte streicheln lassen. Er hatte den Blick es Tieres kaum aushalten können und sich deswegen nicht mehr nach ihm umgesehen.

„Bitte!"

Sie blieben stehen, der Hund wedelte im Sitzen mit der Rute, schöpfte wohl Hoffnung.

„Er hat sich uns ausgesucht," bettelte sie wieder.

„Aber er ist doch nicht gesund, er hat doch bestimmt Ungeziefer und Würmer." Filipe wusste von zuhause, dass dort die Hunde der Adega besser ernährt wurden und beim Tierarzt hatten sie ab und zu Wurmmittel und ein Waschmittel gegen Flöhe gekauft.

„Wir können Medizin holen, im Krankenhaus gibt es doch bestimmt was." – „Bitte, ich nenne ihn ‚Raposa'."

„ ‚Raposa'? Warum denn ‚Raposa'?"

„Ich finde, er sieht aus wie in kleiner Fuchs."

Filipe musste lachen, wie ein Füchschen sah er nun wirklich nicht aus. Aber warum nicht? Catarina war schon auf ihn zugegangen, und als sie sich bis auf wenige Meter genähert hatte, kam er freudig auf sie zugesprungen, sie nahm ihn auf den Arm, dankbar leckte er ihre Hände: Jetzt sind wir also zu viert, dachte Filipe, legte seinen Arm um Catarina, und zügig begaben sie sich hinauf zum Steindamm.

Maria war begeistert: „Raposa heißt er? Wie süß! Er muss viel Knoblauch essen, Knoblauch ist gut gegen Würmer und macht gesund!"

„Wie müssen mal drauf achten, ob er Würmer hat, dann müssen wir ihm einen zum Fressen geben, damit gehen sie weg.“

Filipe schaute Catarina mit großen Augen an: „Würmer gehen weg, wenn er welche frisst? Catarina! Wo hast du das denn her?“

„Bei Kindern behandelt man Würmer auch so, glaub mir!“

Filipe sah ungläubig von Catarina zu Raposa und wieder zurück. Würmer fressen, soso. Er würde doch lieber Silva nach einem Mittel fragen.

 

Maria hatte im Garten gedeckt, servierte Café und Kuchen, und ein Schälchen mit Fleischresten für den Hund, was dieser dankbar annahm. Die Frauen besorgten eine alte Weinkiste, legten Decken rein, aber damit konnte Raposa nichts anfangen, immer wieder sprang er aus der Kiste, ließ sich aber stets wieder reinsetzen; er betrachtete das wohl als neues Spiel. Bis er dann doch müde wurde und sich unter dem Tisch zusammenrollte, war ja auch ein anstrengender Tag für dieses kleine Wesen.

Maria holte noch den Whiskey, drei Glaser und setzte sich zu ihnen: „Wie hat es dir denn bei den Häusern gefallen," wollte sie schließlich von Filipe wissen, sein nachdenkliches Gesicht war ihr nicht entgangen.

„Das ist ja schon bitter da unten," meinte dieser nach einer Weile des Schweigens, „richtig deprimierend."

„Ja, das ist schon ein anderes Leben. Die meisten von uns kennen es nicht anders."

„Aber man könnte es doch ändern, verbessern."

„Was ändern?"

„Also, zuerst könnte man den Dreck da wegmachen, der Kot von den Tieren muss doch nicht überall rumliegen. Und die Häuser und Hütten könnten besser gepflegt werden, ein bisschen Farbe vielleicht. Die Tiere könnten hinter Zäune eingesperrt werden, dann würden sie nicht überall hinmachen und die Schweine würden nicht die Gärten durchwühlen. Bei uns in Portugal laufen die Hunde und Hühner doch auch frei auf dem Hof herum, aber die Hinterlassenschaften werden immer weggemacht. Und besser genährt sind sie auch."

"Filipe. Die Menschen meines Volkes müssen den ganzen Tag hart arbeiten, und das nicht für sich selbst, sondern für die weißen Besitzer dieser Roca. Sie bekommen nur sehr wenig Geld dafür, es ist nicht einmal so viel, dass sie davon ihre Behausung bezahlen können oder ihr Essen. Ribeira, der Verwalter, berechnet ihnen Essen und Wohnen mehr als sie für ihre Arbeit bekommen. Dadurch verschulden sie sich immer mehr und haben nicht die Möglichkeit, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, sie dürfen keine Träume auf ein besseres Leben haben. Einen Tag in der Woche haben sie frei. Sollen sie an dem Tag dann die Straßen fegen und die Häuser bunt anmalen? Sie können sich doch nicht einmal Farbe kaufen! Du darfst sie nicht verurteilen deswegen. Wir alle werden in diesen Häusern geboren und kennen das Leben nur so, wie es ist und schon seit vielen Jahren immer war. Wir können nicht weg von der Insel um etwas anderes kennen zu lernen. Die gepflegten und schönen Häuser hier oben sind ja nicht so gepflegt und schön, weil ihr Weißen sie so erhaltet, das machen auch wir. Aber sie können nicht als Vorbild dienen, wie wir die Häuser unten pflegen könnten, denn wie gesagt: Wir bekommen zu wenig Geld und die Weißen lassen uns zu wenig Zeit. Wir haben uns damit abgefunden, was sollen wir denn sonst auch tun. Der einzige Weg zu einem besseren Leben ist der, den Catarina und ich beschritten haben, und das für die meisten von uns auch sozusagen auf Abruf, eben so lange, wie die weißen Herren uns haben wollen. Ich kann aber nicht behaupten, dass unser Volk damit zufrieden ist. Damit diese Unzufriedenheit nicht die Seele beschädigt, denken wir nicht mehr darüber nach, der Alkohol hilft den meisten dabei."

Catarinas Augen wurden immer größer bei der Standpauke, die ihre Schwester Filipe gehalten hatte; so hatte sie noch niemanden mit einem Weißen spreche hören. Auch Filipe schwieg, sah erst Maria, dann ihre Catarina an, Maria hatte ja nur bestätigt, was Almeida ihm schon berichtet hatte.

„Entschuldige," sagte Maria nun sanft und ergriff seine Hand, „ich wollte dich nicht kränken. Und einen Vorwurf wollte ich dir schon gar nicht machen. Es ist einfach so aus mir herausgekommen."

„Ist schon gut, du hast ja recht. Das Leben dort unten ist bestimmt nicht einfach. Und ich finde es auch ungerecht, dass die Arbeiter nicht ausreichend bezahlt werden. In Portugal ist das nicht so, dort bekommen sie auch nicht viel, aber doch genug, um sich Essen und Trinken kaufen zu können. Und wenn ein Fest ansteht, zum Beispiel eine Hochzeit, dann wurde das bei uns immer vom Weingut unterstützt; unsere Familie hätte sich geschämt, wenn die Hochzeit ärmlich verlaufen wäre."

„Hier schämt sich niemand für die Armseligkeit der Contrados.“

„Auf Fernao Gomes müssen sich die Contrados schöne Sachen anziehen, wenn hoher Besuch kommt,“ warf Catarina ein, „oder wenn der Fotograf Bilder machen will.“

„Und wer keine schönen Kleider hat, der wird versteckt und darf nicht mit auf’s Bild,“ ergänzte Maria.

„Was ist Fernao Gomes?“

„Das ist die benachbarte Roca, dort hinten“ – Maria deutete mit dem Arm auf die Berge – „wo du die Bahn wieder aufbauen willst.“

„Es steht aber auch nicht in meiner Macht, das alles zu ändern," meinte Filipe nach einer Weile.

„Wer hat denn die Macht es zu ändern?"

Wieder schwieg Filipe, er wusste es nicht; er hatte sich noch nie mit derartigen Problemen beschäftigt. Er war Ingenieur, und er betrachtete es als seine Aufgabe, den Maschinenpark der Roca so zu gestalten, dass alles funktionierte. Er fühlte sich dem Erfolg der Roca als Betrieb verantwortlich, der technische Bereich sollte so erhalten und verbessert werden, dass die Produktivität möglichst noch gesteigert werden konnte. Über die damit möglicherweise verbundenen sozialen Probleme hatte er nie nachgedacht und während seiner Ausbildung auch nie etwas darüber gelernt.

„Ich kann nicht über das Geld der Roca verfügen oder Löhne ändern," sagte er schließlich leise, „ich kann nur versuchen, die technischen Voraussetzungen des Betriebes so zu gestalten, dass es möglicherweise eine Erleichterung für die Arbeiter gibt."

„Du bist ein guter Mensch, Filipe," lächelte Maria, „aber ich glaube nicht, dass du damit wirklich etwas änderst."

Sie stand auf, strich ihm übers Haar und begann den Tisch abzuräumen. Raposa sprang auf, schwanzwedelnd versuchte er sie zum Spiel zu animieren, Maria streichelte ihn und brachte das Geschirr in die Küche. Catarina nahm Filipes Hand: „Gräm dich nicht, es ist wie es ist, und bestimmt nicht deine Schuld."

„Es gibt sicherlich Möglichkeiten etwas zu ändern. Hier in diesem kleinen Kosmos der Roca hat jeder seinen Platz, das ist richtig. Die Arbeiter in den Häusern, die in den Hütten und wir Weißen hier oben. Aber hat nicht jeder die Pflicht darüber nachzudenken, wie dieser Kosmos verbessert werden kann? Der Maschinenpark hier ist völlig veraltet. Ich muss darüber nachdenken, ob eine Modernisierung nicht uns allen das Leben einfacher machen kann."

Catarina wusste nicht, was er mit Kosmos meinte, sie kannte dieses Wort nicht. Sie gab ihm einen Kuss und ließ ihn allein mit seinen Gedanken, Raposa folgte ihr ins Haus.

Es war schon dunkel als er endlich den Garten verließ, in der Diele hatte Maria das Abendessen aufgetischt, allein auf ihn wartend saß sie da, den Kopf auf die Hände gestützt.

„Du musst etwas essen, Filipe, das lenkt dich ein wenig ab."

Er nahm sich zwei Matabala-Chips, eine Scheibe von der Melone: „Vielen Dank, Maria, aber ich glaube, ich habe keinen Hunger."

Sie stand auf, sah ihn an: „Diese Nacht gehört eigentlich Catarina, aber ich habe mit ihr gesprochen; sie ist einverstanden: Ich habe heute Dinge gesagt, die dir zu schaffen machen. Deswegen möchte ich dir zeigen, wie sehr ich dich mag."

Langsam streifte sie ihre Kleider ab, schön wie Gott sie schuf stand sie vor ihm, lächelnd mitten in der Diele. Sie nahm ihn an die Hand und geleitete ihn hinauf in die Schafstube um ihn dort zärtlich zu verwöhnen, die Nacht zu dritt war wohl verschoben, was Filipe auch ganz recht war.

 

In den folgenden Wochen war Filipe damit beschäftigt, die Brücke fertig zu stellen. Ruis Leute und seine Arbeiter hatten es tatsächlich geschafft, das Betonbett in Rekordzeit neu zu erstellen, und noch während dort die letzten Arbeiten getätigt wurden, begannen andere, den abgerutschten Brückenkopf wieder aufzubauen. Jeden Morgen fuhr Filipe mit den Arbeitern zur Baustelle, die nächste Ernte wird bald anfangen, und bis dahin sollte die Bahnstrecke zur Plantage VII wieder befahrbar sein.

Auch die Tatsache, dass über diese Bahnlinie die Verbindung zur Roca Fernao Gomes bestand, trieb ihn an. Fernao Gomes grenzte ans Meer und hatte dort einen eigenen Anleger zum Verschiffen der Kakaobohnen. Nach seinen Gesprächen mit Almeida und Maria über die sozialen Verhältnisse hier konnte er den Gedanken nicht loswerden, dass der momentane Frieden vielleicht trügerischer sein könnte, als es den Anschein hatte. Alternativen zum bisher einzigen Zugang zum Hafen in Sao Tome Stadt über die dorthin führende Bahnlinie konnten da nicht schaden, aus welchem Grund auch immer.

Raposa begleitete ihn. Anfangs war er stets bei den Frauen geblieben, aber offensichtlich war es ihm nach einigen Tagen zu langweilig dort: Kurzerhand folgte er Filipe, freudig sprang er um ihn herum, ließ sich aber gern durch die anderen Menschen ablenken, die er entweder neugierig zu beschnüffeln versuchte oder gleich anbellte. Filipe fuhr mit den Arbeitern auf dem Zug zur Baustelle, das erste Stück lief Raposa nebenher, dann sprang er auf den fahrenden Zug auf. Die Arbeiter hatten nicht so eine positive Meinung von ihm, Hunde hatten sie genug vor der eigenen Haustür, aber sie ließen ihn in Ruhe - wenn er sie in Ruhe ließ. Und an der Baustelle thronte der kleine Kerl auf einem erhöhten Felsvorsprung um alles im Blick zu haben, schließlich war er ja der Chef hier!

Almeida ließ sich jeden Tag ein Pferd satteln und ritt durch die Plantagen, begutachtete die Kakaofrüchte, ab und zu schlug er mit seiner Machete eine ab um die Reife der Bohnen besser beurteilen zu können. Filipe verstand nichts davon, er war auch zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, als dass er sich auf dem Gebiet der Früchte hätte weiterbilden können, und es interessierte ihn auch nicht. Allerdings hatte er durchaus eine gewisse Unruhe unter den Arbeitern bemerkt: Zwischen den Ernten war der Arbeitsdruck nicht so hoch, mit der Verpackung und dem Versand der Bohnen war immer was zu tun, aber die Zeit drängte nicht so sehr. Die immer wieder vorkommenden und manchmal lautstarken Diskussionen unter den Schwarzen drehten sich zunehmend um die bald beginnende Ernte, und wenn er das richtig mitbekommen hatte, konnte er daraus eine gewisse Unzufriedenheit erkennen, wie sie wahrscheinlich immer entstand, wenn der Arbeitsdruck erhöht werden sollte.

Als die ersten Erntekolonnen in die Plantagen fuhren war es endlich so weit: Stolz beobachtete Filipe mit Raposa an seiner Seite den ersten Zug, der die neue Brücke überquerte.

Abends servierte Maria Wein und andere Getränke vor Filipes Haus: Almeida, Alves, „Santos „Oliveira“, Silva und Alfonso waren gekommen um ihm zu gratulieren, und natürlich um es sich mit seinen Getränken wohlergehen zu lassen.

„Neun Loks haben wir jetzt," strahlte Alves, "so viele wie schon lange nicht mehr!"

„Wieso neun? Ich denke wir haben zehn," wollte Filipe mit kritischem Grummeln in der Stimme wissen, und seine gute Laune bekam einen Dämpfer.

„Eine haben wir nicht fertig gekriegt. Da ist ein Riss im Kesselsystem. Eine einfache Schweißnaht ist nicht stabil genug. Stellt Euch vor, das Ding fliegt dem Lokführer um die Ohren!"

„Dann fährt eben ein anderer weiter," bemerkte Ribeira kühl und nahm einen ordentlichen Schluck Portwein.

Alle sahen ihn an.

„Wie, soll die Lok dann da stehen bleiben?" fragte Ribeira seine Bemerkung verteidigend.

„Ribeira! eine Lok mit explodiertem Kessel kann nicht mehr fahren. Und wenn der Lokführer tot ist, würde da sowieso kein anderer auf den Bock gehen!"

„Ach so. Ich dachte schon ihr seht mich so komisch an wegen dem Nigger."

Almeida verdrehte die Augen: „Nun reißt Euch mal zusammen, Ribeira! Ein toter Lockführer ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können!"

„Ich glaube auch, dass ich bei einem explodierendem Kessel nicht mehr helfen kann," mischte der Doc sich ein, „besser wären so ein paar kleinere Sachen, da könnten meine Mädchen mal wieder ein wenig nähen."

„Ihr solltet Euch beide einsargen lassen!" Filipe konnte seinen Ärger über dieses zynische Gerede nicht verbergen.

„Meinen Segen würdet Ihr kriegen."

„Santos! Haltet die Klappe!"

„Na, na. So redet man aber nicht mit dem Vertreter des Herrn!"

„Ich glaube, in der Wahl seiner Vertreter sollte der Herr in Zukunft etwas genauer nachdenken," protestierte Silva.

Böse starrte der Paffe zum Doc rüber: „In der Kirche habe ich Euch auch schon lange nicht mehr gesehen!"

„Kirche? Was soll ich denn da?"

„Beichten! Ihr habt bestimmt viel zu beichten!"

„Woher wollt Ihr das denn wissen? Ich habe niemanden umgebracht, nichts geklaut und keine Ehebruch begangen."

„Dazu währt Ihr ja auch gar nicht mehr in der Lage bei Euren vielen 'Mädchen', wie Ihr sie nennt," spottete Alves; die anderen grinsten.

„Die Mädchen müssen bei mir nur arbeiten!"

„Wo? In Euerm Bett?"

Schallendes Gelächter.

„Wenn das Arbeit für die Mädchen ist, vielleicht solltet Ihr mal was aus Eurem Medizinschrank holen," legte der Mechaniker nach.

Fragend sah der Doc ihn an: „Was meint Ihr? Die Mädchen sind doch alle gesund."

Wieder lachte die Runde in Anbetracht des indirekten Geständnisses.

„Ich glaube, er hat eher an Hormone für Euch gedacht," grinste Almeida, und als der Doc wütend aufstehen wollte, fasste er ihn am Arm: „Nun regt Euch ab, trinkt noch einen Schluck, war nicht bös gemeint."

„Was ich Euch schon immer fragen wollte Doc" wechselte Filipe das Thema um den Streit nicht ausufern zu lassen, „was ist eigentlich mit den ganzen Zimmern im Krankenhaus, gibt es immer noch so viele Kranke hier wie früher?“

„Nein,“ antwortete Silva nach kurzem Schweigen, „heute haben wir bessere Medikamente. Viele Zimmer stehen leer. Aber es ist gut, sie zu haben, man weiß ja nie, was kommt, eine Epidemie zum Beispiel.“

„Eine Epidemie, soso!"

„Kann doch mal vorkommen. Oder: Die Forros und Tongas mögen sich nicht besonders. Stellt Euch vor, die geraten in Streit und es gibt viele Verletzte dabei."

Filipe konnte sich nicht vorstellen, dass diese beiden Gruppen derart in Streit geraten könnten, dass es viele Verletzte dabei geben würde. Aber ihn beschlich für einen kurzen Moment wieder der Gedanke, dass der Friede hier möglicherweise trügerisch sein könnte; Marias Erzählung, De Costa mit seinen Soldaten, die Unruhe unter den Schwarzen.

„Dann hätten Eure Mädchen endlich wieder was zu nähen," grinste Alves nach Silvas Horrorszenario; er erntete erneut Heiterkeit und lenkte Filipe von seinen Gedanken ab, "dann müsst Ihr nur aufpassen, dass Ihr nicht zu kurz kommt, Doc."

„Nun hört doch auf unserem guten alten Doc rumzuhacken," versuchte Almeida einem erneuten Streit vorzubeugen, musste aber auch lachen „auf dem Gebiet sind wir doch alle keine Trauerkinder."

„Da wollt Ihr mich doch nicht mit einschließen?!" protestierte Oliveira, worauf die Runde sich in vielsagend schmunzelndem Schweigen hüllte.

„Eine Ausnahme scheint unser junge Freund Mandoza zu sein," bemerkte Ribeira schließlich, „das war schon bei seinem Vorgänger so, muss wohl am Beruf des Ingenieurs liegen."

Filipe lächelte, er rief Maria, die grade neue Getränke brachte, an seine Seite und legte demonstrativ seinen Arm um ihre Hüfte: „Ist wohl so," bestätigte er selbstsicher, und als sie ihn von oben so ansah, verspürte er eine unbändige Lust sie auf der Stelle ins Bett zu entführen! Aber das lief ja nicht weg, sie hatten noch Gäste. Lächelnd wand Maria sich aus seinem Arm und verschwand wieder im Haus.

„Ihr sagtet, die Forros und Tongas mögen sich nicht,“ griff er Silvas Bemerkung wieder auf, „warum ist das so?“

„Na, weil die Forros die Aufpasser sind, die den Tongas sagen, was sie tun sollen.“

„Und die gehen dabei in einer Weise vor, dass die Tongas wütend werden könnten?“

„Wenn ich dabei bin nicht,“ mischte Almeida sich ein, „aber manchmal bin ich mir nicht sicher, ob ihre Peitsche nicht auch mal einen Mann trifft. Ich habe ihnen zwar eingebläut, das nicht zu tun, aber die Schwarzen untereinander gehen nicht immer zimperlich miteinander um.“

„Was ist denn eigentlich der Unterschied zwischen Contrados und Tongas?

„Da gibt es eigentlich keinen, die Tongas sind auch Kontraktarbeiter. Aber sie sind später hierher gekommen, nicht hier geboren. Die beiden Gruppen machen die gleiche Arbeit. Wir mussten sie ja irgendwo unterbringen, und so sind die Hütten da hinten entstanden. War so besser, als sie zu den Contrados in den Häusern anzusiedeln, das hätte nur Streit gegeben. Und durch die verschiedenen Begriffe versuchen die Contrados sich abzugrenzen, sie fühlen sich ja ohnehin als unterste Gesellschaftsschicht ohne Rechte, und so haben sie eine Gruppe, die sie noch weiter unten empfinden.“

„Also, unten hin oder her, schlecht geht es denen nicht,“ warf Ribeira ein, „was ich allein für Essen immer ausgeben muss! Dabei könnten sie doch ihre Schweine fressen.“

„Dem muss ich zustimmen,“ meinte der Doc, „das Essen und die Haltung der Neger da unten ist zweifellos besser geworden gegenüber früher. Das spiegelt sich ja auch in der deutlich gesunkenen Zahl der Kranken.“

„Ich denke, das liegt an den besseren Medikamenten,“ brummte Filipe, dem die Ausdrucksweise der beiden nicht gefiel.

„Natürlich auch. Aber das spielt alles zusammen.“ Womit er wahrscheinlich recht hatte, und Filipe dämmerte, dass die Verhältnisse hier früher noch viel schlimmer gewesen sein mussten.

 

An den folgenden beiden Tagen inspizierte Filipe immer wieder die Brücke und die dahinter liegenden Gleise um eventuelle durch die tägliche Belastung entstandenen Schäden sofort reparieren zu können, aber es war alles in Ordnung. In Gedanken beschäftigte er sich jedoch schon mit seiner Idee, die er Maria gegenüber bereits geäußert hatte: Der Maschinenpark musste erneuert werden. Dieselmotoren waren doch viel leistungsfähiger und deutlich weniger arbeitsintensiv als diese alten Dampfrösser. Aber diese Insel hatte keine Ölquellen, Diesel musste teuer mit Schiffen vom Festland hergebracht werden. Und Strom? Strom gab es hier, irgendwo musste ein Wasserkraftwerk sein. Die Wasserkanäle, die auf halber Höhe an den Bergen gebaut und in ausgeklügelter Weise miteinander verbunden waren, hatte er schon gesehen. Für ein wenig Licht, ein paar Maschinen und Kühlschränke reichte das wohl. Aber auf einem derart großen Betrieb wie einer Roca als primäre Energie Elektrizität zu verwenden, dafür war es wohl kaum genug. Er sollte versuchen, neue Stromquellen zu erschließen, Wind zum Beispiel.

An einem dieser Tage auf dem Weg zum Steindamm verharrte er dort. Unten in den Trocknungsfeldern sagen wieder die Frauen, die die ersten Bohnen der neuen Ernte mit ihren langen Harken wendeten. Er beschloss nicht zur Plantage VII zu fahren, zu schön war es, dem Gesang zuzuhören. Raposa, der ihn meistens begleitete, hatte sich neben ihn gesetzt, und es hatte den Anschein, als ob er auch fasziniert den Gesängen lauschte.

Raposa. Er musste mit Silva sprechen wegen einer Kur gegen die Parasiten. Vielleicht konnte er den Schweinen und anderen Tieren unten bei den Häusern ja auch helfen. Und bei der Gelegenheit konnte er ja auch mal seinem Vorgänger Lopes einen Besuch abstatten.

Gemächlichen Schrittes begab er sich also in Richtung des Krankenhauses. Die große Freitreppe führte auf einen weitläufigen Platz vor dem Portal, mehrere große Bäume spendeten Schatten. Von der anderen Seite kamen zwei schwarze Frauen in ihrer langen, dunklen Kleidung, die eine trug ein in Tücher gewickeltes Kind. Ein krankes Kind? Die Frauen begaben sich zum Eingang und verschwanden; Filipe folgte ihnen mit ausreichend Abstand.

Im Hospital betrat er zuerst eine große Halle, Raposa musste draußen warten; er gehorchte, war aber wohl nicht begeistert, und Filipe war sich ziemlich sicher, dass er bald die Geduld verlieren und wieder nach Hause laufen wird. Hier drinnen war der Boden blank gewienert, mehrere Doppeltüren führten zu den dahinter liegenden Bereichen. Rechts am Rand war der Empfang: Hinter Glas saßen zwei in weiße Kittel gekleidete junge Einheimische, die sich jetzt mit den beiden Frauen unterhielten. An der Doppeltür gegenüber des Einganges patrollierten zwei Männer, ordentlich gekleidet, Knüppel am Gürtel: Wachposten, Forros vermutete Filipe. Sonst war hier kein Mensch. Schließlich öffnete eine der Krankenschwestern die Tür zum Empfang, betrat die Halle und geleitete die beiden mit ihrem Kind in den langen Gang, den Filipe hinter der kurz geöffneten Doppeltür erkennen konnte. Er selbst begab sich nun zu der anderen hinter der Glasscheibe:

„Guten Tag, ich bin Senhor Mandoza. Ist es vielleicht möglich, Doktor Silva zu sprechen?“

Einen Moment sah sie ihn mit großen Augen an, Weiße kamen hier wohl nicht so oft her.

„Guten Tag, Senhor Mandoza,“ antwortete sie dann in unterwürfigem Ton, „ich weiß nicht – ich werde nachsehen. Bitte wartet hier.“

Auch sie betrat die Halle und verschwand hinter der Tür neben dem Empfang. Filipe setzte sich auf eine der Bänke, die an den Wänden aufgestellt waren und wartete. Nichts passierte, bis nach gut fünfzehn Minuten eine kleine Gruppe Arbeiter herein kam, laut diskutieren und gestikulierend. Sie begehrten Einlass an der bewachten Tür, Filipes kreolisch war inzwischen gut genug, dass er verstand, worum es ging: Die Männer wollten zu einem ihrer Verwandten, der hier wohl schon länger stationär behandelt wurde. Aber die Wachen wiesen sie ab, es wurde gestritten, „warum seid ihr nicht in den Plantagen?“, „hier darf keiner rein“, „Vito“ – so hieß der Verwandte offensichtlich – „kommt bald raus“ und so weiter, drohend nahmen sie ihre Knüppel vom Gürtel.

Endlich kam die Schwester wieder, wollte zu Filipe, der sich erhoben hatte, wurde dann aber von den anderen abgelenkt, die sich umgehend an sie wandten. Energisch, wie Filipe es ihr nicht zugetraut hätte, wies sie die Eindringlinge zurecht und forderte die Wachen auf, sie rauszuwerfen. Was die dann auch taten. Wahrscheinlich gehörten die Schwestern auch zu den Forros, wie vermutlich das gesamte Personal hier.

Wie ausgewechselt, freundlich lächelnd wandte sie sich nun wieder an Filipe: „Bitte, Senhor, folgt mir.“

Hinter der Tür befand sich ein etwas schmalerer Gang, zahlreiche Türen rechts und links, ganz hinten war offensichtlich ein weiterer Eingang. An den Türen waren kleine Schilder mit Nummern und Namensschildern angebracht, einige verrottet, sodass man sie nicht mehr erkennen konnte, andere verrieten „Gestão I“, „Gestão II“, „Toalete“ „Médico“ und ganz hinten „Médico chefe“.

Hier blieb die Schwester stehen und deutete mit einer Handbewegung, dass dies das Zimmer von Silva war. Filipe klopfte an, es kam ein „Ja, kommt herein“ von drinnen und er trat ein. Der Raum war kleiner als er sich die Residenz des Chefarztes vorgestellt hatte, aber in medizinischen Bereichen war es wohl wichtig, mehr zu sein als zu scheinen. Ein massiver Schreibtisch stand vor den beiden Fenstern, rechts und links gefüllte Bücherregale mit einer Nische für die Bar und eine gemütliche Sitzecke rechts neben der Tür.

Silva war offensichtlich erfreut, Filipe zu sehen, er begrüßte ihn mit Handschlag. „Kommt herein, mein Freund, nehmt Platz“, und er wies auf die Sitzgruppe. An der Tür drückte er einen Klingelknopf, ging zur Bar und schenkte zwei Brandy ein, „was führt Euch zu mir?“

„Ach, Silva, das sind verschiedene Gründe.“

„Schieß los!“

„Ich war noch nie in diesem Hospital, ich wollte es einfach mal von innen sehen.“

„Also, so interessant ist das auch nicht. Ich werde Euch nachher ein wenig herumführen, dann könnt Ihr Euch ein Bild machen. Und auch die vielen leeren Zimmer sehen,“ spielte er auf Filipes Frage von neulich an.

„Ich weiß es zu schätzen,“ lächelte Filipe, „und außerdem: Sagt mal, habt Ihr auch Kenntnis von Mittelchen für Tiere?“

Silva lachte. „Was wollt Ihr denn wissen? Ich hörte, Ihr habt einen Hund. Ist er krank?“

„Er könnte eine Wurmkur vertragen, habt Ihr sowas?“

„Piperazin,“ murmelte der Doc, „Piperazin kriegen hier alle, warum sollte Euer Hund das nicht auch vertragen? So ein Zehntel der menschlichen Dosis? Die Schwester wird Euch was abfüllen.“

Es klopfte, Silva rief etwas mürrisch „Ja!“, eine Schwester kam rein: „Ihr habt gerufen, Senhor?“

„Ach ja,“ er hatte wohl schon vergessen, dass er sie angeklingelt hatte, „bring uns doch zwei Café!“

Die weiß Gewandete verschwand, erst jetzt wurde Filipe bewusst, dass sie gar keine Knickse machte und auch sonst nicht so untertänig war, wie die meisten anderen Schwarzen.

„Würde das Piperazin auch bei den Schweinen helfen, Silva?“

Der lachte schallend: „Bei den Schweinen? Ihr meint doch nicht die vergammelten Krüppel da unten in den Häusern?!“

Filipe war sich nicht ganz sicher, ob der mit den vergammelten Krüppeln die Bewohner der Häuser meinte oder tatsächlich die Schweine, aber er bejate Silvas Frage: „Die würden sich doch deutlich besser entwickeln, wenn sie frei von Parasiten wären.“

„Mandoza! Wir geben hier viele Escudos aus, um die Schwarzen einigermaßen gesund zu halten. Da müssen wir nicht auch noch für deren Viechzeug sorgen!“

„Ihr müsst das ökonomisch sehen, Silva: Gesündere, dickere Schweine bedeutet auch mehr Fleisch für die Arbeiter.“

„Die kriegen doch genug zu fressen. Ich sehe doch immer die Lastwagen mit Trockenfisch, den Ribeira ordert.“

„Zehn Centavos zweimal im Jahr für fette Schweine spart hundert Trockenfische; oder ist das Piperazin so teuer?“

Silva wurde nachdenklich, prostete ihm zu und sie nippten am Brandy: „Wenn Ihr das so seht – ich werde es mit Ribeira besprechen. Teuer ist das Piperazin nicht, aber der Geizkragen muss es ordern.“ Wieder prosteten sie sich zu.

Die Schwester brachte den Café und verschwand wieder. „Kann man wirklich drüber nachdenken,“ murmelte der Doc, „greift Euch doch mal ein paar von denen und probiert es aus, einverstanden?“

Er schenkte nach, sie nahmen vom Café und erneut einen Schluck Brandy dazu. Dann plauderten sie über Filipes Fortschritte an der Eisenbahnlinie, die Silvas Meinung nach zu faulen Arbeiter und zum Schluss über die Frauen: Silva hatte auch eine Haushälterin, aber er machte kein Hehl daraus, dass ihm die eine oder andere Schwester lieber war, was Filipe kommentarlos im Raum stehen ließ. Nach dem zweiten Café trug Filipe sein drittes Anliegen vor: Ob er seinen Vorgänger Lopes besuchen könnte. Silva schien da nichts gegen zu haben: „Kommt, ich begleite Euch und führe Euch bei der Gelegenheit ein wenig herum.“

Sie traten zurück auf den Flur, begaben sich zur Eingangshalle und von dort durch die große Doppeltür. Ein langer Gang offenbarte sich, rechts und links bogenförmige Öffnungen zu großen Räumen in denen die Krankenbetten aufgereiht waren, keine Türen. „Damit wir die immer im Blick haben,“ erklärte Silva auf Filipes Frage. Aber alles war ordentlich und sauber. Einzelne Krankenschwestern in weißen Kitteln versorgten die Kranken, es waren doch mehr, als Filipe erwartet hatte. Sie passierten ein Treppenhaus, dahinter war die Station für Kinder; insbesondere hier hielten sich neben den Kranken auch Angehörige auf, meistens die Mütter, so glaubte Filipe zumindest. Die Atmosphäre hier war nicht so bedrückend, wie es das Gebäude von außen vermuten ließ, viel Palaver, vereinzelt Gesänge zwischen humpelnden oder bettlägerigen Patienten. Und überall roch es nach Karbol. Am Ende dieses Flures war eine weitere Doppeltür, die Silva aber nicht öffnete und bei seiner Führung auch kommentarlos überging. Lopes sei oben untergebracht, erklärte er stattdessen und führte Filipe hinauf in das obere Stockwerk. Auch hier lange Flure, aber alle Räume waren mit Türen versehen. Der Doc öffnete die eine oder andere: Leere Krankenzimmer, die offensichtlich schon länger nicht mehr benutzt worden waren. Am Ende des Ganges war auch hier eine verschlossene Tür, die Silva genauso überging wie die unten. Dann zurück zur ersten Tür gleich gegenüber der Treppe, er stehen: „Hier wohnt Lopes mit seiner Patrizia,“ erklärte er und trat ein ohne zu klopfen.

Verbrauchte Luft empfing sie, links ein großer Kleiderschrank, daneben eine Anrichte, rechts das Bett, groß genug für zwei Personen. Jetzt lag dort nur ein alter Herr, bekleidet mit einem Bademantel und zur Hälfte mit Laken zugedeckt: Lopes. Ein Durchbruch führte zum Nachbarraum, aus dem eine ältere Schwarze in dunklen langen Kleidern mit Schürze kam, es musste Patrizia sein.

Sie machte einen Knicks: „Guten Tag, Senhor Silva“, und sie schaute zu Boden.

Jetzt meldete sich auch Lopes: „Silva? Seid Ihr es?“ Er drehte sich zu den beiden hin, offensichtlich hatte sein Augenlicht nachgelassen, er tastete nach der Brille, die auf dem Nachttischchen lag.

„Ihr habt Besuch, Mandoza, Euer Nachfolger,“ stellte der Doc Filipe vor.

Lopes versuchte sich hinzusetzen, Patrizia musste ihm dabei behilflich sein, sie legte Kissen in seinen Rücken, sodass er halbwegs grade sitzen konnte.

„Ich lass Euch jetzt allein,“ meinte Silva, „um das Piperazin werde ich mich kümmern, die Schwester unten wird es Euch geben.“ Mit einem Händedruck verabschiedet er sich.

Die drei schwiegen einen Moment, mit den Augen versuchte Lopes seinen Gast zu erfassen: „Mein Nachfolger? Wie war doch gleich Euer Name?“

„Mandoza, Senhor Lopes, ich habe Eure Aufgaben hier auf der Roca übernommen und wollte Euch einen Besuch abstatten.“

„Aha,“ und nach einer Pause, in der er Filipe durch seine dicken Gläser betrachtete: „wie gefällt es Euch denn hier?“

„Ich habe mich schon gut eingelebt. Für einen Engenheiro gibt es hier ja viel zu tun.“

„Ja, ja, das ist alles nicht so einfach.“

Am liebsten hätte Filipe ihn gefragt, was er denn von dem veralteten Maschinenpark hielt und warum er sich nicht um die abgestürzte Brücke gekümmert hatte, aber er wollte den alten, kranken Mann nicht vor den Kopf stoßen.

„Ich werde versuchen, einige der Maschinen durch neue zu ersetzen,“ begann er vorsichtig, „die alten Lokomotiven sind oft nicht einsatzbereit.“

„Ja, da habt Ihr recht, ein paar neue Dampfrösser wären schon nicht verkehrt.“

„Ich hatte eher an elektrisch betriebene Lokomotiven gedacht.“

„Elektrische?“ Lopes begann zu lachen, und dann begann er einen regelrechten Redefluss, den ihm Filipe gar nicht zugetraut hätte: „Ihr habt hier doch gar nicht genug Strom! Aber das ist nicht das Schlimmste: Ihr wisst vielleicht, der kleine Bach an der dritten Plantage. Der hat doch so einen hübschen Wasserfall. Ich fand ja auch, dass der nett anzusehen war, aber Wasserfälle haben wir hier so viele. Und da dachte ich mir, man könnte das Wasser doch zur Stromerzeugung benutzen, ein eigenes kleines Kraftwerk würde uns im Notfall wenigstens die notwendigste Energie liefern. Ganz primitiv: Rohr und Turbine unten dran. Dachte ich. Aber ich erntete nur böse Blicke, als ich die Arbeiter beauftragte, das zu bauen. Und einer hat mir schließlich klar gemacht, dass da irgendwelche Geister wohnen, die man nicht stören dürfte. Na gut, dann eben ein anderer Wasserfall, wie gesagt, wir haben ja genug davon. Ich habe einen der Medizinmänner gefragt, an welchem denn keine Geister wohnten, so beiläufig, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Trotzdem, zur Sicherheit haben Alves‘ Gesellen und ich das Ding alleine gebaut. Irgendwann haben die Schwarzen die kleine Turbine natürlich entdeckt. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht haben, jedenfalls haben sie daran rumgefummelt und irgendwie einen Kurzschluss provoziert, hat wohl einen ordentlichen Funkenregen gegeben. Sofort hat sich der Medizinmann wieder eingemischt: Mit dem Rohr hätte ich das Wasser gefesselt und es so ermöglicht, dass die bösen Geister von der Stelle Besitz ergreifen konnten. Er und ein paar Gehilfen sind also los, haben da alle möglichen Tänze aufgeführt, Rauchkram verbrannt, Opfer gebracht, und was man wohl so alles macht um böse Geister zu vertreiben oder wenigstens zu besänftigen. Zum Schluss haben sie die Kabel rausgerissen, im Wasser am Fuß des Falles stehend haben sie sie fallen lassen: Alle tot. Wenn ich das richtig verstanden habe, leben die Bösen wohl in den Kabeln und warten nur darauf, rauszukommen um Unheil anzurichten. Könnt Ihr mir mal sagen, wie Ihr eine Elektrische fahren lassen wollt ohne Kabel?“

Na, das waren ja schöne Aussichten! Insgeheim ärgerte Filipe sich, dass Lopes mit dem Aberglauben der Einheimischen nicht sensibler umgegangen war, aber nun war das Kind wohl schon länger im Brunnen; er würde sich was einfallen lassen müssen.

„Die Wasserfälle wollte ich in Ruhe lassen, ich hatte eher an Windkraft gedacht und an eine dampfbetriebene Turbine.“ Was anderes fiel ihm nicht ein.

„Es sind die Kabel, Mandoza, die Geister leben in den Kabeln!“

Es entstand eine längere Pause, Filipes Hirn raste, während Lopes ihn erst scharf ansah, dann aber nach und nach seinen Kopf auf die Kissen senkte. Patrizia, die sich die ganze Zeit im Raum aufgehalten hatte, sah ihn an, dann verschwand sie nach nebenan und kam mit einem Gedeck Café zurück: „Senhor Lopez braucht jetzt eine Ruhepause,“ meinte sie sanft und stellte das Tablett auf dessen Nachttisch. Filipe folgte der unausgesprochenen Anweisung, dieses Thema nicht wieder anzusprechen. Nachdem er seine Tasse geleert hatte, bedankte er sich für die Gastfreundschaft und erhob sich. Aber da wurde Lopes wieder wach, sah ihn an:

„Ihr wollt schon gehen? Bleibt doch noch ein wenig, es interessiert mich schon, was Ihr für Pläne habt hier auf der Roca.“ Er hatte sich wieder hingesetzt, griff nach seiner Tasse und nahm einen Schluck, obgleich der Cafe doch schon kalt sein musste. Filipe wusste nicht recht, was er sagen sollte, er hatte doch grade von seinen Plänen erzählt.

„Das ist ein schönes Krankenhaus,“ wich er aus, „fühlt Ihr Euch wohl hier, Senhor Lopes?“

„Ja, ja, es ist ein schönes Krankenhaus. Manchmal hilft mir meine liebe Patrizia in den Rollstuhl, die Pfleger tragen mich nach unten und sie schiebt mich ein wenig durchs Grüne. Es ist so wunderbar grün hier überall, habt Ihr das schon gesehen?“ Seine Augen waren abwesend, aber er legte seinen Kopf nicht wieder zurück, offensichtlich war er irgendwo zwischen Traum und Realität, und nach einer Weile: „Kommt, lasst uns einen kleinen Spaziergang machen!“ Seine Stimme war matt, seine Worte fast mechanisch daher gesagt. Filipe sah Patrizia fragend an, die aber holte einen Rollstuhl aus dem Nebenraum. Mit vereinten Kräften halfen sie dem alten Mann auf den Sitz.

„Es ist sein schönstes Erlebnis am Tag, wenn er eine halbe Stunde an der frischen Luft bleiben kann,“ erklärte sie in ihrem sanften Tonfall, „Senhor, verzeiht ihm, aber er hat doch sonst nichts mehr im Leben.“

Schweigend trugen sie ihn nach unten, einen Fahrstuhl gab es hier offensichtlich nicht. Sie durchquerten die Eingangshalle, draußen blieb Patrizia stehen, tief atmete Lopes ein. Filipe bedauerte, dass Raposa nicht mehr da war, dieser muntere kleine Kerl hätte den alten Mann sicher etwas aufheitern können. Vom Vorplatz aus hatte man einen herrlichen Blick über den Steindamm zum Herrenhaus und über weite Teile des Gebäudeensembels der Roca. Langsamen Schrittes begann Patrizia mit der Runde, es war wahrscheinlich immer der gleiche Weg. Aber Lopes schien es aufzumuntern, ein Lächeln umspielten seine Lippen und er ließ es sich nicht nehmen, mit ausladenden Handbewegungen das Gelände zu erklären, die Hallen, die Trockenfelder, das gepflegte Areal der Weißen, und so weiter, und Filipe zeigte sich stets höflich interessiert als sei das alles wirklich neu für ihn. Er fragte sich jedoch, ob Lopes ohne seine Brille wirklich alles sehen konnte, was er da beschrieb.

„Damals war ich ein junger Mann, wie Ihr, Mandoza, voller Tatendrang. Professor Gomes von der Universidade Técnica de Lisboa war mein Mentor und hat mich hierher empfohlen. Wie begeistert war ich, als ich, als ich das erste mal hier zur Roca Rio do Ouro kam, das Grün, die vielen Blumen überall und diese freundlichen und munteren Menschen, es war mir gleich bewusst, dass ich mein Zuhause gefunden hatte.“

Mit verklärtem Blick schaute er über das Gelände. Filipe war nicht klar, ob er damals die Realität nicht hatte sehen wollen oder ob diese tatsächlich rosiger war als heute.

„Das schmucke Häuschen, das ich bezog, ist jetzt sicherlich Euer Domizil, Mandoza, gefällt es Euch? Es wurde mir eine nette Dienerschaft zur Seite gestellt, freundlich und zuvorkommend. Leider wurde sie dahin gerafft, ein bedauerlicher Vorfall. Aber sollte ich das bedauern? Dafür kam Patrizia ins Haus, meine liebe Patrizia, ich hätte sie sonst nicht kennen gelernt.“ Mit seiner Rechten suchte er deren Hand und drückte sie fest, die tiefe Zuneigung zwischen den beiden war unverkennbar.

„Was für ein Vorfall war das denn, Senhor Lopes?“ fragte Filipe, weniger aus wirklichem Interesse sondern eher um Selbiges zu bekunden; er konnte sich schon denken, dass es irgendwie Ärger gegeben hatte, gegen den der damaliger Verwalter rigoros vorgegangen sein musste.

„Die Diarrhoe, Mandoza, die Diarrhoe. Sie hat damals viele von den Männern, Frauen und Kindern geholt, eine richtige Epidemie.“

„Die Diarrhoe?“ So lange war das also noch gar nicht her, dass tödliche Krankheiten die Arbeiterschaft dezimierten.

„Nicht nur diese. Pneumonie, Anämie, es gab viele Erkrankungen. Die armen Menschen in den Behausungen dort unten wussten nicht, wie sie sich schützen konnten. Der Doktor hat damals versucht zu helfen wo er konnte, aber er war nicht der Herrgott. Es war stets ein reger Betrieb hier oben vor dem Hospital.“

„Und“ – Filipe wusste nicht so recht, wie er seine Frage anbringen sollte – „Ihr seid aber verschont geblieben, nicht wahr? Hat es denn unter den anderen Weißen auch viele Opfer gegeben?“

„Nein,“ Lopes lächelte kurz, „die standen der modernen Medizin ja auch aufgeschlossener gegenüber, Vorbeugung und Hygiene, Ihr versteht? Und kein Aberglaube, keine Medizinmänner. Die Malaria hat uns kaum was anhaben können, unter uns Weißen ist sie besiegt.“

Naja, von besiegt konnte ja wohl nicht die Rede sein; der ewige Mückenschutz, die Chinintabletten, das fand Filipe schon lästig. Aber die heutigen Verhältnisse waren wahrscheinlich wirklich nicht mit den Vorkriegszeiten vergleichbar.

„Ihr müsst Euch nicht sorgen, Mandoza,“ versuchte Lopes ihn, sein Schweigen offensichtlich fehldeutend, zu beruhigen, „es hat meines Wissens schon länger keine Epidemie mehr gegeben.“

Die drei hatten das Portal wieder erreicht, Lopes sah auf zu Filipe: „Kommt doch noch mit rauf auf einen Café, Mandoza,“ aber Patrizia schüttelte schweigend den Kopf. Wahrscheinlich war sie der Meinung, dass der Nachmittag anstrengend genug für Lopes gewesen war, und dass er nun Ruhe brauchte. Filipe begleitete die beiden noch in die Halle, die Schwester hinter der Glasscheibe reichte ihm einen Beutel mit weißem Pulver und der Gebrauchsanweisung, dann verabschiedete er sich von Lopes.

Draußen vor dem Portal betrachtete er noch einmal diesen riesigen, ehemals wohl recht pompösen Komplex; sein Blick fiel auf die kleine Kapelle neben dem Hospital: Damals muss es viele Tote gegeben haben.

Nachdenklich stützte er seine Ellenbogen auf die breite Balustrade des Krankenhausvorplatzes; von den Trocknungsfeldern drang immer noch der wunderbare Gesang der dort arbeitenden Frauen herauf, der ihn in eine angenehme Stimmung versetzte; das Gerede und Palaver der hinter ihm sich aufhaltenden Krankenhausbesucher klammerte er einfach aus.

Der Tag neigte sich schon dem Abend, als er sich schlendernden Schrittes über den Steindamm nach Hause begab. Die Gesänge waren verstummt, die Frauen wohl zurück in die Häuser gegangen. Oder vielleicht auch in die Hütten dahinter.

Vor seinem Haus hatte es sich Almeida bequem gemacht, Catarina oder Maria hatte ihm Bier serviert, breit grinsend empfing er ihn:

„Na, Mandoza, wie gefällt Euch das Hospital?“

Hier blieb aber auch nichts unbeobachtet!

Filipe ließ sich auf einen der Stühle fallen. Es war Maria, die heute bediente, sie begrüßte ihn indem sie ihm schelmisch lächelnd am Ohr zupfte und ein Glas Wein servierte. Almeida lachte, sagte aber nichts.

„Interessant,“ antwortete Filipe vielsagend, „ich habe Lopes mal einen Besuch abgestattet.“

„Ihr habt Lopes besucht?“

„Fand ich mal angebracht. Und es war auch interessant, was er berichtete. Wusstet Ihr, dass die bösen Geister in Elektrokabeln wohnen?“

Almeida lachte laut. „Dass es hier viele Geister gibt, ist mir schon bekannt, böse und gute. Aber dass sie in den Kabeln wohnen, wusste ich nicht.“

Filipe erzählte die Geschichte mit dem Trafo und den toten Beschwörern, die Lopes ihm berichtet hatte.

„Also,“ begann Almeida nun wieder ernst, „etwas anders war das wahrscheinlich schon, ich nehme mal an, dass Lopes nicht dabei war. Mir ist nur bekannt, dass Menschen manchmal von bösen Geistern besessen sind oder irgendein Leiden haben, das durch die Bösen verursacht wird. Eine gängige Therapie durch den Stlijon geht dann folgendermaßen: Mit allerlei Tamtam drum herum wie Kräuterrauch, in imaginäre Spiegel aus Blätterfächern sehen, Schnaps in die Gegend spuken und sowas, begleitet von Trommeln, wird der Proband entkleidet; lieber entkleiden sie natürlich Probandinnen. Dann wird er mit einem Stück Seife oder ähnlichem eingerieben. Dabei werden alle möglichen Dingen frei, und der Schamane behauptet, dass sie aus dem Körper des Probanden kämen; sie wurden natürlich vorher in das Stück eingearbeitet. Was das für Sachen sind, hängt vom Problem des Probanden ab, oft sind es kleine Nadeln, die Schmerzen im Körper verursacht hätten. Danach werden gute Dinge aufgetragen, duftende Salben oder der Proband muss sich auf ein Blütenbett legen. Von Geistern, die Dinge bewohnen, habe ich noch nicht gehört, halte es aber durchaus für möglich, dass in einem solchen Fall genauso vorgegangen wird. Wahrscheinlich wurden damals am Trafo selbst oder an den Kabeln Verkleidungen entfernt, sie wurden sozusagen entkleidet. Wenn man dann die blanken Kupferlitzen anfasst, hat man natürlich schlechte Karten.“

Stlijon ist sowas wie ein Medizinmann, nehme ich mal an?“

„Genau.“

Die beiden schwiegen einen Moment, Almeida grinste in sich hinein und Filipes Hirn rotierte auf der Suche nach Wegen, derartiges zu umgehen. Er berichtete Almeida von seinen Plänen, Elektrifizierungen in die Wege zu leiten.

„Elektrifizierungen?“ er schaute skeptisch zu Filipe rüber, „ich glaube, der schlimmste Geist, den Ihr da beschwören müsst, ist Ribeira, das kostet doch bestimmt! Und die anderen? Tja,lasst doch alle Gerätschaften, bevor sie unter Strom stehen, von einem Schamanen mit guten Geistern versehen,“ schlug Almeida schelmisch lächelnd vor. „Es gibt doch auch Rituale, die die Guten anlocken, wie gesagt, duftende Salben oder Blüten.“

„Hm. Gute Idee. Kennt Ihr einen – äh – wie hieß der doch gleich?“

Wieder grinste Almeida: „Nennt ihn einfach Medizinmann. Carlos ist einer, glaube ich.“

Filipe lachte: „Ach deswegen guckt der immer so grimmig. Wahrscheinlich sieht er bei uns Weißen überall böse Geister.“

„Aber lasst Santos nichts davon wissen!“

Filipe rief nach Maria, die beiden baten – nein, Almeida orderte noch ein Bier und Filipe bat um ein weiteres Glas Wein.

 

Als Filipe am dritten Tag morgens wieder zum Steindamm ging um mit dem Zug in die Plantage VII zu fahren, hatte De Costa dort seine Männer aufmarschieren lassen, die Gewehre geschultert, und er befahl ihnen, den Zug zu besteigen. Den Lokführer wies er an, sie zur Roca Fernao Gomes zu bringen.

„Diese Bahn ist konfisziert!" beantwortete der Leutnant Filipes teils fragenden, teils wütenden Blick vom anfahrenden Zug herunter.

„Und warum? Was habt Ihr vor?"

„Staatsgeheimnis!" rief De Costa ihm vom zunehmend beschleunigenden Zug zu, Filipe hätte laufen müssen um ihm zu folgen, er ließ es bleiben, starrte wütend hinterher, der Hund bellte genauso erbost. Das Dröhnen von Almeidas Auspuff ließ ihn zurück zu dessen Haus schauen, in hohem Tempo kam er runter zum Damm, hielt an als er Filipe und Raposa erreicht hatte.

„Ich glaube, wir kriegen Ärger! Steigt ein!"

Filipe setzte sich neben ihn, Raposa sprang auf den Rücksitz, dann gab Aleida Gas und fuhr runter zu den Häusern.

„Was ist los?" wollte er von Almeida wissen.

„Weiß nicht genau. Ich habe gehört, dass es auf Fernao Gomes Probleme gibt: Die Leute streiken oder sowas Ähnliches!"

„Ist De Costa deswegen dahin?"

„Wahrscheinlich."

„Und was macht der da jetzt?"

„Mandoza! Das könnt Ihr Euch doch denken!"

„Wir haben doch nicht die Brücke gebaut, damit der da jetzt die Leute zusammenscheißen kann!" Filipe war stinksauer, so hatte er sich das nun wirklich nicht vorgestellt!

„So werden es unsere Leute aber sehen."

„Mist! Ihr befürchtet Solidarität?"

Almeida antwortete nicht, sie hatten inzwischen die Häuser erreicht, langsam fuhr er durch die Gasse, kaum jemand war zu sehen, vereinzelte Frauen mit undurchdringlichen Minen, die Kinder an den Händen, keine Waschweiber, keine spielenden Gören, nur die Tiere streunten herum wie eh und je; Raposa spürte die Anspannung, er verbellte nicht einmal die anderen Hunde. Weiter ging es zwischen den Gärten hindurch zu den Hütten der Tongas: Auch hier war alles ruhig.

Dann hörten sie Schüsse!

Aus der Ferne, irgendwo hinterm Krankenhaus!

„Scheiße!" entfuhr es Almeida. Er wendete, mit Vollgas raste er über die holprigen Wege zurück zur Roca, auf den Steindamm, weiter am Krankenhaus vorbei und zwischen den Kakao- und Ocabäumen hindurch parallel zu den Gleisen.

Wieder Schüsse, jetzt ganz in der Nähe, Geschrei drang durch den Dschungel aus Plantagenbäumen, endlich tat sich das freie Areal des kleinen Verschiebebahnhofs auf: Der Zug mit De Costas Leuten stand auf den Gleisen, seine Soldaten zielten mit angelegten Gewehren auf eine größere Menge von Arbeitern, die sich in respektablem Abstand zwischen Gleisen und Kakaobäumen versammelt hatten, auf dem freien Gelände dazwischen hockten zwei Schwarze mit blutverschmierten Hosenbeinen. De Costa selbst hielt dem Lokführer seine Pistole an den Kopf, offensichtlich um ihn zum Weiterfahren zu zwingen. Ohne zu zögern raste Almeida zwischen die Fronten, in der Mitte des Zuges hielt er an:

„Aufhören! Sofort aufhören! Die Gewehre runter!"

Irritiert schauten die Soldaten zu ihrem Leutnant, der starrte wütend zu Almeida, ließ seine Pistole sinken. Umgehend machte der Lokführer Anstalten zu fliehen, Almeida war aus dem Jeep gesprungen, erkannte sofort die sich zuspitzende Situation und stürzte auf den Mann zu:

„Bleib auf der Lok, du Idiot! Der knallt dich ab wie ein Stück Vieh!"

De Costa hatte schon die Waffe auf ihn gerichtet, hielt aber inne, als der Mann stehen blieb.

„Los! Zurück auf den Bock!"

Der Mann rührte sich nicht.

Almeida kam auf ihn zu, De Costa zielte immer noch mit lang gestrecktem Arm, absolute Stille!

„Wie heißt du?"

„Ro - Romano, Senhor" stotterte er, die Panik war ihm ins Gesicht geschrieben.

„Romano. Geh jetzt bitte zurück auf die Lok. Ich will hier keine Toten sehen!"

„Ja, Senhor."

De Costas Arm folgte dem Mann bis er den Führerstand wieder eingenommen hatte.

„Mandoza, kümmert Euch um die Verletzten," aber Filipe kniete schon neben dem Ersten, half ihm auf die Beine und stützte ihn auf dem Weg zum Auto, in dem er neben Raposa auf dem Rücksitzt Platz nahm; der Hund sah ihn mit seinen treuen Augen an und wedelte sogar ein wenig mit dem Schwanz als wolle er irgendwie trösten.

De Costa wusste immer noch nichts zu sagen, das forsche Auftreten Almeidas irritierte ihn offensichtlich. Er hätte nicht die geringsten Skrupel gehabt, den Lockführer und auch andere der Männer zu erschießen, wagte diese Eskalation nun aber nicht: Was sollte er tun, wenn Almeida sich zwischen ihn und die Arbeiter stellte? Diesen auch zu bedrohen oder gar zu verletzen hätte später doch einigen Erklärungsbedarf gefordert.

Almeida wartete, bis Filipe auch den zweiten Verletzten geborgen hatte, die Situation begann sich ein wenig zu entspannen, noch ein Blick in die Runde, keiner bewegte sich. Dann kam er auf De Costa zu, sein Blick sprach Bände und verlangte eine Erklärung!

„Ich und meine Männer sind hier, um auf der Insel für Sicherheit und Ordnung zu sorgen!" Und es hatte fast den Anschein, als hätte er vor Almeida Haltung angenommen.

„Dann tut das. Aber bedroht und erschießt hier nicht meine Leute!"

„Wenn Ihr dafür sorgt, dass Eure Nigger mich bei meinem Auftrag nicht behindern, dann haben wir kein Problem."

„Behindern?"

„Sie haben mich an der Weiterfahrt gehindert und den Lokführer aufgehetzt. Ich werde zur Roca Fernao Gomes fahren, dafür werde ich sorgen! Los, Nigger, fahr endlich weiter!"

Der Mann auf dem Führerstand sah hilflos zu Almeida, dann zu den anderen am Plantagenrand, drohend hob De Costa wieder den Arm mit der Pistole.

Almeida zögerte einen Moment, dann wandte er sich an den Lokführer: „Romano, tu was er sagt wenn dir dein Leben lieb ist. Wenn du es nicht tust, tut es ein anderer."

Verzweifelt starrte der Mann zu seinen Leuten, ein Raunen ging durch die Gruppe, wurde lauter.

„Leeegt an!" kommandierte De Costa in Anbetracht der zunehmenden Bedrohung.

„Männer!" Almeida hatte sich zwischen den Fronten in Stellung gebracht, mit dem Rücken zu den Soldaten mit den Gewehren, er hatte seine Peitsche in der Hand und schlug rhythmisch gegen seine Stiefel, „Romano wird die Soldaten jetzt zur Roca Fernao Gomes fahren! Das ist kein Verrat! Er hat keine andere Wahl! Wenn er es nicht tut, werden diese Herren Soldaten ihn erschießen, und wahrscheinlich auch einige von euch. Wollt ihr das?"

Schweigen.

„Wer will, dass Romano nicht weiter fährt, der trete jetzt vor!"

Niemand trat vor.

„Ihr werdet Romano deswegen nicht verurteilen. Sind wir da einer Meinung?"

Immer noch sagte keiner ein Wort, das Rumoren war abgeflaut.

„Sind wir da einer Meinung?!" Sein Ton ließ keinen Widerstand zu.

„Okay. Romano, fahr jetzt los!" kommandierte er nun dem Lokführer zugewandt. Der betätigte den Hebel, schnaufend setzte sich die Lokomotive mit den Anhängern in Bewegung. Dann wandte sich Almeida wieder den Männern zu, sah in die Runde, seine Peitsche hielt er nun ruhig nach unten.

„Zwei von euch kommen jetzt zu mir und berichten, was passiert ist!" forderte er die Leute auf nachdem der Zug in der Plantage verschwunden war.

Die Männer begannen zu diskutieren, erst leise, dann lauter, Bewegung kam in die Gruppe, offen sichtlich waren sie sich nicht einig, wer mit Almeida reden sollte. Der wartete noch einen Moment, dann trat einer einige Schritte vor:

„Du. Wie heißt du?"

Der Angesprochene starrte ihn an, wusste nicht, was er sagen sollte, sah zu den anderen, dann wieder zu Almeida.

„Wie heißt du?" fragte dieser ihn erneut.

„Ich heiße Christo, Senhor," kam es schließlich vorsichtig.

„Christo. Nun hab keine Angst, niemand wird dir was antun. Erzähl mir bitte, was passiert ist." Sein Ton war jetzt deutlich freundlicher.

„Wir waren oben in der Plantage VII, da kamen mehrere Arbeiter von Fernao Gomes. Sie haben uns ihre Striemen gezeigt, die sie auf dem Rücken hatten ..."

„Man hat sie ausgepeitscht", fiel ein andere ihm ins Wort, „aber sie konnten fliehen."

„Warum hat man sie ausgepeitscht?" wollte Almeida wissen

„Sie sollten schneller arbeiten," fuhr Christo fort, „schon früh morgens im Dunkeln anfangen. Man hat sie aus ihren Häusern geholt und angetrieben ..."

„Mit langen Peitschen!"

Senhor, wir haben nichts dagegen zu arbeiten. Aber man darf uns nicht mit der Peitsche antreiben! Die Ernte ist harte Arbeit, und wir machen die so gut wir es können."

„Aber hier hat euch doch niemand mit der Peitsche angetrieben."

„Wir wollten sie zu unseren Frauen bringen," fuhr nun wieder der andere fort, „damit sie die Wunden versorgen. Hier kam uns dann der Zug mit den Soldaten entgegen. Die Männer von Fernao Gomes bekamen es mit der Angst, ‚sie werden alle erschießen,' haben sie gerufen."

„Und da haben wir uns dem Zug in den Weg gestellt, Senhor."

„Wo sind die Männer von Fernao Gomes denn jetzt?"

„Sie sind in die Plantage geflohen."

Ein weiterer Zug schnaufte von unten herauf um Waggons und Arbeiter in die Plantagen zu bringen, sie alle starrten auf die Versammlung, der Lokführer bremste, aber Almeida deutete ihm, weiterzufahren.

„Sucht sie. Sie sollen zurück kommen und ins Krankenhaus gehen damit sie versorgt werden. Wir werden die beiden Verletzten auch dorthin bringen."

Senhor," mischte sich ein Dritter ein, „es war nicht gut, die Brücke wieder aufzubauen!"

„Warum war das nicht gut?" fühlte Filipe sich nun angesprochen.

Der Mann drehte sich zu ihm hin, grade und aufrecht sah er ihm ins Gesicht: „Sie nützt nur den Soldaten, die gegen uns vorgehen wollen!"

„Wir haben die Brücke nicht gebaut, damit sie von den Soldaten genutzt werden kann. Glaubt mir, mir gefällt die Geschichte auch nicht. Der Bau sollte den Transport der Ernte erleichtern, und das tut es doch auch. Eure Männer und Frauen müssen nicht alles von der Plantage VII herunter schleppen. Deswegen haben wir die Brücke wieder aufgebaut."

Der Mann sah ihn skeptisch an; Almeida unterbrach die Szene indem er sie alle aufrief wieder an die Arbeit zu gehen, „bei uns wird niemand mit der Peitsche angetrieben," setzte er hinzu, „das verspreche ich euch!" Er erklärte noch einmal, dass die Geschlagenen zum Krankenhaus gebracht werden sollen. Dann stieg er mit Filipe in den Jeep und fuhr mit den beiden Verletzten voraus.

„Wie kann man so bescheuert sein und die Peitsche benutzen," grummelte er unterwegs.

„Und wir haben den Ärger hier," stimmte Filipe ihm zu.

„Ich habe Euch gesagt, dass sie das mit der Brücke gegen uns interpretieren würden!"

„Aber das ist doch Schwachsinn!"

„Hoffentlich stimmt es sie milde, wenn der Doc sich um die Leute kümmert. Ich will hier keine Revolte!"

Am Krankenhaus sorgte er dafür, dass Silva die beiden persönlich in Empfang nahm und die erste Versorgung in die Wege leitete: Schußverletzungen, bei einem musste das Geschoss aus dem Oberschenkel entfernt werden. Almeida machte dem Doc unmissverständlich klar, dass er keine abfälligen Bemerkungen den Arbeitern gegenüber zu tätigen hatte!

„Wir müssen reden," meinte Filipe, der draußen am Auto gewartet hatte, „am besten gleich."

Almeida war einverstanden, zusammen fuhren sie zu Filipes Haus und setzten sich draußen vor die Tür. Carlos wurde beauftragt, auch Ribeira und Alves dazu zu holen; an Catarinas besorgtem Gesicht konnte Filipe erkennen, dass sich der Vorfall schon bis hierher herumgesprochen hatte. Raposa war auch aus dem Auto gesprungen, beschnüffelte jeden der Anwesenden und setzte sich dann neben Filipe, schließlich gehörte er auch zu dieser Männerrunde!

„Ihr habt eine Idee?" eröffnete Almeida ohne Umschweife die Diskussion.

„Wenn ich Euch richtig verstanden habe," begann Filipe als alle anwesend waren, „ist diese Ernte besonders gut. Das könnte auch der Grund sein, warum auf Fernao Gomes die Männer noch mehr angetrieben wurden. Wir haben gesehen, wohin das führt. Aber das ist der falsche Weg, wie Ihr mir sicherlich zustimmen werdet."

„Geht so," kommentierte Ribeira trocken, „die Nigger könnten ihren Hintern schon etwas schneller bewegen!"

„In den vergangene Jahren sind die Mengen der verkauften Kakaobohnen stetig gesunken," fuhr Filipe fort ohne auf die Bemerkung einzugehen, „ich glaube nicht, dass das nur an schlechten Ernten gelegen hat."

„Die Ernten waren nicht schlecht," bemerkte Almeida zur Information.

„Und warum sinken dann die Verkaufszahlen? Wenn jedes Jahr gleich viele Bohnen geerntet werden, aber stets weniger verkauft werden, dann müssen doch Früchte überzählig sein, sehe ich das richtig?"

Die anderen sahen sich an. Dieser simple Zusammenhang war bisher noch niemandem aufgefallen

„Man müsste in den Hallen mal erfragen, was die damit gemacht haben," meinte Alves.

„Die Nigger hatten keine Lust, sie haben das Zeug einfach vergammeln lassen" hatte Ribeira eine Erklärung parat.

„Oder sie sind an den Bäumen vergammelt, oder an den Sammelstellen," widersprach Filipe.

„Kann auch sein. Die Nigger in den Plantagen sind genauso faul wie die Nutten unten in den Hallen."

„Nun mäßigt mal Euren Ton! Ich habe Euch doch gesagt, dass ich das Wort Nigger hier nicht hören will!"

„Worauf wollt Ihr hinaus," fragte Almeida um das wenig zielführende Geplänkel zwischen den beiden zu beenden.

„Unser Maschinenpark ist völlig veraltet. Wenn wir moderne und effektivere Maschinen hätten, könnten wir viele Arbeitsgänge vereinfachen, Arbeiter einsparen, die dann dort eingesetzt werden könnten, wo Maschinen nicht arbeiten können, zum Beispiel in der Ernte an den Bäumen direkt."

Die anderen sahen ihn fragend an.

„Ich will es am Beispiel des Transportes erklären: Jetzt haben wir im Schnitt sieben einhalb einsatzbereite Lokomotiven, die alle schon Jahrzehnte auf dem Buckel haben. Jede Lok kann zehn Waggons befördern, das sind fünfundsiebzig Stück. Elektrische Loks könnten fünfzehn Waggons bewältigen; wenn wir davon zehn neue hätten, die dann nicht so reparaturanfällig wären, könnten sie insgesamt hundertfünfzig Waggons ziehen, also exakt doppelt so viele."

„Ihr geht also davon aus, dass die Früchte an den Bäumen oder den Sammelstellen vergammelt sind?" fragte Almeida.

„Was erst noch zu eruieren wäre," forderte Ribeira.

„Da werde ich mich gleich morgen drum kümmern," versprach Almeida.

„Aber Mandoza, Ihr wollt elektrische Loks? Wo wollt Ihr denn den Strom herbekommen?"warf Alves ein.

„Und eingesparte Arbeitskräfte sehe ich auch nicht," meinte Ribeira, „es sind immer noch zehn Lokführer."

„Aber niemand muss Holz zum Beheizen der Kessel bereit stellen, und niemand muss die Maschinen nachts unter Dampf halten, damit sie morgens gleich einsatzbereit sind."

„Wir haben nur ein Wasserkraftwerk auf der Insel," erklärte Alves, "durch ein Kanalsystem wird das Wasser der Bäche gesammelt und zum Kraftwerk geleitet. Der Strom reicht für das, was Ihr hier an Licht und Kühlaggregaten seht. Mehr ist nicht drin!"

Filipe schwieg, genau so hatte er sich das vorgestellt.

„Ihr müsstet die Kapazitäten erhöhen," erklärte Alves, der offensichtlich Gefallen an Filipes Idee finden konnte.

„Genau das ist auch mein Gedanke,“ stimmte dieser zu.

„Mehr Wasser haben wir aber nicht. Vielleicht sollten wir Santos bitten, seine Beziehungen nach oben spielen zu lassen," spottete Ribeira.

„Früher oder später müsst Ihr sowieso Geld für neu Loks rausrücken," entgegnete Alves, „einige der Maschinen stehen ja mehr bei mir in der Werkstatt als dass sie im Einsatz sind. Und warum sollten wir es nicht mit Elektrischen versuchen?"

„In den Bergwerken in Europa werden sie überall eingesetzt. Dampfloks sind wahrscheinlich kaum noch zu kriegen," pflichtete Filipe ihm bei. „Und, man könnte auch den Umgang mit den Bohnen automatisieren, das würde wirklich viele Arbeitskräfte freisetzen."

„Wie soll das denn gehen?“ fragte Ribeira abfällig.

„Die Bohnen werden jetzt in Säcke verpackt, diese auf die Waggons geladen, in den Hallen wieder abgeladen, ausgepackt und in die Fermentierwannen geworfen. Die Träger könnten sie auch lose in die Kipploren schütten, in den Hallen werden sie dann einfach in die Wannen gekippt, ein Hebelgriff des Lokführers reicht. Die Gleise müssten nur direkt über den Wannen verlaufen und nicht auf den Steigen dazwischen.

"Ich glaube, die Anschaffung von ein paar mehr von den Niggern wäre kostengünstiger," beharrte Ribeira.

„Und sozial unsicherer," gab Almeida in Anbetracht der Ereignisse des heutigen Tages zu bedenken.

„Unsere Soldaten werden das schon richten!"

„Unruhen können wir hier nicht gebrauchen, das wäre das größte Hindernis der Produktion."

„Also: Wo kriegen wir Strom her?" versuchte Alves die Diskussion wieder auf dieses Thema zu lenken.

„Windmühlen," schlug Filipe vor, das kannte er von zuhause. Eine der alten Kornmühlen auf dem Weingut hatte sein Vater als Elektrizitätswerk ausbauen lassen; die Kilowatt hatten sich zwar in Grenzen gehalten, aber da gab es bestimmt noch Verbesserungsmöglichkeiten.

„Könnte funktionieren," sinnierte Alves, „und bei Flaute?"

„Keine Ernte. Oder die Nigger - entschuldigung, die Schwarzen treten das Hamsterrad," konnte Ribeira seinen Spott nicht lassen.

„Wie wäre es mit einer großen Dampfmachine, die einen Generator antreibt? Im vorigen Jahrhundert hat eine solche Maschine eine ganze Fabrik mechanisiert. Oder Faulgase?"

"Faulgase?"

"Man müsste die Sickergruben miteinander verbinden. Bei den vielen Menschen hier fallen doch große Mengen an Exkrementen an. Die lassen sich vergären, es entsteht Gas und hervorragender Dünger."

„Die Häuser haben doch gar keine Sickergrube. Und die Hütten erst recht nicht."

Filipe sah fragend in die Runde.

„Plumpsklo mit Eimer drunter," erklärte Almeida, „und die Tongas graben ein Loch in die Erde. Wenn es voll ist graben sie ein neues."

„Elektrische, Windmühlen, Dampfmaschine und auch noch Sickergruben," ereiferte sich Ribeira, „das viele Geld kann ich Euch nicht genehmigen!"

„Wir können ja mit Windmühlen und zwei oder drei Loks anfangen. Wie Alves schon sagt: Neue Loks müssen sowieso her."

„Also, Eure Ideen solltet Ihr erst mal mit den Big Boss besprechen. Der kommt doch bestimmt demnächst, ist doch mal wieder Zeit für 'nen Kuppelball für die Infanten, auf Dos Angolares haben sie doch schon Einladungen verschickt. Ich allein werde Euch kein Geld genehmigen, damit Ihr Scheiße in Strom verwandeln könnt!"

Catarina brachte neue Getränke, eine willkommene Unterbrechung nach Ribeiras ablehnender Aussage. Filipe fragte in die Runde, ob sie zum Abendessen bleiben wollten, wogegen keiner der Anwesenden etwas einzuwenden hatte.

„Was wollt Ihr machen? Scheiße in Strom verwandeln?" Alfonso, der Biologe kam von der Straße her auf die Runde zu.

„Nun setzt Euch erst mal," lud ihn Ribeira kurzerhand ein zu bleiben, „unser junger Freund hat wirklich immer guten Wein, und Abendessen gibt's auch gleich."

Die anderen sahen ihn grinsend ein, schließlich war er hier nicht der Gastgeber, aber man verzieh ihm, denn sein Schnorrertalent war allgemein bekannt; wenn er es jetzt auch auf andere übertrug, hatte niemand etwas einzuwenden, zumal der Biologe wie alle anderen ja auch ein willkommener Gast war; Filipe freute sich, dass seine abendliche Runde inzwischen zu einer mehr oder weniger regelmäßigen Einrichtung geworden war.

„Wenn's recht ist?" fragte Biologe, aber Filipe hatte ihm schon einen Stuhl angeboten. Catarina deckte ein, brachte Früchte und neue Getränke.

„Mendoza braucht mehr Strom um alle Maschinen damit zu betreiben," erklärte Alves, "eine Idee, die wir vertiefen sollten."

„Und was hat die Scheiße damit zu tun?"

„Faulgase," erklärte Filipe noch mal, „und der dabei entstehende hochwertige Dung könnte Euch ja vielleicht auch interessieren."

Tat er, wie aus Alfonsos interessiertem Gesicht zu entnehmen war, aber ehe er was sagen konnte, ergriff Ribeira wieder das Wort:

„Lass uns erst mal den Infantenverkuppelungsball abwarten."

Die Runde lachte. „Was für ein Ding?"

„Den Ball, den die Bosse hier einmal im Jahr abhalten um ihre Nachzucht zu verkuppeln."

Alfonso lachte erneut: „Und was hat das jetzt mit der Scheiße zu tun?"

„Ist das nicht dasselbe?" feixte Alves, schallendes Gelächter, zuprosten.

„Ihr seid das erste Mal dabei," wandte sich Alfonso nun an Filipe, „nicht wahr?"

Mit skeptischem Gesicht fragte der: „Muss man dahin?"

Die anderen grinsten.

„Solltet Ihr," riet Ribeira mit einem zweideutigen Grinsen im Gesicht, „da werden Beziehungen geknüpft. Ihr seid ein junger, gut ausseheder Mann, kräftig gebaut, wie ihn die jungen Weiber lieben. Da werdet Ihr kaum Chancen haben, einer Einladung zu entgehen."

„Manchmal sind ja auch ganz passable Figuren dabei," meinte Alfonso, „im letzten Jahr war da doch so eine Kleine, damals noch zu jung, durfte nur zusehen. Wie hieß die denn noch mal?"

„Namen sind doch völlig egal," meinte Ribeira, „Hauptsache, da ist ordentlich was dran," und er griff sich an seine Brust.

„Keine Sorge, Mandoza," feixte Almeida, „so wenig wie der Buchhalter hat keine der Infantinnen!"

„Bei mir ist der Zug für die jungen Dinger doch abgefahren," grinste Ribeira statt des Angesprochenen.

„Sagt das nicht," widersprach Alfonso, „die älteren Damen stehen einer Abwechslung auch nicht so ablehnend gegenüber, das tropische Klima hier lockt die Hormone."

„Woher wisst Ihr das denn?" wollte Alves wissen, „erzählt doch mal!"

„Ihr wisst doch: Der Kavalier genießt und schweigt!"

„Angeber! Prost!"

Catarina brachte das Essen: Lammcarree, Matabala anstelle von Kartoffeln und eine große Gemüseplatte, allgemeines Lob für den kulinarischen Glücksgriff, den Filipe mit seiner Haushaltshilfe getätigt hatte.

„Von Euren Mädchen dürft Ihr dann aber nichts erzählen," riet Ribeira kauend, „die Infatinnen sind alle noch Jungfrauen. Sie wollen zwar erfahrene Männer, aber das muss alles weit zurück liegen." – „Und so eine Jungfrau zu knacken, das muss Euch doch reizen," setzte er hinzu nachdem er abgeschluckt hatte.

Brav lächelte Filipe mit den anderen, meinte dann aber: „Also, ich bin eigentlich ganz zufrieden mit meinen Mädchen, Jungfrau hin oder her, so toll ist das doch auch wieder nicht."

„Ach, habt Ihr denn schon eine geknackt?"

„Ribeira," lächelte Filipe ihn an, „das geht Euch schlicht nichts an!"

Catarina schenkte Getränke nach, offensichtlich hatte sie mitbekommen, wie Filipe sich hinter sie und Ihre Schwester gestellt hatte, jedenfalls strich sie ihm trotz der Gegenwart der anderen zärtlich übers Haar, was mit allgemeinem „Ho,ho" quittiert wurde; das enge Verhältnis der drei wurde inzwischen offensichtlich akzeptiert.

Die Runde zog sich noch hin bis tief in die Nacht. Später kam Silva noch dazu, kurz berichtete er über die Versorgung der Verletzten; so obskur seine Rolle in Bezug auf die vielen Zimmer in seinem Hause auch waren, in diesem Punkt war Verlass auf ihn: Die Gefahr der Unruhe hatte er sofort erkannt und sich entsprechend Mühe mit den beiden angeschossenen Arbeitern gegeben; auch die elf Männer mit blutigen Striemen auf dem Rücken hatte er einquartiert um sie erst mal aus der Schusslinie zu bringen.

Einerseits zufrieden, andererseits voll mit neuen Gedanken begab sich Filipe schließlich in sein Schlafzimmer. Catarina hatte Küchendienst und räumte auf. Maria lag schon im Bett, stand aber auf als Filipe kam, half ihm beim Entkleiden und zeigte sich ungeniert in ihrer verführerischen Schönheit.

Am nächsten Morgen brachte Catarina Café, Weißbrot und Marmelade ins Schlafgemach, zog sich aus und setzte sich im Schneidersitz zu den beiden auf's Bett als sei es das Selbstverständlichste der Welt, dabei hatten sie die unter den Frauen abgesprochene Nacht zu dritt doch noch gar nicht praktiziert.

„Es heißt, dass es keine gute Idee war, die Brücke wieder aufzubauen," begann sie, nachdem sie einen Schluck Café getrunken hatte.

„Ich weiß," sagte Filipe ernst, „aber ich wollte bestimmt nicht, dass De Costa mit seinen Leuten die neue Strecke zur Roca Fernao Gomes benutzt."

„Die Weißen dort sind sehr ungerecht. Wir haben Angst, dass es hier genauso wird."

„Almeida und ich werden alles in unserer Macht stehende tun um die Arbeiter hier ordentlich zu behandeln, das verspreche ich."

„Sieht Ribeira das auch so?"

Filipe schwieg. Er wusste, dass Ribeira da anderer Meinung war, und sein Schweigen war auch eine Antwort.

„Demnächst soll ja die Herrschaft kommen," gab Maria zu Bedenken, eine weitere Frage musste sie gar nicht stellen.

„Die kenne ich noch nicht. Aber ich denke, sie werden unsere Argumente einsehen: Unruhen würden die Ernte gefährden, und soweit ich das mitbekommen habe, ist denen alles egal solange der Betrieb gut läuft."

„Sie werden noch mehr Arbeit erwarten."

„Vielleicht. Aber die Arbeit organisiert Almeida, und der ist mit mir einer Meinung. Ich will versuchen, die Herrschaft davon zu überzeugen, dass der Maschinenpark modernisiert werden muss. Das wird Erleichterungen für die Arbeiter bringen."

Er erklärte ausführlich seinen Plan der Elektrifizierung und Automatisierung dort, wo es möglich ist, und er hoffte, dass die Schwestern Entsprechendes unter ihren Leuten verbreiteten.

„Das wird aber noch lange dauern," gab Catarina zu bedenken nachdem Filipe fertig war.

„Ich hoffe, dass wir bei der nächsten Ernte davon schon profitieren können."

„Was heißt 'profitieren'?"

„Dass wir die Annehmlichkeiten schon nutzen können."

Still sahen die beiden ihn an.

„Glaubst du, dass es Streit gibt in dieser Ernte?" fragte Maria schließlich.

„Ich hoffe nicht. Davon hätte keiner was. Ich werde auch versuchen mit den Leuten von Fernao Gomes zu reden, vielleicht kann ich sie ja überzeugen, sich im Umgang mit den Arbeitern ein wenig zu mäßigen. Und ich werde meine Vorhaben Stück für Stück mit euren Männern besprechen, damit sie wissen, was auf sie zu kommt. Das Wissen um Erleichterungen auf dieser Roca wird sie hoffentlich beruhigen, auch wenn es woanders schlimmer zugeht."

„Ich habe Angst," flüsterte Maria nach einer Weile, dann begann sie Filipes Brust zu streicheln, „ich glaube an dich, und ich hoffe, dass du die anderen überzeugen kannst."

Catarina sah den beiden eine Zeit lang zu, dann bettete sie ihren Kopf auf Filipes Schoß um ihre Schwester in ihren zärtlichen Bemühungen zu unterstützen.

 

Nach dem Aufstehen verzog Filipe sich in sein Arbeitszimmer. Planungen!

Zuerst wollte er sich mit den Lokomotiven beschäftigen, die maroden Dampfloks waren ihm einfach zu unsicher. Dabei tat sich die Frage auf, wo eigentlich der Zug geblieben war, mit dem de Costa zur Roca Fernao Gomes gefahren war!

Die notwendige Leistung musste er aus dem Gewicht der zu schiebenden Waggons und der zu bewältigenden maximalen Steigung errechnet. Und damit fingen die Probleme auch schon an: Er wusste nicht wie schwer so ein Waggon war, schon gar nicht, wieviele Kakaobohnen er transportieren konnte. Und was wogen die Bohnen überhaupt? Tausend Bohnen ein Kilo?

Ein Ingenieur schätzt nicht, er berechnet!

Und die Steigung, das Eigengewicht der Lok, die Reibung Rad auf Schiene, Metall auf Metall ...

Er erstellte eine Liste der zu erhebenden Daten.

Er suchte nach Daten in den Unterlagen - nein, er suchte erst mal Unterlagen über die Schienenfahrzeuge: Mit wenig Erfolg. Und noch dürftigeren Angaben!

Eine Sisyphusarbeit.

Es dauerte tagelang bis er endlich alle Informationen gesammelt und errechnet hatte.

Er brauchte drei Loks, damit wären die Ausfälle der alten Maschinen erst mal ausgeglichen. Akku-Loks, damit er keine Stromabnehmer bauen musste, die er hier auch als viel zu gefährlich empfand: Nicht auszudenken, wenn dort jemand in seiner Unwissenheit oder aus Aberglauben anfasste! Zur Erzeugung des Stroms favorisierte er Windmühlen. die würden am einfachsten zu errichten sein, er hatte hier auf der Insel schon welche gesehen, die Technik war also bekannt. Fehlten nur die Generatoren. In den Regalen suchte er nach Unterlagen bezüglich Elektrizität: Leistungen von Generatoren, Verbrauch von Motoren und dergleichen: Ohne Erfolg. Über dieses Thema existierte hier überhaupt nichts, niemand schien sich bisher damit beschäftigt zu haben. Er sollte das Wasserkraftwerk aufsuchen um dort Informationen zu erlangen.

Das E-Werk war eine recht moderne Anlage. Durch ein ausgeklügeltes Kanalsystem wurde das Wasser von den Bergen oben in ein Sammelbecken geleitet. Durch ein Fallrohr stürzte es dann herunter und trieb die Turbine an. Der zuständige Ingenieur, Senhor Gazha, zeigte ihm alles bereitwillig, offensichtlich war er sehr angetan davon, dass sich tatsächlich jemand für seine Anlage interessierte. Auf Pferden ritten sie den Berg hinauf, Gazha bestand darauf, Filipe auch das Sammelbecken und die Kanäle zu zeigen. Diese führten sogar durch Tunnel und über Brücken, Filipe war an die römischen Äquadukte erinnert, schon vor zweitausend Jahren wurde Wasser aus den Alpen in die Niederungen des Po in Italien geleitet; nicht wegen Elektrizität, sondern weil das Wasser aus den Bergen besser war, was für eine Dekadenz!

Bei Kaffee und Keksen besprachen sie Weiteres, das heißt, sie erzählten hauptsächlich über persönliche Dinge, die Heimat, das Leben hier, und was sie veranlasst hatte, hierher zu kommen und zu bleiben. Gazha war ein unehelicher Mulatten-Sprößling einer der Adelsfamilie, der hier eine Roca gehörte. In den Familienclan wurde er deswegen nicht aufgenommen, aber sozusagen als Abfindung wurde ihm das Studium finanziert und der Job hier besorgt. Er erzählte das alles ganz freimütig, und offensichtlich fühlte er sich auch wohl hier. Verheiratet war er nicht, wie viele der Mulatten auf Sao Tome ließ er die ehelichen Pflichten von der einen oder anderen Schwarzen erfüllen; dementsprechend freundschaftlich ging er mit der jungen Frau um, die sie bediente, und, das fand Filipe bemerkenswert, die Gazha auch mit Vornamen ansprach obgleich Filipe als Fremder anwesend war. Für Filipes Bindung an Catarina und Maria hatte Gazha vollstes Verständnis.

In männersolidarischer Stimmung verabschiedeten sie sich. Nachdem sie die Nachmittagshitze mit dem einen oder anderen Likör erträglicher gemacht hatten, fuhr Filipe wieder zur Roca Rio do Ouro; das einzige wirklich brauchbare Resultat dieses Tages war die Adresse der schweizer Firma, die die Turbine hergestellt hatte.

Noch am gleichen Abend setzte er ein Schreiben auf, indem er um ausführliche Informationen, Leistung, Kosten und dergleichen bat. Detailliert beschrieb er seine Probleme, seine Ideen zu Lösung derselben, und, wo er schon mal dabei war, bat er um Kontakte und Informationen bezüglich Windrädern, Dampfmaschinen und Faulgasanlagen. Er bat Catarina, ihm das Abendessen ins Arbeitszimmer zu bringen: Belegte Brote und eine Flasche Wein. Danach störte sie ihn nicht mehr. Aber nach etwa einer Stunde, es war schon dunkel draußen, klopfte sie wieder an und trat ein:

"Filipe, Senhor Almeida sitzt draußen, ich glaube, er wartet auf dich."

"Ist er allein?"

"Ja. - Ribeira ist einige Male vorbeispaziert," grinste sie, "da aber niemand draußen saß ist er weiter gegangen, zum Damm runter und wieder zurück."

Filipe musste auch lachen: Dieser alte Schnorrer!

"Bitte bring Almeida ein Bier, ich komme gleich." Sie gab ihm einen Kuss und verließ den Raum.

Als er fertig war nahm er seinen Wein und ging in die Küche um Catarina mitzuteilen, dass er jetzt auch draußen war. In der Tür blieb er verdutzt stehen: Beide Frauen saßen am Tisch, umgeben von einer Vielzahl von Büchern, jede hatte eines aufgeschlagen vor sich, offensichtlich lasen sie sich gegenseitig daraus vor. Irritiert sahen sie zu ihm auf und klappten die Bücher zu, aber er grinste nur anerkennend und gesellte sich zu Almeida.

"Sagt mal, Mandoza," begann Almeida ohne Umschweife, "was machen wir denn nun mit den Verletzten im Krankenhaus?"

Filipe sah ihn verdutzt an, gedanklich war er ganz woanders, aber die gestrigen Ereignisse waren nun schlagartig wieder im Vordergrund.

"Habt Ihr sie mal besucht?" wollte er ausweichend wissen weil ihm keine Antwort auf Almeidas Frage einfiel.

"Noch nicht. Ich sollte es morgen tun. Wollt Ihr mit?"

"Ich muss erst in die Stadt zur Post. Wenn Ihr wartet komme ich gerne mit."

"Irgendwann müssen die ja zurück nach Fernao Gomes."

"Ja - Wenn sie genesen sind."

"Ich glaube aber nicht, dass die da besonders freundlich empfangen werden."

"Hm. - Was ist eigentlich mit dem Zug, mit dem De Costa da rüber gefahren ist?"

"Der ist noch da. Um den müssen wir uns auch kümmern! Dieser Idiot! Wir brauchen den Zug dringend!"

"Vielleicht sollten wir erst mal nach Fernao Gomez fahren um dort die Lage zu sondieren. Maria und Catarina haben einen guten Draht zu ihren Leuten. Wenn ich die beiden richtig verstanden habe, befürchten sie Unruhen, die zu uns rüberschwappen könnten."

"Haben sie erzählt, was so geredet wird?"

"Nein, das nicht. Aber ich glaube, die Leute misstrauen uns, speziell mir. Wegen der Geschichte mit der Brücke denken sie, dass die Veränderungen, die ich anstrebe, ihnen nur Nachteile bringt."

"Aber sie wissen doch gar nicht, was Ihr vorhabt."

"Das nicht. Aber dass ich Veränderungen will, das ahnen sie offensichtlich."

Almeida schwieg, und Filipe war sich nicht sicher ob er vielleicht auch der Meinung war, dass die beabsichtigten Verbesserung nicht als solche empfunden würden, wohl aber den sozialen Frieden gefährdeten.

"Wir fahren morgen da rüber," meinte er schließlich, "mit dem Auto. Dann könnt Ihr auch erst zur Post."

Almeida wollte aufstehen, aber in dem Moment kam Ribeira von seinem Haus herüber:

"Bleibt doch noch, Almeida. Ihr müsst nicht gehen, wenn ich komme, es ist doch immer so gemütlich hier bei unserem jungen Freund." Er setzte sich, nahm Filipes Weinflasche und schaute sich nach einem Glas um. Grinsend rief Filipe nach Catarina, damit sie eins bringen möge. Nein, zwei, und noch eine Flasche Wein, Silva war im Anmarsch. Almeida schmunzelte still in sich hinein und bat um ein weiteres Bier.

"Den Verletzten geht es gut," platzte der Doc in die Runde noch ehe er sich gesetzt hatte, "die mit den Striemen können morgen entlassen werden. Nur mit den Schussverletzungen haben meine Mädchen noch ein wenig zu tun."

"Silva," begann Filipe, "lässt es sich einrichten, dass die Männer noch ein paar Tage bei Euch im Krankenhaus bleiben?"

Erstaunt sah der Angesprochene ihn an: "Aber die sind doch gesund! Die können wieder arbeiten!"

"Naja, ich glaube, dass sie auf Fernao Gomes erst mal nicht zur Arbeit rangezogen werden."

"Ihr glaubt, man wird sie bestrafen?"

"Wer nicht arbeiten will muss den Hintern versohlt bekommen," warf Ribeira ein.

"Ach, Ribeira! Ihr wisst doch gar nicht, worum es geht!"

"Ist doch egal. Schwarzer Hintern voll ist immer gut!"

"Ribeira!" nörgelte Almeida, "Irgendwie mag ich Euch. Aber mal ehrlich: Mit Euren Bemerkungen seid Ihr der letzte Henker!"

"Besser Henker als Weichei."

Die anderen lachten, er war eben wie er war. Und solange er keine Unruhe stiftete, war es auch nicht wichtig.

"Mal sehen," wandte sich Filipe wieder Silva zu, "morgen oder übermorgen kommen wir mal vorbei und besprechen die Lage."

Der sah verständnislos in die Runde, nahm einen Schluck Wein: "Wie ihr meint, Senhores."

Filipe brannte es auf der Zunge, den Buchhalter auf seine geplanten Investitionen anzusprechen, aber Silva kam hm zuvor:

"Ich habe mal über Eure Faulgasgeschichte nachgedacht, Mandoza. Ich glaube zwar nicht, dass Ihr mit den Exkrementen von drei- oder fünfhundert Leuten eine Turbine betreiben könnt. Aber unter hygienischen Aspekten wäre so etwas wie eine Kanalisation natürlich ein enormer Fortschritt, insbesondere unten in den Hütten. Und stellt Euch vor, man würde das ganze Viechzeug da mit einbeziehen! Kein MIst mehr auf den Gassen, kein Gestank, keine Choleraerreger und keine Bandwurmfinnen! Ach, habt Ihr eigentlich das Piperazin schon ausprobiert?"

"Wie wollt Ihr denn die Schweine und Hühner dazu bringen das Klo zu benutzen?" fragte Ribeira amüsiert.

"Schon mal was von Stall gehört? Den Mist könnte Mandoza doch gleich mit vergasen!"

"Ein großer Stall für hundert Schweine, zweihundert Hühner und fünfzig Ziegen," sinnierte Filipe und schaute in den Nachthimmel.

"Dann würden die Ziegen, diese blöden Viecher, auch nicht immer den Salat fressen und die Schweine die Gärten nicht mehr umgraben."

"Und wir hätten die doppelte Menge an Exkrementen. - Aber es wären Arbeiter notwendig, die die Tiere füttern. Das machen die ja jetzt von allein; würde Arbeitskräfte binden."

"Geht nicht," warf Almeida ein, "in der Ernte haben wir keine freien Kräfte!"

"Dann nehmt zweihundert Schweine, vierhundert Hühner und hundert Ziegen. Der Überschuss wird verkauft, davon kaufen wir die Sklaven. ein neuer Erwerbszweig, der vielleicht keine Gewinne abwirft, sich aber selbst finanziert. Und wir hätten bessere Hygiene, die famosen Agrarier mehr Salat und Ihr, Mandoza, die dreifache Menge an Mist; damit könntet Ihr vielleicht doch ein Turbinchen betreiben."

Die Runde starrte ihn an.

"Ich wusste ja gar nicht, dass Ihr so geschäftstüchtige Gedanken entwickeln könnt," lobte Ribeira den Doc, "und das mit viel weniger finanziellen Mitteln, als unser Freund Mandoza mir abzwacken will!"

Der verdrehte die Augen, sagte aber nichts, Silvas Idee gefiel ihm. Almeida schwieg ebenfalls: Irgendwo hatte die Geschichte einen Haken, er konnte aber nicht sagen, wo. Die vier diskutierten die Idee noch eine Weile, und nachdem sie eine weitere Runde vertilgt hatten, begaben sie sich zu Bett.

 

Am nächsten Morgen brachte Filipe das Schreiben zu Post in der Stadt, Luftpost. Das bedeutete, wie ihm der Beamte erklärte, dass der nächste Militärflieger den Brief mitnehmen und in Lisboa den dortigen Kollegen übergeben würde. Nach den Auftritten De Costas hatte Filipe eine richtige Abneigung gegen das Militär; gut Freund war er wegen der persönlichen Schicksale ohnehin nicht mit aller Art von Soldatischem. Und nun musste er noch die Hilfe dieser Leute in Anspruch nehmen! Aber per Schiff hätte ihm das alle viel zu lange gedauert, und da er sein Anliegen eilig gemacht hatte, hoffte er, die Antwort auch per Luftpost zu erreichen.

Almeida hatte draußen in seinem Jeep gewartet, gemeinsam nahmen sie nun den Weg zur Roca Fernao Gomes; ihren Besuch hatte er dort telegraphisch angemeldet.

Das Ensemble der Gebäude war an einem Hang errichtet worden, eine breite gepflasterte Straße führte mitten hindurch, große Bäume spendeten überall Schatten, gepflegte Häuser rechts und links, wahrscheinlich für die weißen Mitarbeiter, die Behausungen der Arbeiter waren von hier nicht zu sehen. Im Zentrum des dorfähnlichen Komplexes befand sich an einem größeren Platz rechts das Herrenhaus mit dem typischen überdachten Rundgang, links das Verwaltungsgebäude mit einer doppelseitigen breiten Treppe. Hier hielt Almeida an. Von den Arbeitern war kaum jemand zu sehen, wahrscheinlich waren sie in den Plantagen oder Hallen beschäftigt. Aber Soldaten lungerten überall an den Ecken herum.

Filipe war schon erstaunt über dieses große Haus, das gewisse Ähnlichkeit mit dem Krankenhaus ihrer Roca hatte, nur eben doch deutlich kleiner. Wieso brauchten die denn hier so viel Platz für die Verwaltung? Oder andersherum: Warum brauchte die Roca Rio do Ouro nur so wenig Platz? Machte das dort Ribeira mit seinen Schreiber alles allein? Verwaltungsarbeit für mehrere hundert Leute? Er hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, merkwürdig fand er es aber schon. Oder gab es für die Arbeiter gar keine Personalakten und dergleichen? Man ließ sie einen Vertrag unterschreiben, den sie nicht lesen konnten, so hatte Catarina es erzählt. Dann wurde das Ding weggeheftet und das war's? Und die dort Geborenen, vielleicht hatten die nicht einmal das. Gehaltsabrechnungen? Gab es offensichtlich nicht, warum auch: Lesen konnten die Betroffenen sie ohnehin nicht. Und wenn doch mal einer eine haben wollte, wurde wahrscheinlich schnell eine angefertigt; stand ja doch nur drin, dass das Gehalt nicht reichte um Miete und Kosten für die wenigen Dinge, die die Arbeiter im Laden kaufen mussten, abzudecken. Wahrscheinlich hatte Ribeira nur Unterlagen über die zwei Dutzend weißer Mitarbeiter und natürlich den Ein- und Verkauf. Aber dafür reichte wahrscheinlich er und ein Schreiber.

Inzwischen waren sie von einer weißen Sekretärin - Filipe kam aus dem Staunen nicht heraus - ins Büro des Verwalters gebeten worden, ein Senhor Sousa. Er saß hinter seinem Schreibtisch und blätterte geschäftig in Unterlagen herum, derart demonstrativ, dass Filipe der Gedanke beschlich, dass er eigentlich nichts zu tun hatte. Der schmächtige Mann mit akkurat frisiertem Schnauzbart, perfekter Frisur und blassem Teint erhob sich zur Begrüßung, makellose Kleidung, ein krasser Gegensatz zur cowboyähnlichen Erscheinung von Almeida und Filipe, der sich im Laufe seiner Anwesenheit auf Rio do Ouro an eine gewisse Rauhbeinigkeit angepasst hatte.

"Meine Herren, ich begrüße Euch auf Fernao Gomes"

Filipe und Almeida stellten sich auch vor; "Ach," lächlte Sousa Filipe an, "Ihr seid Senhor Mandoza! Von Euch habe ich ja schon viel Gutes gehört, das mit der Brücke zum Beispiel, tüchtig, tüchtig. Sie hat ja auch schon ihre Schuldigkeit getan."

"Freut mich, dass Ihr das Bauwerk begrüßt," murmelte der Angesprochene pflichtbewusst.

"Ja, die Infrastruktur zwischen uns kann nie gut genug sein. - Aber - entschuldigt meine Nachlässigkeit: Darf ich Euch etwas anbieten? Einen Café mit Schokoladenkeksen? Oder lieber einen kleine Port?"

"Café und Kekse sind schon in Ordnung," warf Almeida kühl ein, eine besondere Sympathie schien zwischen den beiden nicht zu bestehen. Sousa rief seine Bedienstete, eine junge Einheimische, die das Gewünschte zu bringen hatte!

"Dass De Costa der erste Profiteur der Brücke ist," brachte Almeida das Gespräch auf den Punkt, "also, so hatten wir uns das nicht vorgestellt."

Sousa schaute ihn erstaunt an: "Also, zum Glück war die Strecke fertig. Seine Hilfe konnten wir gut gebrauchen."

"Ich will offen mit Euch reden, Sousa: Ihr wisst, ich bin kein Freund von sozialen Unruhen. Wenn Frieden ist, arbeiten die Männer am besten. Wie konnte es bei Euch zu den Auseinandersetzungen kommen, die schließlich dazu führten, dass Eure Leute zu uns flüchteten? Ich kann nicht akzeptieren, dass unsere Leute aufgewiegelt werden."

Während er redete verfinsterte sich die Mine von Sousa: "Ich bin auch kein Freund von Unruhen, Almeida. Aber ich kann es nicht dulden, dass die Nigger hier nur faulenzen. ihr wisst doch, wie das in der Ernte ist: Arbeit, Arbeit, Arbeit."

"Und Eure Leute wollten nicht arbeiten?"

Sousa lachte. "Das, was die unter Arbeit verstehen, würde ich als Urlaub bezeichnen. Und, ich weiß ja, Almeida, dass Ihr die Nigger mit Samthandschuhen anfasst; ich glaube nicht, dass sie dabei die Leistung erbringen, die wir von ihnen erwarten können. Meine Methoden halte ich für deutlich effektiver: Meine Mitarbeiter tun ihr Bestes, um die Schwarzbacken zu motivieren. Wenn die dann aber ihre Macheten gegen meine Leute zu erheben, muss schon mal die Peitsche sprechen. Meine Männer sind nicht mit Schusswaffen bewaffnet; zur Sicherheit habe ich De Costa gebeten, hier Präsenz zu zeigen. Zum Glück hatte er sich bei Euch einquartiert. Seitdem die Soldaten hier sind, läuft es wesentlich besser."

"Ihr spielt mit dem Feuer, Sousa!"

"Ach was. Ab und zu muss man mal ein Exempel statuieren, das bringt sie wieder zur Raison. Ihr hättet nicht eingreifen sollen!"

"Was Ihr hier macht, ist Eure Angelegenheit. Aber sorgt bitte dafür, dass unzufriedene Arbeiter nicht noch mal zu uns flüchten."

"Almeida!" Er schlug einen väterlichen Ton an, obgleich er etwa das gleiche Alter haben musste, "De Costa hätte sie doch aufgehalten. Aber Ihr musstet Euch ja unbedingt einmischen! Das hättet Ihr doch nicht tun müssen, Almeida. Apropros: Wo sind eigentlich meine Nigger? Ich dachte es sei der Zweck Eures Besuches sie mir zurück zu bringen."

"Die werden von unserem Doc gesund gepflegt."

"Wie gesund gepflegt? Meint Ihr die paar Schrammen, die die Faultiere einstecken mussten? Unser Doc kann sowas auch!"

"Und was ist mit unserem Zug?"

"Euer Zug? Der ist vom Militär konfisziert. Aber ich könnte ein gutes Wort einlegen, dann hättet Ihr ihn vielleicht schneller zurück."

"De Costas Leute brauchen ihn doch nicht mehr. Wir aber dringend in der Ernte."

"Ich mach Euch einen Vorschlag, Almeida: Um Mitternacht überstellt Ihr meine Nigger an der neuen Eisenbahnlinie. An der Grenze nehmen wir sie in Empfang. Als Gegenleistung könnt Ihr da Euren Zug zurück haben."

Die Männer sahen sich an, Sousa lächelte freundlich, aber sein Lächeln kam nicht von innen. In Almeidas Gesicht zeichnete sich zunehmend ein Hauch von Spott und Verachtung ab. Er schüttete den restlichen Cafè hinter die Kehle, im Aufstehen stimmte er dem Vorschlag zu und verließ den Raum. Filipe folgte hastig: "Danke, ich finde allein hinaus!"

"Mein Gott, ist das ein dämlicher Sesselfurzer," entfuhr es Almeida, als sie im Auto saßen, "aber der ist gefährlich," setzte er hinterher. Schweigend fuhren sie durch die hügelige. grüne Plantagenlandschaft, ab und zu begegneten ihnen bepackte Arbeiter oder Frauen mit Lasten auf dem Kopf, auch der eine oder andere Lastwagen quälte sich über die kurvige und gebirgige Straße.

"Wir müssen ihm die Arbeiter überstellen," sinnierte Almeida nach einer Weile, "er wird sie sonst von De Costa abholen lassen."

"Und dann werden sie hart bestraft und müssen danach erst recht arbeiten, oder wie?"

"Nein. - Mandoza, dieses Gespräch muss unter uns bleiben. Auch Eure Mädchen dürfen davon nichts erfahren, einverstanden?"

Nachdem Filipe, Böses ahnend, genickt hatte, fuhr Almeida fort: "Sie werden nicht bestraft und müssen nicht mehr arbeiten. Sie werden verschwinden."

Erschrocken sah Filipe ihn an, damit hatte er nicht gerechnet: "Wie kommt Ihr darauf?"

"Den Männern haftet etwas Symbolhaftes an. Sie sind zwar nur geflüchtet, haben aber das Zeug für Märtyrer oder sowas Ähnlichem, weil sie sich unkonform verhalten haben, unkonform im Sinne der suosaschen Ordnung. Das glaubt er nicht durchgehen lassen zu dürfen. Also müsste er sie bestrafen, dann sind sie aber erst recht Märtyrer, Figuren, an denen ich Solidaritäten, sprich Unruhen entzünden könnten. Und wahrscheinlich auch würden. Da die Strafen so ausfallen würden, dass sie auf längere Sicht arbeitsunfähig wären oder an den Folgen sterben würden, kann er sie als Arbeitskräfte ohnehin abschreiben. Ihr werdet sehen: De Costas Leute werden den Zug selbst an die Grenze fahren, ohne Zeugen. Wenn es Nachfragen gibt, wird es heißen, dass die Männer noch bei uns sind. Und wir bringen in Umlauf, dass sie auf Fernao Gomes sind."

"Und da wollt Ihr mitspielen?"

"Habt Ihr einen besseren Vorschlag?"

Den hatte Filipe nicht, er schwieg.

"Das Recht ist auf seiner Seite: Er betrachtet die Männer als sein Eigentum, was sie de facto ja auch sind. Der Deal, sie gegen eine andere Sache, den Zug, auszutauschen ist in seinen Augen also nur gerecht. Wie gesagt, wenn wir sie nicht ausliefern, wird er sie holen lassen. Nicht auszudenken, was passiert, wenn die Soldaten unsre Roca durchkämmen; dabei gäbe es mit Sicherheit auch Tote. Sousa ist ein eingebildeter, eitler Bürohengst, der klassische Schreibtischtäter, der sich selbst die Finger nicht schmutzig macht, die Drecksarbeit machen andere. Der Wurm hätte nicht den Mumm, sich an der Aktion zu beteiligen, aber leider hat er die Macht, seinen Willen durchzusetzen."

"Da kann ich nicht mitmachen, tut mir leid."

"Dann bleibt einfach zu hause, ich werde allein zur Grenze fahren."

Still fuhren sie weiter, hatten die Küstenstrasse erreicht, Filipes Gedanken rotierten.

"Seht mal, Mandoza, wir haben die Verantwortung für unsere Leute, unsere Roca. Wir können es nicht zulassen, dass die Problematik von Fernao Gomes auf uns überschlägt. Wenn die meinen, ihre Leute mit Gewalt zur Arbeit antreiben zu müssen, dann können wir das nicht ändern. Die Verhältnisse sind hier auf der Insel nun mal so: Wir Weißen oben, die Schwarzen unten. Auch das werden wir beide nicht ändern können, und es ist die Frage, ob man da was ändern sollte. Aber wir können darauf achten, dass es bei uns, unseren Leuten gegenüber keine derartigen Auswüchse gibt."

"Das ist Mord. Schlicht und einfach Mord."

"Nennt es, wie Ihr wollt, es dürfte immer eine Frage des Standpunktes und der dazugehörigen Moral sein. Und auch eine Frage der Macht."

"Moral! Wo ist da denn noch Moral?!"

"Es ist die Moral der Herren. Ich bin überzeugt, dass Leute wie Suosa jeden Sonntag brav in die Kirche gehen, in deren Weltbild sind die Schwarzen Menschen zweiter Klasse in einer von Gott gefügten Ordnung. Darin hat jeder seine Aufgabe, und die der Schwarzen ist es, zu arbeiten und zu dienen. Solange jeder diese göttliche Ordnung akzeptiert, passiert auch nichts. Eine Revolte dagegen, und sei sie noch so schwächlich, ist natürlich auch eine Revolte gegen Herren wie Suosa, aber es ist auch eine Revolte gegen die so interpretierte göttlich Ordnung. Und ein guter Christ ist selbstredend bemüht, diese aufrecht zu erhalten beziehungsweise sie wieder herzustellen, notfalls mit Gewalt."

"Aber die Verletzten im Krankenhaus rebellieren doch gar nicht mehr!"

"Im Moment nicht. Ich sehe aber, wie Suosa, auch die Gefahr, dass sie zu Symbolfiguren werden, an denen sich Revolten entzünden können. Sie verschwinden zu lassen ist eine Vorsichtsmaßnahme, die nach dem Weltbild von Suosa ein größeres Blutvergießen verhindern soll. Und ich glaube, dass es das auch tut."

"Ihr stimmt Suosas Einstellung zu?" Filipe war echt empört, das hätte er von Almeida nicht gedacht!

"Ich stimme dem nicht zu. Wenn ich aber so bescheuert wäre, wie Suosa mit Gewalt gegen die Schwarzen vorzugehen, dann müsste ich gradezu Todessehnsucht haben, wenn ich sie nicht verschwinden ließe. In seinem Weltbild gibt es eben keine Kompromisse mit den von ihm als Untermenschen empfundenen Schwarzen, keine Verhandlungen, nichts außer Gehorsam oder Tod. Ich glaube nicht, dass dieses Weltbild langfristig überleben kann, insbesondere dann nicht, wenn solche, gradezu psychopathische Denkweisen dazu angetan sind, Ihresgleichen anzuziehen und hier auf dieser Insel zu einem unheilvollen Konglumerat vereinigt."

"Ihr denkt, dass die gesellschaftlichen Strukturen hier nicht zu halten sind, möglicherweise im Chaos enden."

"Naja, die Regierung wird es zu verhindern wissen, dass hier russische Verhältnisse entstehen. Aber wenn es in unseren anderen Kolonien ähnlich aussieht, weiß ich nicht, ob sie dann die militärische Macht dazu hat. Ich halte es nur für sicher, dass es auf dem Weg zu Veränderungen viel Blutvergießen geben wird."

"Und ich bin mir nicht sicher, ob das hier nicht so etwas wie ein Anfang davon ist," setzte er nach einer Weile hinterher, "wir sollten vorsichtig sein und auf der Hut. Und vor allem nicht so dämlich wie Suosa!"

Am Steindamm stieg Filipe aus, auf einen Besuch der Arbeiter im Krankenhaus verzichtete er, er hätte es nicht fertig gebracht mit diesen Männern zu reden mit dem Bewusstsein, dass sie den nächsten Morgen nicht mehr erleben werden.

Zuhause verkroch er sich in sein Arbeitszimmer, breitete verschiedene Unterlagen aus um den Eindruck der konzentrierten Arbeit zu erwecken; er hoffte so, seine Sorgen vor Catarina und Maria verbergen zu können: Er hatte Almeida versprochen nichts zu erzählen. Und er war inzwischen auch der Meinung, dass das wahrscheinlich der richtigere Weg war.

Nach dem Abendessen nahm er seinen Wein mit vor die Tür; Ribeira und Alves warteten bereits und hatten sich von Maria schon mal das eine oder andere Getränk bringen lassen. Sogar Santos kam vorbei, bestens aufgelegt wie die anderen auch; Filipes Zurückhaltung fiel ihnen in ihren Plänkeleien gar nicht auf. Almeida kam natürlich nicht, Filipe stellte sich vor, wie er nun grade den Zug an die Grenze der Roca fuhr - wie er die Arbeiter nur überzeugt haben mochte mit ihm zu fahren?! Es war doch unmöglich, dass Almeida alleine sieben Männer mit Gewalt in den Zug bringen konnte! Waren De Costas Leute vielleicht doch von der anderen Seite gekommen um ihm zu helfen? Unwahrscheinlich! Die Gefahr von Auseinandersetzungen mit Schüssen war viel zu groß; Almeida traute den Soldaten ohnehin nicht über den Weg! Vielleicht hatte man sie vorher unschädlich gemacht, gefesselt - oder betäubt? In einem Krankenhaus gibt es immer Betäubungsmittel. Dann müsste Silva aber eingeweiht sein - vielleicht war er das ja auch - vielleicht wurden die Männer dort schon seit ihrer Ankunft mit Medikamenten ruhig gestellt? Damit sie nicht flüchteten? Silva nahm heute nicht an der abendlichen Runde teil, was nichts bedeuten musste, tat er sonst ja auch nicht immer. Filipe hoffte, dass er noch kam, er wollte wissen, ob er heute besonders nach Carbol roch - ein wenig von diesem typischen Geruch haftete ihm ja immer an. Aber wenn er die Arbeiter damit ruhiggestellt hatte, müsste es deutlich intensiver sein. - Wieso roch er denn als Chef einer Klinik immer nach Karbol? Was oder wen betäubte er denn da sonst noch?

Filipe, dir geht die Fantasie durch! Er schenkte sich Wein nach und fiel ein in das herzhafte Lachen der anderen wegen eines Witzes, den er gar nicht mitbekommen hatte.

 

Es war nicht zu übersehen, dass über Sao Tome allmählich so etwas wie eine fünfte Jahreszeit hereinbrach: Die Ballsaison. Die Besitzer und Familienclans, denen die Rocas und damit eigentlich die gesamte Insel gehörten, lebten meist im fernen Portugal oder auch sonstwo auf der Welt; nur wenige der Besitzer hatte hier ihren Hauptwohnsitz. Obgleich die klimatischen Verhältnisse es eigentlich zu jeder Jahreszeit erlaubten, hier Feste zu feiern, hatte sich der europäische Spätsommer (passt das mit der Ernte?) als Ballsaison durchgesetzt. Die Eigner und deren mehr oder weniger großer Anhang verlebten einige Wochen auf dieser wunderbaren tropischen Insel; neben den dabei genossenen Urlaubstagen wurden die gegenseitigen Besuche auch genutzt um Informationen auszutauschen, Geschäfte abzuschließen und Verbindungen zu knüpfen. Der Höhepunkt eines solchen Aufenthaltes war dann der jeweilige Sommerball.

Während das Herrenhaus in der übrigen Jahreszeit eher in einen Dornröschenschlaf verfiel, wurde es vor der Ankunft der ersten Gäste hergerichtet, geschmückt mit Blumendekor und Obstschalen, Lampions in den Gärten und Duftkissen gegen den angestaubte Geruch im Inneren. Diese Arbeiten verrichteten ausschließlich Frauen, sie waren eingekleidet worden mit adretten Dienstkleidungen. Filipe beobachtete amüsiert, wie sie es übten zu bedienen, Gläser und Flaschen elegant zu tragen und zu servieren. Aber sie mussten auch die schwereren Arbeiten im Garten tätigen, wie Unkraut entfernen, Büsche zurecht schneiden oder ein Blumenbeet neu herrichten. Almeida, in dessen Aufgabenbereich es fiel, das Haus in Schuss bringen zu lassen, weigerte sich standhaft auch nur einen seiner Arbeiter aus der Ernte abzuziehen. Stattdessen hatte er ein offensichtlich funktionierendes System der Delegation entwickelt: Zwei oder drei Forro-Frauen wurden beauftragt, sich eine angemessene Schar von Helferinnen unter den Contrados zu organisieren, mit der sie alles so herrichteten, dass es möglichst keine Klagen gab. Es schien keine Probleme zu geben, die gewünschten Mitarbeiterinnen zu finden, und Filipe erinnerte sich an die Worte von Maria, dass es für die Einheimischen durchaus als Vorteil angesehen wurde, hier oben zu arbeiten. Bei der Auswahl der Mädchen schien weniger deren Arbeitsfähigkeit von Bedeutung zu sein denn die Attraktivität. Dabei, so musste er amüsiert feststellen, wurden alle nur denkbaren Schönheitsvorstellungen berücksichtigt: Von schlank bis vollbusig, klein oder groß, niedlich oder burschikos. Und: Almeida hatte von etwa zwanzig gesprochen. Filipe konnte sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass es deutlich mehr waren. Oder das mehrere Kolonnen eingearbeitet wurden. Die Erfahrung zeigte offenbar, dass die Herrschaften großen Wert darauf legten von netter Weiblichkeit umgeben zu sein, und dass zwanzig dabei einfach zu wenige waren!

Er erwartete, dass zur Anreise der Besitzer ein größerer Pulk an Nobelkarossen erscheinen würde, mit viel Gepäck und wahrscheinlich auch noch mitgebrachter Dienerschaft. Dem war aber nicht so. Er war den ganzen Tag zusammen mit Raposa durch die oberen Plantagen geritten um geeignete Standorte für die Windmühlen zu erkunden. Als er abends über den Steindamm zurückging überholten ihn zwei ausländische Sportwagen, Jaguar und Ford Mustang? Er kannte sich damit nicht so aus. Cabrio, offenes Verdeck, je zwei junge Spunde, leger den Ellenbogen raus, kurzes Gasgeben, sie parkten vor dem Herrenhaus. Sofort eilten die Bediensteten herbei um das Gepäck ins Haus zu tragen. Tür zu, das war's.

Abends saß die lockere Runde wieder vor Filipes Haus, ziemlich vollständig, sogar Miguel und Jose, die beiden Mechaniker, Silva und der Sacerdoten waren gekommen. Der Grund des großen Interesses wurde Filipe erst im Laufe des Abends klar: Während es im herrschaftlichen Hause zunächst relativ ruhig war, ab und zu standen die Herren auf der Balustrade und rauchten, man hörte sie lachen und erzählen, so wurde es mit zunehmender Stunde immer lebendiger, und natürlich lauter: Musik, Singen, Gläser klirren, weibliche Stimmen mischten sich dazwischen, und Alves wettete mit Almeida, dass sich noch vor Mitternacht der erste über die Reling übergeben würde - Almeida gewann, es war 23,16 Uhr! Die Rundgänge waren hell erleuchtet, sodass nichts, was draußen passierte, verborgen blieb. Der Sacerdoten schüttelte immer wieder den Kopf, beklagte den Verfall der Sitten, was in der Runde nur mitleidiges Grinsen provozierte, und als einer der Herren vom Balkon herunter urinierte, wetterte der Pfaffe mit erhobenem Zeigefinger zu ihm hin. Später dann Hasch mich über die Balustraden, dunkelhäutige Frauen, die Männer mit entblößtem Oberkörper, eindeutig zu interpretierendes Jauchzen und Geschrei; dass die Herren dabei Zuschauer hatten, schien ihnen völlig gleichgültig zu sein. Das war der Zeitpunkt, an dem Santos die Runde verließ.

Am nächsten Morgen nahm Filipe seinen Kaffee und ging kurz vor die Tür um einen Blick auf das Herrenhaus zu werfen: Still und friedlich wurde es von der aufgehenden Sonne beleuchtet, Dienstpersonal war mit Reinigungsarbeiten beschäftigt, der Spuk war vorbei. Er begab sich in sein Arbeitszimmer und beschäftigte sich mit den Planungen für die Windmühlen, die Dampfmaschine und die dazugehörenden Turbinen. Am frühen Nachmittag hörte er die beiden Sportwagen davonbrausen.

An den nächsten Abenden war es ruhig, die Horde suchte wohl andere Rocas heim. Aber dann war erneutes Feiern angesagt, die Gruppen wurden größer. Ältere Herrschaften mit ihren Frauen, was die Abende deutlich ruhiger verlaufen ließ, dazwischen immer wieder ungezügelte Auswüchse der Jugend. Und eines Tages kamen doch die Luxuslimousinen, Mercedes, der Patron mit seiner Familie. Von nun an ging es gesittet zu, jedenfalls nach außen. Die wilde Feierei fand jetzt wahrscheinlich woanders statt, oder vielleicht hatte das Jungvolk sich inzwischen auch ausgetobt. Beinahe an jedem Abend kamen Gäste, mal größere Gruppen, mal nur Einzelne. Personal hatte vor dem Haus dauerhaft Stellung bezogen, um die Ankommenden sofort angemessen in Empfang zu nehmen, das heißt tiefer Diener, Gepäck tragen und Türen aufhalten. Die Herrschaften würdigten die jungen Frauen dabei meist keines Blickes und erst recht gab es keine Worte.

Trotzdem war es für Filipe und die anderen eine interessante Abwechslung, fast wie Kino, und sie ergingen sich stets in ausführlichen Lästereien. Den Herrschaften konnte ihre allabendliche Runde nicht entgangen sein, aber auch sie wurden keines Blickes gewürdigt. Auch von dem Geschehen auf der Roca, den Arbeiten, den Plantagen und den anderen Menschen dort schienen sie keinerlei Notiz zu nehmen. Filipe war sich sicher, dass noch keiner der vornehmen Damen und Herren die Häuser oder gar die Hütten besucht hatte. Um so erstaunter war er, als er eines Abend zwei junge Männer vom Herrenhaus her zum Steindamm schlendern sah: Und sie grüßten die allmählich zusammentreffende Runde sogar! Gute dreißig Minuten später kamen sie zurück, blieben stehen, berieten sich kurz und kamen auf die inzwischen vollständig versammelte Runde zu:

"Guten Abend, Senhores," grüßte der eine, helle Hose, offenes Hemd, einen kleinen Strohhut auf dem Kopf, "ist es erlaubt sich zu Euch zu gesellen?" fragte er höflich.

"Wenn Ihr einen guten Tropfen mitbringt seid Ihr jederzeit willkommen," konnte Ribeira es nicht lassen.

Die beiden lachten, sie winkten den Frauen, die vor dem Herrenhaus Stellung bezogen hatten, umgehend kam die eine angelaufen: "Ja, Senhor?" Tiefer Knicks mit gesenktem Haupt.

"Ach, bring uns doch mal schnell zwei Flaschen Rioja!"

"Ja, Senhor." Knicks, und hastig lief sie zurück. Inzwischen kam Maria aus dem Haus, brachte freundlich lächelnd zwei Gläser für die neuen Gäste, Gebäck und Obst: "Alles recht so? Oder haben die Senhores noch Hunger?" Grader Blick, kein Knicks.

"Alles Bestens, Maria, vielen Dank," lobte Almeida, "wenn wir noch was brauchen, rufen wir."

Sie lächelte noch mal in die Runde, strich Filipe kurz übers Haar und zog sich zum Hauseingang zurück, jederzeit bereit, den Service fortzuführen. Zeitgleich kam die andere vom Haus mit den beiden Flaschen Wein, Knicks: Senhor, devot, was für ein krasser Gegensatz!

Die beiden Fremden sahen sich kurz an: "Es gefällt mir, wie Ihr mit Euerm Personal umgeht," bemerkte der mit dem offenen Hemd, "aber entschuldigt, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt: Daniel und Antonio."

Die Anwesenden murmelten mehr oder weniger deutlich ihre Namen. Riebeira nahm eine der gespendeten Flaschen zur Hand: „Marques de Murieta, Jahrgang fünfundzwanzig, Ihr habt Geschmack, Senhores. Und was der Umgang mit unserem Personal angeht, wisst Ihr, Daniel, das ewige 'Senhor' kann man irgendwann nicht mehr hören, und das Geknickse ist doch reine Zeitverschwendung."

Den anderen fielen fast die Augen aus dem Kopf: Das ausgerechnet von Ribeira, der sonst immer so viel Wert auf Klassenunterschiede legte!

"Da habt Ihr recht," pflichtet Antonio ihm bei, "es tut so gut, mal unter normalen Menschen zu sein!"

"Sind das da oben - "Alves machte eine Kopfbewegung zum Herrenhaus - "denn keine normale Menschen?"

Antonio lachte laut und warf den Kopf in den Nacken: "Die Alten sind arrogant aristokratisch, die Jungen versnobt, die lauern nur darauf dass sie unter sich sind um dann die Sau rauszulassen!"

"Naja, mal ab und zu die Sau rauslassen kann doch auch ganz nett sein," warf Filipe ein.

"Mal, klar. Was mich aber am meisten daran stört ist der verachtenswerte Umgang mit den anderen Menschen. Seht mal, nur weil unsere Familie reich ist, habe ich zum Beispiel nicht das Recht, mich immer wieder daneben zu benehmen. Auch wenn man was getrunken hat, sollte man eine gewisse Etikette einhalten."

Maria hatte inzwischen den Rioja entkorkt, freundlich lächelnd schenkte sie Daniel einen Schluck ein. Der sah sie verwundert an bevor er begriff, dass er wie in einem vornehmen Restaurant verköstigen sollte, was er dann auch tat. Kopfnickend forderte er Maria auf, einzuschenken. Verstohlen sahen die anderen sich an, wo hatte sie das denn her?

"Euer Personal ist ja sehr formvollendet," bemerkte Antonio bewundernd, was Filipe mit einem lässigen Schulterzucken quittierte, „habt Ihr nur weibliche Bedienstete? Ich habe dort im Haus,“ er machte eine Kopfbewegung zum Herrenhaus, „nur Mädchen gesehen, die sind nicht so perfekt. Wahrscheinlich werden die deswegen von einigen behandelt wie Freiwild. Manchmal habe ich den Eindruck, dass einige von uns diese Insel als einen riesigen Puff betrachten."

Santos drehte sich angewidert ab und Antonio entschuldigte sich brav bei Hochwürden für seine Formulierung.

"Und das männliche Personal auf andere Rocas ... "

"Ist das auch Bestandteil dieses Puffs?" fragte Almeida grinsend, die Runde lachte.

"Nein, nein, das nicht," fuhr Antonio fort, "aber dafür müssen die den einen oder anderen Tritt in den Hintern ertragen! Unmöglich sowas!"

Die erwartete empörte Reaktion blieb aus, der Umgang der Weißen mit den schwarzen Einheimischen war hier durchaus bekannt.

"Ihr seid doch sicher nicht das erste Mal hier," meinte Silva, "Ihr müsst ja nicht herkommen, wenn Ihr es so abstoßend findet. Oder kommt, wenn die anderen nicht da sind."

"Gute Idee, denn im Grunde ist es eine sehr schöne Insel. Und so reich an Inspiration!"

"Das ist nicht so einfach," mischte Daniel sich nun wieder ein, "meine Familie besteht darauf, dass ich an den gesellschaftlichen Aktivitäten teil nehme. So gern ich es täte, aber eine Abschottung könnte unter Umständen eine schwierige Situation für die Familienverbindung sein."

"Die natürlich enorme Konsequenzen für Euch hätte, auch finanziell, nicht wahr?"

"Das Geld ist mir nicht wichtig," und er machte eine abfällige Handbewegung, "aber so eine Familie ist über Jahrzehnte gewachsen, da geht es um viele verschiedene Geschäftszweige, die aufrecht erhalten werden müssen. Ich fühle mich schon in der Verantwortung, versteht Ihr?"

"Jaja, natürlich," meinte Alfonso, der jetzt auch regelmäßig zum Treffen vor Filipes Haus kam, "dann werdet Ihr hier langsam auf Eure Aufgaben vorbereitet, verstehe."

"Die Vorbereitung auf das wahre Leben in so einer Umgebung kann doch so abstoßend auch wieder nicht sein," ätzte Almeida und erntete dezentes Schmunzeln.

"Also, zur Zeit studieren wir noch," ergriff Antonio nun wieder das Wort, "in Bezug auf die Übernahme der Geschäftszweige ist auch noch nicht das letzte Wort gesprochen."

"Was studiert Ihr denn so, wenn man fragen darf?" wollte Ribeira wissen.

"Mein Freund Daniel studiert Philosophie und Sozialwissenschaften, mir hat es die Kunst angetan: Kunst im Altertum, in der Moderne, und vor allem die Malerei."

"Aha. Das hat ja nun wenig mit Ökonimie und Wirtschaft zu tun."

Zwischendurch prosteten sie sich immer wieder zu, die beiden Flaschen waren schnell geleert und Maria musste Nachschub bringen. Ihr war die anfängliche Diskussion über den Umgang mit dem Personal nicht entgangen, und demonstrativ fragte sie, nachdem sie eingeschenkt hatte: "Du möchtest sicher noch ein Bier, Almeida, richtig?" Einige der Anwesenden zuckten zusammen, aber Almeida hatte die Provokation den Snobs gegenüber sofort erkannt: "Ja, gerne Maria," grinste er feist, " am besten bringst du gleich zwei, dann musst du nicht so oft laufen." Daniel und Antonio wollten es kaum glauben, aber dann nickten sie anerkennend.

"Und Ihr, Daniel," griff Silva das Thema wieder auf, "beschäftigt Ihr Euch mehr mit den griechischen Philosophen oder interessiert Euch eher Kant und Hegel?"

Die anderen sahen ihn verblüfft an: Was verstand der denn von Philosophie?!

"Die alten Griechen kann man nicht übergehen," entgegnete der Angesprochene, "dort schlummert der Ursprung der Philosophie und damit die Wiege des denkenden Menschen. Aber in Bezug auf die heutige Relevanz stehen natürlich Geister wie Kant, Hegel oder Marx im Vordergrund."

"Hm." Alves machte ein bedenkliches Gesicht, "die waren aber nicht unbedingt Freunde Eures gesellschaftlichen Standes!"

Daniel lachte. "Nein, natürlich nicht. Und da gehe ich mit ihnen auch konform: So wie sich die aristokratische Klasse heute darstellt, kann und wird sie nicht überleben. Allerdings ist der real existierende Marxismus nach Stalin auch keine Option. Es ist die Aufgabe der Intelligenz, den gesellschaftlichen Werdegang in Richtung einer Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu initiieren. Das wird natürlich seine Zeit in Anspruch nehmen, denkbar ist auch eine Revolution von oben ...."

Antonio fasste ihn beim Arm: "Ja, ja, jetzt bist du wieder bei deinem Lieblingsthema, aber wir wollen die Herrschsaften doch nicht mit philosophischen Exkursionen langweilen."

Sie lachten, hoben die Gläser und prosteten sich zu.

"Was das angeht, wäre diese Insel ja ein ideales Übungsfeld," warf Almeida ein und hatte Mühe, seinen Spott zu unterdrücken.

Daniel hob grade an, darauf eizusteigen, aber Silva schnitt ihm das Wort ab: "Und Ihr, Antonio, Ihr empfindet Sao Tome als inspirierend. Aber abgesehen von der einheimischen Kunst afrikanischer und capverdischer Prägung gibt es hier doch nichts; Malereien habe ich, abgesehen von den Bildern alter Meister in den Häusern der Weißen hier noch nicht gesehen. Und ich denke, diese Gemälde könnt Ihr doch nicht gemeint haben."

"Nein, natürlich nicht," lächelte Antonio, "ich meinte Inspiration auch nicht im Sinne der Interpretation im weitesten Sinne, sondern eher in Bezug auf die schaffende Ebene. Wisst Ihr, ich male selbst, und ich bedaure zutiefst, dass ich meine Staffelei nicht mitgebracht habe."

"Ihr malt selbst! Das ist ja interessant. Darf man Eure Bilder irgendwo bewundern?"

"Leider noch nicht," lächelte Antonio bescheiden, "aber ich bin schon in engen Verhandlungen mit verschiedenen Galerien."

"Welchen Stil präferiert Ihr denn so?"

"Den von Diego Rivera," antwortete er stolz, "und die Menschen dieser Insel inspirieren mich, Elemente von Goya aufzunehmen."

"Goya sagt mir was, aber der Diego Rivera?"

"Der hat den Kommunismus gemalt und war mit Trotzki befreundet!" warf Silva trocken ein; alle sahen ihn erstaunt an, derartiges Wissen hätte ihm niemand zugetraut.

"Ja, das schon," erklärte Antonio, "aber er malt mir zu kantig, zu scharf. Die weichen Züge der Menschen hier gefallen mir sehr, ich werde sie in meine Bilder einfließen lassen."

"Welche weichen Züge meint Ihr denn da?"

"Die der Neger hier, diese Anmut, insbesondere bei den Frauen. Wenn es mir gelingt, in der Stadt Farben und Leinwand zu finden, werde ich sie malen; ich denke es wird sich die eine oder andere finden lassen, die mir Modell stehen möchte."

Die Männer sahen sich an.

"Goya hat seine Musen in der Südsee gefunden und ist dann gleich da geblieben. Vielleicht bleibt Ihr uns ja auch länger erhalten," orakelte Silva und hoffte, dass seine Prophezeiung sich nicht erfüllen möge.

"Ihr wollt unbekleidete junge Frauen Malen, Senhor?" fragte Santos in strengem Ton.

"Das ist Kunst, Hochwürden, das hat mit Unmoral nichts zu tun."

"Also," stellte Alves fest, "dann können wir ja damit rechnen, dass wir kulturell hier demnächst aus dem Dornröschenschlaf erwachen, wenn Ihr eure Bilder in der Stadt ausstellt."

"Äh - "Antonio druckste verlegen rum, "ich hatte eher an Ausstellungen in Paris, London oder New York gedacht. Ich weiß nicht, ob hier auf Sao Tome ein Markt für Kunst besteht."

"Ich werde schon dafür sorgen, dass er hier ausstellt," versuchte Daniel das peinliche Schweigen zu durchbrechen, "ich werde Texte zu seinen Bildern verfassen und dazu lesen."

"Ach, Ihr schreibt Texte?" unterstützte Filipe ihn bei seinem Bemühen, den Faupax seines Freundes auszubügeln, aber Silva versuchte demonstrativ Wein aus einer leeren Flasche in sein Glas zu füllen. Antonio griff diese Geste dankbar auf, wandte sich dem Herrenhaus zu, pfiff gellend auf zwei Fingern und winkte mit einer ausladende Handbewegung eines der Mädchen heran.

"Noch zwei Flaschen Rioja!" rief er der Heraneilenden zu, Knicks und sie lief zurück zum Haus. Kurze Zeit später kam sie mit den entkorkten Flaschen zurück, neben Antonio stehend begann sie die Gläser zu füllen, deutlich unsicherer als Maria, und der Doc bediente sich kurzerhand selbst an der anderen Flasche. Antonio lachte feist und legte seinen Arm um die Hüfte der jungen Frau: "Seht Ihr, was ich meine? Diese Vollkommenheit, alles an seinem Fleck," und er tätschelte ihr den Hintern, "und nicht so aufgesetzt und überkandidelt wie die Weiber bei uns, sie sind so natürlich, so ursprünglich!" Mit der anderen Hand griff er nach ihrer Brust und nestelte an der Schürze herum.

Santos blinzelte ihn böse an: "Senhor Antonio! Bitte zügelt Euch! Der Alkohol scheint Euch zu Kopfe gestiegen zu sein!"

"Oder in die Hose," lästerte Almeida, schallendes Gelächter.

"Entschuldigt bitte, Hochwürden," grinste der Angesprochene und nahm seine Finger von der Frau, "Ihr habt recht, der schlimme Alkohol," und zu dem Mädchen: "Wir sehen uns später, Püppchen!"

"Ja, Senhor," tiefer Knicks, sie lief zurück zum Herrenhaus.

Die jungen Männer grinsten sich an, prosteten der Runde zu, Santos trank nicht mit, es entstand eine kurze Pause.

Antonio nahm erneut sein Glas und leerte es in einem Zug: "Ich muss mich leider verabschieden, Freunde," sagte er mit schwingender Stimme während er sich erhob, "ich habe da noch Kavalierspflichten zu erfüllen, Ihr versteht?"

Daniel stand auch auf, verabschiedete sich, kichernd strebten die beiden nicht mehr so ganz zielsicher dem Herrenhaus entgegen.

"Kavalierspflichten! Ha!"

"Er sammelt Inspirationen!"

"Das sollten wir vielleicht auch tun," meinte Alves, "aber vielleicht ein wenig anders, morgen ist ein harter Tag, meine Herren."

 

"Du hast eine Vorladung zum Patron," weckte Catarina Filipe als sie ihm das Frühstück ans Bett brachte. Die beiden hatten in der Nacht auch Inspirationen genossen, in der Dämmerung war sie aus dem Bett geschlichen, hatte das von Maria bereitete Frühstück aus der Küche geholt. Nun stand sie im Evaskostüm vor ihm um mit ihm zusammen Croissant und Café zu genießen, und vielleicht noch eine kleine Inspiration; Raposa kratzte draußen an der Tür bis er die Zwecklosigkeit seiner Bemühungen akzeptierte und wieder in die Küche lief um sich von Maria entschädigen zu lassen.

Frisch geduscht und geschniegelt trottete Filipe rüber zum Herrenhaus, auf dem Weg überlegte er, ob Almeida sich auch so aufbrezelte, wenn er zum Gespräch mit dem Patron gebeten wurde, wahrscheinlich nicht!

Die jungen Frauen vor dem Hause begrüßten ihn standesgemäß, eine öffnete die Eingangstür und geleitete ihn hinein. Nachdem sie den Vorraum durchquert hatten stand er in einer Diele, die erstaunlicherweise nicht viel größer war als die in seinem Haus, aber geprägt wurde durch eine breite Freitreppe, die zur Galerie nach oben führte. An der gegenüberliegenden Seite befanden sich große Glastüren, die die Diele mit Licht fluteten und eine ausladende Terrasse offenbarten. Rechts konnte er durch eine offenstehende Tür eine Blick in einen Saal werfen, der offenbar die ganze Seite des Hauses beanspruchte. Überall gediegenes Mobiliar, Vasen drauf und die Gemälde alter Meister an den Wänden, von denen Silva gesprochen hatte; ob sie echt waren oder Fälschungen, das vermochte Filipe nicht zu sagen. Ihn blieb aber keine Zeit, die Pracht zu bewundern, seine Begleitung war schon vorausgegangen und wartete nun auf halber Treppe auf ihn. Oben angekommen, die Wände der Galerie waren getäfelt, strebte sie auf eines der Eckzimmer zu, klopfte an die verzierte schwere Tür, öffnete, nachdem ein "Ja bitte" gemurmelt wurde, und verabschiedete sich mit tiefem Knicks.

Filipe schloss die Tür, er fühlte sich wie im Allerheiligsten - obgleich er sich das etwas geräumiger vorgestellt hatte. Auch die Einrichtung war schlichter als er erwartet hatte: Holzdielen, keine Teppiche. Bücherregale an den Wänden, in der Mitte vor dem Fenster ein massiver Schreibtisch, dahinter ein weißhaariger hagerer Mann, mitte sechzig vielleicht, den Blick in eine Zeitung vertieft, neben sich ein silbernes Gedeck mit Kakao und Keksen.

Die Zeitung muss ja wenigstens eine Woche alt sein, fuhr es ihm ins Gehirn, und er wunderte sich, dass er in Anbetracht dieser Situation an derartig Nebensächliches dachte.

Der Patrone löste sich von seiner Lektüre, hob den Kopf und betrachtete Filipe von oben bis unten.

„Guten Tag, Senhor Mandoza," begrüßte er ihn schließlich mit klarer Stimme, „bitte nehmt doch Platz," und mit einer Handbewegung deutete er auf einen der Sessel vor dem Schreibtisch. Nachdem Filipe den Gruß erwidert und Platz genommen hatte, kam der Patrone gleich zur Sache, offensichtlich war er kein Freund von großen Floskeln:

„Ihr seid also unser neuer Engenheiro, Senhor. Man sagt, Ihr seid ein tüchtiger Mann, das hört man gerne."

„Es freut mich, dass mir ein derartiger Ruf vorauseilt, Senhor."

„Euren Bemühungen, die Infrastruktur zu verbessern, kann ich nur zustimmen. Könnt Ihr mir bitte Eure Pläne in Ausführlichkeit darlegen?"

Filipe hatte keine Unterlagen mitgebracht, aber er hatte sich in den letzten Wochen derart intensiv mit seinen Plänen beschäftigt, dass es ihm ein Leichtes war, dem Wunsch des Patrone zu folgen. Der hatte sich offensichtlich vorbereitet: Er hörte Filipe konzentriert zu und stellte zwischendurch immer wieder fachliche Fragen, nach der erforderlichen Kilowattleistung zum Beispiel, nach den erforderlichen Turbinen oder auch, ob die Windverhältnisse den Einsatz von Windmühlen überhaupt rentabel escheinen ließen. Das Gespräch zog sich über eine Stunde hin, zwischendurch orderte Don Alberto de Castro Kakao und Kekse für sich und Filipe mittels einer ‚Kordel', nachher auch einen Brandy. Als Filipe fertig war, lehnte sich der Patrone zurück, sinnierend starrte er an die Decke.

„Wie Senhor Ribeira mir berichtet hat," begann er dann erneut, „können wir von Jahr zu Jahr weniger Kakao exportieren. Glaubt Ihr, dass die Modernisierungen der Infrastruktur diesem Trend entgegenwirken können?"

Senhor de Castro, das ist uns auch aufgefallen. Was besonders erstaunlich dabei ist, dass laut Senhor Alfonso, unserem Biologen, die tatsächliche Produktivität der auf Grund seiner Züchtungen hätte gesteigert werden müssen. Wir sind grade dabei herauszufinden, wie diese Diskrepanz zustande kommen konnte."

Wieder sinnierte der Patrone. „Ja," sagte er schließlich, „der Erfolg von Senhor Alfonso ist mir auch zu Ohren gekommen." Und nach einer erneuten Pause fragte er: „Haltet Ihr es für möglich, dass unsere Arbeiter nicht zielgerichtet geführt werden?"

Don de Castro war ein intelligenter Mann, das war Filipe klar geworden. Seine Frage zielte offenbar darauf ab, dass die angesprochene Diskrepanz möglicherweise durch Diebstal oder andere Manipulationen der Arbeiter entstanden sein könnten, und damit stellte er sich wohl die Frage, ob Almeida seine Leute richtig im Griff hatte. Es war Filipe klar, dass der Patrone diese und ähnliche Fragen auch den anderen gestellt hatte oder noch stellen würde.

„Ich kann mir nicht vorstellen, Senhor Don Castro, dass die Arbeiter ursächlich an der Diskrepanz beteiligt sind."

„Sondern?"

„Ich denke, dass es sich um Transportverluste handelt."

„Transportverluste?"

„In dieser Ernte sammeln wir die Daten der geernteten Bohnen und die der an der Fermentation abgelieferten. Es zeichnet sich bereits ab, dass die Mengen nicht übereinstimmen. Aber das alleine erklärt die Differenz nicht."

„Von der Roca Fernão Gomes habe ich vernommen, dass es sich um Diebstahl handeln soll."

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Einheimischen verfügen über keinerlei eigene Transportsysteme. Und wo sollen die denn auch mit den vielen Bohnen hin? Eine Vermarktung in deren Geschäften ist schließlich nicht möglich."

„Hm." Der Patrone stützte sein Kinn auf den rechten Daumen und machte ein nachdenkliches Gesicht.

„Die Waggons der Züge sind überladen, ein Teil der Fracht geht unterwegs verloren. An den Verladestellen werden sie gesammelt, was nicht mehr auf den Zug passt, bleibt liegen. Mit dem nächsten Zug werden die frisch angelieferten Bohnen abtransportiert, wieder bleibt was liegen, usw. irgendwann sind die liegengebliebenen nicht mehr zu verwerten. Die Arbeiter fürchten Ärger, also belassen sie von nun an einen Teil der Ernte in den Plantagen, an den Bäumen oder sie vergraben sie einfach. Unsere in die Wege geleiteten Untersuchungen deuten darauf hin, dass hier die eigentliche Ursache der Differenz liegt."

„Und Ihr gedenkt, dieses Problem mit leistungsstärkeren Lokomotiven in den Griff zu bekommen?"

„Zehn neue Elektrische haben die doppelte Leistung wie die jetzt zur Verfügung stehenden Züge."

„Ich habe Senhor Ribeira bereits angewiesen, den von Euch benötigten Bedarf an finanziellen Mitteln bereit zu stellen. Ich hoffe, dass Ihr mit Euern Ideen erfolgreich seid." Filipe interpretierte den letzten Satz so, dass ihm gekündigt würde, falls der Erfolg ausbliebe. Ob der Patrone das wirklich so gemeint hatte, wusste er allerdings nicht. Der zog sodann eine Umschlag aus der Schublade und reichte ihn über den Schreibtisch:

„Das ist eine Einladung zu unserem alljährlichen Tanzvergnügen. Ich hoffe doch sehr, Euch unter uns begrüßen zu dürfen."

„Es ist mir eine Ehre, Senhor de Castro."

Filipe erhob sich, verbeugte sich kurz und hatte schon die Klinke in der Hand, als der Patrone fragte:

„Sagt, eine Frage noch: Was haltet Ihr von den Vorstellungen von Senhor Dr. Silva?"

Filipe blieb stehen, einen Moment lang wusste er nicht, was gemeint war, aber es konnte sich nur um die Idee bezüglich der Klärgruben, Viehhaltung und Faulgasen handeln. Er kam also zurück, stehend stützte er sich auf die Rückenlehne des Sessels:

„Dieses Projekt betrifft viele Bereiche, die nicht in mein Aufgabengebiet fallen und von denen ich auch nichts verstehe. Den Gedanken, die hygienischen Verhältnisse zu verbessern, halte ich allerdings für ausgesprochen gut, auch in Bezug auf das Wohlergehen und die Leistungsfähigkeit der Arbeiter."

„Es ist schön zu hören, dass Ihr Eure fachlichen Kompetenzen einzuschätzen wisst." Filipe war unklar, ob er das jetzt als Lob oder gut verpackte Kritik auffassen musste. „Aber ganz ohne Eure Hilfe wird es nicht gehen," fuhr der Patrone fort, „die hygienischen Verhältnisse, natürlich, die sind auch wichtig. Aber besonders gut gefällt mir dabei die preiswerte und exorbitante Erzeugung von tierischen Produkten. Ich möchte Euch bitten, an der Erstellung eines in sich schlüssigen Konzeptes mitzuarbeiten, sagen wir bis zum Ende des Jahres?"

Filipe war klar, dass das keine Frage sondern ein Befehl war, und er war sich ebenso sicher, dass der Patrone Alves, Silva und Almeida ebenso in diese Angelegenheit eingebunden hatte. Und bei der Gelegenheit erinnerte er sich daran, Ferkel zu besorgen um das Piperazin auszuprobieren. Nach einer erneuten Verbeugung verließ er den Raum.

Draußen wartete die junge Frau, die ihn hierher begleitet hatte. Nach dem üblichen Knicks - Filipe lag es auf der Zunge ihr diese Demutsgeste auszureden - führte sie ihn wieder nach draußen.

Noch am gleichen Tage packte er seine Unterlagen bezüglich der Windmühlen und der Dampfturbine zusammen und brachte den Ordner rüber zu Ribeira. Mit der Bemerkung: "Na, nun habt Ihr ja Euren Willen!" nahm der die Schreiben in Empfang. Auch wenn er nicht mit dem Herzen hinter Filipes Ideen stand, so konnte dieser doch sicher sein, dass die Dinge nun seinen Vorstellungen entsprechend auf den Weg gebracht würden. Wieder draußen, rief er nach Carlos, der schon nach wenigen Momenten wie aus dem Nichts vor ihm stand. Filipe teilte ihm mit, dass er jetzt erst mal aufhören sollte zu fegen, sondern morgen früh im Garten hinterm Haus einen bestimmten Bereich mit stabilem Holz ein zuzäunen hatte, an einer Seite einen Trog.

Zufrieden vor sich hin summend ging er ins Haus; er bat Catarina und Maria Arbeit Arbeit sein zu lassen, so sollten sich doch einen freien Nachmittag im Garten gönnen, und Raposa war da genau seiner Meinung: Wann hatte er schon das gesamte Rudel beieinander!

 

 

Zu offiziellen Anlässen auf der heimischen Ageda hatte Filipe immer seine beste Kleidung anziehen müssen; damals suchte seine Mutter das Entsprechende heraus, und er wusste schon vorher, dass er sich darin wie ein nasser Pudel im falschen Fell fühlen würde. Und jetzt? Wie hatte Ribeira ihn genannt? Den Infantinnenball? Was sollte er anziehen? Er konnte ja schlecht in Jeans, Stiefeln und Flanellhemd hingehen! Insgeheim fragte er sich, was die anderen wohl anziehen würden; Ribeira und Doc hatten sicherlich einen Smoking, aber Almeida?

Catarina und Maria bestanden darauf, ihn begutachten zu dürfen, bevor er das Haus verließ. Und natürlich waren sie nicht einverstanden mit seinem offenen weißen Hemd und Lederweste drüber! Sie räumten seinen gesamten Kleiderschrank aus, er musste dieses und jenes anprobieren, und sie kamen zu dem Schluss, dass er keine geeigneten Sachen besaß! Also wurde improvisiert: Weißes Hemd mit Krawatte und Nadel, dazu passende Manschettenknöpfe. Weste aus dunklem Stoff darüber, kein Jackett, er hatte kein passendes. Catarina fand noch eine schwarze Hose in seinen Utensilien, bügelte sie kurz auf, und so entließen sie ihn, nachdem sie sein dichtes, länger gewordenes Haar streng nach hinten gelegt und mit einem Gummi ein Zöpfchen fixiert hatten.

Auf der Straße schaute er sich verstohlen um, ob er vielleicht einen der anderen entdecken konnte, war aber nicht so. Die von Chauffeuren gesteuerten Limousinen, teils Cabrio mit scherzenden Menschen besetzt, fuhren an ihm vorbei um vor dem mit Girlanden und Lampions geschmückten Herrenhaus zu halten; außer ihm war niemand zu Fuß unterwegs. Das Personal nahm jeden einzeln im Empfang, vor ihm ein in edlen Zwirn gekleideter Herr mit Dame in langem Weiß, hinter ihm vier Snobs der jüngeren Generation, albernd, lachend. Das Mädchen, das ihn empfangen hatte, geleitete ihn in die große Halle, die er ja schon kennengelernt hatte. Perfekt inszeniert kam eine andere Angestellte mit einem Tablett voller Begrüßungsaperitifs auf ihn zu und reichte ihm eins der mit Zuckerrand versehenen Gläser. Vor der Freitreppe spielte eine Combo dezent südamerikanische Songs, im Augenwinkel nahm er rechts den Patrone wahr, vertieft in Begrüßungsgespräche mit mehreren Herrschaften, links eine ältere Dame, betraut mit ähnlicher Aufgabe, wahrscheinlich die grande Senhora. Aber es blieb ihm keine Zeit sich intensiver mit der Situation vertraut zu machen. Eine Dame aus der jüngeren Generation löste sich aus einer lockeren Gruppierung, kam freundlich lächelnd auf ihn zu und begrüßte ihn mit ausgestreckter Hand:

Senhor Mendoza, es ist mir eine Ehre, Euch hier begrüßen zu dürfen," kam es nicht geflötet, wie erwartet hatte, sondern unkompliziert, nett.

„Und mir ist es eine Ehe, an dieser Festivität teilnehmen zu dürfen," gab er das Kompliment brav zurück.

„Euch eilt ja ein hervorragender Ruf voraus," lächelte die Schöne weiter, "mein Vater ist sehr angetan von euren Aktivitäten."

„Dann seid Ihr die Tochter des Hauses?"

„Oh! Entschuldigt bitte, wie unhöflich von mir: Ich bin Senhorita de Castro. Meine Geschwister und ich begleiten unsere Eltern auf dieser Reise, Ihr wisst ja, die junge Generation soll in die geschäftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten der Familie eingewiesen werden." Sie lächelte dabei in einer Weise, die offen ließ, ob sie dieses interessant fand oder doch eher lästig.

„Ja, das ist wohl immer so. Als ich noch auf unserem heimatlichen Weingut lebte, haben meine Eltern uns Kinder auch zu den gesellschaftlichen Anlässen mitgenommen."

„Ach, Eure Familie besitzt ein Weingut?"

„Unser letztes Spitzenprodukt ist Caves Sao Montes, ein Castelão Jahrgang 1945, vielleicht habt Ihr ja schon mal davon gekostet."

Sie lächelte verlegen: „Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich keine Weinkennerin bin, aber meine Eltern werden Euren Wein sicherlich schon genossen haben.“

Sie sah ihm kurz ins Gesicht, fragender Blick: „Wie kann es sein, Senhor Mandoza, dass Ihr jetzt auf Sao Tome seid? hattet Ihr kein Interesse, die Geschäfte Eures Weingutes zu übernehmen?"

„Mit dem spanischen Bürgerkrieg ist ein gewisses Leid über unsere Familie hereingebrochen, das mich veranlasst hat, an anderer Stelle ein neues Leben zu beginnen. Das Gut wird nun von meinen Schwestern geführt."

„Oh, das tut mir leid. Der Krieg hat viel Leid auch nach Portugal gebracht. Fühlt Ihr Euch denn wohl hier auf der Insel?"

„Ich glaube, es könnte kaum besser sein, Senhorita."

Erleichtert lächelte sie ihn an. Zwei weitere junge Frauen hatten sich zu ihnen gesellt, die Tochter des Hauses machte sie miteinander bekannt.

Engenheiro Mendoza!" Senhorita Celina Teixeira betrachtete ihn ungeniert und wenig damenhaft von oben bis unten, „Ihr seid ja ein richtig fescher Bursche!"

„Ich hoffe, das darf ich als Kompliment auffassen," entgegnete Filipe galant während Senhorita Hortensia Carvalho leicht errötete, vermutlich wegen der unkommod direkten Art ihrer Freundin. Celina winkte nach der Bedienung und griff sich selbst eines der Gläser, Filipe musste innerlich grinsen, sah, dass Senhorita Carvalho auch nichts mehr zu trinken hatte und nahm zwei Gläser vom Tablett.

„Darf ich Euch auch noch einen Drink reichen, Senhorita?"

Mit einem freundlichen Kopfnicken nahm die Angesprochene das dargebotene Getränk.

Senhorita Teixeira betrachtete ihn mit schrägem Blick. „Ihr seid ja ein richtig galanter Kavalier!"

„Ist das jetzt wieder ein Kompliment? Ihr beschämt mich, eigentlich ist es doch meine Aufgabe, Euch Komplimente zu machen."

Die beiden lachten. Sie hatten sich inzwischen rechts und links neben ihn gesellt, aus den Augenwinkeln konnte Filipe beobachten, dass Senhorita de Castro bereits in ein Begrüßungsgespräch mit einem jungen Paar verwickelt war; ein flüchtiger Blick durch die Halle bestätigte seinen Gedanken, dass diese scheinbar bunt und locker verteilten Menschen einem festgelegtes Ritual folgten: Der Patrone, seine Gemahlin und deren Sprösslinge bildeten ein Begrüßungskomitee, jeder Gast wurde in Empfang genommen, in ein Gespräch verwickelt und bei erster Gelegenheit an die im Hintergrund flanierenden Angehörigen dieser ehrwürdigen Gesellschaft weitergereicht. Die Auswahl der folgenden Kontakte ergab sich je nach Interessenlage, privat oder geschäftlich. Filipe war eindeutig von privat Interessierten übernommen worden, wo er auch nichts gegen einzuwenden hatte.

„Vielleicht habt Ihr ja Lust, uns in den Garten zu begleiten," ergriff nun auch Hortensia das Wort, „ich denke, dort ist die Luft nicht so stickig wie hier in der Halle."

Es war nicht stickig in der Halle, alle Türen standen ja weit offen. Aber Filipe stimmte zu. Die andere Seite des Herrenhauses hatte er ja noch nicht kennengelernt. Eine weitläufige Terrasse, eingefasst mit einer Balustrade, die mit verschiedenen steinernen Figuren aufgelockert war, dahinter führte eine breite Treppe in einen terrassenförmig angelegten Garten mit kleinen Lauben, dezent erleuchtet mit Laternen; im Hintergrund vor dem Horizont der untergegangenen Sonne schimmerte in mattem Blau das Meer. Der small talk setzte sich fort, so wie es wahrscheinlich alle anderen zu zweit oder in kleinen Grüppchen beisammenstehende Menschen es hier taten. Die Herkunft, das Weingut, der spanische Bürgerkrieg, das Internat der beiden Damen, deren Familien und Geschäfte, alles wurde kurz und oberflächlich angerissen. Dabei genoss Filipe die wunderbare Aussicht, lobte diese Insel, ein Paradies auf Erden. Celina sah ihn bei seinen Worten wieder mit ihrem schrägen Blick an, Hortensia war anschließend bemüht, in eigenen halbwegs enthusiastischen Worten seiner Einschätzung zuzustimmen; offensichtlich hatten die beiden nicht den Eindruck, dass es hier paradiesischer sei als in Portugal.

Ein Gong, der vom Haus er ertönte, unterbrach ihre Konversation: „Der Patrone hält jetzt die Begrüßungsrede," bemerkte Celina wenig ehrfurchtsvoll, Hortensia lächelte dezent und damenhaft: „Es ist der Aufruf, dass sich alle in der Halle versammeln mögen, das Fest soll beginnen."

„Da mögt Ihr recht haben,“ entgegnete Filipe, „aber ich fürchte, der Patrone muss dabei auf meine Gegenwart verzichten; es wäre ein unverzeihlicher Fauxpass, zwei derartig charmante Damen im Dunkel des tropischen Abends allein zu lassen."

Celina lachte , Hortensia meinte lächelnd: „Das habt Ihr aber schön gesagt, Senhor Mandoza." Und nach einer kurzen Pause: „Aber wenn der Patrone fertig ist, spielt die Combo zum Tanz. Ich hoffe doch sehr, dass Ihr da eine Lösung finden werdet, wie Ihr die eine oder andere Dame aufs Parkett führen werdet ohne eine von uns beiden allein in der Dunkelheit des Abends zu belassen."

Celina sah Hortensia an: Mit wen tanzt er zuerst? Ihre Augen gaben die Antwort gleich dazu: Mit mir! Vorsichtig hakte sie sich bei Filipe ein: „Seid Ihr ein guter Tänzer?"

Senhorita," lächelte Filipe charmant, „bisher hat es noch keine Klagen gegeben, und es mussten auch noch keine Zehen amputiert werden."

Die beiden amüsierten sich, Hortensia knuffte ihn dezent in die Seite. Filipes Hirn arbeitete fieberhaft, er musste eine Lösung finden: Wem schenke ich den ersten Tanz?

Vom Haus schallte Applaus herüber, der Patrone war fertig mit seiner Rede. Und dann setzte die Musik ein. Filipe neigte sein Haupt kurz in Richtung Senhorita Celina, die sich ja schon bei ihm eingehakt hatte, dann zu Senhorita Hortensia, er bot ihr den anderen Arm. Er wusste, dass er ein ganz passabler Tänzer war, aber mit zwei Damen gleichzeitig? Die Band intonierte einen Foxtrott. Als sie den Saal betraten, vergnügten sich bereits einige Paare auf der Tanzfläche. Der Fox kam ihm entgegen, geschickt nahm er die beiden je an eine Hand, führte sie in eine Drehung, und Celina gleich noch einmal während er Hortensia annahm, eins, zwei, dreivier, dann Celina aus der Drehung eins, zwei, dreivier, und wieder Hortensia, alles rein intuitiv, und es klappte besser, als er gedacht hatte; allerdings schienen die beiden auch Spaß an diesem Wechselreigen zu haben und spielten lachend mit. Den nächsten Tanz gab Celina dann mit einer großzügigen Handbewegung an Hortensia ab, und so ging es abwechselnd weiter bis die Musik pausierte.

Filipe schaute sich verstohlen im Saal um, Ribeira hatte er schon entdeckt: Stresemann ohne Cut, dafür graue Weste, weißes Hemd. Er diskutierte in einer Männerrunde über - ja, wahrscheinlich über Geschäfte und Finanzen. Santos beteiligte sich mit gnädigem Kopfnicken und einem Glas Wein in der Hand an Gesprächen mit älteren Herrschaften und Silva tanzte vergnügt mit einer deutlich jüngeren Dame.

Senhorita Celina führte eindeutig das Wort in ihrer Dreiergruppe, sie forderte zum Tanz oder schlug vor, in den Garten zu gehen; immer wieder hakte sie sich bei Filipe ein, sodass die deutlich zurückhaltendere Hortensia nur gelegentlich ein paar Sätze einbringen konnte. Filipe rechnete schon damit, dass sie das Feld räumen würde. Tat sie aber nicht, auch dann nicht, als sie zu dritt im Garten auf einer Bank die milde Abendluft genossen und Celina ihren Kopf an Filipes Schulter bettete. Zurück auf der Terrasse wurde Filipe auch Almeida gewahr: Sein schwarzes Dressing könnte aus einem Western aus dem vergangenen Jahrhundert stammen, seine stiefelbestückten Füße locker auf die Tischkante gelegt lachte er bei einer Flasche Bier mit einigen jungen Männern. Filipe musste schmunzeln: Der Mann kannte überhaupt keine Konventionen!

Zu fortgeschrittener Stunde begab sich Celina zu den Musikern, worauf der Bandleader sich ans Publikum wandte:

„Mit den folgenden Stücken werden wir dem Wunsch dieser entzückenden Lady gerecht: Die Hits des jungen Amerika! Auf geht's, Jungs, packt Eure Auserkorene und schüttelt sie ordentlich durch!"

Schon während seiner letzten Worte setzte die Musik ein, Celina kam auf Filipe zugestürmt und zerrte ihn auf die Tanzfläche, ein entschuldigender Blick zu Hortensia und los ging's. Die Jugend johlte, die älteren Herrschaften applaudierten vereinzelt und sehr dezent und wandten sich dann in kleineren Gesprächsrunden ab. Nach Birth oft the Cool von Miles Davis kam Ralph Sutton, Oscar Peterson, und dann noch Dixieland. Mit gerötetem Gesicht fächerte Celina sich Luft zu, strahlendes Gesicht, sie legte ihren Arm um Filipes Hüfte, er folgte dieser Geste. Im Blickwinkel sah er Hortensia, die mit betrübtem Gesicht und verschränkten Armen die Szene beobachtete. Aber er wurde vom Bandleader abgelenkt, der nun einen Tango ankündigte, "Zur Abkühlung," grinste er, "wenn es den Herrschaften denn gelingt!"

Filipe fiel der abfällige Spruch seines Professors ein, der einmal während eines Balles der Universität gelästert hatte: „Beim Tango tun die Paare das auf der Tanzfläche, was andere im Bett machen!"

Filipe war kein exzellenter Tangotänzer, aber er beherrschte die Grundschritte, die eine oder andere Drehung oder das Führen der Dame. Celina nahm sogleich enge Körperhaltung ein, er genoss ihr Parfüm, ihren Duft. Nach den letzten Takten schmiegte sie sich an ihn und entführte ihn nach draußen auf die Terrasse, in den Garten. Auf einer Bank lehnte sie wieder ihren Kopf an seine Schulter: „Ihr dürft mir jetzt eine romantische Geschichte erzählen," flüsterte sie sanft.

Eine romantische Geschichte! Das war ja nun gar nicht sein Ding! Fieberhaft überlegte er, was er nun sagen sollte, er wollte die junge Frau an seiner Seite ja auch nicht enttäuschen, aber seine poetische Ader blieb fest verschlossen.

„Richtige Männer können keine romantischen Geschichten," grinste sie ihn an nachdem da so gar nichts kam, „aber vielleicht können sie ja gut küssen?"

Sie richtete sich auf und sah ihm direkt ins Gesicht. Wieder rotierte sein Gehirn, so weit hatte er es doch nun wirklich nicht kommen lassen wollen. Aber es war klar, dass er den Punkt zum Absprung längst verpasst hatte. Es blieben ihm nur zwei Möglichkeiten: Küssen oder beleidigende Abfuhr. Letzteres war für ihn als Kavalier keine Option. Sanft strich er ihr übers Haar, legte seinen Arm um ihre Schulter, sie tat es ihm gleich, langsam näherten sie sich, ihre Lippen erkundeten, erst zart und vorsichtig, dann versanken sie in einem innigen Kuss.

Die Reihen der Feiernden hatten sich schon deutlich gelichtet, als sie ihre dezent zerzausten Kleider zurecht rückten und sich Hand in Hand zurück zum Haus begaben. Vereinzelte Paare, die sich mehr oder weniger intensiv miteinander beschäftigten, kleine Grüppchen von Männern, die dem Alkohol offenbar reichlich zugesprochen hatten; ihnen war beiden klar, dass sie den Höhepunkt ihrer Kommunikation erreicht hatten und den Abend mit dieser schönen Erinnerung lieber beenden sollten. Filipe nahm noch zwei Gläser vom dargebotenen Tablett: Einen Abschiedsschluck, und galant bedankte er sich für den wunderbaren Ball und ihre reizende Gesellschaft. Er reichte ihr den Arm und geleitete sie nach oben bis zu ihrem Zimmer, noch ein inniger Kuss: „Ihr müsst jetzt gehen, Filipe," hauchte sie, „ich hoffe Euch beim Frühstück begrüßen zu dürfen." Dann verschwand sie hinter ihrer Tür.

Einen Moment noch verharrte er im dunklen Flur. Langsam begab er sich die Treppe herunter zurück in die Halle und durch die vordere Tür ins Freie. Ein schöner Abend, kein Zweifel. Und trotzdem wollte nicht diese lockere Beschwingtheit aufkommen wie er es von früher kannte wenn er als Mann bei der Weiblichkeit hatte überzeugen können. Eher gedankenverloren trottete er durch die Nacht zu seinem Haus; in der Sitzgruppe davor ließ er sich in den Sessel fallen: Was war das eben? Unverbindlicher Flirt der Hohen Gesellschaft? Avancen? Er konnte es nicht einschätzen. ‚Ich hoffe Euch beim Frühstück begrüßen zu dürfen!' Welches Frühstück? Wann und wo? Und vor allem: Warum?

Zarte Hände unterbrachen seine Gedanken, er drehte sich um, sanft lächelte Catarina ihn an: „Du hattest einen schönen Abend?"

„Ja. Ich glaube schon."

Sie lachte: „Du glaubst? Weißt du es denn nicht?"

Er überlegte einen Moment, und dann: „Nein, ich weiß es nicht wirklich. Ich glaube, es war ein netter Abend."

„Du riechst gut," und sie schnupperte an seinem Haar, „hat die Dame dir denn nicht gefallen?"

„Doch, doch, schon ..."

„Aber?"

„Ich weiß nicht, was sie wirklich von mir wollte. Ob sie überhaupt was von mir wollte oder nur ein Wenig Amüsement."

„Ich weiß, was sie wollte,“ erklärte Catarina nun mit zarter Stimme, „aber in der feinen Gesellschaft sind die Wege etwas anders, komplizierter."

‚Als wo' wollte Filipe fragen, denn das sagte Catarina nicht. aber er konnte sich denken, was sie meinte. „Und was glaubst du, was sie wollte?" fragte er stattdessen.

Wieder lächelte sie sanft, reichte ihm beide Hände: „Komm mit, ich zeig es dir."

Rückwärts gehend führte sie ihn ins Haus, nach jedem Schritt öffnete sie einen Knopf seiner Weste, den Knoten ihrer Schürze, sein Hemd, ihre Bluse, und als sie sein Schlafzimmer erreicht hatten, stellte sich endlich die wohlige Beschwingtheit ein, die er bisher so vermisst hatte.

 

Am nächsten Morgen trat Maria ins Zimmer, irgendwie ungestümer als sonst und breit grinsend: „Guten Morgen ihr beiden," rief sie und zog den Vorhang zur Seite, „Filipe, du musst aufstehen!"

Der hielt seine Hand schützen vor seine Augen um das grelle Sonnenlicht abzuwehren. Catarina, die halb auf ihm lag, drehte sich auf den Rücken und blinzelte ihre Schwester an: „Muss ich auch aufstehen?"

„Nein", lachte Maria, „aber Filipe, er hat eine Einladung zum Frühstück!"

Siedend heiß fiel es ihm wieder ein: „Scheiße! Ich will da nicht hin!" Und er meinte es durchaus ernst. Am nächsten Tag sieht der Abend vorher immer viel nüchterner aus. Es war nett gewesen. Gut. aber nun war es aber auch genug mit der feinen Gesellschaft; er wusste, dass er da nicht hingehörte.

Catarina hatte sich nun aufgerichtet, kichernd knuffte sie ihn in die Seite: „Ich fürchte, dass du da aber hin musst!"

„Nimm eine kalte Dusche, damit du wach wirst,“ warf Maria ein, „du kannst da nicht so verschlafen hin."

Wieder kicherte Catarina: „Und wenn die Damen dich beschnuppern dürfen sie nicht riechen, was wir beide heute nacht gemacht haben!"

Maria zog ihm die Decke weg: „Los du Faulpelz, aufstehen!" Sie fing an ihn an den Füßen und Beinen zu kitzeln, Catarina nahm ihn sich weiter oben vor, wildes Lachen, Filipe wehrte sich mit Kissenwürfen, sie tobten und alberten herum bis Maria sich in einer Erschöpfungspause vor ihn kniete und seine erwachte Männlichkeit in Augenschein nahm: „Du musst jetzt wirklich unter die kalte Dusche, sonst könnte es ganz komische Fragen geben," und wieder kicherten die beiden los.

Filipe ergab sich in sein Schicksal. „Zwei wunderbare Frauen im Bett und ich muss zu Frühstück!" murmelte er frustriert beim Gang ins Bad.

 

Wieder nahmen ihn die jungen Frauen vor dem Herrenhaus in Empfang, eine geleitete ihn durch die Halle auf die Terrasse. Dort war eine lange Tafel aufgebaut, gedeckt mit allen nur erdenklichen Köstlichkeiten dieser Insel. Der Tisch war zu etwa dreiviertel besetzt, die jüngere Generation unter sich. Vom hinteren Ende winkte Senhorita Celina mit beiden Händen und deutete ihm, den freien Platz neben ihr einzunehmen. Küsschen zur Begrüßung, ganz anständig auf die Wange, small talk, wie habt Ihr geschlafen, probiert mal dieses oder jenes, usw. Mit den beiden Herren gegenüber entwickelte sich ein ernsthafteres Gespräch über Filipes Pläne zur Stromerzeugung, ob der Patrone dem den zustimme, und dergleichen, bis Celina sich einmischte, man wolle den schönen Morgen doch nicht mit Themen der Arbeit verderben! Die Bemerkung des Mädchens von rechts, sie wisse doch gar nicht, was Arbeit sei, brachte zwar einen Lacher, wurde von ihr aber geflissentlich überhört. Inzwischen hatte Filipe auch Senhorita Hortensia entdeckt: Sie saß mit mehreren jungen Frauen am anderen Ende der Tafel, eine männliche Begleitung hatte nicht neben ihr Platz genommen. Überhaupt machte sie einen deutlich ruhigeren Eindruck als die lebhaften Teenager auf dieser Seite des Tisches. Filipe begrüßte sie freundlich lächelnd durch Kopfnicken, was sie erwiderte. Im Augenwinkel beobachtete er, dass sie gelegentlich zu ihm hinsah, wenn er ihren Blick jedoch aufzunehmen versuchte, schaute sie weg. Und was ihm auch auffiel: Er war offensichtlich der einzige der weißen Mitarbeiter, die zu diesem Frühstück geladen waren!

Anfangs wurde immer wieder Sekt gereicht, nachher verlangte der eine oder andere auch nach einem härten Drink. Der Alkohol lockerte die Stimmung, die Runde wurde lauter, einige der jungen Männer gaben den bedienenden Mädchen einen Klaps auf den Hintern oder zerrten sie kurz auf den Schoß um sie abzuknutschen.

„Die haben beim Ball keine abgekriegt," lästerte Celina, „und nun müssen sie sich an den schwarzen Nutten gütlich halten!"

Kurz sah Filipe sie an mit gerunzelter Stirn, dass sie die bedienenden Frauen als Nutten bezeichnete, gefiel ihm nicht, aber die Senhorita sah es nicht.

„Nix mit gütlich halten," griff stattdessen der Junge gegenüber ihre Worte auf, „die zieren sich wenigstens nicht so wie ihr!" Zustimmendes Gelächter der anderen, und einer rief : „Pass nur auf, dass du dir nicht den Syph holst!" Wieder lachten die jungen Männer, während die Damen pikiert die Augen rollten, ein Kichern aber kaum unterdrücken konnten.

„Keine Sorge," grinste der Erste, „ich weiß schon wie das geht."

„Du weißt schon wie das geht?" mischte Hortensia sich demonstrativ neugierig ein, „erzähl doch mal!"

Schallendes Gelächter, alle auf dieser Seite der Tafel sahen ihn an, am anderen Ende wurde es zunehmend ruhiger.

„Was willst du jetzt hören, Schnuckelchen? Wie ich es ihr besorgt habe?"

Filipe wollte schützend eingreifen, aber Hortensia ereiferte sich regelrecht: „Na los! Erzähl's doch!" frohlockte sie, „traust dich ja doch nicht!"

„Du kannst bestimmt noch was lernen dabei."

„Lernen? Von dir? Nachdem du bei den Nutten warst?"

Mit überlegenen Grinsen im Gesicht grapschte der Typ nach dem Dienstmädchen, das grade mit einem neuen Tablett voll mit Gläsern vorbei kam, zerrte sie auf seinen Schoß und langte an ihre Brust: „Siehst du? Da ist wenigstens was dran!" grölte er während der Armen das Tablett aus der Hand rutschte, Brandy und Sekt verteilten sich auf Hemd und Hose des Nachbarn.

„Du blöde Kuh!" schrie der auf, „was hast du getan?!" Und mit einer saftigen Kelle schlug er ihr ins Gesicht. Der andere schubste sie von seinen Knien dass sie zu Boden fiel, allgemeines Amüsement!

„Hört auf!" mischte Filipe sich jetzt doch ein, sprang auf und warf seinen Stuhl dabei um, „was soll das!"

„Was regst du dich auf?" kicherte Celina, nach dem Alkohol am Morgen offensichtlich die Contenance verlierend, „die Nutte ist zu blöd ein Tablett zu tragen!" Filipe ging um den Tisch herum um der Bedienung beim Aufstehen behilflich zu sein. Die rutschte aber schon auf den Knien herum um die Scherben einzusammeln, mit der Schürze versuchte sie die Hose des Jungen abzuwischen, erbost stieß er sie fort.

„Wie geht Ihr mit den Leuten um!" herrschte Filipe den Jungen an, „hat man Euch nicht beigebracht, das Personal ordentlich zu behandeln?"

Verständnislos starrte der zu ihm auf, und Celina grinste ihn an, reichte ihre Hand über den Tisch: „Komm, setz dich wieder, ist doch nur 'ne Nigger!"

„Ich muss sowieso gehen, Senhorita, die Arbeit ruft!"

Sie zog eine Schnute: „Langweiler!" muffelte sie ihm nach während er mit festem Schritt ins Haus strebte. So schnell ging das also: Ein bisschen Alkohol, ein falsches Wort, eine unachtsame Geste, und schon kamen Charakterzüge zum Vorschein, die ansonsten im vornehmen Getue verborgen blieben. Gestern Abend während des Balles wurde auch reichlich gezecht, aber eine derartige Szene hatte Filipe nicht beobachtet. Nun war er ja auch eine gewisse Zeit diskret abgelenkt, aber trotzdem war er der Meinung, dass sich die Jugend in Anwesenheit der älteren Generation besser zu benehmen wusste. Auf der anderen Seite: Irgendwo mussten sie diese Einstellung den Schwarzen gegenüber ja her haben. Was heißt 'sie', überlegte er, es hatten sich ja nicht alle an diesem widerlichen Exzess beteiligt. Vielleicht riss sich die vornehme Gesellschaft während ihrer Zusammenkünfte und Bälle ja auch nur deswegen zusammen, weil es unter ihnen auch liberalere Geister gab, und eine Eklat wollte man offensichtlich nicht riskieren.

Wie dem auch sei, er war froh, dieser Runde entflohen zu sein!

 

Das inzwischen zur Regel gewordene allabendliche Treffen vor seinem Haus war in diesen Tagen besonders gut besucht. Normalerweise diskutierte man aktuelle Tagesthemen, Probleme, Pläne und ähnliches. Oder man genoss einfach noch ein Bier zusammen. Aber jetzt waren die hohen Herrschaften da, und die gaben genug Anlass, sich das Maul zu zerreißen. Männer tratschen nicht. Von wegen!

Filipe hatte von seinem Arbeitszimmer aus die anderen schon lachen hören, und mit beginnender Dämmerung setzte er sich dazu.

„Ah, da kommt ja unser Casanova!" begrüßte in Silva, breit grinsend.

„Gleich mit zweien der jungen Damen zu tanzen hat bisher noch keiner geschafft," ergänzte Ribeira, „und dann auch noch zum Frühstück hin! Wie war das denn, erzählt doch mal!"

Filipe setzte sich erst mal, lächelte. Maria kam, konnte sich auch ein Grinsen nicht verkneifen, sagte aber nichts während sie ihm Wein einschenkte.

„Wie habt Ihr das eigentlich fertig gebracht, nicht zum Frühstück eingeladen zu werden?" fragte er statt einer Antwort in die Runde, nachdem er einen ordentlichen Schluck genommen hatte.

Lautes Gelächter.

„Hat es Euch denn nicht gefallen?" fragte Alves scheinheilig und schüttelte dann in sich hinein kichernd den Kopf.

„Die Weichen werden schon am Abend vorher gestellt," erklärte Almeida dem Greenhorn, „Ihr müsst Euch so benehmen, dass die keine Lust haben Euch einzuladen!"

„Ihr meint, ich hätte dort in Stiefeln erscheinen sollen, die ich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf dem Tisch platzieren soll?"

Die anderen grinsten, Almeida am meisten, den sie verstehend ansahen.

„Ihr lernt schnell, " kommentierte der Doc, „einen anderen Weg gibt es nicht sich vor deren Vereinnahmung zu schützen."

„Ihr wart zwischendurch ja lange weg," warf Miguel ein, „hat es Euch denn wenigstens Spaß gemacht?"

„Du durftest bestimmt ein bisschen rumknutschen," kam es von hinten; Maria brachte neuen Wein und hatte die Unterhaltung mitbekommen, „mehr lassen die feinen Damen ja nicht zu."

Schallendes Gelächter und ein dezent pikierter Filipe.

„Nach diesem Frühstück ist es jedenfalls beendet," konstatierte er kurz und bündig.

„Na, da solltet Ihr doch froh sein," grinste Silva, "sonst hättet Ihr die noch zehn oder vierzehn Tage am Hals!"

„Hm."

„Naja, eben so lange, wie die noch hier bleiben."

Vor dem Herrenhaus tat sich was, Lachen, lautes Gerede, Türen schlugen und Autos wurden gestartet, aufheulende Motoren. Zwei Sportwagen und eine Limousine rauschten an der Gruppe vorbei zum Steindamm und dort die Rampe zum Ausgang hinunter.

„Sehr Ihr, Ihr habt nichts verpasst," beruhigte ihn Almeida, „die mache jeden Abend Party. Hättet Ihr darauf Lust?"

„Das unwürdige Treiben dieser Menschen ist nicht im Sinne des Herrn!" warf Santos, der sich bisher in bemerkenswerter Weise zurückgehalten hatte, nun doch mit erhobenem Zeigefinger ein.

„Ist ja gut, Pater, aber in diesem Punkt muss ich Euch ausnahmsweise mal recht geben."

Santos sah Almeida erstaunt an, er war es gewohnt, dass ihm in dieser Runde niemals jemand zustimmte, was ihn nicht abhielt, seine Kommentare abzugeben.

„Dass sie mal einen über den Durst trinken wollen," meinte Almeida dazu, „verstehe ich ja. Aber das mit den Drogen? Ich würde meinem Sohn den Hintern versohlen!"

„Drogen?" Filipe verstand nichts von Drogen.

„Kokain. Auf den Partys in der Stadt geht es um Kokain. Jeder eine Linie oder auch zwei!"

„Ihr habt da Eure Erfahrungen gemacht?"

„Die macht jeder hier irgendwann. Sie saufen und schnupfen, und ... äh ..."

„Damit die feinen Damen enthemmt werden und auch mal andere Seiten des Lebens kennenlernen," warf Maria ein, die immer noch hinter Filipe stand, allgemein zustimmendes Gelächter.

„Die wollen eben auch mal 'nen richtigen Kerl kennenlernen," meinte Silva.

„Richtigen Kerl?" Almeida lachte spöttisch. „Habt Ihr unter denen schon mal einen richtigen Kerl gesehen?"

„Deswegen halten sich die jungen Damen ja auch an uns," feixte Miguel; alle sahen Filipe an, der gar nicht wusste wie ihm geschah.

„Ich war einmal dabei," erzählte Almeida und half ihm damit aus der Bredouille, „es erging mir genau so wie Euch: Ich glaubte mich schick machen zu müssen, nach der Begrüßung hatte ich eine weibliche Begleitung. Ich glaube, es wird vorher schon festgelegt, welche der jungen Ladies wen zugeteilt bekommt. Umgekehrt geht das ja nicht, junge Damen haben wir ja nicht unter uns ..."

„Weswegen sich die jungen Spunde an den Bediensteten gütlich tun," warf Alfonso ein, der dem Gespräch bisher still aber amüsiert gelauscht hatte.

„Das würden sie auch tun wenn wir junge Damen hätten," fuhr Almeida fort. „Wie dem auch sei, das Frühstück war das nächste Date, es läuft immer nach dem gleichen Muster ab. Und weil ich damals zu blöd war, dieses zu erkennen, bin ich abends mit auf die Party. Sie findet, ich glaube bis heute, am Fischmarkt statt, keine besonders vornehme Gegend, die Herrschaften bevorzugen diese Ecke, weil sie so ursprünglich ist." Ein spöttisches Lächeln huschte über seine Lippen. "Dort verkehren normalerweise die einheimischen Fischer, nachdem deren Frauen tagsüber den Fisch verkauft haben, es ist sowas wir ihr abendlicher Treffpunkt. Dann fällt da allabendlich diese Horde von Dandys ein, und schon gibt es Zoff! Kann ich auch verstehen: Was haben die da verloren? Regelmäßig muss die Polizei eingreifen um die Reichen zu schützen und die Schwarzen zu vertreiben; sie werden für die Ausschreitungen verantwortlich gemacht."

„Und die Fischer landen tagelang im Gefängnis obgleich sie eigentlich am nächsten Tag auf See müssten," bemerkte Maria, die immer noch hinter Filipe stand.

„Das du auf deren Seite bist, ist ja klar," fühlte Ribeira sich berufen anzumerken.

„Wir Contrados haben mit den Fischen nichts am Hut, aber ungerecht finde ich es trotzdem."

„Ich will hier keine Unruhen," stellte Almeida klar. „Wenn die ihre überschüssigen Energien austoben müssen, sollen sie es auf den Fechtböden ihrer Verbindungen machen oder sonst wo. Aber bitte nicht hier! Das Risiko, dass da was übergreift ist doch viel zu groß!"

„Ich würde ja das Austoben mit den Weibern vorziehen," grinste Jose, „aber vielleicht können sie da ja nichts mehr ausrichten, so voll gedröhnt wie die sind!"

„Sie lassen den Macho raushängen, den Schwarzen gegenüber, und glauben so, den Weibern imponieren zu können."

„Komm nicht auf die Idee, Catarina und mir so imponieren zu wollen," konnte Maria sich nicht verkneifen und zupfte Filipe am Haar.

„Was muss unser Freund Mandoza denn tun um dir zu imponieren?" feixte Jose.

Alle sahen zu Maria hin, die schmunzelte verschmitzt. "Hat deine Hausgehilfin Sophia dir nicht beigebracht, was du tun musst um einem Weib zu imponieren?"

Schallendes Gelächter. Man hatte sie und Catarina inzwischen als Freundinnen von Filipe akzeptiert, Maria durfte auch ihre meist treffenden Kommentare abgeben, irgendwie gehörten die beiden dazu.

„Ich hol euch noch neue Getränke," grinste diese und verschwand.

 

Obgleich Filipe von den hier eingefallenen Landsleuten einen deutlich negativen Eindruck hatte, blieb ihm der Patrone in guter Erinnerung. Der Mann war bestimmt ein Mann konservativer, kolonialistischer Prägung, aber Neuem stand er durchaus aufgeschlossen gegenüber. Die Unterhaltung hatte ihm Mut gemacht, die Ideen, die in seinem Kopf manchmal Kreisel spielten, noch energischer anzufassen. Zuerst mussten die Schweine dran glauben, die bisher ja nur unter Nebensächlichkeit liefen. Nach dem Frühstück begab er sich in den Garten, um das Gatter zu begutachten, das Carlos gebaut hatte: Der Zaun war gut, aber der Trog stand mitten drin. Er holte sich Stift und Papier aus dem Arbeitszimmer und malte auf, wie er sich die Fütterungsstelle vorstellte und wie er es von zuhause kannte: An einer Seite ein großes Brett, das vor und zurück bewegt werden und arretiert werden konnte, darunter der Trog. Je nach Stellung konnte entweder der Pfleger Futter einfüllen oder die Schweine fressen. So wurde vermieden, dass die Futterstelle mit Kot verschmutzt wurde. Carlos sollte es heute noch herrichten!

Dann suchte er Ribeira auf. Der war ziemlich zugeknöpft, als er ihn herein bat: „Das kostet bestimmt ein Vermögen,“ knurrte er mit Blick auf die Mappe, die Filipe mitgebracht hatte, aber der ließ sich auf derartige Diskussionen gar nicht ein:

„Unterlagen für zehn Turbinen für die neue Windkraft, außerdem eine leistungsstarke Dampfmaschine mit entsprechender Turbine“ meinte er knapp und offenbarte seinem Gegenüber die Pläne, „Ihr wisst, der Patrone hat zugestimmt.“

Der Hinweis auf Don Alberto de Castro stimmte Ribeira deutlich williger und Filipe glaubte sogar einen Hauch von untertäniger Ergebenheit wahrgenommen zu haben; wie wohl die Unterhaltung zwischen den beiden abgelaufen sein mochte?

„Ach, Mandoza, Ihr trinkt doch sicher einen Café mit mir?“ lud er ihn nun freundlich ein und rief umgehend seine Haushälterin, die Getränke zu bringen. Interesse bekundend blätterte er in den Unterlagen und Filipe wusste genau, dass er nichts davon verstand.

„Die Masten und Windräder werden Alves und seine Leute auch selbst bauen können,“ kam er dem Buchhalter entgegen, „das spart Geld. Und aufbauen können wir das auch alles mit unseren Mitteln.“

„Es freut mich ja, dass Ihr bei Euren Planungen auch an die Finanzen denkt,“ lobte der und orderte noch einen Café. „Ach, und einen Brandy für uns beide!“

Nachdem sie noch ein wenig geplaudert hatten, verabschiedete Ribeira seinen Gast mit dem Versprechen, sich umgehend um die Angelegenheit zu kümmern, allerdings müsse man wahrscheinlich mit längeren Lieferzeiten rechnen.

Zufrieden vor sich hin summend schlenderte er nun runter zu Alves Werkstätten; schließlich musste er ihn fragen, ob er sich den Bau der Räder auch wirklich zutraute! Erfreulich war, dass er hier mit seinen Plänen offene Türen einrannte. Insbesondere Jose freute sich über diese Neuerungen, „endlich mal was anderes als immer nur kaputte Züge!“ Stolz zeigte er ihm drei kleine Windräder mit einer Papierwalze , auf der die Intensität des Windes aufgezeichnet werden konnte: „Eigene Entwicklung! Damit können wir die besten Stellen für die richtigen Turbinen finden.“ Filipe war begeistert. Kurzer Blick zu Alves: Der war mit Miguel und einigen Arbeitern beschäftigt. Die beiden sahen sich an und waren sich einig: „Kommt, die Dinger bauen wir gleich auf!“

Schnell nahmen sie die Modelle vom Tisch und draußen waren sie bevor Alves das alles überhaupt registriert hatte.

Zügig durchquerten sie die Siedlung der Forros, Jose grüßte hier oder da, so ganz unbekannt war er hier wohl nicht. Im Stall sattelten sie sich selbst zwei Pferde; Jose kannte einen Pfad hinten herum zum Krankenhaus, dann ging es durch die Plantagen zu den Bergen. Das Vorhaben dauerte mehrere Stunden. Die Kakaobäume wuchsen nur bis in einer Höhe von etwa 500 m überm Meeresspiegel, in höher gelegenen Bereichen konnten diese verdammt empfindlichen Pflanzen offensichtlich nicht gedeihen. Oberhalb dieser Grenze konnte also problemlos Urwald abgeholzt werden um dem Wind gute Chancen einzuräumen. Verschiedene Stellen nahmen sie in Augenschein, was nicht so einfach war, oft mussten sie absitzen und einen Hang empor klettern. Aber nach geraumer Zeit hatten sie die drei Windräder aufgestellt. Und nicht nur das, auch für die sieben Räder, die Jose noch bauen wollte, suchten sie passende Stellen. Jose erklärte Filipe, wie die Maschinen funktionierten und sie verabredeten die Tage, an denen dieser oder jener die Papierwalze wechseln sollte.

Es war schon fortgeschrittener Nachmittag, als Filipe sein Haus wieder erreichte, Begrüßung durch Catarina und Maria, Küsschen hier und da, schwanzwedelnder Raposa, und Carlos. Schweigend hatte er neben dem Eingang gestanden und gewartet, Filipe fragte sich, wie lange er da schon stehen mochte. Aber egal, er wandte sich ihm zu und zusammen gingen sie in den Garten: So war das Schweinegatter ordentlich. Er ordnete an, dass Carlos morgen fünf Ferkel besorgen sollte.

 

Es war der zweite Tag nach dem Ball als Filipe aus den Bergen kommend am Krankenhaus vorbei zurück über den Damm zum Stall ritt. An die Balustrade gelehnt betrachtete Senhorita Hortensia in ihrem weißen Kleid das unten liegende Gelände und den Zug mit den Loren, der von der Plantage kommend seine Fracht runter zu den Hallen brachte.

"Senhorita," begrüßte er sie, "Ihr hier so allein? Warum seid Ihr nicht mit den anderen in die Stadt gefahren?"

Sie machte einen angedeuteten Knicks, lächelte: "Senhor Mendoza, guten abend."

Filipe stieg vom Pferd und gesellte sich zu ihr. „Ihr beobachtet das Treiben hier auf der Roca?"

„Das ist jedenfalls interessanter als Partys," antwortete sie trocken, „ich bin jetzt das zweite mal hier, und alles ist genauso wie im letzten Jahr!"

„Naja, was soll sich auch viel ändern? Das Feiern ist ja wohl der Zweck Eures Aufenthaltes. - Oder irre ich mich da?" hängte er vorsichtig an, schließlich feierte Senhorita Hortensia grade nicht.

„Könnte man vielleicht so sagen, mich langweilt es aber inzwischen."

„Und das Treiben hier zu beobachten langweilt Euch weniger?"

„Ja!" fest und bestimmt. „Ich würde gern mehr über die Roca, die Menschen hier und die Arbeit wissen."

Verwundert hob Filipe das linke Augenlid: „Das ist aber selten unter den vornehmen Herrschaften, die im Sommer zu Besuch kommen."

„Findet Ihr, dass ich vornehm bin, Senhor Mandoza?"

„Weiß nicht. Ihr seid schließlich mit den Herrschaften hier angereist."

Sie drehte sich um, stützte die Arme auf die Balustrade und schaute wieder nach unten zu den Hallen; hatte er was Falsches gesagt?

„Vielleicht solltet Ihr Almeida bitten, Euch hermzuführen," warf er schnell ein.

Sie wandte sich wieder zu ihm hin: „Almeida? Der ist immer so ruppig. Könnt Ihr mich nicht ein wenig herumführen?"

So hatte er das ja nun nicht gemeint, aber jetzt konnte er auch nicht mehr zurück.

„Ich muss jeden zweiten Tag die Windräder kontrollieren, reite also den ganzen Tag nur durch die Plantagen," wich er aus.

„Auf der Roca gibt es doch bestimmt auch für mich noch ein Pferd!"

„Für Euch ein Pferd? Könnt Ihr denn reiten, Senhorita?"

„Sonst würde ich Euch doch nicht nach einem Pferd fragen," lächelte sie ihn an.

„Okay, dann treffen wir uns morgen früh um acht hier auf dem Damm und gehen zusammen zum Stall um ein Pferd für Euch auszusuchen."

Damit war sie einverstanden, lächelnd verabschiedeten sie sich voneinander.

 

Am nächsten Morgen wartete sie tatsächlich an der vereinbarten Stelle, nicht im weißen Kleid sondern zünftig kariertes Hemd, Hose und schwarze Stiefel. Gemeinsam begaben sie sich zum Stall, schnell war ein geeignetes Pferd gefunden, das Satteln und Aufzäumen übernahm sie selbst, wie Filipe erstaunt feststellte. Gemeinsam ritten sie los, am Krankenhaus vorbei in die Plantagen, zuerst immer den Bahnschienen entlang, dann hinein in den Urwald.

„Habe ich Euch richtig verstanden, dass Ihr Euch nicht zur vornehmen Gesellschaft zählt?" griff Filipe ihre Unterhaltung von gestern wieder auf.

„Senhorita Celina ist meine Studienkollegin. Weil ich ihr gelegentlich vor und während der Klausuren ein wenig unter die Arme greife, hat sie, das heißt ihre Familie, mich im letzten Jahr eingeladen, sie hierher zu begleiten."

„Ich darf daraus schließen, dass Ihr eine fleißige Studentin seid?"

Sie lächelte. „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls bin ich mehr mit dem Lernstoff vertraut als Senhorita Celina."

„Und dann lasst Ihr sie während der Klausuren abschreiben?"

Wieder lächelte sie: „Es hat sich als freundschaftliche Hilfe eingebürgert."

„Dann Seid Ihr mit Senhorita Celina befreundet?"

Sie schwieg einen Moment. „Freundschaft würde ich das nicht nennen," meinte sie schließlich ernst, „wie gesagt, es hat sich eingebürgert. Und die Reise hierher soll sowas wie Dank sein. - Gnadenvoller Dank," setzte sie hinterher.

„Gnadenvoller Dank?"

„Sie lässt es mich dauernd spüren. Ich gehöre eben nicht zu dieser hohen Gesellschaft."

„Sondern?"

„Meine Eltern haben ein Weingut in der Nähe von Porto. Mein Bruder wird es irgendwann weiter führen. Und ich soll möglichst profitabel verheiratet werden. Deswegen sehen meine Eltern es auch ausgesprochen gern, wenn ich mit nach Sao Tome reise.

„Und? Haben diese Bemühungen schon Früchte getragen?"

„Nein," lachte sie, „mal im Ernst, wolltet Ihr mit irgendwem verheiratet werden, den Eure Eltern für geeignet halten? Und dann auch noch aus der Gruppe dieser Snobs?"

Filipe lachte auch: „Naja, Männer werden ja auch nicht so verheiratet wie Frauen." Und nach einer Weile fuhr er fort: „Aber Eure Eltern lassen Euch doch studieren. Wenn Ihr fertig seid, könnt Ihr doch auch auf eigenen Beinen stehen."

„Früher waren die Merkmale einer guten weiblichen Partie Deckchen sticken, Haushalt führen und Kinder kriegen. Heute ist es kommoder, zusätzlich noch ein Studium vorzuweisen, als gebildet zu gelten!" Spott lag unüberhörbar in ihrer Stimme.

„Was studiert Ihr denn?"

„Ich soll Lehrerin werden. Fürchterlich!"

„Wieso? Ist doch ein ehrbarer Beruf." Was anderes fiel ihm nicht ein.

„Ich würde viel lieber Physik studieren. Aber da nehmen sie mich nicht. Noch nicht!" fügte sie trotzig hinzu. „Ich gehe nur deswegen brav zu Universität, weil ich mich von Semester zu Semester bemühe in Physik einen Studienplatz zu bekommen! Die haben da ein Problem mit Frauen!"

Physik! Filipe war auch der Meinung, dass das irgendwie nichts war für Frauen, er sagte aber nichts.

„Vielleicht auch noch Soziologie," erzählte sie weiter, „deswegen interessieren mich die Arbeitsabläufe, die Menschen und Maschinen hier auch viel mehr als die langweiligen Partys."

Nachdem sie die Bahntrasse verlassen hatten wurde der Ritt zunehmend beschwerlicher. Oft mussten sie sich ducken unter den ausladenden Ästen des wilden Waldes oder Filipe musste mit seinem Buschmesser Zweige abschlagen, und Hortensia schlug vor, beim nächsten Ritt doch bitte auch ein Buschmesser zu bekommen!

Nach etwa zwei Stunden hatten sie den Höhenrücken erreicht, auf dem Filipe und Jose eins der kleinen Windräder montiert hatte; jetzt noch ein Stück klettern, dann waren sie an ihrem ersten Ziel. Sie saßen ab und er erklärte seiner Begleitung das Gerät, interessiert hörte sie zu. Nach dem Wechseln des Papiers auf der Walze ritten sie weiter. Diesen Teil der Insel hatte Hortensia noch nicht kennen gelernt, und sie war beeindruckt von der Wildheit einerseits und der damit verbundenen urtümlichen Schönheit andererseits. Insbesondere der Wasserfall, an dessen Fuß sie die Pferde trinken ließen, hatte es ihr angetan. Am liebsten wäre sie gleich in das erfrischende Nass gesprungen, was sich natürlich nicht ziemte und deshalb nicht in Frage kam. Am nächsten Rad angekommen bat Hortensia die Arbeit tätigen zu dürfen, und Filipe bemerkte anerkennend, dass sie das recht geschickt anstellte. Gegen Mittag gönnten sie sich eine kleine Pause, aßen und tranken Mitgebrachtes und ruhten sich ein wenig aus. Filipe wusste, dass man von dieser Stelle einen weiten Blick über die Insel hatte, am heutige Tag war es wegen der stets hohen Luftfeuchtigkeit derart diesig, dass davon nicht viel zu erkennen war.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass Hortensia und er sich doch noch näher kennenlernen würden; die Art und Weise, wie er sie während des Balles aus den Augen verloren hatte, beschäftigte ihn schon, er empfand es als nicht besonders nett ihr gegenüber. Aber aus den Augen aus dem Sinn, und damit war das für ihn erledigt. Aber nun war sie wieder da, und es drängte ihn, dieses Thema noch einmal anzuschneiden, irgendeine Art der Entschuldigung anzubringen.

Hortensia wollte während des Picknicks Genaueres über seine Pläne mit der Elektrizität wissen, aber er winkte ab:

„Ich will Euch das gerne erklären, aber vorher muss ich noch etwas anderes loswerden: Unser Zusammentreffen auf dem Ball!"

Seine Begleitung lachte laut, sah ihn neugierig an: „Soso, was wollt Ihr denn da loswerden?"

Filipe war sich sicher, dass sie wusste wo er drauf hinaus wollte, aber gespannt war, wie er es anstellen würde.

„Es tut mir leid, dass ich mich im Verlauf des Abends Eurer Freundin zugewandt habe und meine Aufmerksamkeit nicht mehr auch Euch zugute gekommen ist. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Ihr habt derartiges nicht verdient."

Wieder lachte sie: „Entschuldigung angenommen. Und nun grämt Euch nicht deswegen, ich kenne meine Freundin Celina und weiß wie sie vorgeht."

„Wie meint Ihr das?"

„Sie hat sich doch einen Tanz gewünscht, erst einen Jazz und dann einen Tango. Ich bin keine so gute Tänzerin: Ich kann weder den einen noch den anderen Tanz. Die Tanzschule, die ich besuchen durfte - musste - war da eher konservativ eingestellt. Jazz war Krach und Krawall aus Amerika und Tango, so behauptete die Tanzlehrerin, sei unmoralisch und unserer nicht würdig. Walzer und sowas, das kann ich so einigermaßen."

Filipe musste grinsen; einerseits empfand er das Vorgehen von Celina unter diesem Aspekt geradezu infam, andererseits - es war ja auch ganz nett an dem Abend mit ihr.

„Hattet Ihr denn wenigstens Euren Spaß mit Celina?" fragte Hortensia nun ganz direkt.

„Ja," gab Filipe ganz ehrlich zu, „aber, Senhorita, dieses Thema sollten wir jetzt doch lieber abhaken."

Sie schmunzelte kurz in sich hinein, dann sah sie ihn wieder direkt an: „Aber, Senhor Mendoza, Euer Auftritt am nächsten Morgen, der hat mich doch sehr beeindruckt! Ich fand es sehr mutig von Euch, sich hinter die arme Bedienung zu stellen."

„Ich danke Euch, Senhorita. Aber ich konnte nicht anders, so geht man nicht mit Menschen um."

Sie sah ihn an, „nein," sagte sie schließlich leise, dann schwiegen sie, damit die Schönheit der Natur sie wieder auf andere Gedanken brachte.

Im weiteren Verlauf des Tages besuchten sie noch mehrere Stellen, die Filipe als mögliche Standorte für Windmühlen auserkoren hatte, ausführlich diskutierten sie die Vor- und Nachteile, wobei er sie mit seinen Erklärungen immer weiter in seine Pläne und Vorstellungen einweihte. Und damit offensichtlich ihr Interesse noch mehr weckte.

Nachdem sie abends die Pferde zurück in den Stall gebracht hatten, schlenderten sie zusammen über den Damm, und beim Abschied lächelte Hortensia ihn an: „Dies ist der erste Tag auf dieser Insel, an dem ich das Gefühl habe, etwas Sinnvolles getan zu haben. Vielen Dank Senhor Mendoza“.

„Und dies ist der erste Ritt durch den Dschungel mit einer so netten Begleitung," gab er das Kompliment zurück, „vielen Dank, Senhorita."

 

Während des Frühstücks wurde Filipe von hellem Gequike aufgeschreckt: Die Ferkel. So neugierig er auf diese Tierchen war, so mussten sie doch warten. Zuerst wollte er in Ruhe seinen Café austrinken und noch einen Blick in die Zeitung werfen. Obgleich die schon mehrere Tage alt war, hatte er in Ermangelung frischerer Informationen es sich doch wieder angewöhnt, regelmäßig das Jornal de Noticias zu lesen. Catarina und Maria waren auch im Garten an dem neuen Gatter und er hörte, wie Raposa die Schweinchen begrüßte. Er kam immer wieder ins Haus und rannte wieder in den Garten in der Hoffnung Filipe möge folgen, schließlich musste er ihm doch seine neuen Spielgefährten zeigen!

Nun gut, es sollte wohl so sein. Filipe nahm den letzten Schluck aus der Tasse und kam mit. Die Ferkel waren von Raposas Begrüßung weniger begeistert, verängstigt hatten sie sich in eine Ecke des Gatters zurückgezogen Auch die Versuche der Frauen, sie mit allerlei vermeintlichen Leckereien zum Trog locken zu können, blieben erfolglos.

Die beiden Forros, die die Tierchen gebracht hatten, ließen sich von Maria auszahlen und verschwanden wieder. „Sie werden sich schon an uns gewöhnen,“ meinte Filipe während sie wieder ins Haus schlenderten, und er rief nach Carlos: Alle Essensreste aus den Haushalten der Weißen sollte hierher gebracht werden; die von den farbigen Arbeitern mochte er nicht beanspruchen weil sie diese Reste sicherlich selbst an ihre Schweine verfütterten. Aber hinter dem Gatter, wo Filipes Garten schleichend in eine verwilderte Brache überging, musste Carlos ein Maisfeld anlegen. Außerdem sollte er jeden Tag Zuckerrohrstauden von einer der kleinen Plantagen, auf der die Roca diese für den Eigenbedarf anbaute. So würden sie die neuen Hausgenossen schon satt kriegen. Aber er dachte auch über effizientere Methoden nach, Schweine zu ernähren. Gehäckselt ließ sich der Zuckerrohr und auch eine Maispflanze zweifellos einfacher handhaben als die sperrigen Gewächse als Ganzes; zu Hause hatten sie mit handbetriebenen Maschinen Pflanzen zerkleinert. Wenn sie hier, wie angedacht, hundert oder zweihundert Schweine halten sollten, mussten Erntemaschinen her. Außerdem, das war für ihn das Wichtigste, musste der Mist irgendwie gesammelt werden um daraus Faulgase gewinnen zu können. Er würde sich etwas einfallen lassen; mit diesen fünf „Versuchstieren“ wollte er erst mal Erfahrungen sammeln. Und regelmäßig Piperazin zu füttern durfte er nicht vergessen!

In seinem Arbeitszimmer lehnte er sich zufrieden zurück: Die Stromgewinnung mit Wind hatte er auf den Weg gebracht und nun auch die mit Faulgasen. Fehlten nur noch die Anlagen um auch die menschlichen Fäkalien nutzen zu können. Das Prinzip war einfach: Die zahlreichen Sickergruben hier auf der Roca mussten über ein Rohrsystem in mehrere große Gärbecken entleert werden, die nacheinander verfüllt werden. Nach Abschluss des Gärprozesses blieb hochwertiger Dünger zurück, der dann verwertet werden konnte. Um den Fließprozess von den Sickergruben zu gewährleisten, und natürlich auch aus hygienischen Gründen mussten alle Toiletten mit Wasserspülung ausgestattet werden. Filipe musste sich eingestehen, dass er während seines Studiums mit dem Prinzip dieser Technik vertraut gemacht wurde. Ziel war die Produktion von geruchsfreiem, gutem Dünger. Die entstehenden Gase sollten als Abfall einfach verbrannt oder in die Luft entsorgt werden. Aber grade auf diesen „Abfall“ kam es ihm an, aber er hatte nicht gelernt, wie hoch die Ausbeute sein würde und ob es genug war um eine Turbine damit zu betreiben. Trotzdem, Mut zum Risiko!

 

Am nächsten Tag machte Filipe sich wieder auf den Ritt durch die Berge um ein weiteres der kleinen Windräder aufzubauen. Bevor er zum Pferdestall bei den Forros ging, schaute er kurz zum Steindamm hinunter: Wartete Hortensia dort wieder auf ihn? Sie hatten ja darüber gesprochen, dass sie ihn noch mal begleiten wollte, aber kein genaues Treffen vereinbart. Sie wartete. Wie beim letzten mal zünftig gekleidet winkte sie ihm zu und kam dann herauf gelaufen.

Filipe war das irgendwie unangenehm, dass eine Dame auf ihn wartete:

„Senhorita, sagt mir doch bitte in welchem der Gästehäuser Ihr wohnt, ich werde Euch von dort abholen."

„Ach, das macht doch nichts wenn ich warten muss. Es ist doch schön von dort das Treiben auf der Roca zu beobachten. Gestern haben die Arbeiterinnen auf den Trocknungsfeldern wunderbar gesungen.“

„Wie? Gestern habt Ihr auch gewartet?“ Jetzt war es ihm noch peinlicher, schließlich tätigte er nur jeden zweiten Tag diesen Ritt, abwechselnd mit Jose.

Lachend stupste sie ihn in die Seite: „War doch mein Fehler. Ihr sagtet doch, dass Ihr nicht jeden Tag losreitet.“

„Ich werde Euch in Zukunft an Eurem Quartier abholen,“ bestimmte er um derartiges nicht wieder vorkommen zu lassen.

Verlegen druckste sie herum: „Nein, das geht nicht," sagte sie schließlich während sie sich auf den Weg zum Stall machten, „Senhor und Senhorita Teixeira wohnen ja auch da; sie haben ein scharfes Auge auf mich. Wenn Ihr mich dort jeden Morgen abholt, gibt es bestimmt dumme Fragen. So kann ich mir immer Ausreden ausdenken."

Filippe grinste: „Der Anstandswauwau!"

„Ist leider so," lächelte sie zurück. „Und das Verrückte daran ist: Wenn mich die andere Jungs abends dort abholen würden um mich zu einer ihrer Partys zu entführen, dagegen hätten sie nichts einzuwenden."

„Weil Ihr dann in den richtigen Kreisen seid, vermutlich."

„Ja, vermutlich."

Sie sattelten die Pferde und ritten los, diesmal bekam sie auch eine Machete. An diesem Tag führte sie der Weg nach Norden, durch endlose Reihen der Kakaobäume, schon von weitem waren die Gesänge der Erntekolonne zu hören, und als sie sie erreichten hielt Hortensia an, interessiert beobachtete sie, wie die Arbeiter geschickt und zielgenau die Früchte von den Stämmen schlugen ohne den Baum dabei zu verletzen. Filipe stieg ab und bat einen der Arbeiter, eine Frucht zu öffnen um der Senhorita das Innenleben zu erklären und die hellen, noch frischen Kakaobohnen zu zeigen. Nachher, als sie in den Dschungel abbogen, wurde das Gelände schwieriger, und das letzte Stück mussten sie klettern um an die Stelle zu gelangen an der sie die nächste kleine Windmühle montieren wollten. Filipe trug die Rohre für den Mast und den Rotor, Hortensia die Teile für die Pleuelstangen und die kleine Walze, das ließ sie sich nicht nehmen. Ganz der Kavalier reichte er ihr immer wieder die Hand, und an der Spitze des Gesteins erwartete sie ein kleiner Felsabbruch, etwa einen Meter hoch. Er warf die Gerätschaften auf das Podest, kletterte hinauf und gab ihr beide Hände zum Festhalten; mit kräftigem Zug half er ihr hinauf, sie schaffte es auch, an der Kante strauchelte sie, geistesgegenwärtig umklammerte er mit starkem Arm ihre Taille und sie schlag ihre Arme um seine Schultern: „Keine Angst, ich halt dich fest!" beruhigte er sie.

Dicht an dicht standen sie voreinander, umklammerten sich den Bruchteil einer Sekunde länger als es notwendig gewesen wäre, er roch ihren Duft, fast hätten sich ihre Lippen berührt.

„Entschuldigt bitte, ich wollte Euch nicht zu nahe treten."

Sie sagte nichts, wie versteinert blieb sie stehen, ihr Gesicht errötete.

„Du bist mir nicht zu nahe getreten," erwiderte sie leise, übrigens, ich heiße Hortensia."

Er lächelte, das wusste er doch schon. „Filipe," stellte er sich dann aber auch brav vor.

„Ich weiß." Ihre Augen suchten sich, tief atmete sie durch.

„Wir - wir müssen den Mast aufbauen," flüsterte sie während sie sich immer noch an den Händen hielten.

Schweigend schraubten sie die Rohre und Stangen zusammen, befestigten den Rotor und die Walze, mit vereinten Kräften richteten sie das Windrad auf um dann stolz ihr Werk zu betrachten. Mit leisem Klappern begann der Rotor sich im Wind zu drehen, dicht standen sie beieinander, vorsichtig legte er seinen Arm um ihre Hüfte und sie schmiegte ihren Kopf an seine Schulter.

Ein wunderbarer Moment, der nie enden sollte!

 

Während der abendlichen Männerrunde konnte Filipe seine Gedanken nicht von den Erlebnissen des heutigen Tages trennen. Catarina bediente, die anderen scherzten und lästerten, aber filipe war merkwürdig still. Was aber niemandem auffiel.

Nachdem die anderen gegangen waren, begab Filipe sich ins Schlafgemach, entkleidete sich und legte sich zu Maria, die ihn herzlich umarmte. Ihren Liebkosungen, ihren erotischen Reizen konnte er nicht widerstehen, und er ergab sich in eine wunderbare Nacht.

Am nächsten Morgen wurde er durch die hellen Sonnenstrahlen geweckt, die das Zimmer durchflutete; Maria war schon aufgestanden, hatte den Vorhang zur Seite gezogen und sich wieder auf die Bettkante gesetzt; er wusste nicht, wie lange sie dort schon gesessen und ihn im Schlaf beobachtet hatte, lächelnd gab sie ihm einen Kuss als sie bemerkte, dass er wach war.

„Du möchtest sie in deine Armeschließen und überall streicheln, stimmt's?"

Filipe fiel nichts ein, was er darauf erwidern sollte; er war verliebt, das musste er sich eingestehen.

„Du musst nichts sagen, lieber Filipe. Ich möchte nur, dass du ehrlich bist zu Catarina und mir."

„Ja, Maria," sagte er leise, „ich bin verliebt," und eine Träne rollte aus seinem Augenwinkel.

Maria lächelte sanft. „Du musst dich nicht grämen, es ist doch schön, verliebt zu sein." Zart strich sie ihm durch's Haar, gab ihm noch einen Kuss auf den Mund, dann erhob sie sich, kleidete sich an und verließ das Zimmer.

 

Hortensia wartete schon auf dem Damm, Arm in Arm gingen sie zum Pferdestall, sattelten die Tiere und los ging's. Unterwegs erzählten sie sich von ihrer Zeit in Portugal, von den Weingütern ihrer Eltern, dem Studium, und wie es ihn hier auf die Insel verschlagen hatte. Der Wind hatte aufgefrischt, die überprüften Papierstreifen zeigte gute Ergebnisse, Hortensia trug ihr Haar heute offen, lang und in tiefem Schwarz wehte es im Wind. Filipe sah sie von der Seite an, was für eine schöne Frau! Sie bemerkte seinen Blick, erwiderte ihn, langsam, fast schüchtern näherten sie sich, dichter, immer dichter, zärtlich ließen sie ihre Lippen aneinander streichen, öffneten sich, liebkosende Zungen erkundeten die Geheimnisse des anderen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern bis sie sich wieder voneinander lösen konnten, die Arbeit rief.

Aber das Eis war gebrochen. Zufällig oder absichtlich, sie ließen keine Gelegenheit aus sich zu berühren und anzufassen. Obgleich dunkle Wolken am Himmel aufzogen und Regen ankündigten, erschien ihnen dieser Tag voller Sonne und Glück, und als der warme Regen herunter prasselte, stiegen sie von den Pferden um ausgelassen in diesem wunderbaren Nass zu tanzen, sich zu umarmen und sich zu küssen.

Abends vor seinem Haus trank er mit den anderen noch ein Glas Wein, Maria bediente, strich ihm sanft über das Haar und ging wieder rein.

„Ihr könntet ein Problem bekommen," raunte Almeida, der neben ihm saß, „weiße Anmut duldet keine schwarze Lust."

„Was flüstert Ihr da?" entrüstete sich Ribeira, „hier gibt es keine Geheimnisse!"

„Das ist nicht für die Ohren unseres hochwürdigen Popen, ich will nicht schon wieder beichten gehen."

„Euch habe ich noch nie im Beichtstuhl gesehen, Almeida!" bemerkte Santos mit grimmigem Blick in das Gelächter der anderen.

„Das war vor Eurer Zeit, Hochwürden, kurz nach meiner Kommunion."

„Der Teufel wird Euch holen! - Und die da alle gleich mit!"

Vom Herrenhaus her war wieder Geschrei und Gejohle zu hören, die Gehörnten mit dem Pferdefuß jagten wieder die armen Seelen der schwarzen Mädchen.

Filipe verabschiedete sich früh, er wusste, dass Catarina in seinem Bett auf ihn wartete, schön wie Gott sie geschaffen hatte, lag sie auf den Laken, ihre Arme hinterm Kopf verschränkt lächelte sie ihn an.

„Ist es recht, dass ich heute nacht bei dir bleibe?"

„Warum soll es nicht recht sein?"

„Filipe! Du bist verliebt. In eine andere Frau. Es könnte doch sein, dass dich die erotischen Reize, die du schon kennst, nicht mehr so gefallen."

„Woher weißt du, dass ich verliebt bin? Hat Maria dir das erzählt?"

"Ach, Filipe! Eine Frau bemerkt das sofort," sie lächelte ihn halb mitleidig, halb verständnisvoll an.

„Catarina, ich möchte auf keinen Fall, dass du jetzt wieder gehst!"

„Aber kommst du denn dann nicht mit deinen Gefühlen durcheinander?"

„Ach, das bin ich doch sowieso. Weißt du, wenn ich ein technisches Problem habe, mit einer Maschine oder mit meinen Plänen zur Elektrifizierung, dann denke ich so lange darüber nach, bis ich eine Lösung gefunden habe ..."

„Aber wenn es um Gefühle geht, bist du hilflos, nicht wahr?"

Er legte sich zu ihr nachdem er sich entkleidet hatte und nahm sie in den Arm: „Ja, irgendwie schon. - Stell dir vor, du würdest dich jetzt in einen anderen Mann verlieben: Was würdest du tun?"

„Ich - ich - ich würde mich nicht in einen anderen Mann verlieben."

Erstaunt sah er sie an: „Das kannst du doch gar nicht wissen!"

„Doch. Das Wort ‚verliebt sein' gibt es in unserer Sprache so nicht."

„Das gibt es nicht? Wie nennst du das denn?"

Catarina lachte, richtet sich etwas auf und sah ihn an: „Es gibt viele Ausdrucksweisen dafür: ‚Ich möchte deine Blume kosten', ‚meine Hände möchten dich liebkosen', ‚ich möchte mich mit dir verbinden' oder so, die Männer versuchen meist uns Frauen zu erklären, dass es unsere Aufgabe und unser Wunsch ist, Kinder zu bekommen."

„Aber das ist doch eigentlich eine Umschreibung dafür, dass man miteinander schlafen möchte."

„So ist es, mein Lieber."

„Aber verliebt sein ist doch nicht gleichbedeutend mit dem Wunsch nach Sex!"

„Nein? Ist es das nicht?"

„Verliebt sein ist ein romantisches Gefühl, man denkt aneinander, man möchte beieinander sein.

„Und du möchtest nicht die erotischen Reize deiner Freundin kosten?"

Filipe schwieg. Er hätte niemals versucht, Hortensia zu einem Schäferstündchen zu überreden. Die Frauen, die sich einem Mann hingaben bevor die Verbindung besiegelt war, galten doch eher als lose Mädchen. Und das war sie mit Sicherheit nicht!

„Möchtest du nicht mal ihren weichen Busen ertasten? Stellst du dir nicht vor, wie sie aussieht, wenn sie ihre Kleider ablegt? Regt sich bei dir nichts, wenn du sie küsst und anfasst?"

Wieder schwieg er. Natürlich wollte er ihren Busen berühren, natürlich regte sich seine Begierde, wenn er sie küsste und anfasste!

„Sag es mir ganz ehrlich, Filipe, ist das so?"

„Ja, es ist so," murmelte er fast ein wenig trotzig.

„Und warum macht ihr dann nicht irgendwas in dieser Richtung?"

„Catarina! Ich kenne Hortensia grade mal ein paar Tage! Es gehört sich doch nun wirklich nicht, sie zu fragen, ob ich mal ihren Busen anfassen darf!"

„Was glaubst du: Wünscht sie sich nicht vielleicht auch, dass du ihre Haut streichelst, ihr den Rücken massierst und ihren Busen küsst?"

„Das weiß ich nicht. Ich glaube, nicht."

„Weil sie es unangenehm findet oder weil es sich nicht gehört?"

„Catarina! Das weiß ich doch nicht. Ich habe sie nicht danach gefragt!"

„Wie würdest du es denn finden, wenn sie deine Haut überall streicheln würde und küssen? So, wie ich es jetzt tue?"

Sie begann sie ihn mit ihren Lippen zu liebkosen, die Brust, den Bauch und immer weiter nach unten. Schließlich lag sie zwischen seinen Beinen, sah zu ihm auf: „Würde es dir gefallen, wenn sie das machen würde?" Zart rieb sie seine Männlichkeit an ihrer Wange und lächelte ihn an.

„Ja, doch, natürlich würde mir das gefallen!"

"Und du glaubst wirklich, dass es ihr nicht gefallen würde, wenn du Gleiches bei ihr tust?"

„Catarina! Wo willst du eigentlich drauf hinaus?"

„Eigentlich gibt es keinen Unterschied zwischen dem, was ihr Weißen ‚Verliebtsein' nennt und wir Schwarzen ‚ich möchte deine Rose küssen'. Nur: Wir tun es, und ihr nicht. Ihr verweigert euch diesem schönen Spiel nicht, weil es euch unangenehm ist, sondern weil es euch eure Moral verbietet. Ihr dürft erst miteinander schlafen, wenn ihr verheiratet seid. Wenn es eine Frau vorher tut, gilt sie schnell als Hure. Deswegen kommen viele von euch hierher um hier nach Herzenslust mit uns zu schlafen. Und deswegen betrachtet ihr uns schwarze Frauen alle als Huren."

Filipe holte empört Luft um sich gegen diese Aussage zu wehren, aber Catarina biss im zart in seine Kronjuwelen um ihn zum Schweigen zu bringen, sie war noch nicht fertig mit ihren Erklärungen:

„Wir sind aber keine Huren. Wir schlafen mit Männern, weil wir Spaß daran haben. Wenn ich einen Mann kennenlerne, der gut aussieht und nett zu mir ist, wie du zum Beispiel, warum soll ich das Spiel im Bett nicht mit ihm genießen?"

„Und wenn Kinder daraus hervorgehen? Dann sitzt du unter Umständen ganz alleine damit und musst sehen, wie du dich und die Kinder durchbringst. Das ist doch vollkommen verantwortungslos, von dem Mann sowieso, der sich um nichts kümmert, aber auch von der Frau, die sich darauf einlässt."

„Bei uns ist das nicht so, wir sind ja nicht allein. Unsere Familie würde uns immer unterstützen. Und das würde sie bei euch nicht tun, weil das Kind als unehelich gilt und damit nicht zur Familie gehört. Die Frauen würden vielleicht sogar verstoßen, was bei uns vollkommen unmöglich wäre. Selbst wenn du Maria und mich hier auf Sao Tome alleine zurücklässt, wir dürften nicht mehr mit unserer Familie zusammenwohnen, wir würden geschnitten, aber sie würde uns nicht verhungern lassen."

„Ach, Catarina. Stell dir doch mal vor, ich würde Hortensia bitten bei mir zu übernachten, ihr müsstet dann draußen bleiben. Was würdest du denn dazu sagen?"

„Nichts. Dann wär es eben so. Das ist auch nicht das Problem."

„Sondern?"

„Du willst dich mit ihr im Bett vergnügen, darfst es aber nicht, weil eure Verbindung noch nicht allgemein anerkannt ist; das ist sie bei euch eigentlich erst dann, wenn ihr verheiratet seid. Und es könnte ja sein, wenn dein Verlangen groß genug ist und durch den Verzicht vielleicht immer größer wird, dass du ihr vorschlägst sie zu heiraten. Aber dann könntest du nicht bei Maria und mir bleiben, denn im Gegensatz zu uns dulden die weißen Frauen keine anderen neben sich, erst recht keine Schwarzen."

Sie setzte sich auf, rutschte auf seinen Unterleib um sich der Wonne des Liebesspieles hinzugeben; er wollte noch was sagen, aber sie hielt ihm kurzerhand den Mund zu.

 

Während die beiden Frauen am nächsten Morgen bester Laune waren, saß Filipe nachdenklich am Tisch und frühstückte; Maria leistete ihm Gesellschaft während Catarina die beiden bediente. Was sie ihm gestern im Bett erzählt hatte, musste er erst mal verdauen, und er wunderte sich auch, dass sie über die Sitten der Weißen so gut Bescheid wusste. Aber dann fielen ihm die aufgeschlagenen Bücher ein, die er immer wieder hier hatte herumliegen sehen.

 

Seine Gefühle waren auf einer Achterbahn, es war ihm unmöglich, eine klare Linie von dem zu erkennen, was er eigentlich wollte, und dann klopfte es auch noch an der Tür! Er saß mit dem Rücken zum Eingang und konnte nicht sehen, wen Catarina hereingeleitete. Zwei Hände legten sich auf seine Augen, und eine freundliche Frauenstimme fragte. „Rate mal, wer hier ist?"

Die Knie wurden weich, das Herz wollte in die Hose rutschen: Hortensia! Catarina bot ihr den Platz neben Filipe an, was eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre und holte ein weiteres Gedeck. Maria erhob sich, begrüßte sie freundlich, und setzte sich wieder, Hortensia schien ein wenig irritiert, hatte sich aber schnell wieder unter Kontrolle:

„Ich fand es doof," begann sie salopp zu erzählen, „da unten auf dem Damm auch dich zu warten. Da dachte ich, ich hol dich von zuhause ab."

„Das war eine sehr gute Idee," lobte Filipe, der sich auch wieder gefangen hatte, „ich hätte dich sowieso hierher gebeten, wir wollen uns zusammen die Karten ansehen."

„Welche Karten?"

„Die, in denen das Gelände, die Höhenlinien eingezeichnet sind. Und die Wetterkarten mit den Windverhältnissen, ich habe sie von der Kommandatur der Luftwaffe besorgt, es sind nicht die aktuellen Karten, aber das macht ja nichts."

Mit je einer Tasse Kaffee in der Hand begaben sie sich in sein Arbeitszimmer, wo sie sich erst einmal innig umarmten und küssten. Aber dann widmeten sie sich der Arbeit.

Gegen Mittag ritten die beiden los um das Gelände zu erkunden, dass sie vorher auf den Karten ausgewählt hatten. Das Wetter war bedeckt und diesig, aber ihre Stimmung bestens. Nur gelegentlich beschlichen Filipe quälende Gedanken. ‚Vielleicht ist deine Begierde so groß, dass du sie bittest dich zu heiraten. Dann kannst du aber nicht bei uns bleiben,' hatte Catarina gesagt, es ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Und was, wenn Hortensia von seiner Liaison mit Maria und Catarina erfuhr? Hier wusste jeder davon, und, was hatte Almeida gesagt? Die Roca ist ein Dorf und jeder denkt, er sei die Zeitung.

Gegen Abend ritten sie zurück. Sie hatten es nicht eilig, zu schön empfanden sie es, beieinander zu sein. Das Wetter spielte auch mit, und wenn die Pferde sie durch diesen dichten Urwald trugen, hatte Filipe das Gefühl in einem Garten Eden zu sein; so musste das Paradies aussehen.

„Sag mal, Filipe," begann Hortensia etwas zögerlich; sein Puls schlug unvermittelt bis zum Hals, gleich will sie wissen, was mit Maria und Catarina ist! „Darf ich dich um einen Gefallen bitten?"

„Ja selbstverständlich," lachte er erleichtert, „worum geht es denn?"

„Morgen soll in der Stadt ein Fest sein. Das würde ich mir gerne ansehen, aber ich fürchte, dass ich da nicht alleine hin kann."

„Kein Problem. Ich begleite dich. - Was ist denn das für ein Fest?"

„Da liegt ja der Hase im Pfeffer," grinste sie, jetzt, wo sie seine Zusicherung hatte sie zu begleiten, konnte sie damit ja herausrücken: „Das ist ein Fest der Einheimischen, Weiße gehen da nicht hin. Es soll mit viel Tanz und Musik sein, so genau weiß ich das auch nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Weiße da so gerne gesehen werden."

„Naja, wenn das so ist, können wir uns ja ein wenig im Hintergrund halten, sie werden uns schon nichts tun. Woher weißt du das denn mit dem Fest?"

„Ach, das ist eine ganz blöde Geschichte, die ich zufällig mitbekomme habe. Wenn Senhor Teixeira hier auf Sao Tome ist, will er jeden Tag frischen Fisch haben. Er sagt, man muss das essen, was die Gegend hergibt, und auf einer Insel sei das eben Fisch. Also holen die Frauen, die für ihn sorgen, jeden Tag Fisch vom Markt unten am Wasser. Eins der Mädchen teilte ihm dann mit, dass es morgen keinen frischen Fisch gäbe, sie hatte es nur gut gemeint und ihm berichtet, dass sie stattdessen ganz leckeren eingelegten oder geräucherten Fisch servieren könnte. ‚Was? keinen Fisch?' hat Senhor Teixeira sich dann aufgeregt als hinge sein Leben davon ab. Und da hat sie ihm erklärt, dass die Fischmärkte geschlossen seien, weil eben dieses Fest stattfinde. Ich habe mich dann umgehört, was das für ein Fest sei, aber da die Schwarzen von dieser Roca offensichtlich auch nicht daran teil nehmen, konnte mir niemand so genau sagen, was sich da abspielt."

„Wenn die Arbeiter und Arbeiterinnen in die Stadt wollen, müssen sie das umständlich auf Lastwagen organisieren. Und sie dürfen es auch nur an ihren freien Tagen, das heißt: Jetzt in der Ernte überhaupt nicht. Vielleicht ist es ja ein Fest der Fischer, und die Contrados und Tongas haben mit den Fischern nicht so viel gemeinsam, irgendwie ist das ein anderes Volk, ich bin da noch nicht so genau hinter gekommen."

„Da habe ich dir ja was voraus," lachte sie ihn an. „Die Fischer sollen Nachkommen eines gestrandeten Sklavenschiffes sein. Am südlichen Ende dieser Insel ist das Schiff, das Sklaven hierherbringen sollte, um sechszehnhuntert-nochwas auf ein Riff gelaufen. Die überlebenden Matrosen hatten anderes zu tun als auf die Sklaven zu achten, und so konnten die an Land flüchten. Zuerst haben sie sich im Dschungel versteckt, dann aber dort primitive Lebenskulturen aufgebaut. Die jagdlichen Möglichkeiten waren begrenzt, und so haben sie an entlegenen Küstenabschnitten die Fischerei begonnen, die sie wohl schon von ihren Ursprungsländern beherrschten. Wenn die Waldbewohner was brauchten, das Dschungel oder Meer nicht hergab, haben sie es sich von den Dörfern geholt, geklaut, manchmal auch Frauen," setzte sie lächelnd hinterher. Über die Jahrzehnte wurden die Waldbewohner dort sesshaft und ernährten sich hauptsächlich vom Fischfang."

Filipe war beeindruckt. „Woher weißt du das denn alles?"

„Hab' ich gelesen. Wie gesagt, ich interessiere mich auch für soziologische Zusammenhänge. Interessant ist auch, dass die Fischer zwar auch unter den weißen Siedlern zu leiden hatten, rechtlos, beschimpft, getreten, was weiß ich, was die damals alles getan haben. Aber sie waren wohl nie versklavt oder dieser Arbeitsknute auf den Rocas ausgesetzt, wie es früher wohl üblich war."

Und heute auch auf einigen Rocas wohl noch ist, dachte Filipe, sagte es aber nicht. Er wollte Hortensia nicht mit diesen unschönen Dingen belasten, die er bei den Unruhen auf Fernão Gomes erlebt hatte. „Du bist ja richtig belesen," lobte er sie stattdessen, „ich habe auch schon öfter gedacht, ich sollte mich mit der Vergangenheit dieser Insel mal genauer beschäftigen. Aber irgendwie ist es nie dazu gekommen. - Sag mal, wie geht das denn nun weiter mit dem Fisch von Senhor Teixeira?"

„Ach, dieser Idiot!" rutschte es ihr raus, „er hat rumgetobt und die Arme angeschrien, wenn sie zu blöd sei Fisch zu kaufen, dann solle sie gefälligst selbst einen fangen. Er wolle morgen seinen Fisch! Punkt."

Filipe musste über das Verhalten von Senhor Teixeira lachen, aber das Servicemädchen tat ihm auch leid, eine von vielen Geschichten, die hier offensichtlich immer wieder vorkamen.

Im Stall sattelten sie die Pferde ab und stellten sie zurück in die Box; sie mussten es selbst tun, wie jeden Abend. Die Forros, die die Pferde betreuten, waren in ihren Hütten. Was ihnen gut zupass kam: Ohne Beobachter konnten sie sich voller Zärtlichkeit verabschieden, sie küssten sich, umarmten sich, er wagte es, dabei eine Hand auf ihren Hintern rutschen zu lassen, es geschah wie von selbst, er konnte es nicht verhindern. Und sie ließ es geschehen. Eng presste sie sich an ihn während ihre Zungen miteinander spielten, er spürte ihren weichen Busen auf seiner Brust, er wollte sie überall streicheln, berühren, und seine Begierde steigerte sich ins Unermessliche; fast schämte er sich, sie musste sie spüren, wenn sie ihren Unterleib an ihn drückte.

Nachdenklich begab Filipe sich zurück in sein Heim. Er fühlte sich wie in zwei Welten: Die eine ein Aufbruch der Gefühle in eine verheißungsvolle Zukunft. Wenn er Hortensia in Portugal kennengelernt hätte, wäre dieser Aufbruch unweigerlich verbunden mit Plänen an ihrer beider Zukunft: Familie, wirtschaftliche Sicherheit und Wohlstand. Und hier? Er wollte nicht darüber nachdenken, er wusste, dass sie bald abreisen würde, und dann? Gab es da eine Zukunft, über tausende von Kilometern Entfernung? Tagelanger Anreise?

Seine andere Welt war hier, kein Aufbruch der Gefühle, das war vorbei. Das verliebte Spiel mit Catarina und Maria war in einen immer noch sehr erotischen aber doch sicheren, regelmäßigen Alltag übergegangen. Die beiden Frauen und seine Freunde unter den Weißen, das war fast so etwas wie seine Familie, seine Grundlage, seine Geborgenheit. Daraus nahm er die Kraft und Energie, seinen beruflichen Aufbruch voranzutreiben, die Modernisierung der Roca, seine Stellung und sein Aufstieg in der Gruppe der weißen Führungskräfte.

Waren diese Welten miteinander zu verbinden? Er wünschte sich einen Zauberstab, mit dem er 'Ping!' machen konnte, und die rosarote Welt mit Hortensia wäre eingebunden in die verlässliche Welt mit Catarina und Maria.

‚Filipe, du spinnst!' Er musste in sich hinein lächeln; dass er als erwachsener Mann noch solche kindlichen Vorstellungen haben konnte.

Das eine oder andere Glas Wein vor seinem Haus in der Runde seiner Freunde erleichterte ihm den Übergang von der einen in die andere Welt. Catarina bediente, setzte sich auch schon mal dazu, was Ribeira noch vor wenigen Monaten als unverschämte Anmaßung empfunden hätte, sich inzwischen aber wie die anderen auch daran gewöhnt hatte. Wenn sie sich freundlich lächelnd neben ihn setzte, verdrehte er vielleicht noch die Augen, rückte aber nicht mehr demonstrativ zur Seite.

„Ich muss euch so viel Wein und Bier bringen," jammerte sie dann mit einem Grinsen, „da muss ich mich auch mal ausruhen."

„Das kannst du doch auch nachts tun!" hatte Ribeira einmal geantwortet, worauf sie bemerkte, dass sie da doch auch so furchtbar viel arbeiten müsse. Mit Sprüchen wie diesem hatte sie stets die Lacher auf ihrer Seite, und da sie gewissenhaft auf den Nachschub an Getränken und Snacks achtete, empfand die Runde ihr loses Mundwerk inzwischen als Bereicherung.

Filipe verabschiedet sich früh, Maria war noch im Bedienstetenzimmer hinter der Küche; er fand sie auf dem Bett liegend mit einem Buch in der Hand vor.

„Ich muss dich mal was fragen," begann er nachdem er sich auf die Bettkante gesetzt hatte, wusste dann aber gar nicht so recht, wie er anfangen sollte. Irgendwie war es doch unanständig, mit der Geliebten über die Probleme sprechen zu wollen, die er mit einer anderen Geliebten hatte. Auf der anderen Seite waren Maria und Catarina nicht nur für Bett und Service zuständig, er betrachtete sie inzwischen als liebe und sehr enge Freunde. Und Probleme muss man mit Freunden besprechen, mit wem denn sonst? – Oder auch nicht? Er fragte sich, wie er denn reagieren würde, wenn Maria ihm erzählen würde, sie hätte sich in einen anderen Mann verliebt.

„Du hast ein Problem mit deiner neuen Freundin?" versuchte sie ihm auf die Sprünge zu helfen.

„Eher mit mir selbst," antwortete er, froh nicht weiter über die letzte Frage nachdenken zu müssen, „hier bin ich in meiner wunderbaren realen Welt, mit ihr bin ich in einer ebenso wunderbaren Traumwelt."

Sie lächelte: „Und wo ist da das Problem?"

„Diese Welten kriege ich nicht unter einen Hut!"

„Ich weiß nicht, ob ich dir da weiterhelfen kann. Ich verstehe nämlich nicht, warum du sie nicht unter einen Hut kriegst. Vorgestern habe ich deine Träne im Gesicht gesehen; es scheint dich ja wirklich zu quälen. Ich weiß, dass ihr Weißen das mit der Liebe und der Erotik viel komplizierter macht als wir. Ihr haltet immer diese eine, absolute und totale Liebe hoch, die keine Nebenfrau, keinen Nebenmann duldet. Deswegen habe ich dich ja auch gebeten, ehrlich zu mir und Catarina zu sein: Wenn dein Verliebtsein die Liebe zu uns beiden nicht mehr zuläßt, dann musst du es sagen."

„Aber so ist das doch gar nicht. Ich bin verliebt in sie und liebe euch beide."

„Na, dann ist es doch gar nicht so schlimm. Du musst dich nur entscheiden, wer Hauptfrau und Nebenfrau sein soll."

„Wie, Hauptfrau und Nebenfrau?"

Maria lachte. „Das kennst du nicht, stimmt's? Bei euch gibt es ja auch Nebenfrauen, das sind dann die bösen, die Huren. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass du uns als Huren betrachtest, oder irre ich mich da?" Sie war wieder ernst geworden.

„Natürlich nicht!" Er war geradezu empört. „Aber Hortensia betrachte ich auch nicht als Hure."

„Na siehst du. Sowas muss man auch nicht sofort entscheiden, das ergibt sich ja im Laufe der Zeit. Und ab und zu wechselt es ja auch mal."

Er sah sie verständnislos an; mit dem Gesagten konnte er offensichtlich nichts anfangen.

„Filipe. Ein Mann kann viele Frauen haben. Wenn er will, kann er zumindest zeitweise eine zur Hauptfrau erklären. Die ist dann tabu für andere Männer. Die anderen, die Nebenfrauen, sie können auch Nebenfrauen von mehreren Männern sein. Verstanden?"

„Nein."

„Ach Filipe. Komm zu mir ins Bett und sieh es einfach ganz gelassen."

Sie streifte ihre Kleider ab und sah ihm amüsiert zu, wie er sich auszog. Aber in seinem Kopf rotierten die Gedanken: Wo gehörte er hin? Hauptfrau, Nebenfrauen. War er jetzt bei seiner Hauptfrau? Oder vielmehr bei einer seiner Hauptfrauen? Und Hortensia war nur Nebenfrau? Wenn er bei ihr war, empfand er das nicht so, dann war sie die Hauptfrau. Und Maria nur Nebenfrau? Unmöglich!

Ach, Mist! Blöde Gedanken, er sollte sich jetzt einfach den Zärtlichkeiten hingeben, die Marie ihm angedeihen ließ, und morgen Hortensia küssen, und über morgen Catarina und ... und ... und!

Ihr Liebesspiel steuerte grade auf den Höhepunkt zu, da kam Catarina rein, in der Tür blieb sie stehen, musste laut lachen.

„Was macht ihr denn hier? Ihr seid im falschen Bett!"

„Egal," keuchte Maria, „wir sind gleich fertig!"

Wieder lachte ihre Schwester: „Lasst euch Zeit, ich komm gleich wieder!"

„Quatsch!" rief Maria, wühlte sich unter Filipe hervor, „komm mit ins Bett. Ich glaube, der arme Mann braucht uns jetzt beide!"

Filipe hatte sich auch aufgerichtet, schüttelte den Kopf als wollte er die weiße Fahne hissen: „Der arme Mann holt jetzt erst mal 'ne Flasche Wein und dann seid ihr meine Hauptfrauen." Er stand auf und trottete zur Tür um das Getränk zu holen.

„Pass auf, dass du nirgends hängen bleibst," kicherte Maria, jetzt musste auch Filipe lachen.

 

Den Pferdestall hatten sie als Treffpunkt vereinbart um von hier in die Stadt zu fahren. Seine Geliebte kam wie immer im Reiterzeug, freudige und innige Begrüßung.

„Ich habe Senhor Teixeira nichts gesagt, er glaubt, dass ich wie jeden Tag ausreite," erklärte sie, „dreh dich mal rum!"

Aus ihrer Tasche suchte sie ein bequemes buntes Sommerkleid, Filipe folgte ihrer Aufforderung und sie zog sich um.

„Wundert der sich nicht, dass du jeden Tag reiten gehst?"

Sie lachte: „Nein, er ist froh. Er weiß ja auch dass die anderen Jungen und Mädchen nicht nur brave Sachen machen, und da findet er meinen täglichen Ausritt als anständiger. Trotzdem hätte er es akzeptiert, wenn ich mit denen was unternehmen würde, die richtige Gesellschaft, du verstehst."

„Dann bin ich die falsche Gesellschaft?“ amüsierte er sich.

„Tjaaa - vielleicht - so als Engenheiro - grenzwertig, würde ich sagen. Wenn er wüsste, dass wir jeden Tag miteinander zusammen sind, allein, ich glaube, da würde er nachhaken."

Filipe hatte sich den etwas älteren Cadillac eldorado ausgeliehen, Cabrio. Unter den neueren Wagen gab es nur Eucord oder andere Limousinen, die er als unpassend für ihr Unternehmen empfand. Es war ja noch recht früh am Vormittag, also ließen sie sie sich Zeit. Hortensia bat ihn, langsam zu fahren, insbesondere in den Dörfern. Interessiert beobachtete sie die Menschen dort, die spielenden Kinder, Frauen, die schwere Lasten auf ihren Köpfen trugen. Vereinzelt auch Männer, die in Grüppchen mit Werkzeugen zu irgendeiner Arbeit unterwegs waren oder einen Karren schoben. Weiße gab es nicht in den Dörfern. Auf einer Brücke über einen Bach musste Filipe anhalten. Seine Begleitung stieg aus, vom Geländer aus betrachtete sie lange die vielen Waschweiber, singend oder tratschend reinigten sie körbeweise die bunte Wäsche und breiteten sie auf den großen Steinen aus.

Wo sind denn die Männer zu all diesen Frauen," wollte sie wissen, als sie wieder im Auto saß.

„Die Männer müssen wohl alle arbeiten. Ich vermute, dass es sich um Forro-Frauen handelt, sonst könnten sie sich hier nicht so frei bewegen. Die Frauen der Contrados können ja nicht so einfach weggehen von den Rocas oder den Betrieben, auf denen sie leben. Denk an unsere schwarzen Frauen, die waschen ihre Wäsche an den Brunnen auf Rio do Ouro.“

„Es ist eine andere Welt," sinnierte sie, als sie wieder im Auto saßen, „die Menschen hier leben in ihren engen Milieu und haben kaum Möglichkeiten, woandershin zu gehen."

„Meinst du denn, dass sie woanders hin gehen wollen? Sie kenne doch nur diese, ihre enge Welt. In Portugal ist das doch auch nicht anders: Die Arbeiter unseres Weingutes sind nie weiter weg gekommen als ins nächste Dorf. Ganz selten vielleicht nach Evora. Ich glaube, wenn sie aus ihrer Vertrautheit raus müssten, würde ihnen das nur Angst machen."

„Ja - kann sein. - Es ist eben eine andere Welt."

Inzwischen hatten sie das Randgebiet von Sao Tome Stadt erreicht, Holzhütten, Verschläge, die offensichtlich an anderen Tagen als Verkaufsstände fungierten. Jetzt war alles geschlossen. Je näher sie der Stadtmitte kamen, um so belebter wurden die Straßen. Rechts und links kleine oder größere Betriebe, werkelnde Arbeiter, und überall die Frauen mit den Lasten auf dem Kopf.

Wieder bat Hortensia Filipe anzuhalten. Fragend sah er sie an, folgte aber ihrem Wunsch. Sie stieg aus und ging auf drei Frauen zu, die Körbe auf ihren Köpfen trugen, er war besorgt und neugierig zugleich, was sie denn da nun wollte.

Sie sprach die Frauen an, es ging um die Körbe, die sie auf ihren Köpfen trugen, offensichtlich wollte Hortensia es auch einmal probieren. Sie palaverten, lachten, gestikulierten, und dann nahm die Ältere der drei ihren Korb herab. Darunter trug sie einen zu einem Ring gedrehten Stoff, der offensichtlch als Unterlage diente; den musste seine Freundin sich aufsetzen. Und dann den Korb darauf, der voller Früchte war. Vorsichtig wagte sie ein paar Schritte, gespannt beobachteten die drei ihre Bemühungen. Und es kam, wie es kommen musste: Das Ding bekam Schräglage, sie versuchte auszugleichen, hin und her, und dann fiel der Korb herunter, die Früchte rollten über die Straße.

Die drei Frauen amüsierten sich köstlich, Filipe war es eher unangenehm. Er sprang aus dem Auto und half Hortensia und den Frauen, das Obst wieder einzusammeln.

Sie winkten sich noch zu, als Filipe den Motor startete. „Ich musste es versuchen," entschuldigte sich seine Begleiterin, und Filipe lächelte sie zärtlich an. Hortensia fühlte sich einfach nur wohl, sie legte den Arm auf die Beifahrertür und stellte ihre Füße auf das Armaturenbrett, ihr Kleid umspielte ihre Beine im Fahrtwind: „Wunderbar, es ist so wunderbar!"

Dann, zwei Straßenzüge weiter, Ernüchterung: Straßensperre, Kontrolle. Militär hatte sich rechts und links postiert, die Waffen in der Hand. Rechts am Straßenrand parkte ein Lieferwagen, der Fahrer stand in gebückter Haltung davor, die Hände auf der Motorhaube ausgesteckt, ein Soldat tastete ihn ab, ein andere durchsuchte die Fahrerkabine, ein dritter die Ladefläche.

Filipe hielt an. „Gibt es Probleme?" fragte er einen der Soldaten.

Der aber winkte ihn weiter: „Routinekontrolle!" bemerkte er barsch, und Filipe folgte seiner Aufforderung.

Hortensia hatte sich wieder ordentlich hingesetzt, schweigend fuhren sie weiter in die Innenstadt. Sie wussten nicht, wo das Fest stattfinden sollte, aber so groß war die Stadt ja nicht, sie würden es schon finden. An der alten Festung vorbei fuhren sie in Richtung der breiten Uferpromenade mit der steinernen Balustrade und den schattenspendenden Bäumen. Auch hier Militär, in kleine Grüppchen standen sie neben ihre Fahrzeugen, einsatzbereit.

Aber hier waren sie richtig: Auf beiden Seiten der breiten Allee waren Stände aufgebaut, überall duftete es lecker nach den Köstlichkeiten, die dort zubereitet und an die Feiernden verkauft wurden. Auch Filipe und Hortensia probierten, unzählige Arten der Zubereitung von Fisch und Gemüse, Obst, Fladen und Brot. Manches scharf gewürzt, anderes mit süßem Beigeschmack. Zu trinken gab es verschiedene Sorten an Obstsaft, hauptsächlich für die Kinder. Die Erwachsenen zogen selbstgebrannten Zuckerrohrschnaps vor, der aber selten pur getrunken wurde, zumindest zu dieser Tageszeit.

Von weiter hinten schallten Trommeln herüber, mal lauter, mal eher ruhiger, dazu Gesänge, nicht europäisch, südländisch, diese Musik hatte eindeutig afrikanische Wurzeln.

Die Allee füllte sich, immer mehr Menschen strömten offensichtlich von der ganzen Insel kommend hierher. Viele hatten Schlaginstrumente dabei, gesellten sich zusammen um gemeinsam zu trommeln, zu singen und zu tanzen. Fasziniert beobachteten die beiden den Trubel, die fröhlichen Menschen, die vielen bunten Gewänder. Tänzer und Tänzerinnen formierten sich zu langen Reihen, rhythmisch bewegten sie ihre Körper, manchmal drohend aufeinander zu und lachend wieder auseinander. Junge Männer führten Scheinkämpfe aus während die Frauen um sie herum standen, sangen, klatschten zu den Schlägen der Trommeln.

Die beiden waren die einzigen Weißen hier, jedenfalls soweit sie den Trubel überblicke konnten. Einige der Einheimischen betrachteten sie skeptisch, die Kinder eher neugierig, zupften auch mal an Filipes Jacke oder Hortensias Kleid. Aber niemand schien ihnen feindlich gesinnt. Trotzdem war es ein ungewohntes Gefühl; sorgsam versuchte Filipe die nähere Umgebung im Auge zu behalten. Sie war da lockerer, sie lachte, scherzte mit anderen Frauen, die ihr Früchte, Fisch oder anderes anboten um dann wieder im Gewühl unterzutauchen. Unwillkürlich begann sie zu dem Rhythmen ihre Beine zu bewegen, sie hakte sich bei Filipe ein und versuchte ihn zum Tanz zu animieren; der wollte aber nicht so recht.

Dann zogen sie ein Stück weiter, andere Stände, andere Tänzer und Tänzerinnen, an der Balustrade eine Gruppe Jungs, die sich im Radschlagen und anderer Akrobatik übten, und noch ein Stück weiter folgten sie einer immer dichter werdenden Menschenmenge, die sich einen ihnen unbekannten Ziel zu nähern schien. Trommeln und Gesänge schallten von vorn herüber, die Menschen gestikulierten, riefen, sangen kurze Passagen und wichen schließlich zurück um den Blick auf eine größere Theatergruppe frei zu geben. Eine unübersichtliche Vielfalt von weiß geschminkten Menschen, in Kostümen, die an die Kolonialzeit erinnerten oder auch in Tierfelle gehüllt, führten eine Scene auf, die sich für Filipe und Hortensia in keinster Weise erschloss. Aber die Einheimischen wussten offensichtlich etwas damit anzufangen. Sie mischten sich unter die Theaterleute um einzelne Sequenzen mitzuspielen, dann aber wieder in die Zuschauerreihen zurück fielen. Oder sie bauten dort, andere Zuschauer animierend, Nebenszenen auf, die offensichtlich parallele Gegebenheiten zur Hauptszene darstellten. Es schien ein hier allseits bekanntes Stück zu sein, in dem neben der Darstellung verschiedener Figuren die Akteure sich in Tanz, Gesang und Mimik maßen. In dem eher traditionell anmutenden Theater wurden aber auch moderne Accessiores benutzt wie etwa Kinderspielzeug oder Attrappen moderner Waffen, worüber die beiden ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnten.

Obgleich sie den Inhalt des Theaters nicht erkennen konnten, war die Stimmung dermaßen mitreißend, dass sie sich immer wieder in das Geschehen einbeziehen ließen, manchmal gewannen sie sogar den Eindruck, dass man von ihnen die Übernahme der einen oder anderen Rolle erwarteten, was aber naturgemäß stets kläglich scheiterte und zur allgemeinen Belustigung der Einheimischen beitrug.

Zwischendurch zogen sie sich immer wieder zurück an den Rand des Geschehens, wo einige Jugendliche sowas ähnliches wie weitere Nebenszenen zun improvisieren versuchten: Szenen wurden gespielt, Liebesszenen, Kampfszenen, es gab viel Applaus, und wenn eine kurze Aufführung misslang, auch schallendes Gelächter.

Die beiden hatten sich durch die Stände probiert, vollkommen gesättigt genossen sie den erfrischenden Obstsaft, und nun, bei beginnender Dämmerung auch mal mit Zuckkerrohrzugabe, welche Filipes Stimmung endgültig lockerte. Jetzt tanzte er richtig mit wenn Hortensia ihn animierte, und er war erstaunt, wie gut es ihm gefiel. Es dauerte nicht lange, und es gesellten sich andere junge Männer und Frauen zu ihnen, nebeneinander, in Reihe, im Kreis, den Variationen der stampfenden und klatschenden Bewegungen waren keine Grenzen gesetzt. Sie hakten sich ein, die Mädchen entführten seine Liebste, Filipe wurde unruhig, aber die Jungs, die mit ihm tanzten führten ihn in einem großen Bogen an der Balustrade vorbei zurück zu den Mädchen, die mit ihr davon gehüpft waren. Die beiden Reihen tanzten aufeinander zu, dicht aneinander, wieder ein Stück auseinander, dann wurden unter wildem Geschrei die Arme gereckt und Männchen und Weibchen fanden sich; nur mit Geschick und Mithilfe von Hortensia gelang es den beiden zueinander zu kommen. Die Jungs hätten wohl zu gerne auch mal eine weiße Frau umarmt, und die Mädchen vielleicht auch gerne mal einen weißen Mann. Sie lachten sich an, küssten sich, und erst jetzt bemerkten sie den Kreis, die die anderen gebildet hatten um nun ihre Zärtlichkeit laut johlend zu kommentieren. Und schon wieder andere Menschen, andere Gruppen, andere Musiker mit Blasinstrumenten, die wehmütige, jaulende Töne ausstießen, die Trommeln dagegen, Tanz vor und zurück, szenenhaft, fast wie das improvisierte Theater, untermalt von mal aufbrausenden, mal ruhigeren Gesängen. Und urplötzlich fanden sie sich wieder inmitten der Menschenmassen des Haupttheaters, alles schien miteinander zu korrespondieren, ausgelassene Nebenszenen im Umkreis des offensichtlichen Dramas in der Mitte.

Es war inzwischen dunkel, in den Ästen der Alleebäume hingen unzählige bunte Lichter, Fackeln an den Seiten oder in den Händen der zunehmend ekstatischer tanzende jungen Männer. Auch Filipe hatte jegliche Zurückhaltung verloren, immer wieder ließen sich die beiden hineinziehen ins Getümmel, und auch Hortensia war nun mit dem Alkohol nicht mehr so ganz zurückhaltend. Wieder bildete sich eine lange Reihe, diesmal nicht nach Geschlechtern getrennt, Arm in Arm gaben sie sich hin im Rausch dieses Festes, eine andere Reihe kam auf sie zu, gegeneinander und auseinander, Lachen, Singen, im Hintergrund Feuerwerkskörper, lautes Knallen, Johlen, Schreien. Schemenhaft aus dem Dunkel fuchtelnde Gestalten auf Pferden, die Reihen rissen auseinander, Menschen stürzten zu Boden, wurde überrannt von anderen, in Panik Flüchtenden, steigende Pferde, schlagende Hufe, Knüppel gingen gnadenlos auf die wehrlosen Menschen hernieder, Schüsse in die Luft, die Musik erstarb, nur noch Schreie, blutüberströmte Menschen versuchten sich vor den Soldaten zu schützen, die ihre Tiere hemmungslos in die Menschenmenge trieben. Verzweifelt versuchte Filipe mit erhobenen Armen die Reiter aufzuhalten, ihnen zu zeigen, dass hier nur friedlich gefeiert wurde, ein heftiger Hieb eines Schlagstockes traf ihn auf der Schulter, er ging zu Boden. ‚Aufstehen! Du musst aufstehen!' herrschte er sich an, wo war Hortensia? Wenige Meter entfernt wurde sie fortgetragen zwischen den Menschenmassen, er rappelte sich auf, ein Pferdehuf verfehlte knapp seinen Kopf, er stürzte los, dorthin, wo er sie eben noch gesehen hatte. Wieder Schüsse, Schreie, er hatte sie wieder entdeckt, ein Soldat holte aus nach ihr, sie stürzte über den Bordstein, der Hieb verfehlte sie, Filipe war bei ihr, packte sie, sie mussten zur Balustrade, auf den Strand dahinter, kreischende Kinder hatten sich an einen der Bäume gedrückt, nackte Angst im Gesicht, ein Reiter kam auf sie zu -

„Nein!" schrie Hortensia, riss die Arme hoch und stellte sich schützend vor die Kinder, das Pferd wollte steigen, der Soldat fuchtelte mit seiner Waffe herum, „verschwinde, du Niggernutte," brüllte er und richtete die Pistole auf sie. Filipe reagiere sofort ohne nachzudenken, instinktiv sprang er vor das Pferd, packte die Zügel und riss sie brutal zur Seite. Das Tier strauchelte, im Herabfallen schoss der Mann mehrfach in die Luft, Ross und Reiter lagen am Boden, das Tier sprang auf und flüchtete in Panik, wütend hielt der Soldat Ausschau, aber Filipe und Hortensia waren mit den Kindern längst im Gewühl untergetaucht.

Dann, eine Salve von Schüssen durchschnitten die Nacht, hinter den Reitern folgte in Reih und Glied marschierend eine Hundertschaft Soldaten und trieb die Menschen vor sich her. Andere kamen ihnen entgegen, blutend, immer wieder stürzte jemand, wurde zertrampelt von der in Panik geratenen Masse. Dann sahen sie es, von vorn kam ebenfalls eine Hundertschaft, zwischen den eingekesselten Menschen wüteten immer noch einige der Reiter.

Kommandos hallten in das Schreien der Verwundeten, wieder Schüsse, vereinzelt, die Reiter wandten sich dem Aufmarsch der Soldaten zu, diese bildeten eine Gasse um sie durchzulassen, verharrten dann in dieser Stellung.

Verzweifelte Menschen, weinende Mütter mit ihren Kindern auf den Armen, Hortensia schaute sich kurz um, bückte sich dann zu einem vor ihr Liegenden Verletzten, der Mann wand sich im Schmerz und hielt seine Beine. Ohne zu zögern riss sie seine Hose herunter, er blutete stark an beiden Oberschenkeln.

„Hilf mir," rief sie Filipe an, der fasste den Mann an den Schultern, gemeinsam trugen sie ihn zur Balustrade, mit den Stofffetzten seiner Hose schnürte sie sein rechtes Bein um die Blutung zu stillen, die anderen Wunden spuckte sie an und bedeckte sie mit einem Wickel. Andere beobachteten ihre Bemühungen, halfen ihr, Frauen rissen Stoffstücke von ihren Kleidern um Verletzungen abzudecken.

Vier Männer trugen einen Schwerverletzten heran, sein Hemd war blutdurchtränkt, sie betteten ihn auf der Balustrade, der Mann stöhnte nur noch, er war bereits zu geschwächt um sich zu bewegen. Ein Weißer drängelte sich heran, Filipe erkannte ihn sofort:

Senhor Sousa!"

„Er stirbt, Senhor, tretet bitte zur Seite, ich werde ihm die letzte Salbung geben und für ihn beten."

Senhor, Ihr seid ein Kirchenmann?"

"Pater Rodrigues, Senhor, ich bin Pater Rodrigues," und er widmete sich dem Sterbenden, salbte ihn mit seiner Spucke, sprach ein kurzes Gebet. Still senkten die Umstehenden ihre Häupter und murmelten ebenfalls Gebete.

Weitere Verletzte wurden gebracht, Hortensia riss von ihren Kleid Stoffstücke ab um sie zu verbinden, andere halfen ihr, spendeten Trost und trockneten mit ihren Tücher die Tränen.

Dann wieder Kommandos, knatternde Lastwagen fuhren langsam in die Menge, Soldaten prügelten mit ihren Gewehrkolben auf die Menschen ein und trieben sie auf die Ladeflächen, dicht aneinander gepfercht wurden sie abtransportiert.

Den Pater hatten sie wieder aus den Augen verloren, ein Laster kam direkt auf sie zu, sie wurden gepackt, Filipe fasste seine Liebste, hielt sie fest in seinen Armen. Sie schrie, „Filipe! Die Menschen, wir müssen ihnen helfen!" und sie versuchte sich loszureißen. Soldaten packten sie an den Armen, zerrten sie zum Lastwagen und stießen sie hinauf, Filipe wollte ihr folgen, der Laster fuhr los, grade noch schaffte er es auf das Trittbrett, ein Gewehrkolben verfehlte ihn knapp.

Holprige Fahrt über die Uferallee, dann Abbiegen in die Innenstadt. Hier ging das Leben weiter als sei nichts geschehen, Menschengruppen beobachteten den Transport, prosteten sich zu, andere schlenderten durch die Gassen. Dann wieder Soldaten, in kleinen Grüppchen standen sie beisammen, dahinter Trubel, feiernde Menschen, Weiße. Lachend und grölend begrüßten sie den Lastwagen, Flaschen flogen auf die Zusammengekauerten auf der Ladefläche. Es waren junge Männer und Frauen, deren Nobelkarossen am Straßenrand geparkt waren.

Dann ging die Fahrt hinaus in die Dunkelheit. Filipe, immer noch auf dem Trittbrett stehend versuchte zu erkennen, wo sie sich befanden, aber hier war er noch nie gewesen. Nach einer Fahrt, die er als endlos empfand, bog der Wagen in eine Kaserneneinfahrt, auf einem weitläufigen Gelände hielt er abrupt an. Wieder Soldaten, sie umzingelten das Fahrzeug, einzeln wurden die Menschen von der Ladefläche gezerrt und in ein Haus geführt. Filipe versuchte zu protestieren, aber er wurde gepackt und den anderen hinterher gestoßen. Er versuchte Hortensia in dem Gewühl zu erkennen, weiter vorne entdeckte er sie, in festem Griff von zwei Uniformierten. Die Soldaten feixten, beschimpften und bespuckten die Gefangenen. Im Haus ging es einen längeren Flur entlang, durch eine eiserne Tür, dahinter waren mehrere vergitterte Räume in denen schon etliche der Gefangenen eingepfercht waren. Ein Gitter wurde geöffnet, unter Schlägen und lauten Kommandos trieb man die Menschen hinein, Fußtritte, Filipe war einer der Letzten, dann wurde das Gitter verschlossen.

Der Raum war dermaßen gefüllt, dass man sich nur mit Mühe bewegen konnte, Hitze, Schweiß, blutverklebte Kleider. Leises Wimmern überall, weiter hinten ein schreiendes Kind. Mühsam quetschte Filipe sich durch die Masse, er rief nach Hortensia, sie antwortete, weinend fiel sie ihm in die Arme als er sie endlich erreicht hatte.

Hier in der Mitte war die Luft stickig, kaum zu ertragen. Der Sauerstoff wird knapp werden, sie mussten zurück zum Gitter am Gang. Und die anderen?

„Bitte lasst die Frauen und Kinder an den Gang," rief er laut in den Raum, einer musste hier die Initiative ergreifen, „dort ist die Luft am erträglichsten!"

Die Masse kam Bewegung, andere stimmten ihm zu, Raunen, helfende Hände der unverletzten Männer, die versuchten den Frauen zu helfen. Filipe hielt sich weiter in der Mitte auf, Hortensia nahm ein Kind auf den Arm um es nach vorne zu bringen, neben ihm sackte ein älterer Mann auf die Knie, er konnte nicht mehr.

„Bitte bewegt euch so wenig wie möglich," rief Filipe nun in die Menge, „dann wird nicht so viel Sauerstoff verbraucht! Haltet durch! Die Kinder vorne ans Gitter, da ist die Luft am besten!" Hinten schrie eine Frau auf: „Antonio! Antonio! Er bewegt sich nicht mehr!" Und Filipe sah, wie sie ihr kleines Kind in die Höhe hielt in der Hoffnung, dass oben mehr Luft zum Atmen sei. Helfende Hände griffen nach dem Kleinen, über die Köpfe hinweg wurde es nach vorn gereicht, Filipe sah Hortensia, wie sie sich des Kindes annahm.

Die Luft wurde immer stickiger, Kopfschmerzen, Gestank, die Zeit verrann so zäh als wollte sie gleich stehenbleiben, er musste sich zusammenreißen, geschlossene Augen, das Wimmern und Klagen wie aus weiter Ferne.

‚Halt durch! Du musst durchhalten! Langsam atmen, ganz regelmäßig, tief, nicht bewegen! Wo ist Hortensia? Ich kann sie nicht sehen. Meine Augen, alles dunkel, Flimmern. - Reiß dich zusammen! Du musst durchhalten! Durchhalten! Durchhalten, Junge, du schaffst das!'

Türenknallen. Stimmengewirr auf dem Gang. Namen wurden gerufen. Wo war er? Traum? Alptraum? Er spürte, wie ein lebloser Körper an seinem Rücken zu Boden rutschte, ein anderer ging vor ihm nieder, wieder wurden Namen gerufen, er konnte es nicht verstehen, Carvalho? Riefen sie Senhorita Carvalho? Geschrei vom Gang, jetzt, ein klarer Moment, jemand rief seinen Namen, eine Frauenstimme: „Filipe! Ich geh hier nicht weg ohne Filipe!"

„Los, du Niggernutte! Steh auf oder ich zieh dich an den Haaren hier raus!"

„Reißt Euch zusammen, Soldat!" Eine Männerstimme, „steht jetzt auf, Senhorita Carvalho!"

„Lasst mich los! Wo ist Filipe?!"

„Um diesen Cachorro sarnento kümmern wir uns später! Dieser verantwortungslose Mistkerl! Wie konnte er Euch in diese Lage bringen!"

„Wagt es, mich an den Haaren hier raus zu zerren!"

Stimmengewirr.

„Na los! Dann holt den Mistkerl da raus!"

Gedränge, Soldaten schlugen auf die Gefangenen ein, ein starker Arm packte ihn, zerrte ihn, ein Weiterer kam zu Hilfe, Schubsen, Stoßen, an die Gitterstäbe, sein Gesicht schmerzhaft gequetscht, dann raus auf den Gang, seine Beine versagten ihren Dienst, kraftlos brach er zusammen, alles dunkel, schwarz vor seinen Augen.

Als er wieder zu sich kam, saß er auf einem Stuhl vor einem Schreibtisch, dahinter ein Offizier, neben ihm stand Senhor Teixeira, der Wachhund von Hortensia.

Wutschnaubend starrte er ihn an: „Ihr - Ihr -" dann hasserfüllter Schlag ins Gesicht, Filipe konnte sich nur mühsam auf den Stuhl halten. „Locht ihn ein!" schnaubte er den Offizier an, dann verließ er den Raum.

Stille.

Nur langsam gelang es Filipe, die Situation zu begreifen. man hatte Hortensia und ihn aus dem Gefängnis geholt, sie war fort, wahrscheinlich hatte Senhor Teixeira sie mitgenommen. Der Offizier wartete ruhig, bis er sich gesammelt hatte:

„Ihr seid Senhor Filipe Mandoza?"

Filipe nickte.

„Ihr wahrt an – sagen wir, der Revolte beteiligt?"

„Welche Revolte?"

„Was habt Ihr denn bei den Niggern auf der Straße gemacht?"

„Nigger auf der Straße? Senhorita Carvalho und ich wollen uns das Fest dort ansehen." Seine Stimme war jetzt klar und fest, er hatte sich gefangen.

„Das Fest, wie Ihr sie nennt, ist eine immer wiederkehrende Veranstaltung zur Diskreditierung der Obrigkeit. Und Ihr mitten drin!"

„Diskreditierung der Obrigkeit? Senhorita Carvalho und ich haben deren Musik gehört, von den Ständen Essen und Trinken gekauft, und plötzlich waren überall Soldaten."

Der Offizier sah ihn lange und ruhig an. „Ihr seid der Engenheiro auf der Roca Rio do Ouro?"

„So ist es."

„Ein gebildeter Mann, nehme ich an.“

Filipe lächelte kurz: „Gebildet? Naja, ich habe studiert, mit Technik kenne ich mich aus. Aber ich fürchte, mit der Kultur, den Literaten unseres Landes und der Geschichte hapert es ein wenig.“

„Vielleicht solltet Ihr Euch damit etwas mehr beschäftigen. Das Fest, wie Ihr es genannt habt, wird getragen von einem Theaterstück, dem Tchiloli. Schon mal gehört?“

„Ja – früher mal, in der Schule,“ log er, ihm war dieses Stück völlig unbekannt.

„Es ist ein Drama von Balthasar Dias, das dem Stück zugrunde liegt. Darin geht es um das Thema Gerechtigkeit: Karl der Grosse ist Euch aber doch sicher ein Begriff?“

„Äh – ja,“ Filipe wusste nicht, was der denn nun mit Sao Tome zu tun hatte!

„Nach einer Sage hatte er einen Sohn, Don Carlos, der natürlich Thronfolger war. Das passte aber seinem Neffen Ganelão nicht, der selbst gern den Thron bestiegen hätte. Don Carlos war in eine verheiratete Frau verliebt, was jeder wusste. Also lässt Ganelão deren Mann umbringen und schiebt den Mord Don Carlos in die Schuhe. Nun wird gefordert, dass der Kaiser Gerechtigkeit walten lässt und seinen eigenen Sohn dem Henker überstellt, was der auch schweren Herzens tut. Auch in unserem heimatlichen Portugal ist dieses Stück altes Kulturgut, und so mit den Siedlern hierher gekommen. Von den Niggern wurde es kurzerhand adaptiert. Mich hat dieses Stück schon immer fasziniert, insbesondere deswegen, weil die geforderte Gerechtigkeit, nämlich die Verurteilung des eigenen Sohnes zum Tode, ja in Wirklichkeit gar keine Gerechtigkeit ist, der Kaiser ist der Intrige von Ganelão aufgesessen. Dieses Theater ist hier deswegen so beliebt, weil auch die Nigger glauben, ungerecht behandelt zu werden; das Stück ist ein Pseudonym für die Forderung nach Gerechtigkeit. Von dem ursprünglichen historischen Hintergrund haben die natürlich überhaupt keine Ahnung. Das Infame daran ist jedoch, dass sie einerseits Gerechtigkeit fordern, andererseits die Gerechtigkeit, die wir ihnen ja selbstverständlich angedeihen lassen, als Betrug in Frage stellen. Das Stück ist durch und durch eine theatralisch und tänzerisch dargestellte Aufforderung zum Protest, zur Revolte. Und so gibt es auch regelmäßig im Anschluss an derartige Veranstaltungen Übergriffe, zum Beispiel auf unsere Landsleute, die friedlich auf dem Fischmarkt feiern wollen.“

Filipe war beeindruckt vom kulturellen Wissen des Offiziers, obgleich er seine Interpretation der abendlichen Veranstaltung nicht teilte. Er war überzeugt, dass die friedlichen Landsleute so friedlich nicht waren. Und schon gar nicht rechtfertigte der bloße Verdacht, es könnte Revolten geben, diesen brutalen Einsatz des Militärs. Aber er sagte nichts, schweigend sahen sich die Männer an.

„Warum habt Ihr nicht mit den anderen auf dem Fischmarkt gefeiert?" fragte sein Gegenüber nach einer längeren Pause.

Filipe, froh wieder einen Ansatz zu haben, mitreden zu können, zog die Augenbrauen hoch und seufzte: „Tenente, ganz ehrlich, die sind mir zu versnobt!"

Der Mann lachte. Und dann: „Mir wurde berichtet, Ihr hättet Widerstand gegen unsere Soldaten geleistet, Senhor Mandoza."

„Widerstand? Was soll ich den getan haben?"

„Ihr habt einen Kavalleristen angegriffen."

Filipe musste einen Moment überlegen, dann fiel ihm ein, was der Offizier wohl meinte. „Tenente, ich musste Senhorita Carvalho schützen. Ihr Kavallerist hat sein Pferd steigen lassen. Wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre, hätten die Hufe die Senhorita erschlagen."

„Ihr wolltet die Senhorita schützen, soso."

„Wollte? Ich denke, es ist die Pflicht eines Mannes, die ihm Anvertraute vor jeglichem Schaden zu bewahren!"

„Sie war Euch anvertraut? Senhor Teixeira sagt da aber etwas anders."

„Die Senhorita hat sich mir anvertraut, Senhor. Senhor Teixeira hat seine Jugend wohl nicht mehr recht in Erinnerung. Wenn das Herz spricht ist es manchmal erlaubt, sich über Anweisungen der reiferen Generation hinwegzusetzen. Senhor Teixeira ist, so vermute ich doch, in ehrenwerter Mann, und er hätte sich in einer vergleichbaren Situation sicherlich auch schützend vor die Senhorita gestellt!"

„Ja, sicherlich."

Wieder entstand eine Minute des Schweigens, still aber mit wachen Augen betrachtete der Offizier sein Gegenüber.

„Man hat mir berichtet, der angegriffene Kavallerist sei vom Pferd gestoßen und verletzt worden."

„Mit Verlaub, Tenente, der Mann sollte seine mangelhafte Sattelfestigkeit durch intensives Reittraining vielleicht ein wenig korrigieren! Ein Kavallerist fällt nicht vom Pferd, wenn er es richtig im Griff hat!"

Der Offizier konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Nach einer weiteren Pause meinte er dann: „Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern. Und jetzt, Senhor Mandoza, verschwindet hier. Und ich will Euch hier nie wieder sehen, verstanden?"

„Verstanden, Senhor!"

Filipe nahm Haltung an, grüßte militärisch und verließ den Raum. Etwas verloren stand er auf dem langen Flur der Kaserne herum, wo war noch der Ausgang? Sein Suchen wurde beendet durch einen Soldaten, dessen Schritte durch das Gebäude hallte während er sich Filipe näherte.

„Senhor Mandoza?"

„Der bin ich."

„Bitte folgt mir!"

„Wohin, wenn ich fragen darf?"

„Zum Ausgang! Ich habe den Befehl, Euch zu Ausgang dieser Kaserne zu geleiten!"

Schneidende Stimme, einen normalen Ton der Unterhaltung beherrschter dieser Mann wohl nicht. Filipe hatte Mühe ihm zu folgen, endloser Gang, raus in die warme Nacht, schwach beleuchtetes Gelände bis zur Wache, die den Eingang zu diesem mit Stacheldraht und Elektrozaun eingefassten Areal sicherte.

Elektrozaun! Wie gut könnte er den hier verschwendeten Strom gebrauchen!

„Bitte unterschreibt hier Euer Entlassungspapier!" kommandierte der Mann ihn aus seinen Gedanken.

Entlassungspapier! Idiot!

Filipe unterschrieb, das Tor wurde geöffnet und er stand in Freiheit auf der Zufahrtsstraße; kein Mensch weit und breit. Aber immerhin gab es nur eine Richtung, die er einschlagen konnte, also los. In der Nähe hörte er das Meer rauschen, nach etwa zweihundert Metern erreichte er eine Gabelung: Rechts oder links? Der Blick zum Sternenhimmel war vergeblich: Bedeckt. Intuitiv bog er nach rechts ab. Der monotone Marsch über den Asphalt, schemenhaft von Palmen und Gebüsch gesäumt, ließ seine Gedanken schweifen. Der Tag hatte so fröhlich begonnen, warum musste er so schrecklich enden? und wo war Hortensia? Sicherlich hatte Senhor Teixeira sie mit zur Roca gebracht. Offensichtlich gab er ihm die Schuld an dem Dilemma. Auch egal. In der Monotonie der nächtlichen Wanderung wiederholten sich seine Gedanken, schweiften ab, und schließlich ergaben sich seine grauen Zellen in einen stumpfen Dämmerzustand.

Am Horizont waren schon die ersten helleren Streifen zu erkennen, als er vereinzelte Hütten am Straßenrand gewahr wurde, es wurden mehr, größere Höfe mit steinernen Werkshallen, war er in Sao Tome? Es musste so sein, eine andere Stadt gab es hier nicht. Entlang der Hauptstraße passierte er schließlich Straßenzüge, die er zu erkennen glaubte. Immer noch war keine Menschenseele zu sehen, niemand, den er fragen konnte. Aber dann der große Platz, links die Kirche, weiter vorn erkannte er die Allee, die die Hauptstadt zu Meer hin abgrenzte. Jetzt wusste er, wo er war, er bog nach links in die balustradengesäumte Uferallee. Ein Auto fuhr vorbei, in der Ferne Stimmengewirr, die Stadt erwachte. Noch wenige hundert Meter und er hatte seinen Eucord erreicht, Tür auf, erst mal hinsetzen und durchatmen.

Er startete den Motor, und als er die Stadtgrenze erreicht hatte, kroch die Sonne langsam über den Horizont um diese wunderbare Insel in ihr warmes Licht zu tauchen: Keine Spur der nächtlichen Dramatik.

Auf der Roca war schon Betrieb. Ein vorbeifahrender Zug brachte die Arbeiter in die Plantagen, als er die Fermentierhallen passierte. Der charakteristische Geruch, den er sonst so unangenehm fand, ließ ihn ein wohliges Zuhause spüren. Jetzt nur noch die Rampe rauf, dann parkte er den Eucord vor seinem Haus.

In der Diele harrten Maria und Catarina vor dem gedeckten Frühstückstisch, Raposa lag zusammengerollt zwischen ihnen. Angerührt hatten sie nichts, erfreut und glücklich fielen sie ihm um den Hals, sie hatten sich ernsthaft Sorgen gemacht, der Hund offensichtlich auch.

 

Es war schon Mittag, als er endlich erwachte. Catarina hatte seinen Schlaf bewacht während Maria die Hausarbeit erledigt hatte. Nach einer gründlichen Dusche verarztete Catarina seine Wunden und Blutergüsse, dann nahmen sie zu dritt ein spätes Frühstück ein. Filipe berichtete von den nächtlichen Ereignissen, die sich in groben Zusammenhängen offensichtlich schon bis hierher herumgesprochen hatten.

„Nicht gut," orakelte Maria, „das ist nicht gut."

„Du musst dich um deine Liebste kümmern," stellte Catarina dann fest, „sie wird auf dich warten."

„Aber ihr seid doch auch meine Liebsten," antwortete er gerührt über so viel Verständnis und Toleranz.

„Wir bedürfen zur Zeit nicht deiner Hilfe, deine Hortensia wahrscheinlich schon."

„Ich weiß gar nicht, wo sie ist," murmelte Filipe leise.

„Besuch sie doch im Gästehaus. Versuch es wenigstens."

Sie erhoben sich, sahen sich an, Filipe umarmte sie beide.

„Versprich uns, dass du wiederkommst," flüsterte Maria, er drückte sie an sich, Catarina auch, dann verließ er die Diele.

 

Vor dem Haus, in dem Senhor Teixeira mit seiner Familie und Hortensia untergebracht waren, harrten zwei Mädchen um auf eventuelle Befehle sofort reagieren zu können; tiefer Knicks.

„Ach, lasst das," sprach er die beiden dezent genervt an, „meldet mich bitte bei Senhorita Carvalho an."

„Es tut uns leid, Senhor Mandoza, aber Senhorita Carvalho ist nicht im Haus."

„Nicht im Haus? Wo ist sie denn?"

Verlegen sahen sich die beiden an, sagten nichts. Und dann: „Sollen wir Euch bei Senhor Teixeira anmelden, Senhor?"

Das fand Filipe keine gute Idee, aber ohne ihn würde er wohl kaum erfahren, wo Hortensia sich aufhielt. Also stimmte er dem Vorschlag des Mädchens zu. Noch während er darüber nachdachte, wie er wohl am Klügsten vorgehen sollte, schallte wütendes Schimpfen aus dem Haus, Schläge waren zu hören, Schreie. Filipe stürzte hinein, in der Diele krümmte sich das Mädchen im Schmerz, Senhor Teixeira stand wutschnaubend über ihr. Als er ihn gewahr wurde, ließ er von der Armen ab:

„Ihr wagt es hierher zu kommen? Ihr gottloser Geselle! Mädchenschänder, Ihr - Ihr --"

Er hob die Hand zum Schlag, aber Filipe wehrte ihn ab und packte ihn an der Krawatte:

„Nun reißt Euch zusammen, verdammt! Wo ist Hortensia?!"

"Lasst mich los! Diener! Wo sind die verdammten Nigger? Werft diesen Hurensohn aus meinem Haus!"

Filipe stieß ihn von sich, so kam er nicht weiter. Ohne den Mann eines weiteren Blickes zu würdigen verließ er die Diele.

„Wo ist Senhorita Carvalho?!" fauchte er das ihn angstvoll anstarrende Mädchen vor der Tür an.

Senhor," zittrige Stimme, „ich habe Anweisung, niemandem etwas zu sagen!"

Drinnen hörten sie wieder Schläge, der Kerl ließ seine Wut an der anderen aus; in Panik schreiend kam sie herausgestürzt, Teixeira hinterher, wilde Flüche ausstoßend. Filipe stellte sich ihm in den Weg, rein körperlich hatte der Alte ihm gegenüber keine Chance.

„Aus dem Weg!" brüllte er, hob in seiner Rage wieder die Hand zum Schlag. Filipe packte ihn, bugsierte ihn zurück ins Haus und schloss die Tür.

„Los, haut ab," herrschte er die beiden an, „lauft zum Herrenhaus und macht euch da nützlich. Und verratet niemandem, dass ihr hier abgehauen seid; der Idiot da kann euch Schwarze sowieso nicht auseinander halten!"

Die beiden sahen ihn an, zögerten.

„Los, Mensch! Bevor der hier raus kommt!"

„Danke, Senhor, danke!" Der Knicks war so tief, dass Filipe dachte, dass sie gleich vor ihm kriechen wollten.

„Verschwindet jetzt, verdammt!"

„Die Sonhorita ist im Krankenhaus," flüsterte die eine, dann rannten sie los.

Filipe schaute zu Tür, aber Teixeira kam nicht, er scheute wohl die Auseinandersetzung mit ihm.

Im Krankenhaus!

Sie war verletzt!

Filipe rannte los. Als er sie zuletzt gesehen hatte, versuchte sie immer noch den anderen zu helfen, sie hatte nur ein paar Schrammen abbekommen, Schläge vielleicht auch, nichts Schwerwiegendes. Warum war sie dann im Krankenhaus? Man hatte sie geschlagen! Gequält! Aber warum?

Nein. Portugiesische Soldaten schlagen keine Frauen!

Oder hier vielleicht doch? Folterknechte?

Warum war dieser verdammte Weg so weit!? Keuchend erreichte er die Treppe zum Eingang des Krankenhauses, zwei Stufen auf einmal, durch die Tür in die Eingangshalle.

Eine schwarze Frau in Schwesternkleidung saß hinter dem Glas an der Rezeption: "Senhor?"

„Wo ist Senhorita Hortensia? Bring mich sofort zu ihr!"

„Ihr seid Filipe Mandoza, Senhor?" Sie kam aus ihrem Verschlag und begrüßte ihn mit einem tiefen Knicks.

"Keine Formalitäten! Wo ist Senohorita Hortensia?"

„Bitte folgt mir, ich soll Euch zu Senhor Doctor Silva bringen."

Filipe schnaubte. Er hatte wohl keine andere Wahl. Also folgte er der Schwester. Die Tür rechts führte in den kurzen Flur, an Silvas Zimmer blieb sie stehen, klopfte.

„Was ist?!" kam es harsch von innen.

Die Schwester öffnete, trat ein um Filipe anzukündigen, aber der stürmte an ihr vorbei: „Silva! Wo ist Hortensia Carvalho?"

„Mandoza. Gut dass ihr kommt." mit einer Handbewegung schickte er die Schwester wieder raus, „setzt Euch."

„Silva! Ich will mich nicht setzen! Wo ist sie? Ist sie schwer verletzt?"

„Na gut, dann bleibt stehen. Und beruhigt Euch erst einmal, es gibt keinen Grund zur Sorge."

Filipe sah ihn kritisch an, aber er meinte es wohl ernst. Ein wenig erleichtert setzte er sich nun doch. Silva betätigte die Klingel, und als eine andere Schwester eintrat, verlangte er nach Café und Whiskey.

„Mandoza! Was macht Ihn nur für Sachen?"

„Ich? Was für Sachen denn?"

„Weiße feiern mit den Weißen und Schwarze von mir aus mit Ihresgleichen. Was habt Ihr Euch nur dabei gedacht, zum Tchiloli zu gehen? Ausgerechnet das Tchiloli, Gesänge von Freiheit, Gerechtigkeit und sowas! Die verstehen doch sowieso nichts von Politik, aber sie träumen von Selbstbestimmung und wissen überhaupt nicht, was das ist!"

„Silva! Schwingt hier keine Reden! Bringt mich zu ihr!"

„Ich habe sie untersucht. Sie hat nichts. Sie simuliert."

Die georderten Getränke wurden gebracht. Als die Schwester wieder draußen war, meinte Silva: „Nun nehmt erst mal einen ordentlichen Schluck, Mandoza, und dann hört mir genau zu."

Filipe schenkte sich ein und schüttete den Schnaps in einem Zug herunter, ein Schlückchen Kaffee hinterher. Dann sah er den Doc erwartungsvoll an: „Ich höre!"

"Die Senhorita wurde heute in der Frühe auf eine Trage hergebracht, begleite von Senhor Teixeira. Sie klagte über heftige Schmerzen am Rücken und Taubheit in den Beinen."

Filipe sprang auf: „Man hat sie gefoltert!"

„Setzt Euch wieder, beruhigt Euch. Ich ließ die Senhorita nach nebenan ins Behandlungszimmer bringen. Während der Untersuchung musste Teixeira natürlich draußen bleiben. Kaum war die Tür zu, da setzte sich die Senhorita auf. Sie fragte mich nach meiner Schweigepflicht, und ich versicherte ihr, dass sie diesbezüglich bei mir in guten Händen sei. Sie berichtete in groben Zügen, was passiert war, ich bin also im Bilde, Mandoza. Ihr ginge es gut, sie stand auch auf und lief im Zimmer herum, um mir dieses zu bestätigen. Auch während meiner Untersuchungen konnte ich, abgesehen von einigen Schürfwunden und Prellungen nichts Gravierendes feststellen. Trotzdem bat sie mich, sie hier aufzunehmen. Sie begründete dies mit Teixeira: Die Einweisung sei die einzige Möglichkeit, sich wenigstens zeitweise seiner Kontrolle zu entziehen. Ich bin ein alter Mann, Mandoza, und ich kann einer jungen, schönen Frau einen derartigen Wunsch nicht verwehren. Teixeira hat zwei Männer aus seinem Clan hergeordert, sie sitzen vor der Tür von Senhoritas Zimmer. Nachts wird das Krankenhaus verschlossen, und ich habe dieser Art der Bewachung nur unter der Bedingung zugestimmt, dass die Männer vorher verschwinden. Das Krankenhaus wird um zwanzig Uhr verschlossen. Kommt bitte um zwanzig dreißig an den Nebeneingang, den ich Euch gleich zeigen werde. Um sieben Uhr morgens werden die Pforten wieder geöffnet, bis dahin müsst Ihr verschwunden sein."

Filipe nahm einen Schluck Kaffee, dankbar sah er Silva an.

„Und noch etwas, Mandoza. Ich weiß, dass Ihr ein Ehrenmann seid. Ihr müsst mir in die Hand versprechen, dass alles, was Ihr hier in diesem Hause seht, hört und erlebt, nicht nach außen dringt. Absolutes Stillschweigen. Habt Ihr das verstanden?"

„Doc, Ihr könnt Euch auf mich verlassen."

"Gut. Dann kommt jetzt bitte mit, ich werde Euch hinaus geleiten."

Die Männer standen auf. Draußen auf dem Flur war keine Menschenseele. Väterlich legte Silva seinen Arm um Filipes Schulter: „Wir leben in schweren Zeiten, Mandoza. Wir müssen versuchen, das Beste draus zu machen, für uns selbst und für die Menschen, die uns vertrauen."

Am Ende des kurzen Flures benutzten sie hinter einer Tür eine Wendeltreppe, die sie zum Hinterausgang führte, mit festem Handschlag verabschiedeten sie sich.

 

Es war kurz vor halb neun. Filipe hatte den ganzen Tag über an nichts anderes denken können als daran, Hortensia endlich wieder zu sehen. Zur Ablenkung war er zu den Windmühlen geritten, und gegen Abend hatte er sich von hinten dem Krankenhaus genähert. Er war abgestiegen, hatte das Pferd abgesattelt und mit einem Klaps nach hause geschickt, es würde den Weg in den Stall schon alleine finden, die Forros würden sich drum kümmern. Er selbst war den restlichen Weg durch die Plantage zum Hintereingang des Krankenhauses zu Fuß gegangen; dort wartete er nun darauf, dass Silva ihm die Tür öffnen möge.

Pünktlich um halb neun wurde aufgeschlossen, Silva winkte ihn herein, führte ihn die Wendeltreppe hinauf, durch den kurzen Flur in die Eingangshalle; die Rezeption war verwaist. Durch die große Doppeltür ging es auf den langen Flur des Südflügels, vor der dritten Tür standen zwei leere Stühle. Der Doc schloss auf und lies seinen Gast eintreten, dann schloss er die Tür ohne en Schlüssel zu betätigen.

Seine Liebste hatte am vergitterten Fenster gestanden und sich umgedreht, als Filipe eintrat. Einen kurzen Moment sahen sie sich an, dann fielen sie sich in die Arme, sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.

Aber dann entzogen sie sich zeitgleich der Umarmung, zu sehr brannte es ihnen unter den Nägeln sich mitzuteilen.

"Hortensia, warum bist du hier," begann er, „bist du verletzt? Hast du Schmerzen?"

Sie setzte sich aufs Bett, Stühle gab es nicht, sie lächelte. „Ich bin nicht verletzt, jedenfalls nicht körperlich."

„Nicht körperlich? Sondern?"

„Komm, setzt dich zu mir, ich werde dir alles erzählen. Senhor Teixeira hat mich zu einem Offizier gebracht und meine Entlassung besprochen. Im Auto auf der Fahrt hierher hat er mir schwere Vorwürfe gemacht, wie ich mit einem so verantwortungslosen Gesellen wie dir" - sie lächelte ihn von der Seite an und legte ihre Hand auf sein Knie – „losziehen konnte. Ich wollte dazu was sagen, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen. Er eröffnete mir, dass er mich mit dem nächsten Schiff nach Lissabon zurückschicken wird."

Sie machte eine Pause; dass sie sich die baldige Trennung erneut ins Bewusstsein gerufen hatte, mache ihr sichtlich zu schaffen.

„Das ist übermorgen."

Wieder schwieg sie einen Moment.

„Außerdem eröffnete er mir," fuhr sie dann fort, „dass ich das Gästehaus bis zu meiner Abreise nicht mehr verlassen dürfte." – „Es war wie ein Schock für mich." – „Während er weiterredete, überlegte ich fieberhaft, was ich tun sollte, und als wir vor dem Haus waren, quälte ich mich unter Stöhnen aus dem Auto und ließ mich dann auf den Boden fallen. Sofort waren die Diener da um mich zu stützen, aber mit wüsten Beschimpfungen stieß der Alte sie fort und mich forderte er in barschem Ton auf, aufzustehen. Ich versuchte es, jammerte, mein Rücken würde so schmerzen, und nun seinen auch meine Beine taub. Weil er mir nicht glaubte, trat er mir in seiner Rage gegen den Knöchel, es tat tierisch weh, aber ich biss die Zähne zusammen und tat so, als hätte ich es nicht gespürt. Das machte ihn zögernd, und schließlich ließ er eine Trage holen, zwei Diener brachten mich in seiner Begleitung hierher. Der Tag hatte noch nicht angefangen, aber das interessierte ihn nicht. Er klopfte und lärmte so lange, bis geöffnet wurde und Doktor Silva sich um mich kümmerte. Während er mich untersuchte musste Senhor Teixeira draußen bleiben, und so konnte ich Silva bitten, mich hier aufzunehmen."

Er nahm sie in den Arm, beruhigt, dass ihr tatsächlich nichts Schlimmes widerfahren war, sie bettet ihren Kopf an seiner Schulter.

„Filipe, wir haben nur noch diese und die kommende Nacht. Tagsüber sitzen die Wachhunde von Teixeira vor der Tür."

„Und wenn du deinen Eltern telegraphierst, dass er dich zurückschicken will, du aber noch bleiben möchtest?"

Sie lachte kurz, dann wieder ernst: „Er hat meinen Eltern schon telegraphiert, hat er jedenfalls gesagt. Und das Telegramm war bestimmt nicht in unserem Sinne. Nein, Filipe, ich werde diese Insel verlassen müssen."

Eng umschlungen versuchten sie dieser traurigen Realität zu ins Auge zu sehen, wieder kullerten ein paar Tränen über ihre Wange.

Aber dann befreite sie sich aus seiner Umarmung, sah ihm direkt ins Gesicht: „Filipe, ich muss dir noch viel erzählen. Eigentlich hatte ich gedacht, dafür noch zwei oder drei Wochen Zeit zu haben, aber nun muss es direkt sein, und vor allem ganz ehrlich."

Wieder schwieg sie einen Moment, offensichtlich suchte sie nach Worten.

„Filipe, ich liebe dich. Und ich glaube, dass du mich auch liebst."

Als er den Mund zur Antwort öffnete, legte sie ihren Zeigefinger auf seine Lippen und deutete ihm, zu schweigen.

„Ich weiß aber auch von deiner Liebe zu Maria und Catarina. Ich finde es sehr ehrenwert von dir, dass du sie nicht einfach nur wie leichte Mädchen behandelst. Jeder hier weiß, dass die Portugiesen sexuelle Beziehungen zu den Angestellten unterhalten. In gewisser Weise kann ich das sogar verstehen, hier gibt es ja kaum Portugiesinnen. Also, eigentlich habe ich es schon gewusst - oder zumindest geahnt, als wir uns kennenlernten. Zuerst hatte ich gehofft, dass das nun, wo wir uns ineinander verliebten, ein Ende hätte. Das das nicht so war, hat mich sehr getroffen. Aber ich liebe dich so sehr, dass ich daraus keine Konsequenzen ziehen wollte. Und es auch nicht hätte können. Ich hatte mich entschlossen, es zu akzeptieren und so viele schöne Tage mit dir zu verbringen, wie es möglich war. Denn, dieser Gedanke beschäftigte mich natürlich parallel dazu, was soll aus uns werden, wenn ich zurück nach Portugal muss? Es war völlig offen, wann ich wieder zurückkommen könnte, und nun ist es fragwürdiger denn je. Sollte ich dich in meinem Herzen bewahren und nur daran denken, wann ich wieder hierher kommen könnte? Ich wusste ja, dass du, naja, vielleicht auf mich warten würdest, aber nicht allein sein würdest währenddessen. Und ich? Solltest du in den nächsten Jahren mein Ein und Alles sein in einer Liebe, die im Jahr vielleicht vier oder sechs Wochen Erfüllung findet? Oder sollte ich von dir erwarten, dass du zurück nach Lissabon kommst, meinetwegen? Diesen Anspruch würde ich niemals an dich stellen. Oder sollte ich meinen Traum vom Physikstudium aufgeben und mein Leben hier mit dir weiterführen? Es tut mir leid, Filipe. Genau wie ich von dir nicht erwarte, dass du dein Leben vollkommen umkrempelst, meinetwegen, musst du akzeptieren, dass ich meine Träume nicht aufgeben kann deinetwegen. Es wird mich viele, viele Tränen kosten, und du, mein Liebster, wirst immer einen Platz in meinem Herzen haben. Aber um nichts in der Welt werde und kann ich meine Träume aufgeben. - So, nun ist es raus!"

Während sie sprach glaubte Filipe den Boden unter den Füßen zu verlieren, seine Knie wurden weich und kalte Schauer wechselten ab mit Ausbrüchen von Schweiß.

Sie wusste von Maria und Catarina!

Sie wird ihn bald verlassen.

Eine Zukunft für sie beide gab es nicht.

Wahrscheinlich würden sie sich nie wiedersehen!

Er stand auf und ging zum Fenster um seine Tränen zu verbergen. Andererseits bewunderte er Hortensias klare Aussage und ihre realistische Sichtweise. Natürlich würde er nie von ihr verlangen, ihre Träume, ihr Studium aufzugeben. Und es war völlig klar, dass er Sao Tome so schnell nicht wieder verlassen würde, zu sehr war ihm die Insel und die Menschen hier ans Herz gewachsen, und ganz besonders eben Catarina und Maria. Er hatte ihnen sein Wort gegeben, er würde es nicht übers Herz bringen, sie hier zurückzulassen. Er bewunderte auch Hortensias Toleranz, dieses Verhältnis zu akzeptieren, dafür liebte er sie um so mehr, und er war sich ziemlich sicher, dass er im umgekehrte Fall diese Toleranz nicht hätte aufbringen können.

Zärtlich spürte er ihre Arme als sie diese von hinten um seine Brust legte: „Gräme dich nicht, mein Liebster. Wir sollten die wenigen Stunden, die wir noch miteinander haben genießen und nicht Trübsal blasen."

„Das sagst du so einfach," er drehte sich zu ihr hin und nahm sie in den Arm, „ich muss meine Gedanken erst noch sortieren, aber ich habe den Eindruck, dass du recht hast mit deiner Aussage. Trotzdem ist es schwer sie zu ertragen, wenn man so plötzlich damit konfrontiert wird."

„Wäre es dir denn lieber, wenn ich mein Studium aufgäbe und für immer hierher käme?"

„Das würde ich niemals von dir verlangen!"

Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss: „Danke. Dafür liebe ich dich so sehr."

Er erwiderte ihren Kuss, lange, immer intensiver bis sie sich heftig atmend auf dem Bett wiederfanden. Er erinnerte sich an Catarinas Worte: ‚Möchtest du sie nicht überall anfassen, wenn du ihren weichen Busen spürst?' doch, das wollte er, überall anfassen, streicheln, ihre Zärtlichkeiten sollten die raue Realität vergessen machen.

Aber er beherrschte sich, das war nicht der richtige Moment, sie konnten sich auch so streicheln und ihre Nähe genießen, und ihre Küsse ließen die Welt drum herum verschwinden.

Es war schon tiefe Nacht, hatten sie zwischendurch geschlafen? Hortensia war aufgestanden und betrachtete ihn mit liebevollen Blicken.

„Mein Liebster," lächelte sie, "ich glaube wir sollten ein wenig schlafen."

Er erhob sich aus dem Bett, lächelte auch und umarmte sie wieder.

„Wir haben nur ein Bett. Du musst dich umdrehen, damit ich mich entkleiden und mein Nachthemd anziehen kann."

Sie mussten beide lachen in Anbetracht dieser Formalität, wo sie ansonsten doch so vertraut miteinander waren. Aber er folgte ihrer Aufforderung. Vertrautheit war das eine, Erotik das andere; dahin waren sie nicht gekommen, und er wusste, dass die Zeit nicht reichen würde, dahin zu kommen.

„Du darfst wieder gucken," kicherte sie, ein langes Nachthemd bedeckte ihre Blöße als sie ins Bett stieg. Filipe zog Schuhe, Socken und Hemd aus, alles Weitere wäre unschicklich gewesen, und so legte er sich neben sie. Eng umschlungen gaben sie sich ihrer Müdigkeit hin. Er spürte die weichen Rundungen dieser wunderbaren Frau durch den dünnen Stoff, und in Zärtlichkeiten versunken vergaßen sie alles, das ihre Träume hätte stören können.

 

Ein lautes Brüllen ließ ihn aus dem Schlaf fahren, senkrecht saß er im Bett. Wo war er? Hortensia lag neben ihm, jetzt kam die Erinnerung zurück. Hatte sie es auch gehört? Oder hatte er das nur geträumt? Nein, da war es wieder! Unheimlich, nicht von draußen, irgendwo hier aus dem Haus.

Sie öffnete die Augen: „Was war das?" flüsterte sie.

„Weiß nicht."

Er sprang aus dem Bett und überprüfte die Tür: Fest verschlossen.

Im Gebäude wurden Türen geschlagen, Stimmen, wieder brüllen. Eng kuschelten sie sich aneinander. für einen Moment kehrte Ruhe ein, dann wieder Lärm, Befehle wurden gerufen, sie konnten die Worte nicht verstehen. Und wieder dieses unheimliche Brüllen. Ein Schuss, gedämpft, als hätte man die Waffe mit einer Decke abgedeckt. Dann Ruhe.

Filipe hatte genug Erfahrung im Umgang mit Waffen, dass er sich sicher war einen Schuss gehört zu haben. Aber er sagte nichts, drückte seine Liebste an sich, angespannt lauschten sie in die Dunkelheit. Aber es war nichts mehr zu hören, vollkommene Stille.

Ihm fiel ein, was Silva zu ihm gesagt hatte: ‚alles was Ihr hier hört, seht oder mitbekommt, darf nicht nach außen dringen'. Er hatte es ihm versprochen.

 

Die Sonne war über den Horizont gekrochen und versuchte mühsam den feuchten Morgendunst zu durchdringen. Filipe hatte schlecht geschlafen, er wusste nicht, ob die düsteren Erinnerungen Traum waren oder Wirklichkeit. Einzig die zärtlichen Umarmungen von Hortensia ließen ihn immer wieder in angenehmere Empfindungen gleiten; ohne sie wäre dieser Ort ein solcher, an dem er nicht freiwillig eine Nacht verbringen würde.

Vorsichtig löste er sich von der wunderbaren Wärme seiner Geliebten, kleidete sich an, ein Kuss noch auf den schlaftrunkenen Mund, dann verließ er das Zimmer.

Der Boden auf dem Flur war feucht, frisch gewischt, die Putzfrau arbeitete gedankenverloren - oder melancholisch abwesend? - im hinteren Bereich des Flures, der in ein mattes Licht getaucht war. Filipe begab sich in die andere Richtung, durch die Doppeltür in den großen Vorraum. Mit dem Finger wischte er durch die Schleifspur am Boden: Rot. Blut? Neben der vereinsamten Rezeption lag ein verlorener Schuh, und als er dem Hinterausgang zusteuerte, bemerkte er die beiden bekittelten schwarzen Frauen, die Eimer und Schrubber heranschleppten.

Draußen, hinter der Ecke des Hauses verharrte er, er wollte nicht den Schergen des Senhor Teixeira begegnen. Immer wieder lugte er um die Ecke. Er musste nicht lange warten, vom Steindamm her tuckerte ein Auto heran, der Alte und zwei kräftige Männer stiegen aus und begaben sich durch das Hauptportal ins Krankenhaus.

In der Diele seines Hauses war der Frühstückstisch bereitet. Maria wuselte in der Küche herum; sie hatte ihn nicht kommen hören und erschrak kurz, als sie den Raum betrat und ihn gewahr wurde, aber dann strich sie ihm zärtlich übers Haar, Raposa begrüßte ihn stürmisch mit wedelndem Schwanz.

„Catarina schläft oben in deinem Zimmer, du solltest nicht allein sein, wen du nicht bei deiner Liebsten bleiben könntest."

Er stand auf und nahm sie in den Arm: „Ich weiß gar nicht, womit ich das verdient habe, eure Zuneigung, euer Verständnis. Und ich weiß auch nicht, wie ich euch das danken soll."

Maria lachte: „Filipe. Wir sind doch deine Familie. Da muss man füreinander da sein und sich trösten. Setz dich erst mal und trink einen Schluck Cafè, das wird dir gut tun,"

„In Portugal wäre so etwas undenkbar," sinnierte er, während er den Cafè schlürfte.

„Aber hier ist nicht Portugal, auch wenn die meisten Weißen es gerne so sähen. Hier ist Sao Tome, und die Menschen hier sind anders, eine andere Kultur. Liebe ist die Familie, die zusammenhält. Miteinander schlafen ist Spaß, es ist schön und wichtig, aber es sprengt nicht die Bande der Liebe, sondern es stärkt sie noch."

Filipe wunderte sich immer wieder über die Einstellungen von Maria, und auch über ihr Wortspiel: Die Erotik stärkt natürlich die Liebe, aber normalerweise nicht, wenn es sich um eine andere Frau handelt! Dieser Aspekt jedoch kam in Marias Gedanken nicht vor. Sie las viel, er hatte hier auch schon Bücher herumliegen sehen, die nicht ins Haus gehörten, offensichtlich lieh sie sich Literatur aus anderen Häusern aus. Es handelte sich nahezu ausschließlich um portugiesische Literatur, die ihr nach und nach einen tiefen Einblick in das Wesen dieser weißen Menschen zu geben schien.

„Hattet ihr denn eine schöne Nacht miteinander?" fragte sie dann ganz ungeniert, und ein offenes Lachen eroberte ihr Gesicht, so, wie es eigentlich immer war, wenn es um Erotik ging.

Filipe erzählte was passiert war, und auch, was nicht passiert war. Er hatte keinerlei Geheimnisse vor ihr, berichtete von den unheimlichen Geschehnissen und seiner Begierde, als er Hortensias weiche Brust gespürt hatte, von der Blutspur, Senhor Teixeiras Schergen und Hortensias baldiger Abreise.

„Es ist schade, dass ihr in eurer Liebe nicht auch eure Körper habt miteinander spielen lassen," kommentierte sie schließlich, und Filipe wusste, dass sie das ganz ehrlich so empfand, „in diesem Punkt könntet ihr Weißen noch viel lernen von uns. Ihr quält eure Körper mit irgendwelchen ersponnenen Dingen, die ihr Moral nennt, glaube ich jedenfalls. Wenn ihr euch euren Sinnen hingeben würdet" -sie sah ihn an und lachte – „ich glaube, dann würde sich selbst ein De Costa im Dschungel vergnügen statt rumzukommandieren und zu schießen, und seine Soldaten müssten die Frauen nicht mit Gewalt nehmen, sie würden sich ihnen mit den gleichen Sinnen hingeben."

Auch Filipe musste lachen, vielleicht war da ja was Wahres dran. Vielleicht auch nicht. Catarina kam die Treppe herunter und setzte sich zu den beiden, sie philosophierten, halb ernst, halb im Spaß, alberten herum, und es war Filipe eine wunderbare Ablenkung von den trüben Gedanken, die ihn heute morgen noch so bedrückt hatten.

Aber mit jeder Stunde rückte der Abend näher an ihn heran. Natürlich freute er sich unbändig darauf, seine wunderbare Liebe wieder in die Arme schließen zu können. Auf der anderen Seite wusste er, dass es die letzten Stunden sein werden, die sie miteinander verbringen konnten; sie hatte recht, wahrscheinlich würden sie sich nie wiedersehen.

Aber in seinem Herzen wird sie unsterblich sein!

Die kurze Dämmerung hatte begonnen sich über die Roca zu legen, als Filipe über einen Umweg die Hintertür des Krankenhauses erreichte. Die kleine Treppe, den kurzen Gang vorbei an Silvas Büro, dann schaute er vorsichtig in die große Halle: Niemand da, nichts war zu hören. Auch hinter den Doppeltüren war nur der menschenleere lange Flur im Dämmerlicht mit den vielen Türen rechts und links, keine Schergen vor Hortensias Zimmer. Schnell huschte er dorthin, klopfte, „ich bins, Filipe,"! flüsterte er und schon wurde der Schlüssel herumgedreht, Tür auf, er rein, Tür zu.

Innig fielen sie sich in die Arme, drückten sich, küssten sich, und es dauerte Minuten, bis sie voneinander lassen konnten.

Dann setzte sich Hortensia im Schneidersitz auf's Bett und lachte ihn an:

„Komm, setzt dich zu mir. Dies ist unsere letzte Nacht, und wir sollten sie nicht in Trauer über unsere Trennung verbringen."

Es war immer wieder erstaunlich, was alles in dieser Frau steckte: In dieser Situation so klar im Kopf, das Beste aus draus machen, das war ihre Devise.

Filipe setzte sich zu ihr, legte seine Hand auf ihr Knie, sie ließ es geschehen, sah ihm tief in die Augen, und er spürte eine unglaubliche Nähe und Liebe zu dieser bemerkenswerten Frau. Auch sie atmete tief durch:

„Filipe," begann sie dann mit leicht zittriger Stimme, „ich möchte deine Frau sein, für diese eine Nacht! Ich möchte dir das gleiche geben, wie Catarina und Maria es tun, erst dann fühle ich mich gleichwertig, erst dann fühle ich mich als deine Frau."

Eine Welle der Erregung ließ das Blut in sein Gesicht steigen, und auch Hortensia konnte ein Erröten nicht verhindern.

„Ich möchte etwas von dir mitnehmen, möchte dich mitnehmen, tief in mir drin. Du sollst bei mir sein, wenn das Schiff mich morgen zurück nach Portugal bringt. Bitte!"

Sie fasste seine Hand, langsam kamen sie sich näher, umarmten sich, tiefer Kuss, und trotz der Kleidung glaubte er wieder ihren weiche Busen zu spüren. Dann entwand sie sich ihm, robbte vom Bett und stellte sich vor ihn:

„Diesmal musst du ich nicht umdrehen, wenn ich mich entkleide," hauchte sie, ihre Stimme vibrierte leicht, trotzdem lächelte sie und knöpfte das dunkle Hemd auf, streifte es ab, gespannt sah sie ihn an, wird er sie jetzt unmoralisch finden?

Aber Filipe war fasziniert, er kniete sich auf die Matratze, den Blick konnte er nicht von seiner Liebsten lassen.

Wieder lächelte sie, etwas verlegen vielleicht, dann gab sie sich einen Ruck und zog das Unterhemd über den Kopf, ihr weißer Busen glänzte im fahlen Licht.

„Jetzt bist du dran," flüsterte sie und lachte ihn auffordernd an, „ich will dir auch zusehen wenn du dich ausziehst."

Ihm wollten die Sinne schwinden, als sich ihre Leiber aneinander rieben, als sie Stück für Stück den Stoff von ihren Körpern pellten und schließlich schamlos voreinander standen: Entspanntes Lachen. wieder umarmen, überall anfassen, sie sprangen ins Bett, tollten herum, kicherten, kitzelten und kniffen sich.

Dann kurze Pause, tiefer Blick, erneut tastende Hände, ein langer Kuss ließ sie hinübergleiten, eins sein mit dem Liebsten, der Liebsten, „du musst ganz vorsichtig sein, du bist mein erster Mann," hauchte sie bevor sie sich fallen ließ in die Endlosigkeit einer nie gekannten Lust und Hingabe.

 

Brutal riss der Wecker das liebende Paar aus dem kurzen Schlaf. Vielleicht hatte es wieder nächtliche Unheimlichkeiten gegeben, vielleicht auch nicht; was spielte das jetzt für eine Rolle! Ein letzter Kuss, ein letztes Lächeln, eine letzte Umarmung. Als er auf den Flur trat hatte er das Gefühl, aus dem Paradies gehen zu müssen. Tränen rollten über seine Wangen, er konnte und wollte es nicht verhindern. Und er wusste, dass seine Liebste drinnen bitterlich in das Kissen schluchzte. Sie hatte ihn gebeten, nicht zum Hafen zu kommen, das würde alles nur noch schwerer machen. Er wählte auch nicht den Weg zu seinem Haus, jetzt wollte er allein sein, trägen Schrittes trottete er ziellos durch die endlosen Plantagen, von einem kleinen Wasserfall an begleitete ihn ein Papagei, gelegentlich krächzende Geräusche von sich gebend, als wollte er ihn irgendwie trösten.

***

Schon am frühen Morgen war Filipe zusammen mit Almeida in dessen Jeep zum Hafen gefahren. Sie parkten neben der alten Lokomotive mit dem Tieflader, die den Generator über das Schienennetzt zur Roca Fernao Gomes und von dort zur Rio do Ouro schleppen sollte. Beim Aussteigen warf Filipe einen kritischen Blick auf die krummen Gleise der Hafenbahn; er hoffte, dass der Transport problemlos vonstatten ging.

Die Jao de Santarem hatte am gestrigen Abend festgemacht, sie war das einzige Überseeschiff hier am Kai. Über den Steg begab er sich an Bord, an der Reling hielt ein junger Matrose Wache, Filipe kannte ihn nicht.

„Ich grüße Euch, Matrose, wird das Schiff noch von Capitano De Alvo gefahren?"

„Ja, Senhor!" Militärischer Ton. "Was ist Euer Begehr?"

„Ich bin Filipe Mandoza von der Roca Rio de Ouro, Ihr habt Fracht für mich an Bord. Aber bevor ich mich darum zu kümmern gedenke, würde ich gern den Capitano begrüßen."

„Ihr seid bekannt mit Capitano De Alvo?"

„Vor achtzehn Monaten hat er mich hierher auf diese Insel gebracht."

Der Junge betrachtete ihn von oben bis unten, wagte einen Blick zum Jeep, in dem Almeida lässig die Füße auf die offene Tür gelegt hatte. Dann rief er in Richtung Heck: „Hier ist einer, der will zum Capitano!"

„Portugiese oder Nigger?“ kam es zurück.

„Portugiese. Er sagt, er kennt den Capitano.“

Ein weiterer Matrose kam gemächlichen Schrittes auf die beiden zu, mit einer Kopfbewegung deutete er Filipe, ihm zu folgen. An der Tür zur Kombüse klopfte er an, ohne eine Antwort abzuwarten winkte er Filipe durch, kehrte um und schloss die Tür.

Am Tisch saß der Capitano, auch Santonio, der erste Offizier war anwesend, außerdem noch zwei weitere Männer in Seemannsunform. Sie waren beim Frühstück.

„Ich glaub das nicht, unser Engenheiro!" rief Santiono, "setzt Euch. Tasse Kaffee und Rum?"

"Senhor Engenheiro!" schenkte ihm nun auch De Alvo seine Aufmerksamkeit, „Ihr seid immer noch hier? Wie war doch gleich Euer Name?"

„Mandoza, Capitano, Filipe Mandoza."

„Richtig, Mandoza. Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich Euch noch mal wiedersehen würde. Dass Ihr es hier so lange ausgehalten habt auf dieser Sklaveninsel?!"

„Ich hab's Euch doch gesagt,“ warf Santonio ein, „es sind die Weiber! Die drallen schwatten Weiber!" Und er machte eine Bewegung mit den Händen, die feminine Figur andeuten sollte. Dann schob er Kaffee und Rum an den Platz neben De Alvo, Filipe setzte sich.

„Naja, wenn ich hier weg gewollt hätte, hättet Ihr mich schon mitnehmen müssen,“ grinste Filipe, „zum Festland schwimmen kann ich nun doch nicht. Und ich dachte, Senhor Capoitano, ihr wolltet Euch zur Ruhe setzen."

Der lachte schallend. „Was, junger Mann, soll ein alter Seebär wie ich denn irgendwo an Land? Wurzeln schlagen?" Und wieder lachte er laut.

„Und, Junge, wie gefällt es Euch denn hier so als weißer Mann?" mischte Santonio sich wieder ein.

„Gut. Der Job auf der Roca ist wirklich gut ..."

„Der Job! Der Job! Die Weiber, Junge, ich mein die Weiber!" An was anderes konnte der Mann offensichtlich nicht denken.

Filipe lächelte: „Die sind auch gut," stimmte er zu.

Santonio lachte: „Capitano, ich sag es doch: Wenn ich mich zur Ruhe setze, dann hier!"

„Gebt nicht so an, Santiono, wenn Ihr Euch zur Ruhe setzt, braucht Ihr die Weiber nicht mehr."

Schallendes Gelächter.

„Was führt Euch denn zu uns hier auf die gute alte Joao de Santarem?" fragte der Capitano, nachdem sie sich mit Rum zugeprostet hatten.

„Ihr habt Fracht für mich, Capitano, Zwei Lokomotiven und einen Generator."

„Was, die Maschinen sind für Euch??"

„Nicht für mich, für die Roca. Wir wollen elektrifizieren."

„Na, junger Mann, das ist doch bestimmt auf Eurem Mist gewachsen," lobte De Alvo und klopfte Filipe anerkennend auf die Schulter, „dass die hier mit den alten Museumsstücken überhaupt noch zurecht gekommen sind!"

Capitano, die Joao de Santarem tut auch noch zuverlässig ihren Dienst," warf einer der Männer ein, den Filipe nicht kannte.

„Ein Schiff ist auch keine Lokomotive, Pedro, ein Schiff ist ein Organismus, ein Schiff lebt!" Er schien geradezu beleidigt über diesen Vergleich; Filipe erinnerte sich, dass Alves seine Lokomotiven auch liebte und wenn er sie repariert hatte, dann ‚hauchte er ihnen wieder Leben ein'.

„Können die Nigger denn mit so modernem elektrischem Kram umgehen?" fragte der andere Unbekannte, „nicht dass Ihr nachher nur noch Grillfleisch habt!"

De Alvo verdrehte die Augen, Filipe schaute angestrengt zum Bullauge, nur Santonio lachte laut: „Nix da Grillfleisch! Die Weiber stehen dann noch mehr unter Strom als sie es ohnehin schon tun!" Und er lachte erneut über seinen Beitrag.

„Also: Es gibt weder Grillfleisch noch elektrisierte Weiber," merkte Filipe trocken an, „es gibt elektrisch betriebene Bahnen!"

Nach dem Frühstück ließ es De Alvo nicht nehmen, Filipe selbst in den Laderaum zu begleiten: Auf drei stabilen Holzgestellen waren die wuchtigen Maschinen festgezurrt.

Es dauerte Stunden, bis der Krahn der Joao de Santarem die Maschinen aus dem Bauch des Schiffes an Land gehievt hatte. Ein Heer von farbigen Hafenarbeitern bugsierte unter lautem Geschrei und Rufen die Lokomotiven auf die Gleise. Die weißen Aufseher schwangen zwar immer wieder ihre Peitschen, aber dadurch ging es auch nicht schneller. Sie stießen und traten nach den Arbeitern, legten selbst Hand an um unter wüsten Beschimpfungen zu demonstrieren, wie man es besser machen könnte, aber dadurch wurde der Prozess immer wieder unterbrochen und dauerte am Ende noch länger.

Filipe und Almeida, der auch an Bord gekommen war, betrachteten zusammen mit De Alvo und Santiano das Schauspiel von der Reling aus; an ein Eingreifen war nicht zu denken, es hätte alles nur noch komplizierter gemacht, und auch wenn Filipe der Umgang der Weißen mit den Arbeitern in keinster Weise zusagte, hielt er sich zurück.

„Wie wollt Ihr die denn zur Eurer Roca transportieren?" unterbrach der Capitano seine Gedanken.

„Am Kai steht ein Tieflader für den Generator, bei einer der Loks lasse ich hier am Hafen die Akkus aufladen. Ich habe das nachgerechnet, die Leistung der Anschlüsse hier müsste reichen."

„Aber auf Eurer Roca habt Ihr doch keine Spannung. Den Generator müsst Ihr doch erst aufbauen."

„Wir haben Windstrom. Zehn Windräder, Capitano!" Stolz klang in seiner Stimme, und De Alvo nickte ihm erneut anerkennend zu. Filipe ging wieder runter zum Kai, verhandelte wegen des besprochenen Stromanschlusses, und der Hafenkapitän wies einige der anwesenden Arbeiter an, von einer Holzhütte her über ein Kabel den Anschluss herstellen.

„Ich hoffe das reicht," meinte er zu Filipe, als der versuchte, den Stecker in die Ladebuchse zu stecken; der passte natürlich nicht, einen Adapter gab es auch nicht, hätte er sich ja denke können. Also Strom aus, Kabel auseinander schrauben, Kupferlitzen verbinden und ein neuer Versuch. Macht ja nichts, sie hatten ja Zeit genug. Filipe gab dem Hafenkapitän ein Zeichen, der gab Kommandos an seine Leute in der Holzhütte, ein lauter Knall, Funken stoben und die Männer kamen schreiend aus der Bude gerannt.

„Scheiße!" rutschte Filipe heraus, „das war ein Kurzer!"

Ratlos sah der Hafenkapitän von Filipe zu seine Leuten und wieder zu Filipe; an der Reling der João der Santarem applaudierte einer der Matrosen feixend: „Ich sag doch, die Nigger sind zu blöd!"

Verstohlen schaute Filipe sich auf dem Kai um, ihm schwante Böses. Keine er Laternen brannte, war am helllichten Tage ja auch nicht nötig. Die Arbeiter, die in der Hütte gewesen waren, beobachteten nun mit respektvollem Abstand den Rauch, der aus der offenen Tür hervorquoll, sich aber langsam verzog, es roch nach verschmirgelter Isoliermasse.

Almeida und de Alvo hatten sich inzwischen zu Filipe gesellt, genauso ratlos wie er selbst, Santonio kam ebenfalls den Steg herab, grinsend.

„Hört auf zu lachen," muffelte Filipe ihn an, „das ist nicht witzig!" Was anderes fiel ihm nicht ein. Die Vier beratschlagten, was zu tun sei, und sie kamen zu dem Schluss, dass zuerst mal die zweite Lok und der Generator abgeladen werden sollte. Dann könne man ja versuchen, mit der kleinen Hafenlok den Zug zur Roca Rio do Ouro zu transportieren. Es dauerte noch bis in den Nachmittag, bis diese Arbeit endlich geschafft war.

Mit einem Rum verabschiedeten sich Filipe und Almeida von den Seemännern und beobachteten auf dem Kai das Ankuppeln der kleinen Dampflok, dann folgten sie im Auto dem im Schritttempo fahrenden Transport.

In den Straßen von Sao Tome hielt allmählich die Dämmerung Einzug, trotzdem, kein einziges Licht war zu sehen. Stattdessen waren viele Menschen unterwegs, sie gestikulierten oder diskutierten in kleinen Gruppen, einige wütend, andere hoben hilflos die Hände. Über die Uferallee ratterten mehrere Mannschaftswagen des Militärs heran, Soldaten sprangen heraus, nahmen Aufstellung und trieben die Menschen mit ihren Gewehrkolben vor sich her, andere schossen zur Warnung in die Luft. Glücklicherweise führten die Gleise nicht mitten durch das Geschehen, Filipe und Almeida sahen sich an:

„Kann der nicht etwas schneller fahren," brummte Filipe, „lass uns bloß sehen, dass wir hier wegkommen!"

Die kleine Lok gab ihr Bestes, Funken stoben aus dem Schornstein, schnaufen und Zischen, und endlich bogen die Schienen in unwegsames Gelände von der Straße ab.

„Wenn ich gläubig wäre würde ich jetzt beten," murmelte Almeida als er anhielt und dem Zug hinterher schaute.

Am späten Abend hatte der Transport die Roca Rio do Ouro immer noch nicht erreicht. Unruhig war Filipe in seiner Diele auf und ab gelaufen; die anderen Weißen saßen schon lange vor seinem Haus und ließen sich von Catarina bedienen, Maria versuchte Filipe zu beruhigen, unterstützt von den Spielaufforderungen, mit denen Raposa sein Herrchen versuchte aufzumuntern. Gegen Mitternacht, es war noch keiner der trinkfreudigen Gäste gegangen, denn alle warteten auf die neuen Lokomotiven, fuhr ein Wagen draußen vor, ein Bote hastete an den anderen vorbei ins Haus und meldete, es werde versucht, den Transport zurück zum Hafen zu fahren.

Filipe tobte, aber der Begründung der Rückfahrt hatte er nichts entgegenzusetzen: Die kleine Hafenlok hatte schon an der ersten richtigen Steigung kapitulieren müssen. Mist! Und was hieß denn ‚man versuche, zurückzufahren? War bei dem kleinen Maschinchen der Kolben geplatzt, oder was?

„Nein,“ berichtete der Bote, „Ausnahmezustand“!

In Sao Tome Stadt hatte das Militär den Ausnahmezustand verhängt, Straßensperren, alle Menschen mussten in ihren Häusern bleiben: Wegen Totalausfall des elektrischen Stroms!

Filipe, der sich inzwischen zu den anderen vor seinem Haus gesellt hatte, sah zu Almeida: Beide wussten nur zu genau, wie es dazu gekommen war!

„Nun trinkt erst mal einen Schluck," versuchte Almeida ihn zu beruhigen, „jetzt könnt Ihr ohnehin nichts mehr ausrichten."

Da hatte er recht. Filipe setzte sich und hoffte, dass das mit dem Strom keine unangenehmen Konsequenzen haben würde; schließlich war er für die marode Anlage am Hafen nicht verantwortlich!

„Selbst Schuld," kommentierte Ribeira, „Ihr habt doch nicht geglaubt, dass die Ni .. ich mein: die Schwarzen so ein Problem lösen können!"

„Wenn ich dabei gewesen wäre, wäre die Lok auch nicht stärker gewesen," murmelte Filipe lapidar.

„Aber Ihr hättet stärkere Lokomotiven organisieren können. Ich mein, das hätten die Schwarzen auch tun können, aber das Pack ist eben zu faul."

Senhor Ribeira," warf Catarina ein, die den letzten Satz mit angehört hatte als sie Nachschub brachte, „die Schwarzen sind kein Pack!"

Der Angesprochene wollte noch was erwidern, verkniff es sich aber in Anbetracht der Anderen, die seine Ausdrucksweise auch nicht guthießen.

„Wo kann ich den stärkere Loks organisieren? Wir müssen morgen mit unseren dort hin," meinte Filipe mit leicht frustriertem Unterton.

Almeida hob die Augenbraue: „Wieviele Loks wollt Ihr denn haben?"

„Zwei. Zur Sicherheit."

„Quatsch!" Warf Ribeira ein, „die auf Dos Angolares können Euch doch bestimmt die eine oder andere ausleihen."

„Dos Angolares? Die sind doch unten am Wasser ..."

„Und deren Plantagen ziehen sich die Berge rauf, viel steilere Hänge als bei uns. Die Maschinen von denen haben Schmackes!"

„Dos Angolares?" fragte Miguel, der Gehilfe von Alves, „Viel Spaß!"

„Wieso?" Alle sahen ihn erstaunt an.

„Ich hab' da mal gearbeitet. Das sind Halsabschneider!"

***

 

Dos Angolares war von der Küstenstraße, die in den Süden der Insel führte, zu erreichen. Die langen, hell getünchten Gebäude grenzten direkt an die Fahrbahn. Der Zugang war nicht, wie bei vielen anderen Rocas durch ein mehr oder weniger pompöses Tor geschmückt. Eine einfache, leicht ansteigende Straße führte auf das Betriebsgelände. Hinter dem vorderen Gebäude sah man nun eine ganze Reihe weiterer Hallen, parallel angeordnet. Dazwischen gepflasterte Wege, in die die Bahnschienen eingelassen waren, alles menschenleer. Hinter dem letzten Gebäude tat sich eine weite Fläche auf, die Filipe an einen Exerzierplatz erinnerte, umgeben von weiteren Häusern. Der Platz war gefüllt mit Menschen, alles schwarze Arbeiter, die dort dicht an dicht standen, offensichtlich bewacht von Weißen, Peitschen in den Händen und ein geschultertes Gewehr.

Filipe hielt an: Was war hier los? Er stieg aus und betrachtete die Szene.

An der Seite des Platzes war ein kleines Podest errichtet worden, mehrere Weiße standen darauf, vor ihnen auf einem Bock gelegt ein Schwarzer mit entblößtem Oberkörper, heftige Peitschenhiebe ließen ihn aufschreien! Einer der Weißen zählte; nach dem zehnten Hieb wurde der Mann vom Bock gezerrt und in die Menge hinunter gestoßen. Ein Name wurde gerufen, noch einmal. Schergen von der Seite drangen in die Menge vor, an Händen und Füßen trugen sie einen weiteren Schwarzen zum Podest, rissen ihm das Hemd herunter und zwangen ihn auf den Bock. Wieder knallte die Peitsche.

Entsetzt wollte Filipe einschreiten, besann sich in Anbetracht des eindeutigen Kräfteverhältnisses jedoch eines anderen; mit zittriger Stimme fragte er den nächststehenden Schergen nach dem Grund der Versammlung.

„Strafe muss sein," grinste dieser feist, „das ist die einzige Sprache, die die Nigger verstehen."

„Und warum werden die bestraft? Was haben sie getan?"

„Weiß nicht. Wird schon seinen Grund haben. Ungehorsam, ungehöriges Benehmen. Vorhin war einer dran, der war zu blöd den Tisch zu decken: Er hat der Sonhora den Wein übers Kleid geschüttet. Nachher kommt noch einer, der hat während der Arbeit Zuckerrohrschnaps verteilt. Die das Zeug getrunken haben, sind auch noch dran."

„Wegen sowas peitscht ihr hier die Leute aus?"

„Was denn sonst? Ich sag doch, eine andere Sprache verstehen die nicht!"

Filipe dachte an Almeida: Was würde der jetzt denken? Sagen? Sein erster Gedanke wäre bestimmt, dass die Geschundenen in den nächsten Tagen nicht arbeitsfähig wären.

„Aber die Bestraften können doch morgen gar nicht arbeiten. Fehlen die ..."

Der Andere lachte laut: „Und ob die arbeiten können!" unterbrach er Filipe, „dafür werden wir schon sorgen!"

Einen Moment sah Filipe sich das grausame Spiel noch an, dann drehte er sich angewidert ab um sich zum Auto zu begeben.

„Bleibt noch einen Moment," rief der Scherge ihm hinterher, „das Beste kommt noch!"

Filipe blieb stehen, fragend sah er den Mann an: Was sollte da denn noch ‚Das Beste' sein?

„Zum Schluss kommen die Niggernutten dran," wieder lachte er laut, „die kriegen nur fünf Hiebe. Auf die nackte Haut!" Die Vorfreude war ihm ins Gesicht geschrieben, sein Lachen bestialisch.

Wütend warf Filipe die Fahrertür zu, startete. Dann fragte er den Mann noch, wo er die Verwaltung finden könne. Ohne seinen Blick von dem Podest zu nehmen zeigte der in Richtung des Berges.

In der obersten Reihe der Häuser befand sich das Herrenhaus mit den typischen Rundgängen. Daneben mehrere saubere Bauten, hinter denen man gepflegte Gärten sehen konnte; bestimmt die Wohnungen der weißen Führungsschicht. Eines davon war durch ein Schild "Office" überm Eingang als Verwaltung unschwer zu erkennen.

Hier parkte Filipe den Wagen, stieg aus und begab sich zum Eingang. Hinter einem Schreibtisch im Vorraum saß ein junger Mann, weiß, und fragte nach seinem Begehr. Nachdem Filipe sich erklärt hatte, geleitete er ihn nach oben; in einem großen Büro mit Blick über die Gebäude zum Wasser hinaus residierte der Verwalter, Senhor Renato Eduardo Jesus. Ein junger Mann, moderne Kleidung, sportlich, jovialer Eindruck.

„Bitte entschuldigt, dass Ihr noch einen Moment auf Euren Café warten müsst," begrüßte er Filipe, „unser Personal ist noch in der Schulungsversammlung. Oder lieber Kakao?" Er wies ihm einen Platz an einer kleinen Sitzgruppe und nahm ihm gegenüber Platz. „Was kann ich für Euch tun?"

Filipe stellte sich vor und erklärte in aller Ausführlichkeit sein Problem,

„Ach," freute sich Senhor Jesus offensichtlich ehrlich, „Ihr seid der junge Erneuerer von Rio do Ouro. Eure Aktivitäten werden ja auf der ganzen Insel mit Interesse verfolgt; es freut mich, Euch endlich persönlich kennenzulernen. Es versteht sich natürlich von selbst, dass ich Eure Bemühungen unterstütze. Wir sind ja noch nicht in der Ernte, da können wir gerne zwei unserer stärksten Dampfrösser für kurze Zeit entbehren."

Filipe fühlte sich miserabel in seiner Haut. Dieser Senhor Jesus war doch der Initiator dieser ‚Schulungsversammlungen' wie er es nannte. Ihn um einen Gefallen zu bitten konnte ihm den Magen umdrehen. Aber er hatte es angefangen, nun musste er auch da durch.

Jesus interessierte sich ausführlich für Filipes Elektrifizierungpläne, wollte alles genau wissen, zu erwartende Leistungsverbesserung, mögliche Kostenersparnisse, Einfluss auf die Ernte und Verkaufsmengen und so weiter. Es widerstrebte Filipe zwar, diesem Mann alle seine Pläne zu offenbaren. Auf der anderen Seite ließen sich derartige Entwicklungen auf dieser Insel ohnehin nicht geheim halten. er versuchte bei seinen Ausführungen die Vorteile in Bezug auf Einsparung von Arbeitsplätzen besonders hervorzustreichen, in der unbestimmten Hoffnung, dass Vorteile für die Leute der Roca Dos Angolares erwirtschaftet werden könnten falls Senhor Jesus ähnliche Pläne verwirklichen sollte.

Noch während seiner Darstellung klopfte es, eine Bedienstete brachte Café, Kakao und Gebäck; Gästen gegenüber ließen sich die Verantwortlichen von Dos Angolares nicht lumpen. Auch im weiteren Gesprächsverlauf, in dem es nicht nur um Filipes Elektrifizierung ging sondern auch allgemeine Themen angesprochen wurden, offenbarte sich Senhor Jesus als weltoffener und moderner Mensch. Er trat für eine adäquate Bezahlung von Arbeit ein, ein Grundeinkommen müsse auch für die Schwarzen ermöglicht werden, mit dem sie den Konsum ankurbeln würden; bei einem freien und ungehinderten Welthandel unabhängig vom Mutterland Portugal würde Sao Tome dabei langsam aber sicher einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung hinbekommen!

Filipe war baff! Wie vertrat sich das denn mit den Grausamkeiten, die er bei seiner Ankunft gesehen hatte?

Darauf angesprochen - sie waren inzwischen bei der dritten Tasse Kakao und die schwarze Bedienung im adretten Dress musste einen Weinbrand dazu bringen - begann Jesus einen längeren Monolog über wirtschaftsliberale Verhältnisse, die hier erst erreicht werden müssten, über Veränderungen im Bewusstsein der Menschen, Schwarzen wie Weißen, den freien Welthandel ohne politische Schranken und so weiter. Zwischendurch betonte er immer wieder, wie sehr er Schritte der Art wie Filipe sie in die Wege geleitet hatte, befürwortete. Derartiges sei die richtige Richtung um eine zurückgebliebene Kolonie in die Moderne zu führen. Es hörte sich für dessen Ohren alles schlüssig an, aber von Ökonomie hatte er keine Ahnung, und auch wenn sie zwischenzeitlich geradezu ins Philosophieren kamen, konnte er keine eigenen Gedanken dazu kund tun. Er war der Meinung, dass ein derartiger Liberalkapitalismus, so taufte er im Stillen die Theorie von Senhor Jesus, sicherlich Szenen wie die Auspeitschung der Vergangenheit angehören ließen. Reichtum für Alle und Gleichberechtigung würden aber eher nicht zu den Erfolgen gehören; den freien Handel und die Konsumbedingungen der Bevölkerung würden Leute wie Jesus sich bestimmt nicht aus den Händen nehmen lassen.

Trotzdem, die Diskussion mit ihm empfand er als angenehme Abwechslung, und er ertappte sich dabei, wie er die schlimmen Szenen auf dem Exerzierplatz ein wenig in einem anderen Licht betrachtete. Vielleicht hätte er sich auch mal mit Ökologie befassen sollen, und am besten auch noch mit Soziologie. Die Auswirkungen, die seine technischen Erneuerungen mit sich bringen würden, waren ihm in keinster Weise bewusst; er hatte nicht einmal gewusst, dass es derartige geben würde; erst durch die Diskussion mit einem Mann wie Senhor Jesus musste er darauf gestoßen werden!

Draußen im Auto betrachtete er noch versonnen das Treiben hier oben: Die ‚Schulung‘ war offensichtlich beendet, Arbeiter und Arbeiterinnen waren mit allerlei Werkzeug auf dem Weg zu ihren Einsatzstellen; sie bewegten sich hier deutlich schneller als er es von Rio do Ouro und anderen Rocas gewohnt war, manche liefen sogar. Aber in Anbetracht der Schergen, die an jeder Häuserecke standen, war das ja auch zu erklären. Ob das denn ökonomisch war, ging es ihm durch den Kopf. Schließlich mussten die Aufpasser ja auch alle bezahlt werden. Auf Rio do Ouro hatten sie nur sehr wenige Aufpasser, und die waren alle schwarz, wahrscheinlich Forros. Almeida war der Meinung, dass eine derartige Form der Selbstkontrolle billiger sei und genauso effektiv wie Gewalt. Und vor allem nachhaltiger. Nichts störe den Betrieb so sehr wie Unruhen auf Grund von Unzufriedenheiten unter den Arbeitern. In diesem Punkt musste Filipe ihm recht geben, und es dämmerte ihm die Erkenntnis, dass Rocas wie Dos Angolares der Ursprung von ernsthaftem Aufbegehren der Schwarzen sein könnte; diese Roca würde eine Revolte wohl kaum überleben.

Auch während der Heimfahrt musste er immer wieder an Senhor Jesus denken: Liberalkapitalist. Ein in sich schlüssiges Weltbild, in dem es Führer und Geführte gab, Zuckerbrot und Peitsche. Und dabei völlig blind für Schicksal und Leid der Einzelnen. Leistung, wie er sie verstand, sollte belohnt werden, und Faulheit bestraft. Alles musste verdient werden und niemandem wurde etwas geschenkt.

Auch keine Lokomotiven als Leihgabe!

 

Es war schon fortgeschrittener Nachmittag gewesen, als die schwere Maffei der Roca Dos Angolares die beiden neuen Elektrolokomotiven und den Tieflader mit dem Generator im Schritttempo den Berg hinunter geleitet hatten, vom Steindamm zu den Fermentierhallen. Filipe hatte die Maffei abgekoppelt, der farbige Lokführer war sofort wieder zurück gefahren: Er hatte das Signalhorn betätigt, dann war die schwere Lok, gewaltige Rauchfontänen ausstoßend wieder den Berg hinauf geschnauft. Eine der neuen Elektroloks wurde zwecks Aufladung der Akkus die ganze Nacht über an die Ladestation angekoppelt; hier passten die Stecker wenigstens zusammen!

Am nächsten Morgen hatten sich neben Filipe auch Ribeira, Alves mit Miguel und Jose sowie Alfonso eingefunden: Den Beginn des elektrifizierten Zeitalters auf der Roca Rio do Ouro wollten sie sich nicht entgehen lassen. Auch eine immer größer werdende Schar von schwarzen Arbeitern umlagerten die Hallen. Filipe kletterte auf den Führerstand der aufgeladenen Lokomotive und schaute in die erwartungsvolle Menge. Sollte er jetzt was sagen? Eine Rede halten? Seine Überlegungen wurden unterbrochen von zwei Frauen, die sich durch die Menge drängelten: Catarina und Maria, begleitet von den um sie herumspringenden Raposa. Lachend begrüßte er sie und half ihnen hinauf auf den Führerstand: Stolz zeigten sie sich an seiner Seite der Menge, und der Hund setzte sich dekorativ vor die drei.

Aber dann kam noch einer, schon von weitem war seine Ankunft wahrnehmbar: Almeida. Mit Hut und Stiefeln, wie immer, sprang er aus seinem Jeep, die Peitsche in der Hand:

„Na, Mandoza, eine Testfahrt?"

„Geht sofort los." Filipe nahm die beiden Sicherungen und schraubte sie in die dafür vorgesehenen Halterungen, und während er mit dem Hebel die Kontakte herstellte, hörte er Almeida:

„Ich dirigiere Euch. Erst mal ein Stück nach vorn!"

Mit einem kleinen Funkenregen kontakteten die elektrischen Pole. Wie, dirigieren? Er betätigte den Fahrschalter und unter dem Jubel der Anwesenden setzte sich der Koloss langsam in Bewegung.

„Stop!"

Filipe hielt sofort an. Was war los? Irritiert schauten die drei auf dem Führerstand zu Almeida. Der legte grade den Hebel der eben passierte Weich um, die zum Nachbargleis führte, auf dem eine der Dampfloks mit zehn entleerten Kipploren abgestellt war. Die Arbeiter mussten alles, was an Werkzeitkisten und Maschinen herumstand, in die Waggons laden und anschließend sollten so viele wie möglich darauf Platz nehmen.

„Das wird ein Leistungstest," murmelte Filipe, Maria sah ihn an: War da ein Zweifeln in seinem Gesicht? Die beladenen Waggons mit der hinten angehängten Dampflok mochten gut und gerne zusammen vierzig Tonnen wiegen. Aber damit nicht genug. Almeida ließ auch noch den zweiten dort abgestellten Zug beladen und anhängen.

Filipe kletterte auf den schmalen Sims an der Seite seiner Lokomotive und überprüfte die Behälter mit dem Feinsand. Dieser konnte bei Steigungen vor die Antriebsräder abgelassen werden um damit die Reibung zwischen Rad und Schiene zu erhöhen: Alles okay.

Und hoffentlich hielten die Kupplungen und Wagen Chassis, an denen sie verankert waren; die Dinger hatten schon mehrere Jahrzehnte auf dem Buckel!

„Und nun mal den Berg rauf, Ingenieur!"

Vorsichtig setzte Filipe die Maschine in Bewegung; er hatte noch nie so ein Ding gefahren und kannte die Aufgaben nur aus der Betriebsanleitung; die konnte er allerdings inklusive Bauplan und technischen Details im Schlaf runter beten.

Absolute Stille. Nur das tiefe Brummen der beiden Elektromotoren war zu hören und das Stoßen der Räder an den Schienenverbindungen. Catarina und Maria lehnten am hinteren Geländer des Führerstandes, mit sorgenvollen Gesichtern verfolgten sie Filipes Handlungen. Raposa hatte sich neben ihn gestellt, hier mussten sich die Männer unterstützen, und am liebsten hätte er wohl selbst Hand – nein, Pfote angelegt. Die beiden taten nach außen kühl und siegesgewiss, und nach innen? Naja. Ein Ingenieur hat keine Zweifel, und ein Hund erst recht nicht! Ein Engenheiro glaubt an die Technik und seine Berechnungen: Achtzig Tonnen Last bei vier Prozent Steigung. Das musste doch funktionieren!

Langsam beschleunigte er, die Steigung war erreicht, mehr Energie, er ließ den Sand rieseln, hörte das dezente Knirschen wenn die feinen Körnchen zwischen Eisen und Eisen zermalen wurden, die Hälfte war geschafft, noch keine Entwarnung, erst wenn die Lok am Steindamm angekommen war, dürfte der gesamte Zug auf der Steigung sein. Noch mehr Energie, bisher keine Anzeichen von Schwäche, er schaute nach hinten, die unten angehängte Dampflok war jetzt auf der Steigung, und seine E-Lok bog in die Kurve Richtung Krankenhaus ein, souverän schleppte sie den Testzug die Steigung herauf.

Applaus, Jubel, die beiden Frauen fielen ihm um den Hals, beglückwünschten ihn und küssten ihn ab. Raposa saß mit selbstsicher Mine daneben: Hatte hier jemand Zweifel an diesem Team?

Filipe war mehr als ein Stein vom Herzen gefallen, aber selbstsicher grinsend rangierte er den Zug wieder zurück in die Halle.

 

Abends vor Filipes Haus war große Versammlung. Ribeira war der Erste, nachher kamen sogar Silva und Santos um ihn zu beglückwünschen. Almeida rechnete immer wieder vor, dass die beiden Loks vier der alten ersetzen würden, und damit mehr Leistung zur Verfügung stand als zu Zeiten, in denen noch alle Dampfloks einsatzbereit waren. Das Problem der vergammelnden Früchte auf den Sammelstellen in den Plantagen war damit deutlich reduziert.

„Und bei den beiden bleibt's ja wohl nicht?" fragte er in die Runde, nicht klar zu erkennen war, ob der Filipe meinte oder Ribeira, der das Geld genehmigen musste.

„Zuerst müssen wir den Generator aufbauen," fühlte Filipe sich angesprochen, „mit den Windmühlen kann ich nur zwei, maximal drei Loks speisen. Und bei längerer Wildstille gar keine. Wenn alles funktioniert sollen es einmal zehn werden."

Ribeira runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Die Leistunssteigerung würde die Effizienz steigern und damit den wirtschaftlichen Erlös; als Hemmschuh wollte er da nicht auftreten, wie sollte er das dem Patrone gegenüber erklären? Aber wie sollte er ihm zehn neue Loks erklären? Plus Generator!

„Durch die dadurch erreichte erhöhte Anlieferung der Bohnen in den Fermentierhallen werden wir dort Platzprobleme bekommen. Heißt: Wir werden das Buschwerk zwischen den Hallen und den Häusern abholzen und dort neue Hallen bauen."

Fragend sahen ihn die anderen an und Ribeira schwante Böses; schnell kippte er sich das Glas noch einmal voll, leerte es in einem Zug, so konnte er die Fantastereien, die nun sicherlich aufgetischt wurden, besser ertragen.

„Biologisch produzieren unsere Kakaopflanzen immer mehr Erträge dank der hervorragenden Zuchterfolge unseres lieben Alfonso," rezitierte Filipe, „bisher verrotteten viele Früchte an den Bäumen und an den Sammelstellen. Dieser Stau ist nun ja nicht aufgehoben, sondern nur verlagert. In die Fermentierhallen. Also muss dort die Leistung nach oben angepasst werden. Und damit der Stau nicht in die Trocknung verschoben wird, müssen wir auch dort besser werden. Ist doch logisch, oder?"

„Die wollt Ihr dann auch elektrisch bewerkstelligen?" fragte Almeida interessiert.

„Aber sagt jetzt nicht, dass das nur mit einem zweite Generator geht," warf Ribeira kritisch ein.

„Weiß nicht. Zuerst müssen wir herausfinden, ob das Aroma bei elektrischer Trocknung leidet. Ich plädiere eher für erweiterte Trocknungen an der Luft."

„Dann brauchen wir aber mehr Arbeiter, die die Bohnen wenden."

„Durch die Elektrifizierung können wir an den Zügen etwa zwanzig Leute freistellen, in den Fermentierhallen sicherlich auch einige."

„Aber in der Ernte brauchen wir mehr. Zwanzig Waggons sollen schließlich in der gleichen Zeit beladen werden wir vorher zehn."

"Nicht zwingend. Es müssen nur so viele zusätzliche Arbeiter in die Plantagen, dass die komplette Ernte sichergestellt ist, nichts an den Bäumen vergammelt und alles eingeladen werden kann."

„Wann habt Ihr denn den Generator aufgebaut und wann kommen die nächsten Loks?" wollte Almeida mit hochgezogener Augenbraue wissen.

„In etwa zwei bis vier Wochen, hoffe ich. Aber erst mal kommt nur eine weitere Lok."

„Dann sind wir schon in der Ernte," gab Almeida zu bedenken.

„Ich brauch nicht viele Leute zum Aufbau und den Betrieb des Generators."

„Nur eine neue Lok?" fragte Alves erstaunt, „ich denke Ihr wolltet acht weitere haben."

„Ja, irgendwann mal. Was nützen uns zehn E-Loks, wenn wir nicht eine ausreichende Zahl an Waggons haben? Ich habe erstmal zwanzig neue, größere Waggons bestellt ..."

„Was?" Ribeira wollte aufspringen. „Davon weiß ich ja gar nichts! Zwanzig große Waggons?"

„Dann wisst Ihr es jetzt ..."

„Mandoza! So geht das nicht! Wie soll ich das denn vertreten?"

„Dafür gibts ja auch erst mal nur eine weitere Lok, Ribeira: Die neuen Loks lohnen sich nur, wenn sie auch ausgelastet werden. Zwanzig große Waggons und drei neue E-Loks erhöhen unsere Transportkapazität um vierzig Prozent. Wenn Alves nicht zu viele der alten Dampfrösser reparieren muss."

„Wir reparieren, so schnell wir können!" protestierte der, "aber zaubern können wir auch nicht!"

„Schon gut, Alves, war doch nicht als Kritik gemeint, Ich weiss, dass die alten Dinger rott sind."

„Vierzig Prozent mehr Transport," sinnierte Almeida, „das ist mehr als der Abraum der Halden, die jetzt an den Sammelstellen vergammeln."

„Stimmt. Der Abraum dürfte etwa zwanzig Prozent in Anspruch nehmen."

„Bleiben zwanzig Prozent mehr Ernteleistung und vierzig Prozent mehr Arbeit in den Fermentierhallen." kritisch sah Almeida seinen Ingenieur an. „Da reichen die paar Leute, die Ihr aus den alten Loks freisetzt aber nicht aus."

„Wenn die neue Fermentieranlage fertig ist, werden genug Leute frei."

„Und wann ist sie das?"

„Weiß nicht. In einem Jahr vielleicht."

„Das sind zwei Ernten."

„Mit mehr Geld ginge es vielleicht schneller."

„Nix da ‚mehr Geld'!" mischte Ribeira sich wieder ein, „dann müsst Ihr, Almeida, die Hurensöhne eben doch mal in den Hintern treten! Dann müssen sie ein Jahr lang mal lernen, was richtige Arbeit ist!"

Der Angesprochene wollte was erwidern, aber Silva war schneller „Vielleicht könnt Ihr ja auch neue Leute einstellen."

„Neue Leute?" Auf keinen Fall," bestimmte Ribeira, „neue Technik und trotzdem mehr Leute? Ausgeschlossen!"

„Und woher auch?" meinte Almeida, „von den Fischern? Oder den Forros? Die werden mir was husten!"

„Macht denen klar, dass sie mehr arbeiten müssen! Ich muss dem Patrone schließlich auch klar machen, dass er 300 000 Escudos ausgeben soll!"

„Der hat dann aber auch 40% mehr Ertrag!"

„Vielleicht könnte man die Arbeiter am Ertrag beteiligen," schlug Silva vor.

„Wie denn? Mit Geld? Damit sie mehr Palmwein und Zuckerrohrschnaps kaufen können?"

„Das ist Wehrkraftzersetzung!" schimpfte Ribeira, „Die werden nicht beteiligt! Schließlich bezahlen sie die neuen Maschinen auch nicht!"

„Ribeira, wir sind hier nicht beim Militär," grummelte Almeida, „aber im Prinzip ist da was dran: Besoffene Arbeiter kann ich nicht gebrauchen."

„Ihr könntet ja der Kirche einen Obolus zukommen lassen ..."

„Santos! Hier geht es nicht ums Geldverteilen! Hier geht es um die Arbeitsmoral unserer Leute! Schließlich solle die um vierzig Prozent mehr ran!"

„Jede Art von Moral ist bei unserem Herrn in guten Händen. Der Weg ins Himmelreich ist ein steiniger auf Erden, das wisst Ihr doch. Ich werde es den Arbeitern nochmals predigen."

„Euer Bemühen in allen Ehren, Santos, aber die kommen leider nicht in Eure Predigt!"

„Vielleicht liegt es daran, dass Ihr kein gottesfürchtiges Vorbild seid, Almeida!"

„Man könnte einen Teil des Gewinns in bessere Wohnungen, Hygiene, vielleicht sogar eine Schule investieren," unterbrach Silva den wenig weiterführenden Disput. Er wusste ja, das der Sacerdoten immer seinen Senf beitragen musste, sei es noch so unsinnig und an den Haaren herbeigezogen, aber darauf hatte er nun wirklich keine Lust mehr.

„Hm." Almeida schien seine Idee wenigstens nicht sofort zu verwerfen, „ich soll ihnen also sagen, sie müssen zwei oder drei Ernten richtig viel arbeiten und dafür bekommen sie dann neuen Anstrich, Dusche und Wasserklo in jede Wohnung."

„Könnte man doch wenigstens versuchen," stimmte Filipe zu.

„Das könnte auch der Anfang der Verstromung von Fäkalien sein," freute sich Silva.

„Ich weiß, Doktor, Euer Lieblingsprojekt. Aber Silva, ganz ehrlich: Ich kann denen jetzt nicht noch tausend Schweine dazu aufbürden!"

„Nicht jetzt, aber vielleicht später. Aber wichtig ist doch, dass die Hygiene verbessert wird."

„Den ersten Probelauf mit den Schweinen praktizieren wir grade hinten in unserem Garten,“ warf Filipe grinsend ein.

„Und?“ wollte Silva wissen, „mit Erfolg?“

„Bis jetzt ja. Sie gedeihen prächtig. Mit Eurem Piperazin nehmen sie deutlich besser an Gewicht auf als deren Kollegen unten in den Gärten.“

„Na, das ist doch schön zu hören. Wir müssen ja nicht gleich auf tausend Schweine erweitern, hundert reichen doch auch erst mal.“

„Die leben dann alle in Euerm Garten,“ feixte Ribeira zu Filipe.

„Quatsch! Unten bei den Gärten der Contrados und bei den Hütten der Tongas ist doch Platz genug. Die müssen nur ein wenig zusammenrücken,“ schlug Silva vor. „Und da können dann auch die Bottiche hin, in denen die Fäkalien vergoren werden.“

„Gute Idee,“ stimmte Ribeira zu, „dann stinkt es hier oben wenigstens nicht so.“

„Bevor ich hierher kam," mischte Jose sich ein, „war ich in Angola als Soldat. Wir wollten den Eingeborenen da was Gutes tun und haben neben einem halb verrotteten Runddorf aus Stroh neue Steinhäuser gebaut, mit Wellblechdach. Und was meint Ihr, was die gemacht haben? Die haben das Wellblech abgebaut, daraus eine Hütte gebaut um darin zu leben. In das Steinhaus haben sie die Ziegen getrieben."

„Dazu musst du aber auch sagen, dass unsere Einheit das Dorf vorher angegriffen und zerstört hat. Die Leute da waren von unseren guten Absichten nicht wirklich überzeugt," korrigierte Miguel seine Aussage.

„Ihr wart früher in einer Einheit in Angola?" fragte Filipe interessiert, „und dann seid ihr gemeinsam hierher?"

„Einmal Afrika, immer Afrika! Das lässt einen nicht mehr los."

„Naja, wir reißen ihnen ja nicht die alten Häuser weg, wir verbessern sie nur," ließ Silva sich nicht ablenken.

„Und was ist mit den Tongas dahinter? Die leben doch noch in Wellblechhütten und so."

„Denen stellen wir dann eben Wellblechpaläste hin,“ spottete Ribeira, „mit 'nem Loch zum Scheißen drin."

„Ich werde dran arbeiten," brummte Almeida und ließ es offen, ob er die renovierten Wohnungen meinte oder die Wellblechpaläste.

Nachdem die Runde sich nach und nach aufgelöst hatte, begab Filipe sich nach oben. Maria hatte ihm ein Bad bereitet, heiß mit viel Dampf im Raum. Sie entkleidete sich und stieg zu ihm in die Wanne; mit Schwamm und Bürste verwöhnten sie sich gegenseitig.

„Es wird Probleme geben," meinte er nach einer Weile, „ich bin für die technischen Zustände hier verantwortlich. Ich denke, dass ich da einige Verbesserungen bewirken konnte. Aber die Folgen habe ich nicht bedacht."

„Ihr habt draußen über verstärkte Arbeitsbelastung gesprochen. Ist es das, was dich bedrückt?"

„Die neuen Maschinen müssen ausgelastet werden. In vier Wochen haben wir uns so verbessert, dass alle Früchte geerntet und die Bohnen in die Fermentierhallen gebracht werden können. Auch die kleineren Kakaofrüchte, die bis jetzt einfach am Baum hängen blieben. Aber die passen nicht alle in die Fermentierwannen, das hatte ich nicht bedacht, und das ist mein Fehler. Ich werde noch diese Woche mit dem Bau neuer Wannen anfangen. Aber ein viel größeres Problem ist es, genügend Arbeitskräfte zu finden, die das alles bewältigen: Wir werden etwa vierzig Prozent mehr Früchte haben."

„Die Organisation der Arbeit ist doch nicht deine Aufgabe, da soll sich Almeida was einfallen lassen."

„Ich weiß. Ihm fällt bestimmt auch was ein, aber ich fürchte, dass Dir und Deinen Leuten das nicht gefällt."

Maria schwieg. Almeida war, verglichen mit den Verwaltern auf anderen Rocas ein Mann, der mit den Kräften der Arbeiter verantwortungsvoll umging, das wusste sie. Sie wusste aber auch, dass die bestmögliche Aufrechterhaltung des Betriebes sein oberstes Ziel war, und um das zu erreichen konnte er auch hart durchgreifen. Einen Leerlauf der neuen Maschinen wird er nicht dulden, da war sie sich sicher.

„Die Männer können aber nicht mehr als arbeiten," sagte sie schließlich leise.

„Ich weiß. Komm, lass uns ins Bett gehen."

Sie trockneten sich gegenseitig ab, dann bat sie Filipe, sich bäuchlings aufs Bett zu legen. Sie setzte sich auf ihn und begann seinen Rücken zu kneten.

„Du bist verspannt. Du musst lockerer werden."

„Er wird ihnen alles abverlangen. - Er wird die zehn bis vierzehnjährigen Kinder engagieren, die Frauen auch. - Alle Frauen."

Maria küsste seinen Rücken: „Kannst du das nicht verhindern?"

„Wie denn? Durch meine Verbesserungen ist er doch erst in diese Situation gekommen."

„Glaubst du, dass er Catharina und mich auch haben will?"

„Vielleicht. Sicherlich eine von euch."

„Wenn es nur für eine Ernte ist, wäre das ja sicher zu machen." Zärtlich strichelte sie seinen Hintern.

„Würdest du das tun? Ich will das aber nicht!"

„Vielleicht kannst du es aber nicht ändern. Und ich kann es erst recht nicht. Dreh dich mal um."

„Es ist wahrscheinlich für zwei oder drei Ernten, eben so lange, bis ich die automatische Fermentierung fertig habe," erklärte er während er ihrer Aufforderung folgte, „wir wollen durchsetzen, dass die Hälfte des Mehrerlöses in Verbesserungen der Häuser investiert wird, neue Farbe, Dusche, Toilette und so."

Nachdenklich setzte sie sich wieder auf ihn, schloss die Augen, sie wusste nicht, ob sie sich wirklich über diese Verbesserungen freuen sollte, und sie wollte auch nicht mehr darüber nachdenken; die Welt vergessend gab sie sich den erotischen Genüssen hin.

 

Schon früh begab Filipe sich nach unten zu den Fermentierhallen, wo auch die neuen Loks abgestellt waren. Er trommelte eine Gruppe von Männern zusammen, die die alten Lokomotiven kannten und begann einen Kurzlehrgang zur Bedienung der neuen E-Loks. Er erklärte auch Grundsätzliches über Strom, auf keinen Fall blanken Kabeln und deren Verbindungen zu nahe kommen! Bei Problemen immer erst den Strom aus oder die Sicherung raus, und so weiter. Die Männer waren noch nicht zu einer Probefahrt gekommen, da erschütterte lautes, immer näher kommendes Rattern die Hallen. Filipe musste seine Stimme erheben, damit die Männer ihn noch verstanden, und schließlich tätigte er doch einen Blick vor die Tür um die Ursache der Störung festzustellen: Eine Planierraupe war dabei das Buschwerk neben den Hallen fortzuräumen. Laut schreinende Schweine und Ziegen flüchteten aus ihrem Refugium, die vorbeikommenden Arbeiter blieben stehen, einige hatte sich hier eines dieser, nach Filipes Meinung recht unwirtschaftlichen Gärtchen angelegt, weil die Tiere immer einen Weg fanden, durch die Absperrungen aus Holzstöcken zu kommen. Trotzdem, die Wut war den Leuten ins Gesicht geschrieben. Dann hörte er das Knattern von Almeidas Jeep; in einer Staubwolke hielt er an, sprang aus dem Wagen und wollte zur Raupe gehen. Die wütende Gesichter der Zuschauer hielten ihn auf, er ging zu den Männern und gab eine längere Erklärung ab, dann schickte er sie fort zur Arbeit.

Filipe hatte jetzt keine Zeit sich darum zu kümmern, aber er ahnte den Grund von Almeidas Aktivitäten. Gegen Mittag war er fertig, alle Männer hatten eine Probefahrt gemacht und schienen mit der Bedienung der neuen Maschinen keine Probleme zu haben. Draußen betrachtete er dann die Verwüstungen. Almeida war nicht mehr da, die Raupe hatte ein etwa 50x50m großes Areal gerodet, Wurzeln und Buschwerk war an der hinteren Seite zusammengeschoben. Ein Bagger begann nun von der Seite her das Erdreich auszugraben; zuerst wurde es auf einen Haufen geworfen, als aber zwei Lastwagen heran tuckerten, wurden diese damit beladen um das Erdreich irgendwohin abzutransportieren.

Die neuen Fermentierbecken!

Verdammt, hätte Almeida das nicht auch etwas sensibler machen können?

Noch während er darüber nachdachte vernahm er wieder das Knattern des Jeeps, langsam kam es näher, Stimmengewirr, Geschrei, dann sah er sie: Eine größere Gruppe von Männern, Frauen und Jugendlichen beiderlei Geschlechts kamen über den breiten Trampelpfad von den Hütten der Tongas her entlang auf den Aushub zu, dahinter Almeida im Jeep. Er fuhr auf den Erdhaufen neben dem Bagger, stieg aus und kletterte auf die Motorhaube. Mit der Peitsche in der Hand erhob er das Wort:

„Männer, Frauen! Ich will nicht lange drum herum reden. Wir, dass heißt diese Roca, ist in einer schwierigen Situation, in der jede helfende Hand gebraucht wird. Ich habe euch von anderen Tätigkeiten fortgeholt, die jetzt warten müssen. Ihr seid hier die Arbeiter, die Tongas. Ihr habt zu tun, was ich anordne. Ist das klar?"

Ein murrendes Murmeln ging durch die Reihen.

„Ist das klar!!!?"

Zustimmendes Murmeln. Was sollten sie denn auch sonst sagen, ‚nein'?

„Na, dann ist ja gut. Hier muss ein neues Fermentierbecken her. Leider mussten wir dafür einige eurer Gärten beseitigen. Wer einen solchen verloren hat, soll sich in den nächsten Tagen bei mir melden, er bekommt einen anderen. Klar?"

Wieder Murmeln

„Wenn das Becken ausgehoben ist, wird es planiert. Dann muss ein Dach darüber gebaut werden, und natürlich Seitenwände. Ich lasse das notwendige Material herfahren, ihr könnt selbst entscheiden, wer was macht, ihr habt von jetzt an vier Wochen Zeit. Ich werde den Fortgang täglich kontrollieren und Mängel benennen, die ihr dann beseitigen müsst. Klar? Die neue Halle muss von beiden Seiten mit der Bahn befahrbar sein," fuhr er fort ohne ein erneutes Gemurmel abzuwarten, „damit die Bohnen in die Wanne gebracht werden können; na, wie in den alten Hallen eben. Klar? Deswegen werdet ihr heute und sofort damit beginnen, einen entsprechend breiten Streifen des Pflasters hier zu entfernen, damit dort Schienen verlegt werden können; und da hinten muss eine stabile Trasse her."

Mit der Peitsche zeigte er, wo er die Gleisführung und die Trasse haben wollte, und Filipe nahm sich vor, ebenfalls regelmäßig zu kontrollieren, damit auch die notwendige Stabilität erreicht wurde!

„Diese Arbeiten sind allen anderen vorzuziehen," fuhr Almeida fort, „ihr fangt mit Sonnenaufgang an und hört bei Sonnenuntergang auf. Ich habe mit euch fünfundzwanzig Männer und Frauen ausgewählt. Ich werde das jeden Tag nachzählen und eure Gesichter kontrollieren, klar?" – „Noch Fragen?" – „Dann holt euer Werkzeug und fangt an, ich warte hier!"

Während die Leute wieder zurück zu ihren Hütten gingen oder sonst wo hin um Werkzeug zu holen, begannen sie zunehmend lauter zu diskutieren. Almeida war wieder in seinen Wagen gestiegen, Filipe kam auf ihn zu, erst jetzt wurde er ihn gewahr.

„Glaubt Ihr, dass das so funktioniert?" fragte er ihn.

„Ich muss es glauben. Ihr könnt ja auch ab und zu einen Blick drauf werfen, so als Ingenieur. Es ist ja nicht für die Ewigkeit sondern nur ein Provisorium bis Ihr Eure automatische Fermentierung entwickelt habt."

„Und warum habt Ihr das mit den Gärten und den Ziegen darin nicht etwas diplomatischer gemacht?"

Er sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an: „Mensch Mandoza, im Moment ist keine Zeit für Diplomatie! In zwei Wochen fängt die Ernte an, und ich will die vergammelnden Früchte dann nicht hier vor den Hallen sehen!"

„War mein Fehler, nicht wahr? Hätte eher an die Fermentierung denken müssen."

„Stimmt. Aber macht Euch keinen Kopf, keiner hat alle Termine und Eventualitäten im Kopf, es ist wie es ist."

Schon nach kurzer Zeit kamen die ersten Arbeiter mit Hacken, Spaten, Schubkarren und anderem Werkzeug zurück. In kleinen Grüppchen besprachen sie sich, schritten das Gelände ab, setzten Markierungspunkte, und die ersten begannen die Pflastersteine aus der Straßenoberfläche zu holen.

„Wenn ihr die Raupe oder den Bagger braucht," rief Almeida ihnen noch zu, „dann sagt den Männern auf den Maschinen, was sie tun sollen, sie stehen euch in den kommenden vier Wochen zur Verfügung!"

Dann deutete er Filipe einzusteigen, startete den Motor und brauste zum Damm hinauf.

 

Wie immer hatten Catarina und Maria den Tisch zum Abendessen köstlich gedeckt, Obst, gebratenes Hühnchen, getrocknete Matabalafrüchte, Tomatendip und dergleichen.

„Ihr habt die Gärten an den Hallen weggemacht," fragte Catarina nach den ersten Bissen, nein, sie stellte es fest mit fragendem Untertton, der eine Antwort auf das warum verlangte.

„Almeida hat es angeordnet um die neuen Fermentierhallen dorthin bauen zu können," antwortete Filipe kauend.

„Ist nicht gut," bemerkte Maria ohne aufzusehen. Filipe war klar, dass die beiden sich schon über dieses Thema unterhalten hatten und wahrscheinlich mehr wussten als er.

„Ich weiß. Die Leute waren nicht begeistert. Aber sie kriegen ja neue Gärten."

„Filipe," Catarina ließ die Gabel sinken und sah ihn an: „Erstens wächst in neuen Gärten noch nichts was man jetzt ernten könnte. Zweitens hat Almeida das den Tongas versprochen. Er hat aber die Gärten der Contrados wegmachen lassen. Von Tongas!"

Filipe blieb der Bissen im Hals stecken. „Scheiße!" entfuhr es ihm.

„Das kann man so nennen," stimmte Maria ihm zu.

„Und jetzt?"

„Die Leute haben kein Gemüse zum Essen, sie sind stinksauer auf die Tongas, die haben ihre Gärten nämlich noch."

„Ich werde morgen sofort in die Stadt fahren und für jeden Tag eine Ladung Gemüse ordern. Und die Contrados bekommen natürlich auch neue Gärten."

„Das ist lieb gemeint, Filipe," antwortete sie, „aber wir Contrados sind stolze Menschen. Sie werden das geschenkte Gemüse nicht nehmen. Und: Wo willst du denn das Land hernehmen, auf denen die neuen Gärten entstehen sollen? Freies Land ist doch nur oben hinter der Kapelle oder hinter den Gärten der Tongas, beides viel zu weit weg. Das werden sie nicht annehmen, schon gar nicht das hinter den Tongagärten."

Filipe war der Appetit vergangen. Sowas hätte Almeida doch wissen müssen!

„Mist! Ich muss darüber nachdenken." Und nach einer Weile des Schweigens: „Was würdet ihr denn an meiner Stelle tun?"

„Ich denke, du kannst das Gemüse ja mal kaufen," schlug Catarina vor, „ich könnte es in den Laden bringen und sagen, Maria und ich hätten es hinten aus den Gärten der Weißen. Wir als Contrados würden es anderes Contrados zur Verfügung stellen. Ihr Weißen müsstet deswegen auf das meiste Gemüse verzichten. Dann sieht es ein bisschen danach aus, dass die Weißen bestraft würde für die Rodung."

„Neue Gärten werden sie sich selbst irgendwo suchen," fuhr Maria fort, „es wird etwas dauern, und neues Gemüse ist ja auch nicht gleich zum Ernten da, aber sie werden schon nicht verhungern."

„Das größte Problem ist nicht das fehlende Gemüse sondern die - die - Selbstverständlichkeit, mit der Almeida die Gärten der Leute zerstören ließ, ohne darüber mit ihnen zu sprechen. Und dann auch noch von Tongas," ergänzte Catarina.

„Ich würde die beiden Gruppen jetzt nicht zusammen arbeiten lassen, das gibt bestimmt Streit."

„Ich werde es Almeida sagen," murmelte Filipe und er war nicht überzeugt, dass dieser derartige Bedenken in seine Planungen einfließen ließ.

Maria schenkte Wein nach: „Und jetzt iss auf! Wenn ihr euch nachher draußen trefft, kannst du das ja mal besprechen."

 

Während Filipe den Aufbau und Testbetrieb des Generators leitete und überwachte, ging er immer zwischendurch zur Baustelle der neuen Fermentierhalle; wenn er diese und die Schienenverlegung schon nicht geplant hatte, so wollte er doch ein Auge auf die Stabilität haben. Und er musste zugeben, dass die Tongas geschickte Arbeiter waren. Manches hätte er anders gemacht, aber das, was sich da langsam herausbildete, schien funktional zu sein. Ein paar Jahre würde das schon halten und damit seine Aufgabe als Übergangslösung erfüllen.

Bei seinen Besuchen traf er oft auf Almeida. Sie besprachen die Arbeiten, den Fortschritt beim Anschluss des Generators, der nun schon beheizt wurde und den ersten Strom ins Netz einspeiste. Über seine Pläne über die bald anstehenden Ernteeinsätze sagte Almeida jedoch nichts. Immer öfter kam auch Alfonso dazu oder einige ältere und damit erfahrene Arbeiter. Gemeinsam begaben sie sich in die Plantagen um den Reifegrad der Früchte zu kontrollieren.

Und dann war es wohl soweit: Filipe saß mit seinen Frauen noch beim Frühstück, als er Almeida zum Damm hinunter fahren hörte. Kurze Zeit später gab es Stimmengewirr, rufen, Kommandos. Filipe, begleitet von den neugierig gewordenen beiden Frauen, begab auf die Straße um nachzusehen. Auf dem Steindamm versammelten sich immer mehr Arbeiter und Arbeiterinnen, viele Jugendliche waren auch darunter. Zum Schluss kam Almeida im Jeep, begleitet von mehreren der Reiter. Eines musste man diesem Mann lassen: Er hatte Mut. Offensichtlich war er als einziger Weißer, nur begleitet von seinen Forroschergen zu Pferd, durch jedes einzelne der Häuser gegangen und hatte alle Menschen, die ihm arbeitsfähig erschienen, zum Damm geordert. Und das, obwohl er vor nur zwei Wochen mit der Rodung der Gärten für erhebliche Missstimmung gegen ihn gesorgt hatte!

Hier hielt er nun seine Ansprache, auf der Kühlerhabe stehend und mit der Peitsche ununterbrochen auf deine Stiefel schlagend. Was er sagte, war nicht zu verstehen, Filipe konnte es sich aber denken.

Anschließend ging es offensichtlich um die Arbeitsaufteilung. Es wurden kleine Grüppchen gebildet, hauptsächlich aus Männern oder Frauen bestehend, nur selten gemischt. In einer Gruppe erkannte Filipe die Lokführer, hier waren die Spezialisten versammelt, die bestimmte Aufgaben zu erledigen hatten. Der ganze Vorgang ging unspektakulär über die Bühne, war ja wahrscheinlich ein Ritual vor jeder Ernte. Einzige Besonderheit: Es waren deutlich mehr Frauen und Jugendliche darunter.

„Uns beide hat er noch nicht eingeteilt," flüsterte Catarina als hätte sie Angst, Almeida könnte sie hören und dieses als gute Idee betrachten.

„Warte ab. Wenn die neuen Waggons da sind, braucht er noch mal zwanzig Prozent mehr."

„Du hättest die Sachen ja auch erst später bestellen können!"

„Ich weiß, war dumm von mir. Ich hätte erst die automatische Fermentierung bauen müssen!"

„Nun lass uns erst mal fertig Frühstücken," drängelte Maria, „der Kaffee wird kalt!"

 

Noch vor Sonnenaufgang wurde Filipe durch das Geknatter von Almeidas Jeeps aus dem Schlaf gerissen. Auch Maria, die ihm in dieser Nacht Gesellschaft geleistet hatte, saß senkrecht auf der Matratze. Hastig sprangen sie in die Kleider, Catarina war noch mit Kaffee kochen beschäftigt. Als sie vor die Tür traten sahen sie im matten Dämmerlicht emsiges Treiben auf dem Damm und auf der hinunter führenden Rampe. Unter heftigem Schnaufen und stiebendem Funkenflug arbeitete sich ein Zug dort hinauf, in der Dunkelheit war das ein beeindruckendes Schauspiel. Auf dem Damm standen zwei weitere Züge bereit, die mit Material beladen wurden, bestückt mit den neuen E-Loks und deutlich länger als der andere. Anschließend kletterten die Arbeiter auf die Waggons. Jedem Zug folgte einer der Reiter, der Aufpasser!

„Wann lässt der die den anfangen?" fragte Maria erstaunt, „ist doch noch tiefe Nacht!"

Mit Kopfschütteln ging Filipe wieder rein: „Hoffentlich übertreibt er es nicht," murmelte er, ging nach oben um sich anzuziehen.

Als sie beim Frühstück saßen wagten sich die ersten Sonnenstrahlen durch die Palmen im Garten. „Jetzt sind die schon in den Plantagen," meinte Filipe zwischen zwei Bissen, „das ist auch der Sinn der Sache: Sie sollen mit dem Pflücken anfangen sobald es hell genug ist."

„Und dann hören sie erst auf, wenn es wieder dunkel ist," bemerkte Maria.

„Die meisten werden da oben übernachten, machen sie ja sonst auch immer."

„Wer macht denen denn das Essen, wenn Almeida die Frauen alle mit in die Plantagen geschickt hat?"

„Vermutlich die Alten, Gebrechlichen. Die müsse dann eben für viele kochen."

Schweigend aßen sie weiter, allen dreien war bewusst, dass mit solchen Anforderungen an die Arbeiter die Ernte noch nie begonnen hatte. Filipe fragte sich, wie das auf den anderen Rocas gehandhabt wurde: Ob da der Maschinenpark auch so marode war, sodass der hundertfünfzigprozentige Einsatz der Arbeitskräfte gar nicht möglich war? Oder hatten die schon früher immer wieder modernisiert? Aber elektrische Anlagen hatte Filipe noch nirgendwo gesehen, und auch nicht davon gehört. Vielleicht hatte Almeida sich seine humane Einstellung nur leisten können, weil sowieso nicht alle Kakaobohnen verarbeitet werden konnten? Mit dem neuen Fuhrpark war es erstmals möglich, dass sich Alfonsos Zuchterfolge auch in der Erntetonnage niederschlugen. Nur er als Ingenieur hatte es versäumt, die Weiterverarbeitung richtig zu organisieren!

Kaum war er mit dem Frühstück fertig begab er sich zusammen mit Raposa ins Arbeitszimmer um an der automatischen Fermentierung zu arbeiten. Er mochte es, wenn der Hund neben ihm lag während er arbeitete, seine ruhige und treue Art brachte seine Gedanken in einen gemächlichen Fluss, was seiner Effizienz durchaus förderlich war. Er nahm sich vor, jetzt auch immer mit Sonnenaufgang anzufangen. Maria und Catarina trug er auf, die Hausarbeit liegen zu lassen und den von ihm vorverfassten Schriftkram ins Saubere zu bringen, hier hatte ja nur Ribeira einen Schreiber, Pedro, und Filipe war heilfroh, den Frauen Lesen und Schreiben beigebracht zu haben. Schon früher hatten sie ihm diese lästigen Arbeiten gelegentlich abgenommen, weil er keine Lust dazu hatte. Nun aber waren sie in dieser Angelegenheit eine echte Hilfe. Filipe begab sich inzwischen runter in die Werkstatt von Alves, mit dem er gemeinsam an den Plänen der Fermentieranlage arbeitete.

Die beiden waren dann auch fast die Letzten, die zur abendlichen Runde kamen. Zu Beginn der Ernte war das Treffen immer besonders interessant für die Weißen: Sie konnten erfahren, wie es voran ging, wie die Stimmung unter den Arbeitern war, ob alle Vorbereitungen richtig getroffen waren, und dergleichen mehr. Filipe und Alves waren immer noch in eine Diskussion über irgend ein technisches Problem vertieft; sie saßen auch an der Seite, und Maria hatte ihnen noch gekochtes Kaninchen mit Matabala Chips und Brot gebracht. Und natürlich Wein; sie hatten noch nicht zu abend gegessen. Als letzter kam Almeida; es war schon richtig dunkel. Er war bis zu seinem Haus gefahren und stieß umgehend zur Runde dazu, sogar die Peitsche brachte er mit. Seine Laune, das war unverkennbar, war alles andere als gut.

"Na, Almeida, haben die Nigger nicht genug gepflückt?" wurde er von Ribeira begrüßt, aber der Angesprochene antwortete nicht sondern setzte sich gleich zu Alves und Filipe als er sie essen sah.

„Hast du für mich auch noch was davon?" fragte er Maria, „ich hab noch nichts gegessen. Und ein Bier!"

„Wawoll! Oder lieber gleich zwei, Senhor?"

„Gute Idee. Kommt gut, wenn man so verschwitzt von der Arbeit kommt."

„Das kommst du doch immer," feixte Maria, „und die Knochen gibst du aber dem Hund!“ Dann verschwand sie im Haus; erstaunt sah Filipe ihr nach: Seit wann duzte sie Almeida denn?

Er ließ den Mann erst mal sein Bier runter stürzen und ein paar Happen essen. Nachdem Almeida auch Raposa bedacht hatte wollte er wissen, was los war.

„Sieht man mir das an?" wunderte Almeida sich kauend, „die Tongas drangsalieren die Contrados. Also, sie versuchen es zumindest"

„Wie ‚drangsalieren'? Haben die Streit miteinander?" Plötzlich war es ganz still am Tisch.

„Zwei der Aufseher, beide Forros, haben eine kleinere Gruppe von Contrados angetrieben. Waren wohl etwas zu langsam. Die größere Gruppe von Tongas hat dann mitgemischt, geschubst, sogar mit Stöcken nach ihnen geschlagen."

„Scheiße! Und die Contrados? Was haben die gemacht? Sich gewehrt oder was?"

„Was sollen die schon machen? Sie haben ja nicht mal Macheten, die Tongas überlassen denen nur das Schleppen und Beladen. Da ist eine strenge Hierarchie. Ist ja auch okay, hat ja immer ganz gut funktioniert. "

„Wusste ich auch nicht," warf Alfonso vom anderen Tischende ein.

„Was wusstet Ihr nicht?" fragte ihn Ribeira, „das es funktioniert hat? Dass bei denen was funktioniert, ist auch in der Tat ein Wunder!"

„Nun haltet Euch doch mal mit Euren unpassenden Bemerkungen zurück, Ribeira!" Almeida war echt genervt. „Jedenfalls haben sich die zwei Forroaufseher nicht eingemischt. Sie haben auf ihren Pferden sitzend zugesehen, wie die Tongas die Contrados mit Stöcken und Ruten in die Plantagen getrieben haben. Die sind unter die Bäume und ins Gebüsch geflüchtet, und so weiter. Diese Scharmützel haben den ganzen Tag angehalten, mit dem Erfolg, dass sie allesamt ihre Arbeit nicht fertig gekriegt haben. Die Forros haben sie gezwungen, im Dunkeln weitermachen, was die Wut der Tongas noch gesteigert hat. Sind gefallen, gestolpert und was weiß ich nicht alles noch. Schlicht: Noch beschissener konnte es kaum anfangen!"

„Ist denn da was dran, dass die Contrados nicht richtig gearbeitete hatten?"

"Bisher sind die Tongas so noch nie auf die Contrados los. Das ist doch Rache wegen der Gärten!"

„Was für Gärten denn?" wollte Ribeira wissen; Almeida erzählte die Geschichte, aber als dem Buchhalter klar wurde, dass es sich um einen Streit unter den Schwarzen handelte, hörte er nicht mehr weiter zu. „Ich hab denen allen ordentlich ins Gewissen geredet," beendete Almeida seine Ausführungen, „ich hoffe, dass das nicht mehr vorkommt."

Er hatte sich nun seinen Ärger von der Seele geschimpft, hatte gegessen und sein Bier, da ging es ihm auch schon besser. „Aber dann habe ich noch eine ganz schlechte Nachricht für euch alle," sprach er nun die ganze Runde an, „ab übermorgen brauch ich alle Gehilfen und Gehilfinnen aus euren Haushalten."

Allgemeine Empörung! Maria, die mit bei Filipe am Tisch saß, erschrak.

„Keine Sorge," versuchte er sie zu beruhigen, „ich lasse euch nicht mit den anderen aus den Häusern arbeiten. Ihr alle kommt in einen extra Arbeitstrupp in der neuen Fermentierhalle. Außer euch arbeitet da niemand, und wenn es doch nötig sein sollte, achte ich drauf, dass es Tongas sind."

„Und wer macht uns den Haushalt?" „Essen kochen?" „Almeida, das ist unmöglich!" ...

„Mich betrifft es genauso," entgegnete er, „einen Kaffee und ne Schnitte Brot werdet ihr doch wohl noch hinkriegen. Und abends sind die Mädchen und Euer Schreiber, Ribeira, ja wieder da."

„Pedro? Almeida! Den brauch ich täglich!"

„Er kann ja abends schreiben. Tagsüber müsst Ihr das erledigen."

„Du schickst uns in die Fermentierhalle, um die Bohnen dort rein zu bringen und zu bearbeiten?" fragte Maria

„Genau. Keine Aufseher, keine allzu schwere Arbeit. Höchstens für Pedro" setzte er in Richtung Ribeira hinzu.

Die Stimmung war im Eimer, schweigend saßen sie vor ihren Gläsern und nippten nur noch oder gossen sich den Rebensaft ordentlich hinter die Kehle, wie Rebeira oder auch Jose, der ja gar nicht betroffen war: als Alves' Gehilfe stand ihm gar keine Haushaltshilfe zu. Nur Raposa schien noch gute Laune zu haben, schwanzwedelnd lief er von einem zum anderen und ließ sich kraulen. Oder wollte er die Stimmung der Menschen durch seine unbekümmerte Art etwas aufhellen?

Nachher saßen Catarina, Maria und Filipe noch in der Diele bei einem letzten Gläschen. Die Frauen hatten Sorge, dass er ohne sie mit Haushalt, Garten und Kochen nicht zurecht käme. Er dagegen verbat ihnen, nach der Arbeit in dieser Richtung auch nur irgendetwas zu unternehmen, er könne schließlich auch einen Besen schwingen und ein Stück Fleisch braten!

 

Am übernächsten Abend waren Santos und Ribeira die ersten, die zur Runde eintrafen. Sie setzten sich, und warteten.

„Die Weiber sind wohl noch nicht da," bemerkte der Buchhalter nach einer Weile, „mal sehen."

Er stand auf, ging ins Haus und rief: Nichts.

„Wenn die sich mal nicht verdrückt haben auf dem Weg von den Hallen hierher!"

„Ich finde das auch merkwürdig," stimmte Santos ihm zu, „ist Eure Hilfe denn schon da? Meine ist es bestimmt, ich habe angeordnet, dass sie pünktlich zurück sein muss."

„Meine ist noch nicht da, Pedro auch nicht. Ich habe denen klar gemacht, dass die Bummelei jetzt vorbei ist. Aber die beide Flittchen - verzeiht, Hochwürden, die beiden Mädchen hier haben ja nichts auszustehen und nur Sonderrechte. Unser junger Freund lässt die doch nicht bis in die Dunkelheit schuften!"

„Wenigstens hätten sie heute morgen vor der Arbeit Wein und Gläser rausstellen können."

„Ihr wisst nicht zufällig, wo der Wein hier steht?"

„Ribeira! Du sollst nicht begehren deines Nächsten Eigentum!"

Der Gescholtene schnaubte. „Dann hol ich eben eine Flasche von mir!"

Immer noch vor sich hin grummelnd stand er auf und trottete rüber zu seinem Haus. Mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern kam er zurück. Es war schon fast vollkommen dunkel, als vom Steindamm her die Gruppe junger Frauen herauf kam um sich nach und nach in den Häusern der Weißen zu verteilen.

„Ach, da kommen sie ja," begrüßte Ribeira Maria und Catarina , die nicht in adretten Schürzchen daher kamen wie sonst immer, sondern in einfacher Arbeitskleidung, „jetzt werden wir endlich bedient!"

Catarina sagte nichts, Maria blieb kurz stehen, schüttelte nur kurz mit dem Kopf und folgte ihrer Schwester dann in die Küche. Sie schmierten sich Brote mit dem Messer, was Filipe offensichtlich bei dieser Tätigkeit hatte liegegelassen, tranken etwas und Maria holte noch Obst aus dem Schrank. Inzwischen war auch Filipe gekommen, Catarina wollte ihm ein Brot bereiten, er nahm ihr aber die Utensilien aus der Hand um das selbst zu erledigen. Zu dritt lehnten sie in der Küche an der Anrichte und aßen.

„Wie war es denn?" wollte Filipe wissen.

„Naja, schon etwas anstrengender als hier," antwortete Catarina kauend, „das Kippen der Loren ist ja nicht so einfach."

„Nach der Ernte habt ihr dann ordentlich Muckis," scherzte er, und Maria drohte ihm scherzhaft mit der Faust: „Pass auf du, die haben wir jetzt auch schon!"

„Wir Frauen haben das gut durchorganisiert," fuhr Catarina fort, „vier von uns haben die Loren gekippt, dann waren die meisten Bohnen ja schon draußen, vier weitere sind in die Wagen geklettert um die Reste noch rauszuschaufeln. Die anderen fingen schon mal damit an, alles in die Wannen zu schieben. Nach einer guten Stunde konnte dein Lokführer wieder in die Plantagen fahren."

„Warum habt ihr das Kippen denn nicht den Männern überlassen?"

Die beiden lachten: „Es war ja nur einer in unserer Gruppe, Pedro, der Schreiber."

„Ja, und?"

„Der kann ja vielleicht schreiben ...." wieder lachten sie los.

„Wir haben ihn nachher eingeteilt, die Blätter, Dreck und sowas zur Seite zu fegen, damit davon nicht so viel in das Becken kommt."

„Aber das ist schon was, die Wagen zu leeren, die Bohnen in die Wannen zu schieben und dann mit den Stangen zu rühren, das geht auf die Knochen!"

„Dann muss ich heute Nacht ja euch beide massieren," grinste er.

„Gute Idee, mein Lieber, aber bitte nicht so feste."

Draußen waren inzwischen noch andere angekommen, Alves kam herein und lugte durch die Küchentür: „Na, wo bleibt ihr denn?"

„Meint Ihr uns oder den fehlenden Wein?" grinste Filipe

„Euch. Den Wein hat Ribeira diesmal spendiert. Eine Flache hatte er da für den Sacerdoten und sich stehen. Wir haben uns natürlich auch bedient, und da war die Flasche leer. Wohl oder übel musste er noch mal rüber."

Die anderen grinsten, geschah ihm recht, diesem Geizkragen. Die drei hatten aufgegessen und kamen mit Alves nach draußen. Auch Almeida hatte soeben seinen Jeep abgestellt und kam auf die Gruppe zu.

„Ja! Jetzt ein frisches Bier," freute er sich und ließ sich in den Sessel fallen.

„Steht in der Küche, rechts in der Kammer," bemerkte Maria lapidar, „kannst mir auch noch eine Flasche Wein mitbringen."

Alles erstarrte. Dass Maria manchmal eine freche Klappe hatte, daran hatten sie sich ja schon gewöhnt. Dass ein Weißer sich nun selbst bedienen sollte, nun gut. Aber dass der nun einer Schwarzen Wein bringen sollte, das hätte woanders Peitschenhiebe gesetzt! und überhaupt: Seit wann durften die Schwarzen Wein trinken?! Dass das in Filipes Haus üblich war, wussten die anderen ja nicht.

Almeida starrte sie an, es verschlug ihm die Sprache. Aber dann prustete er los und begann schließlich schallend zu lachen während er aufstand und in die Küche marschierte. Er kam mit Bier und Wein zurück, ging um den Tisch, gekonnt schenkte er Maria das Glas voll: 2Ist so recht, Senhorita?"

Die prostete ihm zu: „Senhor Almeida, an Euch ist ein Spitzenkellner verloren gegangen." Allgemein erleichtertes aufatmen, nur Ribeira verstand offensichtlich die Welt nicht mehr.

Er und Santos waren die ersten gewesen und nun auch die letzten; alle anderen mussten früh raus. Ribeira klagte zwar immer wieder, dass er nun ohne Pedro vor Arbeit kaum in den Schlaf kommen würde, was ihn aber nicht abhielt mit Santos noch die angebrochene Flasche zu leeren. Dass er nebenbei auch noch das Leid des armen Jungen beklagte, der jetzt noch bis tief in die Nacht schreiben müsse, hatte nur noch spöttische Bemerkungen provoziert: Seit wann war ein Schwarzer bei Ribeira ein armer Junge!?

 

Eine Woche waren Maria und Catarina nun schon bei der Fermentierung beschäftigt, sie waren abends doch ziemlich erschöpft, und die anderen hatten sich daran gewöhnt, nicht mehr bedient zu werden. Sonntags war nach wie vor frei, aber die Frauen berichteten immer wieder von Befürchtungen der anderen Arbeiter, dass dieser Tag auch noch als Arbeitstag herangezogen werden sollte. Ihre Gruppe war selbstorganisiert, sie hatte keinen Aufpasser, jedenfalls nicht direkt. Dass Almeida unauffällig ihre Leistungen überwachte, war ihnen schon klar. Aber Catarina und insbesondere Maria hatten bei ihm ein Stein im Brett, ihre aufmüpfige Art gefiel ihm offensichtlich, solange sie die Arbeitsabläufe nicht störte. Und das tat sie ganz offensichtlich nicht. Im Gegenteil, sie entwickelte eine gewisse Sensibilität für die Notwendigkeiten, die sich auf ihre Schwester übertrug. Die beiden bildeten offensichtlich das Führungsduo in ihrer Gruppe, und hatten einen positiven Einfluss auf die Arbeitsmoral dort: Die angelieferten Bohnen mussten bearbeitet werden. Wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit damit fertig waren, gingen sie schon nach Hause, was durchaus böse Blicke der Arbeiter aus den anderen Gruppen provozierte. Aber wenn sie es nicht geschafft hatten, beeilten sie sich am nächsten Tag um so mehr. Besonders beeindruckt war Almeida, als Catarina am Samstag nachmittags zu ihm kam; er dachte erst schon: ‚Warum arbeitete die nicht? Krank?' Aber sie bat ihn um Fackeln oder anderes Licht, ihre Gruppe hätte beschlossen, vor den freien Sonntag noch liegengebliebene Arbeit zu erledigen.

Andererseits waren die Frauen dort inklusive Pedro eine privilegierte Gruppe: Sie alle arbeiteten eigentlich in den Häusern der Weißen und einige hatten somit ein entspannteres Verhältnis zu ihnen, oder auch ein sehr gutes, wie Maria und Catarina. In den anderen Arbeitsgruppen war das wohl nicht so. Immer wieder hörten sie aus den alten Fermentierhallen Geschrei und Peitschenknallen. Die berittenen Forroschergen waren offensichtlich nicht von Solidarität mit den anderen Schwarzen gegen die Weißen beseelt. Aber die standen ja auch unter Druck: Sie waren Almeida Rechenschaft schuldig, und wenn irgendwo etwas nicht funktionierte, stand auch immer die Frage im Raum, ob es nicht an zu sachter Vorgehensweise der Schergen gelegen haben könnte.

In Filipes Haushalt hatte sich herausgestellt, dass die Arbeit dort ohne Probleme deutlich vereinfacht und gleichmäßig aufgeteilt erledigt werden konnte. Es gab zwar manchmal neugierige Fragen, zum Beispiel danach, was das denn wohl sein mochte, was er da in der Pfanne gebraten hatte, und wenn es irgendwie zu zäh war, hatten sie in Raposa einen dankbaren Abnehmer. Sie fühlten sich als gleichberechtigtes Team, jeder hatte dazu bei zu tragen, dass der Tagesablauf reibungslos von statten ging. Und nachts teilten sie stets zu dritt das Bett, was Filipe durchaus als Bereicherung empfand.

 

Es war ein Donnerstag, als Almeida verspätet und offensichtlich genervt zur abendlichen Runde erschien:

„Es gibt Ärger," platzte er raus ohne auf eine Frage der anderen zu warten, „Ärger gleich doppelt! Der bescheuerte Sousa von Fernao Gomes hat die Sonntagsarbeit eingeführt."

„Warum das denn?" wollte Filipe wissen, „haben die auch solche Probleme genug Arbeitskräfte einsetzen zu können?"

„Die Ernte ist überdurchschnittlich gut. Was nicht unbedingt positiv ist, dadurch fallen die Preise. Aber das ist Euer Problem, Ribeira."

Der wollte was sagen, aber Almeida nahm einen Schluck Bier und redete weiter: „Die Leute fanden das naturgemäß nicht gut, es gab Proteste, Arbeitsverweigerung. Was heißt Verweigerung, die haben offensichtlich diskutiert statt zu pflücken. Als die Schergen dazwischen sind, gab es Flucht und Panik, und weg war die Arbeitskolonne. Und such die mal per Pferd in den Plantagen!" Ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht, was Schadenfreude und Verachtung über derartiges Vorgehen zum Ausdruck brachte. „Abends hatten sie die meisten aus der betroffenen Gruppe wieder eingefangen, und - da kann man mal sehen wie bekloppt der Sousa ist - er hat sie öffentlich auspeitschen lassen!"

Betretenes Schweigen, es wäre nicht das erste Mal, dass Unruhen auf der Nachbarroca hierher geschwappt wären.

„Das gab natürlich wütende Proteste, aber Sousa hatte die Leute von De Costa am Rand des Platzes aufmarschieren lassen, und da blieb es natürlich bei verbalem Protest. Ich mein, die Soldaten greifen ja nicht so ohne weiteres ein, aber deren einfache Existenz reicht schon aus. Die Drecksarbeit machen dann die Schergen von Suosa."

„De Costa? Ist der immer noch da?"

„Der hat sich da fest einquartiert, habe ich vernommen. Ich glaube, als er damals hier war, hatte er eigentlich vor, das hier zu tun."

„Zum Glück war die Brücke schon fertig damals," warf Miguel ein, „da konnte er darüber verschwinden. Nach Angola hab' ich eigentlich genug vom Militär."

„Aber ihr habt euch doch freiwillig nach Afrika gemeldet," fragte sein Chef Alves, „habe ich doch richtig in Erinnerung, oder?"

„Das schon, wir wollten ja was sehen von der Welt. Aber nicht unbedingt das Abknallen von Frauen und Kindern." Und auf das betroffene Schweigen setzte er hinzu: „Auf Befehl. Buschkrieg. Jede Attacke von diesen oder jenen kleinen Rebellengruppen wurde blutig gerächt. Spricht kein Mensch drüber."

„War De Costa eigentlich auch in Angola?" wollte Jose wissen.

„Ich glaube schon," meinte Almeida, „wenn ich das richtig verstanden habe, werden hier nur Offiziere eingesetzt, die Erfahrungen aus anderen Kolonien haben."

„Na, das kann ja heiter werden," orakelte Alves.

„Ich hoffe nur," fuhr Almeida fort, „dass unsere Leute so besonnen sind und sich nicht von dem aufbegehrenden Gerede von Fernao Gomes anstecken lassen.“

„Die Schergen da sind Weiße,“ mischte Filipe sich ein, „das könnte die Spannungen noch verstärken.“

„Was meint ihr, wie sich unsere Forros in so einer Situation verhalten würden? Würden sie unsere Arbeiter auch auspeitschen?“ fragte Alves in die Runde.

„Ich habe angeordnet, dass sie die Peitsche nur zur Selbstverteidigung gegen die Arbeiter erheben dürfen,“ erklärte Almeida, „knallen dürfen sie nur in die Luft und auf den Boden!“

"Vielleicht solltet Ihr ein wenig Druck aus der Arbeit nehmen."

"Damit wieder Halden von Kakaofrüchten vergammeln? Kommt nicht in Frage. Es muss doch möglich sein, dass die Leute eine Ernte lang und vielleicht noch eine zweite mal richtig ranklotzen! Tun wir doch schließlich auch. Und am Ende kriegen sie ja auch was ab vom Kuchen."

„Ich habe nicht den Eindruck, dass sie das besonders interessiert," mischte Maria sich ein, „eine Verbesserung der Wohnung und ein Klo mal irgendwann? Das gleicht nicht einmal die schlechten Meinungen wegen der abgerissenen Gärten aus."

„Aber ich kann nicht sofort mit der Renovierung der Häuser anfangen. Erstens rückt der Geizkragen" - er deutete auf Ribeira – „kein Geld raus und zweitens habe ich keine Leute."

„Vielleicht versuchst du das Gemeinschaftsgefühl zu stärken: Wir, unsere Roca, da müssen wir jetzt durch! In unserer Gruppe klappt das ganz gut."

„Da bin ich euch beiden auch sehr dankbar für. Aber so eine Einstellung bei über hundert Leuten herzustellen? Wie soll das gehen?"

„Vielleicht solltest du bei deinen Ansprachen neben deiner Peitsche auch ein wenig Zuckerbrot verteilen. Bei euch gibt es doch den Spruch ‚mit Zuckerbrot und Peitsche', oder?"

Allgemeines Raunen. Wo hatte sie das denn nun schon wieder her, und Filipe grinste in sich hinein.

„Und, wo wir schon mal dabei sind,“ mischte sich nun Catarina ein, „was ist das für eine Geschichte mit den Schweinen? Die Leute erzählen, dass alle Gärten gerodet werden sollen, damit dort große Schweinställe gebaut werden können.“

Schweigen. Sie hatten mal darüber gesprochen, das war richtig. Und Silva hatte vorgeschlagen, die Schweineställe dort zu bauen, wo jetzt Gärten waren. Alle sahen ihn an.

„Ich habe das nicht ausgeplaudert,“ verteidigte er sich, „ich habe nur ab und zu das Problem der Hygiene mit meinen Mädchen erörtert!“

„Ha!“ rief Ribeira, „wenn die Nutten das mal nicht falsch verstanden haben!“

Aber niemand achtete auf ihn, zu ernst war dieser schlummernde weitere Unruheherd.

„Die Leute wollen ihre Schweine behalten,“ erklärte Catarina weiter, „sie wollen nicht die von den Weißen, den Colombas, wie sie sagen. Die würden mit weißem Zauberpulver gefüttert damit sie schneller wachsen.“

„Zauberpulver?“ Silva zeigte sich erstaunt. „Sie meinen bestimmt das Piperazin.“

„Mann, Silva! Warum habt Ihr das denn auch gleich ausgeplaudert!?“

„Ich habe nur die Hygiene erörtert,“ verteidigte er sich erneut, „und das gehört doch dazu! Wir wollen doch nur Verbesserungen!“

Der arme Silva, offensichtlich hatte er es wirklich nur gut gemeint und schon mal erzählt, wie die Lebensbedingungen nach seinen Vorstellungen auch für die Arbeiter verbessert werden könnten.

„Du musst dich besser in die Seelen der Menschen hier einfinden, lieber Doktor,“ meinte Maria dann auch ganz sanft und schenkte sich Wein nach.

„Ich habe die Peitsche noch nie benutzt!" postulierte Almeida in die Runde um wieder das Problem der Nachbar-Roca aufzugreifen, und dann: „Probleme könnte es geben, wenn von Fernão Gomes Rädelsführer, oder wie man die nennen soll, rüber kommen und hier versuchen, Solitarität einzufordern. Wenn das auf fruchtbaren Boden fällt, haben wir ein Problem."

„Dann müsst Ihr alles tun, damit es nicht auf fruchtbaren Boden fällt“, bemerkte Alves am Rande.

„Tu ich ja. Der Sonntag bleibt in jedem Fall frei. Aber wenn irgendjemand von solchen Beeinflussungsversuchen hört, bitte sofort melden. Ich glaube nämlich nicht, dass unsere Leute im Allgemeinen so unzufrieden sind, dass sie sich von sich aus erheben. Allerdings ..."

„Aber du kannst auch nicht behaupten, dass sie zufrieden sind," unterbrach ihn Maria kritisch.

„Dann lass uns alle mal daran arbeiten, wenn der Druck hier raus ist."

„Und was machst du, wenn da doch Arbeitsverweigerungen und Proteste entstehen? Du holst uns doch nicht diese Schlächterschergen, unterstützt von de Costa auf die Roca, Senhor Miguel Almeida?!"

„Die hol ich bestimmt nicht, Maria. Nur ich fürchte, de Costa wird dann von alleine kommen! Aber was ich noch sagen wollte in Bezug auf Zufriedenheit: Mandoza, Euer Strom!"

„Was?"

„Euer Strom. Einige Leute haben ein Problem mit diesen Loks, die so wie von Geisterhand daher fahren. Geisterhand, da sind wir schon beim richtigen Stichwort."

„Aber die sehen doch, dass da nachts ein Kabel dran hängt, mit dem die Akkus aufgeladen werden. Ohne das fährt da keine Lok."

„Eben doch. Wenn die fahren ist das Kabel weg. Holz, das verheizt und verbraucht wird, kann man sehen. Ein Akku sieht immer gleich aus, egal ob er leer oder voll ist. Eine Stlijon von den Contrados verbreitet wohl die Meinung, dass die Kabel was für böse Kräfte sind, oder so ähnlich. Da gab es doch schon mal einen Vorfall, von dem Lopes berichtete. Wenn die Leute da irgendwo Funken fliegen sehen, dann sind da die Geister im Gange.“

„Also, in der Werkstatt setzen wir doch auch elektrische Maschinen ein,“ meinte Alves, „da fliegen beim Schleifen auch mal die Funken. Oder wenn mal ein Kurzer ist, das kennen die doch!“

„Offensichtlich nicht alle – oder sollte da so ein Wichtigtuer hinter stecken, der für seinen eigenen Hokuspokus auch Unruhe in Kauf nimmt?“

Normalerweise war Almeida über solche Herrschaften gut informiert, um das Schamanentum und den Aberglauben hatte er sich aber offensichtlich nicht richtig gekümmert.

„Deswegen werden wir auf keinen Fall die Elektrifizierung zurückfahren," stellte Filipe unmissverständlich klar.

„Natürlich nicht,“ bestätigte Almeida, „vielleicht müsste man im Gespräch mit den Einheimischen immer wieder die Sachverhalte erläutern."

„Da hab' ich auch grade noch Zeit für," murmelte Filipe vor sich hin.

„Aber Elektrizität gibt es doch schon länger hier auf der Insel," meinte Silva erstaunt über derartige Berichte.

„Das schon. Wie Alves ja sagte, in seiner Werkstatt benutzen sie auch Strom. Da leuchtet dann was oder es bewegt sich ein Schleifband, aber nicht sowas Schweres wie ein ganzer Zug, der obendrein noch doppelt so lang ist wie die herkömmlichen. Bei der Einführung der Dampfloks hat es bestimmt auch Ablehnung gegeben, aber da schnauft und pufft noch was, und man muss Holz in den Ofen schieben, ein Auto knattert und schluckt Benzin. Aber eine E-Lok sagt nicht einmal was, sie fährt einfach nur, eben wie von Geisterhand. Jedenfalls werden an den Zügen nur noch die Leute eingesetzt, die mit dem Aberglauben nichts am Hut haben!“

 

Am freien Sonntag verbrachten Filipe und seine beiden Frauen den Vormittag im Bett. Es war zur Gewohnheit geworden, dass sie die Nächte zu dritt verbrachten. Zärtlichkeiten und körperliche Wärme sollte ihre Seelen für den anstrengenden Tag stärken, niemand sollte allein schlafen müssen. müssen. Da sie in der Woche oft müde ins Bett fielen, hatten sie beschlossen, den halben Sonntag für diese Zwecke hinzuzunehmen. Auch das Frühstück nahmen sie im Bett ein, das mal von Filip, mal von Catarina oder Maria bereitet wurde.

„Sag mal,“ fragte Catarina im Schneidersitz auf dem Bett hockend und ein Weißbrot mit Marmelade kauend, „denkst du manchmal noch an deine liebe Hortensia?“

Filipe legte Marias Arm von seiner Brust und setzte sich aufrecht hin, sagte erst mal nichts. Und dann: „Ja, manchmal schon. In den ersten Tagen konnte ich sie nicht vergessen, ich habe jeden Tag daran gedacht, wie es ihr wohl gehen mochte. Aber – aber die Zeit heilt alle Wunden, sagt man bei uns. Es ist aber nicht nur die Zeit. Ihr seid meine Familie – und Raposa natürlich auch,“ setzte er lächelnd hinzu, „hier gehöre ich hin. Ein Nebeneinander von Liebe und Familie gibt es nicht, glaube ich. Entweder passt es zusammen oder eben nicht. Das bedeutet nicht, dass ich Hortensia vergessen habe, aber sie gehört nun mal nicht zu meinem Leben. Sie ist ja weg.“

„Glaubst du denn, dass sie zu deinem Leben, zu deiner Familie gehören könnte, wenn sie hier geblieben wäre?“

Filipe überlegte einen Moment, dann meinte er nachdenklich: „Wenn sie bereit gewesen wäre, sich in unsere Familie einzufügen, ich glaube, dann wäre sie eine Bereicherung geworden. Aber natürlich nur dann, wenn auch ihr beide sie in unsere Familie aufgenommen hättet.“

„Du hättest nicht den Wunsch gehabt, die Familie in irgendeiner Art zu wechseln?“

„Auf gar keinen Fall!“ Es kam wie aus der Pistole geschossen.

Maria hatte sich auch hingesetzt, ein schelmisches Grinsen huschte über ihr Gesicht: „Also, ich hätte nichts dagegen gehabt. Ich würde schon gerne wissen, wie eine so völlig anders groß gewordene Frau sich mit dir im Bett vergnügt.“

Die drei mussten lachen. „Hättest du etwa zugeschaut?“ feixte Filipe.

„Na klar! – Aber mal im Ernst: Ich glaube schon, dass wir alle hätten voneinander lernen können.“

„Tja – wahrscheinlich. Aber unsere Welt ist leider so wie sie ist. Und da ist Gleichheit nicht erwünscht. Von einander lernen unter diesen Voraussetzungen erst recht nicht.“

Filipe legte sich wieder hin, es entstand eine längere Pause, in der jeder seinen Gedanken nachhing.

„Ich hätte auch zugeschaut,“ unterbrach Catarina die Stillen und damit auch die nachdenkliche Stimmung, „ich hätte ja auch kontrollieren müssen, ob du uns dreien das hättest zukommen lassen können, das uns zusteht!“

Maria schmunzelte, zärtlich strich sie über seinen Körper: „Ich glaube, das hätte er durchaus gekonnt. Komm, er kann es uns beiden ja noch mal beweisen!“

Kichernd stürzten sie sich auf den überraschten Filipe, aber den Versuchungen dieser Frauen konnte er nicht widerstehen.

Erst am frühen Nachmittag waren sie der Meinung, sich wieder anderen Dingen widmen zu dürfen. Filipe erledigte Arbeiten, die in der Woche liegengeblieben waren. Als Ingenieur hatte er ja nicht nur Pläne zu entwickeln, er musste sich ja auch um die Funktion anderer technischer Geräte und Bauten kümmern. Catarina übernahm in dieser Zeit den lästigen Schriftkram und Maria hatte sich nach den Gesprächen am Donnerstag dazu entschlossen, den Mitgliedern der Forrogemeinschaft die spezielle schwierige Situation der Roca zu erklären und um Solidarität zu werben. Filipe und auch sie selbst befürchteten allerdings, dass diese Bemühungen nicht von großen Erfolgen gekrönt sein würden; ein Forro, der auf eine Tonga hört? Wohl kaum! Aber sie wollte es wenigstens versuchen.

Montags vor Sonnenaufgang ging es dann wieder runter zu den Hallen. Almeida kam jeden Tag vorbei und begutachtete den Weiterbau der Trocknungsfelder hinter der neuen Halle. Und er wollte natürlich auch seinen langen Arm der Autorität demonstrieren. Die Forroschergen zu Pferd kamen meist im Laufe des Vormittags vorbei, offensichtlich hatte Almeida gerade mal so viele dieser Reiter eingesetzt, dass sie immer nur kurz bei den verschiedenen Arbeitsbereichen ihre Peitsche schwingen konnten. Am Dienstag nach der kurzen Mittagspause war irgendetwas anders. Die Frauen plus Pedro hatten in der neuen Halle ihre Arbeit wieder aufgenommen, aber nebenan war es ungewöhnlich still. Dann war zu vernehmen, dass dort ein Mann etwas zu sagen hatte, Almeida? Klang irgendwie nicht so. Maria und Catarina sahen sich an: „Da stimmt was nicht!" Auch die anderen waren aufmerksam geworden, und nach kurzer Beratung beschlossen sie, gemeinsam nachzusehen. Schon draußen war zu hören, dass in der Nachbarhalle jemand eine emotionale Rede hielt, und als sie eintraten, sahen sie mehrere schwarze Männer auf einem der Waggons stehend vor der versammelten Gruppe der Arbeiterinnen: Es war Tiago, ihr Bruder, der da redete! Daneben stand Jorge und noch zwei weitere Männer.

„ ... die Arbeit wird kein Ende nehmen," führte Tiago grade heftig gestikulierend aus, „immer mehr, immer mehr! Ihr werdet sehen, sie werden uns auch noch nachts aus dem Schlaf holen, sie wollen Lampen aufstellen, damit wir Tag und Nacht durcharbeiten sollen! Wollt ihr das? Wollen wir uns das gefallen lassen? Die neuen Maschinen sollten alles einfacher machen, haben sie gesagt. Nichts ist einfacher geworden, im Gegenteil. Der elektrische Strom ist eine Geißel, eine Peitsche, die uns noch mehr antreibt! Auf Fernão Gomes müssen unsere Männer und Frauen schon am heiligen Sonntag schuften. Das wird uns auch blühen! Wir müssen ..."

„Tiago!" rief Catarina empört dazwischen, „was redest du da?! Seit wann ist dir der Sonntag denn heilig?"

Erst jetzt wurde Tiago seine Schwestern gewahr, Maria drängelte sich schon durch die Menge nach vorn, Catarina folgte ihr. Die Männer sprangen vom Waggon und wollten wütend auf die beiden los. Aber, damit hatten sie nicht gerechnet, die Arbeiterinnen stellten sich schützend um sie herum und hoben drohen ihre Arbeitsgeräte, mit denen sie die Bohnen schoben und wendeten.

„Wir haben euch zugehört, jetzt lasst diese Frauen auch reden! Wir wollen hören, was sie uns zu sagen haben!" Zustimmendes Gemurmel.

Maria und Catarina hatten mit dieser Solidarität nicht gerechnet, aber offensichtlich hatte sich der gute Ruf der beiden auch in den anderen Hallen herumgesprochen. Sie kletterten auf den Waggon:

„Frauen!" begann Maria, „bitte bleibt ruhig! Lasst euch nicht aufhetzen, dann wird alles nur noch schlimmer. Es ist wahr, dass wir jetzt noch mehr arbeiten sollen als in den Ernten vorher. Meine Schwester und ich, wir arbeiten normalerweise oben bei den Weißen, wie einige von euch ja auch wissen. Auch wir haben uns bereiterklärt hier mit euch die Arbeit zu erledigen, um euch zu unterstützen. Es ist nur in dieser Ernte so, und vielleicht auch noch in der nächsten. Danach wird es einfacher, das verspreche ich euch. Und danach werden eure Häuser verbessert, verbessert so wie ihr es wünscht! Niemand wird euch den freien Sonntag nehmen, niemand! Also, ich bitte euch, lasst euch nicht aufhetzen! Tiago hat von Fernão Gomes gesprochen. Wisst ihr, was da los ist? Das Militär hat dort eingegriffen! Wollen wir das hier? Wollen wir riskieren, dass die auf uns schießen? Hier ist noch niemand ausgepeitscht worden wie auf anderen Rocas! Ich bitte euch, nehmt eure Arbeit wieder auf. Es ist im Moment schwierig für uns alle, aber das geht vorbei. Bitte!"

Sie sah in die Menge, Raunen, Gerede, sie konnte nicht heraushören, welche Tendenz die Stimmung dort unten signalisierte, aber langsam begaben sich die Arbeiterinnen wieder zu ihren Arbeitsgeräten. Die beiden kletterten vom Waggon, unten am Ausgang standen ihre Brüder, voller Wut sah Tiago sie an, spuckte ihr ins Gesicht: „Dreckige Brancohure!" Marias Rechte klatschte mit einer Wucht gegen seine Wange, dass es ihn beinahe zu Boden gerissen hätte, und er hatte sich noch nicht gefangen, da folgte Catarinas Linke auf die andere Backe.

Während Maria wie eine Furie mit ihrem Stab in den Bohnen rührte rollten ihr Tränen übers Gesicht, Catarina ging es nicht anders; andere Frauen versuchten sie zu beruhigen, indem sie den beiden übers Haar strichen.

Am fortgeschrittenen Nachmittag waren die angelieferten Bohnen verarbeitet. Eigentlich hätte der nächste Transport schon da sein müssen, war er aber nicht. Die Frauen saßen zusammen auf den Kisten, besorgte Gesichter, sie waren alle einer Meinung mit Marias Ansprache. Schließlich begaben sie sich nach draußen, auch in die anderen Hallen waren keine neuen Bohnen geliefert worden, und so entschied Maria schließlich, dass sie nach Hause gehen sollten, wobei es ihr schwer fiel, ihre Ängste und Sorgen nicht nach außen dringen zu lassen.

Die ersten hundert Meter demonstrativ ruhig, als sie allein waren rannten sie in aller Hast nach oben. Auf dem ganzen Gelände war niemand zu sehen, kein Zug, keine Arbeiter, keine Schergen auf Pferden, gespenstige Ruhe!

Almeida war nicht zu hause, Filipe auch nicht. Inzwischen war Pedro auch angekommen, gemeinsam gingen sie rüber zu Ribeira, riefen nach ihm, er stand am Fenster seines Büros und starrte hinaus.

„Was ist los, Ribeira?" prustete Maria hervor, „was ist hier los?"

Er drehte sich um, sah die drei an: „Ich weiß es nicht. Pedro, du bleibst hier, und ihr Mädels geht am besten zu Mandoza rüber und haltet euch still. Ich weiß nicht, was los ist." Seine Stimme war ungewöhnlich sanft und besorgt, besorgt offensichtlich auch um die Sicherheit der beiden Schwestern.

„Aber wir können doch nicht tatenlos hier rumsitzen! Wir - wir -"

„Was willst du den tun? In die Plantagen laufen und was auch immer suchen? Geht bitte zu Mandoza und verlasst das Haus nicht solange er oder Almeida nicht zurück sind. Ich glaube, das ist das Sicherste für euch."

Ratlos standen sie noch eine Weile herum, dann folgten sie Ribeiras Rat. Catarina machte in der Küche Essen für sie beide, während Maria unruhig in der Diele auf und ab lief. Nachher aßen sie erst mal was, das sah auch Maria ein, sie hatte keinen Appetit, aber sie brauchte ihre Kräfte.

Es war schon lange dunkel, als sie den Jeep von Almeida vorfahren hörten, Hufgetrappel, ein Pferd wieherte. Hastig stürmten sie hinaus: Almeida, daneben Filipe, auf dem Rücksitz Alves und seine Gesellen, acht Forroschergen auf ihren Pferden waren auch mitgekommen. Die beiden Frauen liefen auf Filipe zu und fielen ihm um den Hals, anschließend wurde in ihrer Erleichterung auch Almeida bedacht, der die Küsse auf die Wangen offensichtlich amüsiert zur Kenntnis nahm. Dann bat er um ausreichend Tische, Stühle und für sich ein Bier. Die Sicherheit, mit der er auftrat, übertrug sich auf die anderen. Das Gewünschte war schnell gebracht, auch Wein und Gläser, Ribeira hatte es ebenfalls nicht in seinem Haus gehalten.

„Ich weiß nicht, wer von euch welchen Wissensstand hat," begann Almeida nachdem er das Bier ex geleert hatte, „der Lokführer des Zuges aus Plantage VII, das ist die hinter der Brücke, ihr wisst, die nach Fernão Gomes rüber, hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass da oben auf VII etwas nicht stimme. Sein Zug war zwar beladen, neue Bohnen würden aber nicht gebracht und die Pflücker wären alle verschwunden. Diese gottverdammte Roca da hinten! Ich hab die Jungs" - er deutete auf die anderen Weißen – „zusammengetrommelt, hinterm Krankenhaus haben wir uns einen Zug geschnappt und sind da hoch gefahren. Alle Reiter, die wir unterwegs getroffen haben, hatten zu folgen. Zuerst haben wir die Gleise und den Weg nach Fernão Gomes gesperrt, keiner durfte von denen zu uns rüber, habt ihr gut gemacht, Jungs," lobte er seine Reiter, und das bedeutete, dass tatsächlich Versuche unternommen worden waren, von dort hierher zu kommen. „Ich weiß nicht warum, aber es war schon eine Handvoll Leute von dort hierher gekommen, wir haben sie unweit der Grenze an der letzten Verladestelle gefunden. Einer von drüben hielt eine Ansprache, so laut, dass sie sich dadurch auch verraten haben." Sein kurzes, spöttisches Grinsen huschte übers Gesicht. „Es ging um Solidarität mit den Geschundenen von Fernão Gomes, um die Gemeinsamkeit der Contrados und Tongas, und so weiter. Ich habe den Mann natürlich nicht ausreden lassen, sondern unmissverständlich klar gemacht, dass er und seine Leute dort unverzüglich zu verschwinden hätten. Was sie dann auch getan haben." Zufrieden schaute er in die Runde und nahm noch einen ordentlichen Schluck vom neu gebrachten Bier.

„Er hat einmal in die Luft geschossen und einmal auf die Kiste, auf der der Typ stand," erklärte Alves, „dann haben unsere Reiter die Versammlung umzingelt und ihre Peitschen knallen lassen."

Die Frauen sahen sich an: Sie hatten nicht gewusst, dass Almeida bewaffnet war! „Ich hab es auch nicht gewusst," flüsterte Filipe auf Marias fragenden Blick, es war ihm sofort klar, was in ihnen vorging.

„Unseren Männern habe ich unsere Situation erläutert. Ich habe auch ordentlich Zuckerbrot verteilt," setzte er mit Blick auf Maria hinzu, „ich habe sie gebeten - ja, gebeten! - ihre begonnenen Arbeiten noch zu beenden und ihnen für den Rest des Tages frei gegeben. Fand ich sehr großzügig von mir," lobte er sich noch selbst. „Ich dachte, damit das Problem gelöst zu haben, aber irgendwas stimmte noch nicht: Auch an den anderen Verladestellen, Plantage VI diesseits der Brücke zum Beispiel, war kein Mensch. Wir haben in die Pflanzungen gehorcht, unsere Reiter sind ausgeschwärmt um die Pflücker zu suchen, und sie wurden fündig: An zwei weiteren Stellen waren Versammlungen, kein Redner auf einer Kiste, aber heftige Diskussionen. Leute von drüben waren nicht dabei, aber da muss ein Zusammenhang gewesen sein. Ich habe das in ähnlicher Weise beendet wie auf Plantage VII."

„Er hat seine Webley nicht benutzt," warf Alves schnell zu Erläuterung ein, „seine Worte und die Reiter genügten."

„Ich hoffe nur, dass da nicht sowas wie ein Keim gelegt wurde,“ fuhr Almeida fort, „ich hoffe, dass ich die Leute überzeugen konnte."

„Was hast du denn mit den Wortführern gemacht," wollte Catarina wissen, „hast du die bestrafen lassen?"

„Hätte ich das tun sollen? Nein, habe ich nicht. Ich wollte keine Märtyrer. Aber ich habe ihnen ordentlich ins Gewissen geredet, Alternativen von den anderen Rocas aufgezeigt und mir jegliche Form der Wiederholung verbeten."

Die Schwestern sahen sich an, aber dann berichtete Maria von den Geschehnissen in den Hallen, sie empfand es als ihre Pflicht, Almeida davon in Kenntnis zu setzen, auch wenn sie ihre Brüder dabei anschwärzte.

Almeida nickte nachdenklich mit dem Kopf: „Dann ist der Versuch der Revolte tatsächlich bis hier unten vorgedrungen. Dass die von drüben hier Leute gefunden haben, die das aufnehmen und weitertragen, gibt mir zu denken."

„Es sind die Unzufriedenen. Ich weiß, dass Tiago und Jorge unzufrieden sind, sie meinen, dass sie und die anderen ausgebeutet werden."

„Ihr seid eine bemerkenswerte Familie," grinste Almeida, „über euch beide habe ich mich ja schon öfter gewundert, realistische Einschätzungen der Situationen, Verantwortung und so. Und eure Brüder? Die meisten Arbeiter scheinen sich ja nicht ausgebeutet zu fühlen, aber eure Brüder sind da offensichtlich scharfsinniger, denn, ich denke so offen können wir hier unter uns schon sein: Das Prinzip der Rocas beruht schon auf eine Art der Ausbeutung. Wichtig ist nur, wie man damit umgeht und dass man es nicht übertreibt."

Den anderen blieb der Schluck im Hals stecken über diese Ehrlichkeit.

„Es ist wohl eine Frage des Weltbildes, des Menschenbildes,“ fuhr Almeida unbeirrt fort, „ob man soetwas für richtig oder falsch hält. Sind alle Menschen gleich? Bestimmt nicht. Gibt es Führungspersönlichkeiten und solche, die lieber geführt werden? Ich denke ja. Die Führungspersönlichkeiten hier sind wir Weißen. Aber es gibt unter den Forros und Tongas bestimmt auch solche; Unzufriedenheiten werden von diesen zu Aktivitäten genutzt, nicht zum Phlegma, wie bei den Geführten. Aber ein Verantwortungsbewusstsein für die Geführten gehört auch dazu. Daran mangelt es meiner Meinung nach bei vielen meiner Verwalterkollegen."

„Und was hat das mit unseren Brüdern zu tun?" fragte C irgendwie ratlos.

„Eure Brüder versuchen, euer Volk in Richtung eines besseren Lebens zu führen. Euer Engagement hier zeigt auch Führungsqualitäten zum Wohle eines friedlichen Miteinanders, zum Beispiel eure Aktivitäten heute in den Hallen. Leider seid ihr auf verschiedenen Seiten. Das muss aber nicht zwangsläufig Streit bedeuten, wohl Auseinandersetzung. Darin liegt dann aber auch das Potenzial, langsam für beide Seiten verträgliche Lösungen auszuarbeiten."

Schweigen.

„Ich glaube," ergriff Ribeira schließlich das Wort, „Euer philosophischer Exkurs bedarf durchaus noch der einen oder anderen Diskussion."

Almeida lachte: „Könnte sein. Aber wieder in die reale Welt: Wie gehen wir in den kommenden Tagen damit um?"

Eine gewisse Ratlosigkeit spiegelte sich in den Gesichtern der Anwesenden.

„Ihr beide" - Almeida deutete zu Catarina und Maria – „habt die Hallen im Auge, einverstanden?"

Die beiden nickten.

„Die Gleise nach Fernão Gomes stellen wir mit dem Kranwagen zu und verankern ihn dort, damit halten wir uns de Costa vom Hals, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Die beiden Pfade stellen wir mit Stacheldrahtrollen zu; durch den Urwald wird so schnell keiner kommen, schon allein der Schlangen wegen. Um den Kranwagen kümmert Ihr Euch, Mandoza?"

„Ich fahr ihn selbst da rauf."

„Und ihr" - er richtete sich an die Reiter – „habt die Plantagen und Verladestellen im Auge. Jede Unregelmäßigkeit bitte ich mir sofort zu melden. Ich halte mich hauptsächlich hier im Kerngelände auf. Alles klar?"

„Und wenn es Ungemach über den ganz normalen Zugang über die Strasse gibt?" fragte Alves.

„Deswegen bin ich hier unten. Ansonsten bitte keinerlei Provokation, wir setzen zu aller erst auf Deeskalation, klar?"

Allgemein zustimmendes Gemurmel.

„Gut, dann lasst uns noch ein Schlückchen trinken."

Das taten sie denn auch, aber die Stimmung wollte nicht so recht in Schwung kommen. Die Reiter verabschiedeten sich nach einem Glas, und nach und nach trotteten auch die anderen von dannen.

 

Gegen Ende der Woche war der Schreck über die versuchte Revolte vergangen. Weitere Überraschungen hatte es nicht gegeben, vielleicht auch, weil alle sensibilisiert waren, und dieses sich nach und nach auf die anderen Arbeiter übertragen hatte. Von Tiago und Jorge hatten die Schwestern nichts mehr gehört, den Kontakt aber auch nicht gesucht, und so war es unklar, ob sie ihre Versuche der Revolte weiter verfolgten oder nicht. Almeida sorgte sich deswegen schon ein wenig, was er nicht nach außen dringen ließ; unauffällig hielt er immer wieder Ausschau nach den beiden, konnte aber keinerlei Spur entdecken. Er wusste nicht, ob das jetzt die Ruhe vor dem Sturm war, oder ob Ruhe herrschte, innerlich jedenfalls war er stets auf neue Unannehmlichkeiten vorbereitet.

Die kamen dann von ganz anderer, völlig unerwarteten Seite: Es war ein Montag, die Ernte verlief erwartungsgemäß, vereinzeltes Murren, klar, aber das gab es immer. Dementsprechend war die Runde am Abend auch recht entspannt. Und vollständig, Silva und Santos waren auch da. Almeida kam zum Schluss, seinem Gesichtsausdruck musste man nichts mehr hin zufügen. Ribeira verdrehte die Augen: „Was ist denn jetzt schon wieder los? Vergeht denn hier keine Woche ohne irgendeinen Ärger?"

„Nein! Offensichtlich nicht," fauchte der Angesprochene.

„Na los, dann erzählt mal!"

„Jesus war heute Nachmittag hier, ihr wisst, der Verwalter von Dos Angolares."

„Und? Was wollte er?"

„Zwanzig Männer für zwei Wochen."

„Was?"

„Zwanzig Männer! Sagte ich doch!"

„Und - und warum?"

Filipe bekam eine dunkle Ahnung: Die Gegenleistung für die Lokomotive!

„Na los, Mandoza, erzählt es den anderen."

Das tat Filipe denn auch kleinlaut. „Von einer derartigen Gegenleistung war aber nie die Rede," fügte er zur Verteidigung hinzu.

„Von denen kriegt Ihr nichts umsonst," bemerkte Miguel, „sagte ich damals ja schon."

„Besteht denn eine Verpflichtung dem nachzukommen?" mischte Catarina sich ein.

„Es gibt seit eh und je eine ungeschriebene Abmachung, dass die Rocas sich gegenseitig helfen so gut es geht."

„Aber wir können keine zwanzig Männer entbehren," stellte Catarina ganz richtig fest.

„Wie begründet er das Anliegen denn?" wollte Ribeira wissen

„Er hat zu wenig Leute. Die Ernte ist so gut, wissen wir ja auch. Und da kann er einige Männer mehr gut gebrauchen."

„Aber er muss doch wissen, dass wir sie genau deswegen auch gut gebrauchen können!"

„Er sagt, wir hätten ja jetzt so eine moderne Technik, da könnten wir die Leute doch sicher freistellen."

„So ein Arschloch!" entfuhr es Filipe.

„Das könnt Ihr wohl sagen."

„Wahrscheinlich hat er von seinen Leuten so viele krankenhausreif prügeln lassen, dass sie ihm jetzt fehlen," ergänzte Filipe und erzählte dann seine Erlebnisse damals bei seinem Besuch auf Dos Angolares. „Aber verstehen kann ich den trotzdem nicht. Der ist doch ein gebildeter, ruhiger Mann, die Unterhaltung mit ihm war sehr anregend, stand aber in krassem Widerspruch zu den drakonischen Strafen wegen jedem Dreck."

„Der ist ein gebildeter Mann, das stimmt" erklärte Almeida, „ich kenn den ja schon länger. Er hat ein ganz klares und seiner Meinung nach auch gerechtes Weltbild: Er will nichts umsonst und gibt nichts umsonst. Jede Leistung verlangt eine Gegenleistung: Die Dienste einer Lokomotive entspricht seiner Rechnung offensichtlich der Arbeitsleistung von zwanzig Arbeiter zwei Wochen lang."

„Dann ist die Arbeitskraft eines Mannes in seiner Vorstellung aber nicht viel wert," stellte Maria ganz richtig fest.

„Nein. Sonst würde er denen ja auch Geld oder was geben. Er hat mir mal erklärt, wie der Wert von Arbeitskraft zu berechnen sei: Der Lohn sei der regionalen Norm entsprechend festgesetzt, hier ist das Unterkunft und Verpflegung; über Qualität wird dabei nicht gesprochen. In Portugal ist das vieleicht ein Gehalt von fünfhundert Escudos, was weiß ich. Um diesen Lohn zu erwerben, muss der Arbeiter eine Gegenleistung bringen, also seine Arbeitskraft. Um dafür einen Wert zu ermessen, lässt er Einzelne oder Gruppen die erforderliche Arbeit verrichten, also beispielsweise Kakao ernten. Mit der Stoppuhr steht er daneben. Die Gruppe oder der Mann, der am meisten geschafft hat, definiert die Norm, nach der sich alle anderen richten müssen, frei nach dem Motte: Alle Menschen sind gleich, also kann auch jeder die gleiche Leistung erbringen. Heißt: Ein Arbeitstrupp von zehn Männern erntet an einem Tag eine Tonne Bohnen. Für das Ernten einer Tonne Bohnen gibt es also den Standarttageslohn der Region, hier also Unterbringung und Essen."

„Und wenn andere das Soll nicht schaffen?"

„Dann lässt er sie nacharbeiten, Sonntags zum Beispiel, oder ihnen wird das Essen gesperrt."

„Und wenn doch mal einer besser ist?" wollte Ribeira wissen, der Almeidas Ausführungen interessiert zugehört hatte.

„Dann zahlt er tatsächlich Geld aus, kommt selten vor, soll es aber gegeben haben."

"Die Leistung, die die Lok gebracht hat, entspricht also vierhundert Essen und vierhundert Übernachtungen," stellte der Buchhalter nüchtern fest.

„Wie will er das denn errechnet haben," fragte Alves mit zynischem Unterton.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich mit Kosten pro Kilometer, Verschleiß, Holz, was weiß ich. Errechnet hat er es aber bestimmt."

„Also vom Prinzip her doch ein grader, aufrechter Mann," meinte Ribeira, „man weiß immer, wo man dran ist bei ihm."

„Ja, am Arsch!" stellte Maria bitter fest.

„Und warum lässt er die Leute öffentlich auspeitschen?"

„Zur Abschreckung. Wenn einer geklaut hat, ungehorsam war, oder was weiß ich. Ich habe auch schon mal gehört, dass man damit seine Leistungsschuld reduzieren kann. Das entspricht zwar nicht seinem kaufmännischen Prinzip, schließlich erbringt das Auspeitschen ja keinen finanziellen Erlös, der die Schuld ausgleichen könnte. Das heißt, irgendwie vielleicht doch, zumindest wenn Frauen ausgepeitscht werden. Es heißt, dass das dann eine Leistungserbringung an die Schergen sei, die pro Frau soundsoviel weniger Geld bekommen."

Filipe erinnerte sich an die widerlichen Bemerkungen des einen Wachmannes: ‚Wartet noch, das Beste kommt jetzt.' Er hielt das von Almeida beschriebene Gerücht für durchaus wahrheitsgetreu.

Besonders Maria und Catarina waren empört: „Jetzt soll hier bloß keiner auf die Idee kommen, zwanzig Frauen da rüber zu schicken, damit die Schuld schon nach zehn Tagen abgegolten ist. Auch du nicht, Ribeira!"

Der wehrte empört ab, obgleich er sich genau bei dieser Berechnung ertappt hatte.

„Und?" fragte Filipe, „wie wollt Ihr verfahren? Wollt Ihr dem Ansinnen nachkommen?"

„Das tust du nicht!" Maria war aufgesprungen. „Wir wissen hier nicht wie wir unsere Arbeit schaffen sollen! Dann schiebst du dem Arsch keine zwanzig Männer rüber!"

„Ja, ja, es ist ja noch nichts entschieden."

Senhor Miguel Almeida! Unsere Roca geht vor! Als Verwalter hast du gefälligst Eier in der Hose zu haben!"

So hatte noch nie eine Schwarze mit ihm gesprochen und natürlich auch kein Schwarzer; es war ganz klar übergriffig, und Catarina fasste ihrer Schwester an die Hand um sie zum Hinsetzen zu bewegen, Almeida schluckte, gespanntes Schweigen: Wie wird er reagieren?!

„Tut mir leid," kam es leise von Maria in die Stille.

„Entschuldigung angenommen. Ich denke über meine Eier nach."

Erleichtertes Lachen, Miguel sah Filipe von der Seite an: „Mein lieber Schwan, da habt Ihr aber ordentlich was auszustehen, was?"

„Und das gleich in doppelter Ausführung. Aber glaubt mir, da kann ich mithalten!" Wieder allgemeines Gelächter und andere zotige Bemerkungen folgten. Almeida saß ruhig dabei, er überlegte immer noch, ob er so lasch auf diese Bemerkung von Maria reagieren durfte; bei niemandem anders hätte er sich das gefallen lassen. Aber er mochte sie, auch ihre freche Schnauze, und vor allem ihr Engagement: Sie hatte ‚unsere Roca' gesagt, eine offensichtliche Identifizierung mit dem Betrieb, und das als Schwarze. Er nahm sich vor, sie in Zukunft noch mehr in die Verantwortung zu nehmen, damit musste sie nach dieser Äußerung umgehen können.

Das Thema beschäftigte die Gruppe auch noch an den darauffolgenden Tagen. Almeida wusste genau, dass ein Versagen des Ansinnens von Senhor Jesus eine endgültige Isolierung der Roca Rio do Ouro bedeuten würde. Den meisten der anderen Verwaltern war der Umgang hier ohnehin ein Dorn im Auge, sie fanden, dass er viel zu lasch mit seinen Arbeitern umging. Sie belauerten ihn argwöhnisch, und eine solche Gelegenheit, gegen ihn vorzugehen, würde bestimmt genutzt. Die tatsächlichen Zusammenhänge wären dabei vollkommen irrelevant. Konnte er sich das leisten? Was würde der Patrone dazu sagen, er würde sicherlich davon erfahren. Auf der anderen Seite konnte er sich über die Gewinne nicht beklagen. Aber dass diese Roca zu den erfolgreichsten der Insel gehörte, schmälerte die Skepsis der anderen Verwalter in keinster Weise!

„Die anderen haben in erster Linie in Aufpasser und Schergen investiert," erläuterte er den anderen, nachdem das Thema ‚Frauen‘ mal wieder durchgekaut worden war, „Weiße alles, die natürlich richtiges Geld sehen wollen. Wir dagegen in Biologen und Techniker. Unsere Aufpasser sind Forros, Freiberufler sozusagen und nicht bezahlt als Angestellte dieser Roca. Geld nehmen die natürlich auch, aber nicht so viel. Und es sind auch deutlich weniger. Monte Cafè zum Beispiel soll eine kleine Privatarmee haben, und Dos Angolares hat bestimmt eine Hundertschaft. Unsere Forros waren denen schon immer ein Dorn im Auge; dass wir für diese Aufgabe Einheimische beschäftigen, wurde als Schwäche interpretiert. Und mal ehrlich: Einem Aufstand von über hundert mit Macheten bewaffneten Arbeitern, dem hätte wir paar Leutchen nichts entgegenzusetzen. Wir arbeiten deswegen nicht mit Herrschaft und Unterwerfung, sondern mit dem Versuch einer halbwegs sozialen Gerechtigkeit, nahezu kommunistisches Gedankengut in den Augen der anderen. Und jetzt erfahren sie, dass wir hier ein neues technisches Zeitalter einläuten, da können sie nicht so ohne weiteres mithalten: Wer tausende von Escudos in Aufpasser investiert, der kann nicht gleichzeitig neue Lokomotiven und Technik kaufen. Stimmts, Ribeira?"

Der nickte zustimmend, sagte aber nichts. Im Grunde seines Herzens hätte er wohl auch lieber in weiße Schergen investiert.

„Jetzt kommt bei den anderen eine diffuse Sorge dazu, technisch abgehängt zu werden, mit unseren Erträgen nicht mehr mithalten zu können. Das, denke ich, ist zumindest im Moment absoluter Unsinn. Wir wissen alle, was für Schwierigkeiten wir zur Zeit haben. Aber auf lange Sicht ist an der Sorge natürlich was dran. Sie werden versuchen, uns das Leben schwer zu machen."

„Zum Beispiel mit so einer albernen Forderung nach zwanzig Männern," vervollständigte Miguel.

„Genau. Senhor Jesus kann mir nicht erzählen, dass er die unbedingt braucht, jedenfalls nicht so dringend wie wir. Bei denen hat sich ja sonst nichts geändert."

„Wie ich schon sagte: Wahrscheinlich hat er nur mehr Leute arbeitsunfähig prügeln lassen," bemerkte Filipe bitter.

„Kann sein. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir hier auf einer Insel leben ..."

„Naja, das tun wir ja auch. Meines Wissens gibt es nur den Weg übers Wasser hierher," grinste Alves.

Almeida sah ihn schräg von der Seite an, dann fuhr er fort: „Ich kann es nicht so genau beschreiben, aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass sich da was zusammenbraut. Und wir verbarrikadieren uns ja regelrecht, sperren den Weg nach Fernao Gomes, bewachen die Zugänge und so. Die gute Ernte verlangt mehr Arbeit, der Druck auf die Leute wird erhöht, das schafft Unzufriedenheit. Die Arbeitsbereitschaft war vorher schon bis zum Letzten ausgereizt und vielerorts nur durch massiven Druck aufrechtzuerhalten. Ich hoffe nur, dass da nichts überbordet."

Die sorgenvolle Stimmung des Verwalters übertrug sich auf die anderen, ihnen wurde bewusst, dass sie sich um derartige Dinge wie Sicherheit, Fortbestand der Roca in der jetzigen Form und dergleichen nie Gedanken gemacht hatten. Das war Almeidas Problem, und der hatte immer alles fest im Griff. Die eigenen Angelegenheiten, die Schwierigkeiten bei der Erneuerung und Belastungen durch die gute Ernte, da waren sich alle sicher, hätten sie schon irgendwie in den Griff bekommen. Die wirkliche Bedrohung baute sich von außen auf: Harte Vorgehenseisen auf anderen Rocas, Jeseus‘ unsinnige Forderungen, die vielen Schergen, Militär bei jeder Kleinigkeit. Auch die Geschichte mit dem Stromausfall in der Stadt hätte man sicherlich auch ohne Militär lösen können. Das Netz war hier relativ marode, sodass es sicherlich immer mal zu Problemen kam. Filipe war sich sicher, dass Almeida das anders gelöst hätte: Dann war es eben mal dunkel in einer Nacht, na und? Die Angst vor Plünderungen existierte doch eher in den Köpfen der Portugiesen, denn: Wo sollten die Insulaner plündern? Bei den Nachbarn, die auch nichts hatten? Ein paar Rochen und Makrelen bei den Fischern? Die reichen Familien und öffentlichen Gebäude der Verwaltung hatten ohnehin ihre eigenen, bewaffneten Wachen. Er und Almeida hatten sich ja gut aus der Affäre ziehen können, er war sich aber sehr wohl bewusst, dass den Verantwortlichen bekannt war, wie es zum Zusammenbruch des Stromnetzes gekommen war; ein weiterer Punkt, mit dem sich die Roca Rio do Ouro nicht beliebter gemacht hatte. In der nächsten Woche sollte die dritte Lokomotive und die zwanzig großen Waggons kommen. Filipe hatte schon einen Plan entworfen, wie er ohne fremde Hilfe und ohne Beanspruchung der Ladestation am Hafen den Transport zur Roca durchführen konnte: Eine der alten Dampfloks sollte eine ihrer E-Loks zum Hafen schleppen, deren Akkus würden so geschont und deren Leistung nachher hoffentlich reichen, zusammen mit der Dampflok den neuen Fuhrpark durch das gebirgige Gelände zu schleppen. Und, das hätte er fast vergessen, er musste vorher den Kranwagen oben an der Grenze von der Schienen schaffen!

Almeida kam nicht mit zum Hafen, als es soweit war. Am frühen Morgen noch vor Sonnenaufgang fuhr Filipe zusammen mit einem der Lokführer, Martim, auf dem Führerstand mit; die beiden kannten sich ja schon von den Lehrgängen zur Bedienung der neuen Lokomotiven. Nach dem üblichen „guten morgen, Senhor" und „ich hoffe, wir haben eine gute Fahrt" und so weiter packte Filipe sein üppiges Frühstück aus; er hatte extra vieles und leckere Brote mitgenommen um Martim auch anbieten zu können. Der lehnte erst bescheiden ab: „Nein danke, Senhor," aber Filipe ließ nicht locker:

„Nun lass mal das blöde ‚Senhor' weg, Martim, und iss mal was Ordentliches, ich hab extra mehr Brote geschmiert."

Der lachte breit, er mochte Filipes unkomplizierte Art, gab ordentlich Dampf und griff genauso herzhaft zu.

Filipe hatte sich vorgenommen, über ihn ein wenig von der Stimmung unter den Schwarzen zu erfahren, als Lokführer kam er ja auf der ganzen Roca mit vielen Menschen in Kontakt, aber er wusste nicht recht, wie er es anfangen sollte. Auf keinen Fall sollte der Eindruck entstehen, dass er ihn aushorchen wollte, sozusagen als Gegenleistung für das Frühstück. Aber Martim war, wie viele Schwarze, ein redseliger Mensch, und weil sie ja schon öfter zusammen gearbeitet hatten, hatte er auch nicht diese distanzierte Scheu, wie Carlos, der Gärtner.

Senhor," begann er zwischen zwei Bissen, „wie viele dieser neuen Loks wollt Ihr denn noch anschaffen?"

„Am Ende sollen es zehn sein, das wird aber noch dauern. Erst mal ist es mit dieser und den zwanzig Waggons genug. Warum fragst du?"

„Ich finde diese elektrischen Loks ja wirklich gut, viel einfacher, sauberer, und so neue Technik ist ja was für einen Jungen wie mich. Ich habe mir die Motoren schon genauer angesehen, aber ich verstehe sie nicht. Bei diesen Maschinen" - er deutete auf die Hebel der Dampflokomotive – „ist mir das schon klar, wie der Dampf in die Hubkolben kommt und wie die Stangen die Räder bewegen. Aber bei den neuen Loks gibt es ja gar keinen Dampf."

Filipe musste lachen, er war erstaunt, dass sich Martim für die Technik genauer interessierte, aber auf der anderen Seite wusste er von sich auch, dass er schon als kleiner Junge an aller Art Maschinen auf der elterlichen Ageda interessiert war.

„Wenn wir mal ein wenig Zeit haben, werde ich dir das erklären. Strom ist eine unsichtbare Kraft, hat aber nichts mit Geisterkram zu tun."

Martim lachte schallend. „Nein, das habe ich mir schon gedacht. Das habe ich auch versucht, den Alten klar zu machen, die schon den Stlijon beauftragt haben, sich um die Lokomotiven zu kümmern, in denen sie Geister vermuten. Aber Ihr habt uns ja streng verboten, die Maschinen auf zu machen oder nachzusehen, was in den Kabeln ist. Dann hätte ich es vielleicht verständlich machen können."

„Martim, lass bloß die Finger davon! Du stirbst, wenn du einen elektrischen Schlag bekommst!"

„So ein bisschen habe ich ja schon mal geluschert," grinste er, „aber seid unbesorgt, ich habe immer vorher die Sicherungen raus gedreht, wie Ihr es gesagt habt."

„Na, dann ist ja gut, Elektrizität ist kein Zauberkram, ich werde es dir erklären und dann kannst du es den Alten beibringen." Filipe fand das eine gute Idee und ärgerte sich, dass er nicht schon vorher darauf gekommen war. Ihm war durchaus bewusst, dass die von den Abergläubigen hergestellte Verbindung zu irgendwelchen, wahrscheinlich ziemlich bösen Geistern, eine Bedrohung darstellen könnte in Bezug auf die Akzeptanz der neuen Technik.

„Ich glaube, das ist auch bitter nötig," bestätigte Martim Filipes Gedanken, „die Alten haben großen Einfluss auf die Menschen. In den Geschichten, die sie abends den Leuten erzählen, kommen zunehmend funkensprühende Sachen vor, die von den Geistern besetzt sind. Dadurch kriegen die Leute Angst, versteht Ihr?"

„Geschichten? Was sind das denn für Geschichten?"

„Wisst Ihr das nicht? Ihr Weißen habt Bücher in Euren Häusern, in denen ihr Sachen lest, die wichtig sind. Und in der Stadt habe ich mal gesehen, dass da aus großen Blättern mit Bildern drin gelesen wird. Wir Forros können aber nicht lesen, und die Tongas und Contrados auch nicht. Das Wissen wird bei uns durch Erzählen weitergegeben. Kurze Geschichten, lange Geschichten, in denen alles dargestellt wird, was der Erzähler für wichtig hält: Dass beim Nachbarn ein Kind geboren wurde, dass die Ziege den Salat gefressen hat, dass ein Paar sich grade liebt, all sowas. Und natürlich auch von euch Weißen, die kommen meistens nicht so gut weg. Viele dieser Geschichten handeln vom Schlagen. Auch vom Erschlagen. Von der Arbeit, vom Kakao, von Palmwein und Rohrzuckerschnaps. Die Geister spielen immer wieder eine wichtige Rolle, meistens eine gute. Sie besänftigen, sprechen von besseren Zeiten und so. In letzter Zeit sind aber immer öfter die Bösen die Strippenzieher im Hintergrund, immer mit vielen Funken, Feuer und heimlichen Kräften."

Filipe war beeindruckt, das hatte er wirklich nicht gewusst. Catarina und Maria hatten zwar manchmal von Geschichtenerzählern berichtet, aber eher so am Rande, er hatte sich an seine Oma erinnert, die ihm abends ein Märchen erzählte. Die Bedeutung dieser Geschichten war ihm nie bewusst geworden. Und das Martim ein Forro war, hatte er auch nicht gewusst, danach musste er ihn nachher noch mal fragen.

Der sah ihn von der Seite an, ihm war klar, dass er da etwas Wichtiges mitgeteilt hatte, das Filipe irgendwie Sorgen bereitete.

„Kommen in den Geschichten auch die Dinge vor, die uns zur Zeit alle beschäftigen? Die viele Arbeit, die Unruhen auf Fernao Gomes, dass auch die Frauen aus den Häusern der Weißen mithelfen müssen und so?"

„Natürlich," fuhr Martim freimütig fort, „ich weiß nicht genau, was in euren Büchern und Blättern steht, aber ich denke, da wird auch über alles berichtet, was drumherum passiert. So müsst Ihr Euch das mit den Erzählern auch vorstellen."

„Und? Werden die Menschen dadurch beunruhigt?"

„Beunruhigt? Weiß nicht. Sie werden ängstlicher, das stimmt. Sie haben Angst, die geforderte Arbeit nicht machen zu können, dass sie nicht genug Kraft haben. Und dass sie dann bestraft werden. Solche vorübergehenden Ereignisse wie das kaputtmachen der Gärten ist natürlich auch ein Thema gewesen, aber das ist dann wieder vorbei, weil anderes wichtiger ist. Was in letzter Zeit fehlt sind gute Nachrichten, die werden immer seltener. Und wenn dauernd schlechte Nachrichten erzählt werden, wird die Stimmung auch schlechter, also, wie soll ich das sagen, es ist so eine allgemeine Angst, es könnte was Schlimmes passieren."

Diese Stimmung konnte Filipe gut nachvollziehen, ihm ging es da nicht anders.

„Und wie ist das bei dir? Hast du auch dieses Gefühl?"

Martim lachte wieder laut: „Senhor, ich bin ein Forro kann Lokomotiven fahren, da habe ich vor nichts Angst!"

„Du bist ein Forro? Wie kommt es dann, dass du hier mit den Tongas arbeitest?“

„Mir ist das doch egal, ob ich mit Tongas, mit Contrados oder Weißen arbeite. Dieses Getue ‚mit dem darf man und mit dem nicht‘ finde ich albern. Ich werde ausreichend bezahlt wie die anderen Forros, ich habe Frauen und Kinder, was will ich mehr?“

„Dann wohnst du auch da hinten in der Forro Siedlung?“

„Genau wie die anderen.“

Filipe schmunzelte; jetzt war ihm auch klar, warum dieser Mann anders auftrat, als die schwarzen Arbeiter. Er wollte nicht danach fragen, aber wahrscheinlich gab es dann außer den Reitern noch mehr aus seiner Bevölkerungsgruppe, die mit bestimmten Aufgaben hier betraut waren.

Inzwischen hatten sie die Roca Fernao Gomes erreicht. Martim verhandelte mit den Arbeitern dort über die Weiterfahrt, sie mussten warten, bis ein anderer Zug die Strecke freigemacht hatte, dann ging es weiter.

„Hoffentlich denken die nicht, die neue Lok sei kaputt und müsse abgeschleppt werden," orakelte Filipe.

Martim lachte in seiner mitreißenden Art: „Das denken die bestimmt. Mal sehen, was demnächst wieder erzählt wird."

„‘Scheiß Technik' wird erzählt, das weiß ich doch jetzt schon."

Wieder lachte der andere, er war der gleichen Meinung.

„Aber um noch mal auf die Stimmung bei uns zu kommen," knüpfte Filipe an der vorherigen Unterhaltung an, „bei uns gibt es doch gar keine Strafen wie Auspeitschen und so."

„Das nicht, Senhor, und das wissen sie auch zu schätzen. Aber sie haben Angst, dass sie wieder eingeführt werden könnten. Früher gab es das ja, und die meisten können sich noch daran erinnern."

„Auf der Roca Rio do Ouro gab es Auspeitschungen?"

„Aber sicher, Senhor. Bevor Senhor Almeida gekommen ist, war das an der Tagesordnung. Und nicht nur das. Ich erinnere mich, dass Männer, die angeblich nicht schnell genug waren, an den Zug gebunden wurden und hinterher laufen mussten, was sie natürlich nicht immer konnten."

„Was? Und dann wurden sie über den Boden geschleift?"

„Man hat sie unten an den Fermentierhallen an den letzten Wagen gekettet, dann ist der Zug losgefahren. Den Berg rauf zu laufen ging ja für die meisten noch, aber oben wurde er schneller, am Krankenhaus war kaum noch einer auf den Beinen."

Filipe war entsetzt. „Und - und - was haben die anderen dazu gesagt, Silva zum Beispiel, der Doktor?" Was anderes fiel ihm nicht ein.

„Der hat die Verletzten gleich mit in sein Krankenhaus genommen," erwiderte Martim lapidar.

„Und der Lokführer hat das mitgemacht?"

„Was sollte er tun? Die Schergen von Senhor Lopes, Euerm Vorgänger, haben ihm die Pistole an den Kopf gehalten."

Filipe war fassungslos. Das hätte er dem alten Mann nicht zugetraut. Und wieso hatte der überhaupt Schergen? Waren die nicht dem Verwalter untergeben?

„Wer unter den Weißen wem was zu sagen hatte, weiß ich nicht, Senhor, aber Schergen waren überall. Erst unter Senhor Almeida wurden die abgeschafft. Er hat dann Forros als Aufpasser geholt, so sind wir überhaupt hierher gekommen. Forros arbeiten eigentlich nicht für Weiße. Wir sind selbstständige Menschen, die nach eigenen Vorstellungen gegen Bezahlung bestimmte Aufträge übernehmen, natürlich mit den Weißen abgesprochen. Wir Lokführer zum Beispiel fahren die Lokomotiven, sonst nichts. Die Reiter passen auf, niemals würden sie eine Machete in die Hand nehmen um zu ernten. Die weißen Aufpasser sind heute zum Teil heute noch auf anderen Rocas beschäftigt."

Auch davon hatte Filipe nichts gewusst. Nun war Martim wahrscheinlich deutlich älter als seine beiden Frauen, es war schwer zu schätzen. Vielleicht hatten sie die Zeit vor Almeida nicht so richtig mitbekommen. Oder verdrängt. Jedenfalls hatten sie derartiges nie berichtet.

„Solche Erfahrungen werden natürlich nicht vergessen," fuhr Martim fort, „und wenn die Stimmung schlechter wird, kommt auch die Angst auf, die alten Zeiten könnten zurückkehren."

Allmählich wurde Filipe klar, dass eine derartige Stimmung ein guter Nährboden für Leute wie Tiago und Jorge war. Sie hatten versucht, die Leute aufzuwiegeln: Seht, was auf den anderen Rocas los ist, hier wird es auch immer schlimmer, wehrt euch also bevor es zu spät ist. Was ihn allerdings wunderte, dass Catarina und Maria nicht einen gegenteiligen Einfluss auf ihre Brüder ausüben konnten, schließlich erlebten die Schwestern die Verhältnisse hier von einer anderen Seite. Aber deren sicherlich positivere Berichterstattung mochte auch zur Radikalisierung von Tiago und Jorge beigetragen haben, immerhin hatten sie sie wohl als ‚Colomba-Huren' beschimpft, wie Maria erzählt hatte. Das verhieß nichts Gutes in Bezug auf positiver Einflußnahme.

 

Am späteren Vormittag hatten sie die Stadt erreicht, in gemütlichen Tempo ging es rüber zum Hafen: Kein Schiff in Sicht!

Ratlos hielten sie an der Hütte des Hafenkapitäns an.

„Na, wollt Ihr wieder Eure Lokomotive aufladen?" begrüßte er sie skeptisch.

„Keine Sorge, Senhor," erwiderte Filipe und musste insgeheim lachen, obgleich die Angelegenheit für den Hafenkapitän sicherlich nicht lustig gewesen war, „wir erwarten eine neue Lieferung mit der Joao de Santarem. Und diesmal haben wir unsere aufgeladene Lok selbst mitgebracht.

„Die Joao de Santarem? Tjaaa, ich denke morgen früh ist sie da," meinte er mit skeptischem Gesicht, „Sturm! Mit Glück auch schon eher, weiß ich nicht."

Filipe und Martim sahen sich an: Und nun? Unauffällig inspizierte Filipe die Laternen am Kai, ob die wohl auch ein nächtliches Entladen zuließen? Wohl kaum! Zurückfahren und morgen wiederkommen war auch keine Option, also blieb Ihnen nichts anderes übrig als zu warten. Für seinen Begleiter offensichtlich kein Problem, er kletterte auf die E-Lok und legte sich oben auf die Turbinenabdeckung in die Sonne. Filipe dagegen quälten die Gedanken: Die Maschinen und ihrer beider Arbeitskraft würden morgen auf der Roca schmerzlich vermisst werden. Aber was sollte er tun? Er könnte höchstens versuchen, von der Poststelle aus Ribeira anzurufen. Aber eine oder zwei Stunden wollte er noch warten, vielleicht kam das Schiff ja doch eher.

Kam es nicht. Unruhig lief er auf dem Kai auf und ab, schaute beim Beladen eines anderen Zuges mit Waren zu, die dort abgestellt waren, die weißen Männer waren immer noch die gleichen Sklaventreiber, die er auch neulich schon beobachtete hatte. Am frühen Nachmittag rief er Martim von seiner sonnigen Stelle und die beiden trabten in die Stadt. Das Telegrafenamt war schnell gefunden, telefonieren würde erst morgen wieder möglich sein, die Mädchen vom Amt waren schon nach hause gegangen. Aber er könne doch ein Telegramm schreiben. Auch gut:

„Schiff erst morgen da. Mandoza."

Martim war mit rein gekommen, er war der einzige Schwarze hier und man hielt ihn offensichtlich für Filipes Diener. Ein Telegrafenamt hatte er noch nie von innen gesehen, dementsprechend interessiert schaute er sich um. Kopfschüttelnd kam er wieder mit raus:

„Das verstehe ich nicht!"

Filipe lachte: „Auch das werde ich dir erklären, ist alles gar nicht so schwer."

Anschließend trotteten die beiden Männer durch die Straßen der Stadt, an einem Stand, an dem auch Gebratenes angeboten wurde, blieben sie stehen. Filipe holte Geld aus der Tasche, Martim sah ihn an, lachte und nahm ihm das Geld aus der Hand:

„Das übernehme ich wohl besser," und er begann ein ausführliches Palaver mit der Frau hinter dem Stand, beide wild gestikulierend. Was er dann aber kaufte, war lecker. Noch was zu trinken dazu und sie schlenderten zur Avenue am Wasser, nahmen ihre Mahlzeit ein und beobachteten das Treiben auf der breiten Straße. Hier war nichts von Verunsicherung zu spüren, Autos, immer wieder Militär, aber auch Händler mit ihren Karren, schwarze Arbeiter, die für ihre Herren Aufgaben zu erledigen hatten. Martim genoss es offensichtlich, auch mal Zuschauer dieser Arbeitswelt zu sein. Die Menschen hier hielten ihn wie schon im Telegrafenamt für Filipes Diener, auffällig war allerdings, dass er aufrechten Hauptes neben ihm ging, nicht einen Schritt dahinter, und das er nichts schleppte. Nach dem Essen warfen sie noch einen Blick auf den Hafen, kein Schiff in Sicht. Also schlenderten sie weiter durch den im portugiesischen Kolonialstil geprägten Ort mit den vielen Holzverzierungen an den Häusern, sie suchten den Fischmarkt auf, auf dem die Fischweiber lautstark ihre Ware anboten; die Fischer schienen die einzigen halbwegs freien Schwarzen hier auf der Insel zu sein. Neben den Forros, wie er jetzt wusste. Filipe kaufte auch eine Zeitung und erklärte Martim, was es damit auf sich hatte, er las ihm den einen oder anderen Artikel vor, mit dem der aber nichts anzufangen wusste. Er wunderte sich nur, dass die Weißen sich über dieses Papier derartige Unwichtigkeiten mitteilten. Er würde ganz andere Sachen da rein schreiben, wenn er denn schreiben könnte: Über das wirkliche Leben, wie er es nannte:

„Die Menschen hier wollen doch nicht wissen, was im fernen Portugal los ist, und ob der Gouverneur sowieso grade verordnet hat, dass die Straßenlaternen um zehn Uhr auszumachen sind. Die meisten Schwarzen dürfen dann doch sowieso nicht mehr raus. Ich würde schreiben, wo man was kaufen kann, was der Fisch kostet und wie er schmeckt. Es muss drin stehen, wer wen heiraten möchte, was die Familie dazu sagt und welche Kinder geboren werden. Ich würde auch Geistergeschichten schreiben, sie sind ja ganz unterhaltsam. Aber ich würde auch schreiben, dass man nicht alles glauben soll, was da erzählt wird." Er lachte, und Filipe musste es auch.

„Aber die Macht dieser Geister auf die Menschen könntest du wahrscheinlich nicht verändern," meinte er und sprach damit einen Zusammenhang an, der ihn schon beschäftigte.

„Nein, wahrscheinlich nicht. Wäre mir auch nicht so wichtig. Aber ich würde die Geisterwelt ein wenig besser erklären. Es gibt da ja ganz viele, die sich nicht immer alle grün sind. Daraus ergeben sich auch viele lustige Geschichten, die ich schreiben würde."

„Sag mal, die Geister. Seid ihr nicht eigentlich alle christlich katholisch?"

Wieder lachte er schallend: „Doch, das sind wir auch. Diesen Gott und den heiligen Geist könnte man aber in die Geschichten mit rein erzählen."

„Wenn mal ein wenig Zeit ist, Martim, werde ich dir lesen und schreiben beibringen, ist gar nicht so schwer."

„Ich werde ein großer Geschichtenschreiber, Senhor," und wieder lachte er.

Gegen Abend war das Schiff immer noch nicht da. Filipe suchte nach einer kleinen Pension. Ein Schwarzer in Livree hielt die Tür auf, ein anderer fragte nach dem Gepäck, was es ja nicht gab. An der Rezeption saß ein Weißer:

„Ein Zimmer für Euch, Senhor?"

„Und eines für meinen Mitarbeiter, bitte."

Der Mann musterte Martim von oben bis unten. „Euer Diener kann draußen schlafen, Im Schuppen liegt noch Stroh."

„Wie, draußen? Habt Ihr kein zweites Zimmer frei?" Ihm war aber schon klar, worauf das hinauslaufen würde.

Senhor, Nigger sind hier als Gäste nicht willkommen, das versteht Ihr doch?"

„Lasst mal, Senhor," winkte Martim ab, „ich schlaf in der Lok."

Senhor," Filipe beugte sich zu dem Mann hinter dem Tresen herunter, „und ungastliche Pensionen sind mir nicht willkommen!"

Zusammen mit dem Lokführer verließ er das Haus, murmelte noch was von „Arschloch", unterwegs kauften er noch Wein und kleine Kuchen - anderes Essbares hatte der Laden nicht - und sie gingen schweigend zum Hafen zurück. Im Führerhaus kramte Martim verschiedenes Werkzeug aus der Tasche mit dem es ihm schließlich gelang, den Korken aus der Flasche zu ziehen. Sie erzählten sich von ihrem Leben, Martim war nicht wie alle anderen auf der Roca Rio do Ouro geboren, sondern in der Nähe von Sao Tomè Stadt. Seine Familie hatte dort ein kleines Gehöft, sie lebte vom Handel, von handwerklichen Arbeiten oder so wie er jetzt von der Übernahme von bestimmten Aufträgen. Auf seine Abstammung als Forro war er stolz. Lokführer war er schon lange, auch vor Almeida wurden verantwortungsvollere Aufgaben offensichtlich nicht den Tongas überlassen. Aber unter Almeida hatten sich die Verhältnisse gebessert, das Arbeiten auf der Roca war entspannter geworden. Nachdem sie die Flasche geleert hatten, legte er noch Kohlen nach um die Lok unter Dampf zu halten, dann kletterten sie auf die E-Lok, Filipe legte sich auf die vordere Abdeckung, Martim auf die hintere.

Wie so oft hier am Äquator war der Himmel nicht klar, Sterne waren nicht zu sehen und der Mond versuchte mühsam durch den dichten Dunst zu dringen. Filipes Gedanken schweiften zurück in seine Kindheit, die so viel besser gewesen war als die der Arbeiterkinder hier. Erst der Krieg hatte viel Leid gebracht, aber daran wollte er nicht denken, schließlich hatte er das alles hinter sich gelassen um auf dieser schönen Insel zu leben. Eigentlich ein Paradies. Aber würde es das auch bleiben? Oder besser: Für alle einmal werden?

Das Signalhorn eines Schiffes schreckte sie auf: Endlich! Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber es herrschte schon rege Betriebsamkeit auf dem Kai. Filipe gab Martim etwas Geld, er solle noch schnell was zum Frühstücken besorgen, und als sie mit den Botschtsas (Essen) fertig waren, hatte das Schiff auch festgemacht.

Begrüßung wie beim letzten mal. Angesichts der an der Reling lehnenden rein weißen Matrosenriege ging Martim lieber nicht mit an Bord, er setzte sich wieder lässig auf seine Lok und beobachtete das Treiben. Filipe sah grade noch im Augenwinkel, dass der eine Vorarbeiter drohend auf seinen Lokführer zu kam, offensichtlich mit der Absicht, ihn da runter zu treiben. Nach energischem Rufen und entsprechend drohenden Handbewegungen machte Filipe dem Mann jedoch klar, dass der nicht zu seinen Sklaven gehörte.

 

Es wurde schon dunkel, als sie die Grenze zur Roca Rio do Ouro passierten. An der Verladestelle der Plantage VII wurden sie angehalten, ein gewaltiger Berg von mit Bohnen gefüllten Säcken war neben den Gleisen aufgeschichtet, Filipe war sofort klar, was das zu bedeuten hatte: Wegen der fehlenden Lokomotive hatten sie kurzerhand an diesem Gleis die Ernte liegengelassen, sozusagen mit dem letzten Zug könnten sie dann ja runter gebracht werden. Sofort machten sie sich zusammen mit den drei dort verbliebenen Arbeitern ans Aufladen, Filipe durchaus genervt, Martim dagegen lakonisch wie immer. Und dann kamen doch ununterbrochen Pflücker, die weitere Säcke brachten! Filipe engagierte sie sofort zum helfen; sie beschwerten sich, sie hätten den Auftrag, weiter zu pflücken. Offensichtlich hatte Almeida irgendwas umorganisiert, war ihm aber egal: Erstens sollte Martim nicht weiter mithelfen müssen, denn wie Filipe nun wusste, gehörte das nicht zu seinen Aufgaben. Und zweites wollte er endlich nach hause unter die Dusche!

Sein Lokführer grinste während er mit kräftigen Armen den nächsten Sack auf den Wagen warf: „Schon gut, Senhor, ich will auch nach hause, und je mehr Hände anfassen um so schneller sind wir hier fertig!“

Als sie endlich unten an den Hallen angekommen waren, fiel den beiden auf, dass noch gar nicht alle Züge angekommen waren, und es war schon richtig dunkel! Egal, Almeida würde ihm schon erzählen, was er umorganisiert hatte. Filipe hängte die neue Lok noch an das Stromnetz an um die Akkus aufzuladen, soviel Zeit musste sein. Dann verabschiedete er sich von Martim. Der hatte noch zu tun, er rangierte die Züge für morgen zurecht, nach seinen Vorstellungen; schließlich machte er das schon lange genug. Filipe war noch nicht an seinem Haus angekommen, da sah er von unten her Martim auf seinem Zug mit zehn leeren Waggons zum Damm hochschnaufen, wo wollte der denn hin? Schnell rannte er zurück: "Befehl von Almeida!" rief der ihm im Vorbeifahren zu, "jetzt wird auch nachts gearbeitet! – Gegen Extra Geld,“ und wieder blitzten lachend seine Zähne.

Vor seinem Haus war die Runde schon versammelt, Almeida fehlte jedoch. Freudige Begrüßung, Neugierde, aber Filipe machte klar, dass er sich erst mal ein wenig frisch machen wolle.

„Ich komm mit," rief Catarina und sprang auf um ihm zu folgen; alles lachte.

Das Frischmachen dauerte dann auch etwas länger, aber dann berichtete Filipe ausführlich von seiner Tour in die Stadt. Währenddessen traf auch Almeida ein, er hatte tatsächlich viele der Arbeiten, für die kein oder nur wenig Licht gebaucht wurde, wie zum Beispiel Verladung und Transport, in die Nacht verlagert. Die dadurch tagsüber frei werdenden Kräfte mussten den Pflückern helfen, und er fragte Filipe, ob sein Stromnetz auch noch eine Beleuchtung der Fermentierhallen hergeben würde.

Fünf Tage später war die Beleuchtung immer noch nicht da, und Filipe musste zugeben, dass er darauf nicht unbedingt sein primäres Augenmerk gelegt hatte. Aber er wollte sich drum kümmern. Es war natürlich klar, dass dann die Frauen dort alle nachts und tags zuvor angelieferten Bohnen noch verarbeiten müssten. Zur Zeit waren nämlich die Berge auf den breiten Stegen zwischen Fermentierwannen und Gleisen kaum noch während des Tageslichtes abzuarbeiten, und das trotz des Betriebes in der neuen Halle. Aber schon jetzt waren die Trocknungsbecken schon an ihrer Leistungsgrenze, noch mehr Bohnen konnten sie nicht aufnehmen, das Problem würde sich nur verlagern, wenn in den Hallen zukünftig auch noch nachts gearbeitet werden sollte. Almeida, darauf angesprochen, reagierte ungehalten: „Dann lasse ich eben Planen auf den Straßen, dem Damm und in unseren Gärten auslegen, darauf kann man auch trocknen!" Und niemand zweifelte, dass er diese Idee auch umsetzen würde. Die auf den anderen Rocas in dieser Ernte längst abgeschaffte Freiheit am Sonntag rührte er jedoch nicht an. Zum einen würde er Maria in den Rücken fallen, die immer wieder die Aufrechterhaltung dieses freien Tages versprochen hatte. Damit würde sie den offensichtlich doch recht großen Rückhalt, den sie bei den Frauen dort unten hatte, verlieren. Und es wäre Wasser auf die Mühlen der Aufwiegler wie deren Brüder; trotz der hohen Belastung fielen deren Reden bisher nicht auf fruchtbaren Boden. Was sicherlich auch eine Rolle spielte, war möglicherweise die Tatsache, dass alle Weißen, die die Arbeiter im Laufe des Tages sahen, ebenfalls ununterbrochen schufteten. Ribeira kam tagsüber ja kaum aus seinem Haus, und dass Santos mit der Machete loszog um Früchte zu ernten, das erwartete nun wirklich niemand. Außerdem war die abendliche Runde, in die Maria und Catarina inzwischen fester Bestandteil waren und auch immer wieder einige der Reiterschergen teilnahmen, eine Einrichtung, in der Stimmungen auf der Roca sensibel diskutiert werden konnten. Einer Sonntagsarbeit würde dort niemand zustimmen, außer Ribeira vielleicht, was er aber nicht zu sagen wagte.

 

Vollständig war die Runde in diesen Tagen stets erst, wenn es schon dunkel war, Almeida kam oft als Letzter.

„Jesus ist tot," platzte er an diesem Abend in die nicht nur weinbedingte lockere Stimmung. Schweigen! Oder starres Entsetzen? Mit einem Bier kam er zurück aus der Küche.

„Jesus ist tot," wiederholte er, „er ist wohl ermordet worden."

„Kein großer Verlust für die Menschheit," bemerkte Miguel lapidar, er hatte ja mal unter ihm gearbeitet.

„Miguel!"

„Ja ist doch wahr. Der Sacerdoten hat es ja nicht gehört."

„Ihr sagtet, er sei ermordet worden. Waren es ..." Alves zögerte.

„Es heißt, er sei mit einer Machete nahezu geköpft worden," berichtete Almeida sachlich, die anderen zuckten zusammen, „und daher ist es für die Leute von der Roca Dos Angolares klar, dass es die schwarzen Pflücker waren."

Keiner sagte ein Wort, allen war klar, dass das mehr als böse Folgen haben könnte.

„Und?" wollte Filipe schließlich wissen, „waren es die Pflücker?"

„Keine Ahnung. Man hat ihn in der ersten Plantage gefunden. ich weiß nicht, was er da wollte, so einer wie der geht doch nicht in die Plantagen! Vielleicht hat man ihn dahin gelockt, jedenfalls muss es ein Überraschungsangriff gewesen sein, schließlich war er ja bewaffnet, konnte von seinem Revolver aber keinen Gebrauch mehr machen."

Wieder Schweigen.

„Geschieht ihm recht," stellte Maria schließlich fest, und keiner widersprach.

„Aber einen Täter hat man noch nicht gefunden?" wollte Ribeira wissen, der ja nicht unbedingt als schwarzenfreundlich galt. Vielleicht machte er sich doch etwas sorgen um sein Leben, wenn so einer noch frei herumlief, wer weiß, wen er sonst noch auf seiner Liste hatte. Die Roca Dos Angolares lag zwar nicht gleich nebenan, aber so ein Mord an einem Weißen sprach sich bestimmt schnell rum unter den Pflückern, und es war nicht auszuschließen, dass es Nachahmer geben könnte.

„Soweit ich weiß, haben sie alle Schwarzen, derer sie auf dem Gelände habhaft werden konnten, zusammengetrieben, die Schergenarmee von Dos Angolares ist in sowas ja nicht zimperlich. Polizei ist gekommen, es soll Verhöre gegeben haben, bei denen die weißen Knechte, sagen wir, etwas nachgeholfen haben sollen. Aber es ist natürlich auch klar, dass die Pflücker, die ja meistens in den Plantagen übernachten, nicht alle gefunden wurden."

„Und wo sind die hin?"

„Keine Ahnung. Wie würdet ihr das machen, wenn man unter uns einen Mörder vermutet und alle verhören will, unter - sagen wir - nicht so ganz rechtsstaatlichen Bedingungen?"

„Die werden doch versuchen sich zu verstecken," folgerte Catarina ganz richtig, „oder sie flüchten in den Urwald, also, das würde ich wahrscheinlich tun. Die Weißen wagen es ja nicht so recht, dahin zu folgen.“

„Die Schergen werden vermutlich die Plantagen nach ihnen durchkämmen, es wäre also dumm, auf dem Gelände zu bleiben," stimmte Almeida Catarinas Ausführungen zu, „ich weiß nicht, was passieren wird, haltet Augen und Ohren auf, bis jetzt ist bei uns ja alles ruhig."

„Was tun wir denn, wenn sie zu uns flüchten?“ fragte Ribeira; zum ersten mal wurde der Mann mit der realistischen Möglichkeit konfrontiert, dass es Unruhen geben könnte, die auch an ihm nicht so ganz spurlos vorbei gingen.

„Da machen wir uns Gedanken drüber, wenn es so weit ist,“ versuchte Miguel abzuwiegeln.

„Hm.“ Almeida war da skeptisch. „Also, wir sollten schon einen Plan haben. Zum eine gibt es die Möglichkeit, dass von Dos Angolares verstreute Flüchtlinge hier auftauchen. Wenn wir sie verstecken werden die Leute von dort zusammen mit Militär oder was weiß ich sie suchen. Und ehrlich: Ich will hier keine fremden Schergen haben, die in jedes Haus und jeden Keller gucken, zumal die bestimmt nicht zimperlich sind. Wenn wir sie ausliefern, könnten sich unsere Pflücker mit ihnen solidarisch erklären, was Ärger bedeuten würde. Ich schlage vor“ – und jetzt wandte er sich an die beiden Forros, die mit am Tisch saßen – „dass wir sie einfach nicht bemerken. Sollte Menschen hier auftauchen, die wir nicht kennen, werden sie einzeln in die verschiedenen Arbeitskolonnen eingegliedert. So sind sie auch kaum zu entdecken, falls jemand nach ihnen sucht.“

Die Forros nickten. Sie hatten verstanden, dass das nun ihre Aufgabe war, eventuelle Fremde unauffällig einzugliedern.

„Zum anderen gibt es die Gefahr,“ fuhr Almeida fort, „dass irgendein Funke des Aufruhrs zu uns rüber springt: Aufwiegler werden konsequent festgesetzt wenn sie versuchen, unsere Leute zu beeinflussen.“

Die beiden Frauen mussten an ihre Brüder denken. Sie hatten sie seit dem Vorfall neulich nicht mehr gesehen, und Catarina beschlich eine dunkle Sorge, dass sie mit diesen Ereignissen vielleicht etwas zu tun haben könnten.

„Und wie ist es auf Fernao Gomes?" fragte Ribeira.

„Habe nichts gehört. Ich werde morgen mal zu Sousa rüberfahren um genauere Informationen zu bekommen. Wenn da auch was im Busch ist, kann ich ja vielleicht vermittelnd eingreifen, einen Versuch wäre es wert."

Die anderen waren skeptisch; nachdem sie mit dem Kranwagen den Zugang blockiert hatten, war die Kommunikation zwischen den Rocas weitgehend eingestellt wurden.

„Jedenfalls bist du das Problem los, Jesus zwanzig Männer stellen zu müssen," bemerkte Maria trocken in die entstandene Stille.

„Ich weiß nicht recht, welches Problem mir lieber wäre," orakelte Almeida, stimmte ihr aber ansonsten zu.

Sie tranken noch in Ruhe den Wein aus, mit einem mulmigen Gefühl verabschiedeten sie sich voneinander; Catarina und Maria gingen mit Filipe ins Bett um sich abzulenken.

 

Der folgende Tag verlief ohne besondere Vorkommnisse. Zwar war unter den Arbeitern ebenfalls eine gewisse Verunsicherung zu spüren. Aber es war wohl eher so, dass sie Angst hatten, Angst vor einer ungewissen Zukunft. Von Aufbegehren war nichts festzustellen.

 

Es war schon fast dunkel, die Frauen in den Fermentierhallen hatten Öllampen aufgestellt um wenigstens etwas sehen zu können, schließlich hatte Filipe immer noch kein elektrisches Licht eingerichtet. Die letzte Züge hatten ihre Fracht abgeladen und waren wieder in die Plantagen zurückgefahren, es waren nur noch wenige Säcke voller Kakaobohnen zu leeren und in die Fermentierwannen zu verbringen. Zwei der Frauen, die vorne am Eingang arbeiteten, hielten plötzlich inne, sahen nach draußen in die Finsternis. Irritiert kamen sie zu den anderen: „Da ist jemand!"

Die anderen hörten mit der Arbeit auf, Catarina suchte eine Machete und nahm sie fest in die Hand.

„Wer soll denn da sein?" Maria nahm an, dass es sich aufgrund der angespannten Lage um eine Überreaktion handelte, „ist bestimmt nur ein Schwein oder eine Ziege." Sie nahm eine der Lampen und ging zum Eingang.

„Bleib hier!" rief ihr die andere leise nach, „das ist kein Schwein!"

Maria zögert, stellte die Lampe ab und starrte in die Dunkelheit. Catarina war ihrer Schwester gefolgt, zupfte nun aber an ihrem Ärmel um sie zur Umkehr zu überreden. Auch in den Nachbarhallen war es still geworden, irgendetwas stimmte hier nicht!

Bewegte sich da ein Busch? Nein, es war ein Mensch, noch einer, in gebückter Haltung huschten sie durch das Gebüsch. Weitere folgten. Dann wieder Stille. Soldaten? Die Frauen hatten sich in engem Kreis versammelt, voller Angst. Flüsternd überlegten sie, was sie tun sollten.

„Das sind Fremde," erklärte Maria mit fester Stimme, auch um ihre eigene Unsicherheit zu überspielen, „sonst würden sie sich offen zeigen. Wir müssen wissen, wer das ist!" Mit diesen Worten nahm sie die Lampe vom Boden und warf sie in Richtung des Gebüschs. Das tönerne Gefäß zerbarst, das brennende Öl breitete sich qualmend auf dem Boden aus und warf einen matten Schein in die Umgebung. Erschrockene Schreie, angstvoll, schemenhaft waren mehrere Männer zu erkennen, Schwarze, zerlumpte Kleidung, sie versuchten zu flüchten, standen sich selbst im Weg und wagten nicht in die Nähe der Flammen zu kommen.

„Hey! Wer seid ihr?" Die Frauen stürmten mit erhobenen Macheten hervor, wieder ängstliches Gewimmer, zusammengekauert hielten die Fremden ihre Hände schützend über ihre Gesichter und wagten in Anbetracht der bewaffneten weiblichen Übermacht keine Gegenwehr.

„Bitte, nicht, tut uns nichts!" jammerten sie, andere versuchten zu fliehen, wurden aber von den nun mutig gewordenen Frauen aufgehalten. Das brennende Öl aus der zerborstenen Lampe war erloschen, andere Lampen wurden gebracht, die Frauen geleiteten die Fremden in eine der Hallen, die Angst war auf beiden Seiten zumindest ein wenig geschwunden.

„Wer seid ihr?" übernahm Maria das Wort, obgleich sie sich das eigentlich denken konnte.

„Was habt ihr vor mit uns?" fragte einer der Männer dagegen.

„Nicht den Brancos übergeben, bitte nicht!" flehte ein anderer.

„Ihr seid hier in Sicherheit," versprach Maria, „aber sagt uns, wer ihr seid? Seid ihr von Dos Angolares geflüchtet?"

„So ist es." offenbarte sich endlich einer, „wir konnten von dort fliehen."

Bestürztes Schweigen, nur Maria und Catarina sahen sich an, sie hatten den gleichen Gedanken: Wenn man die hier fand, war es vorbei mit dem Frieden. Und sie erinnerten sich an Almeidas Worte, dass sie sie ‚nicht bemerken’ würden.

„Werdet ihr verfolgt? Ist euch jemand gefolgt hierher?" wollte sie dann auch wissen.

Die Frage wurde allgemein verneint.

Die anderen Frauen waren hin und her gerissen zwischen der Solidarität mit den Geflüchteten und der Sorge, die sie aus Marias heraus Frage nun auch empfanden.

„Warum seid ihr denn hierher gekommen und nicht in den Dschungel geflüchtet? Da wäre es doch viel sicherer.“

„Viele sind in den Dschungel geflüchtet, aber – aber ..“

„Habt ihr Hunger oder Durst?" fragte eine ältere und beantwortete damit Marias Frage, außerdem nahm sie so erst einmal die Spannung aus der Situation. Die Armen hatten den ganzen Tag nichts gegessen, und einige Tongafrauen zogen los um etwas zu besorgen. In der Zwischenzeit formierten sich die Fremden auf Kisten und anderem in der Mitte, die Frauen drum herum.

„Auf Dos Angolares ist der Teufel los," begann schließlich einer der Männer, "wir waren damit beschäftigt, die Kakaofrüchte zu dem Sammelstellen zu tragen, als wir Schüsse hörten. Nicht nur den einen oder anderen, wie es ist, wenn die Colombas Kaninchen jagen. Es waren viele, viele Schüsse, auch Schreie. Uns war klar, dass was Schlimmes passiert war, und dass es besser sei, wenn wir uns in der Plantage verstecken, bis es vorbei ist. Aber die Schüsse hielten an, im Dunkeln konnten wir Feuerschein aus der Richtung der Roca am Himmel sehen. Einige der Pflücker nahmen ihre Machten um ihren Familien zu helfen. Wir haben versucht, sie zurückzuhalten, was wollten sie denn mit Macheten gegen Gewehre ausrichten, aber sie ließen sich nicht aufhalten. Die meisten von ihnen haben wir nicht wieder gesehen, du, Nuno und du, Andre" - er deutete auf zwei seiner Leute - "wart die einzigen."

„Es war furchtbar," begann Andre, „je näher wir kamen um so mehr Schreien und Schießen hörten wir. Verletzte versuchten wegzulaufen, die Colombas zu Pferd hinterher, sie haben sie einfach erschossen. Von weitem konnten wir sehen, dass die Menschen zusammengetrieben wurden, die Colombas haben versucht sie einzusperren, in die Hütten, die Hallen, aber die meisten konnten immer wieder entkommen. Wenn die Colombas das gesehen haben, haben sie sie erschossen. Dann habe ich gesehen, dass sie eine der Hütten, in die die Frauen und Männer geflüchtet waren, angesteckt wurde. Schreiend und wie brennende Fackeln stürmten sie heraus, einige wurden erschossen, die anderen hat man verbrennen lassen. Dann flüchteten wieder einige in unsere Richtung, die Reiter hinterher. Einige von uns stürmten mit erhobenen Machten auf die Reiter zu um den Fliehenden beizustehen. Ich weiß nicht, ob sie einen oder mehrere Colombas erwischt haben. Wir beide haben uns sofort im tiefen Gebüsch versteckt, wir mussten mit ansehen, wie sie auf unsere Leute geschossen haben, die Verletzten mit ihren Gewehrkolben erschlagen haben, diese furchtbaren Schreie, das viel Blut ..."

Er konnte nicht weitersprechen. Unter den bestialisch Getöteten waren sicherlich auch Mitglieder seiner Familie. Entsetzte Stille breitete sich in der Halle aus. Schweigend verteilten die Frauen das gebrachte Essen; die Männer hatten sicherlich keinen Appetit, aber der Hunger trieb das Obst und die Fladen rein.

„Wir blieben die ganze Nacht in unserem Versteck," fuhr der erste fort, nachdem er seinen schlimmsten Hunger gestillt hatte, „mit Sonnenaufgang wollten wir uns anschleichen um nachzusehen. Aber schon auf dem Weg hörten wir wieder Schüsse. Als wir näher kamen, sahen wir aus sicherer Entfernung, wie Militärlastwagen auf den Platz fuhren, ganz viele Soldaten sprangen heraus, ihr Anführer gab ihnen Befehle, und dann sind die ausgeschwärmt um uns alle zu fangen. Wir sind sofort weggelaufen. Unterwegs sind uns andere begegnet, einige habe ich unserer Gruppe angeschlossen, andere wollten nach Trindade um auf der Roca do Café und Roca do Monte Mocá Zuflucht zu suchen. Einige von uns hatten von euch hier gehört, wie es hier zugehen würde, und deswegen haben wir uns durch die Büsche hierher geschlagen. Auch Verletzte haben wir getroffen, wir haben versucht ihnen zu helfen, so gut es ging. Wenn dann aber die Soldaten näher kamen, mussten wir sie liegenlassen. Sie sind bestimmt alle tot."

„Wir haben auch zwei Frauen gesehen," erzählte Andre jetzt weiter, die mit ihren Babies auf dem Arm weggelaufen sind, aber dummerweise direkt in die Arme anderer Colombas. Sie haben sie wohl angefleht, ihren Babies nichts zu tun, haben sie hochgehalten. Da hat der eine Branco seine Pistole genommen und der einen Frau in den Kopf geschossen. Die Schreie der anderen habe ich bis zu mir hin gehört, sie hat sich auf ihr Kind geworfen um es zu schützen, und dahaben diese Bestien sie mit ihren Gewehren erschlagen."

Blankes Entsetzen spiegelte sich matt in den Augen der anwesenden.

„Habt ihr Verletzte unter euch?" fand Maria als erste wieder Worte.

Die Männer antworteten nicht gleich. „Nein," sagte der Anführer der Männer dann, „wir mussten sie alle zurücklassen. Auch den, der sich im Gebüsch einen Fuß gebrochen hatte und den, der wahrscheinlich von einer Schlange gebissen wurde."

„Was machen wir jetzt?" fragte Maria nach einer Weile, in der die Anwesenden unschlüssig miteinander geredet hatten, ihre Stimme war laut und fest. Alle sahen sie an, Vorschläge gab es keine; hatte sie auch nicht mit gerechnet.

„Wie heißt du?" fragte sie schließlich den Wortführer der Männer.

„David."

„David, Keiner darf erfahren, dass ihr hier seid. Wenn das nach außen dringt, werdet ihr alle das nicht überleben. Und viele von uns wahrscheinlich auch nicht. Ist euch das klar?" Am liebsten hätte sie dabei mit einer Peitsche gegen ihr Bein geklopft.

Allgemein zustimmendes Gemurmel.

„Ihr geht also mit unseren Frauen in unsere Häuser. Dort lasst ihr euch Kleidung geben, wie wir sie hier tragen. Nichts darf daran erinnern, dass ihr von Dos Angolares kommt. klar?"

Wieder Zustimmung.

„Noch heute Nacht werden euch unsere Frauen auf die Plantagen bringen. Bei uns ist es üblich, schon vor Sonnenaufgang dort oben die Waggons zu beladen. Ihr gliedert euch einfach in die Arbeitsgruppen mit ein. - Aber nicht auf Plantage VII," setzte sie an die Frauen gerichtet hinterher. „Unsere Arbeiter übernachten während der Ernte in den Plantagen, wie es bei euch ja auch üblich war. Das tut ihr auch. Eure Gruppe werdet ihr nicht vor Ende der Ernte verlassen. Habt ihr das verstanden?! Und - entschuldigt, dass ich hier so mit euch rede, aber ein klarer Plan ist wichtig für unser aller Überleben. Ihr, David, Nuno und Andre kommt mit Catharina und mir zu unserm Verwalter, er muss eingeweiht werden."

Der letzte Satz löste ängstliche und empörte Reaktionen aus, worauf Maria sich gezwungen sah, auf das gute Verhältnis hinzuweisen, dass sie miteinander hatten. Auch die anderen Frauen redeten beschwichtigend auf die Männer ein, und schließlich fügten sie sich. Catarina und Maria nahmen ihre Macheten zur Hand und begleiteten die drei zum Steindamm hinauf, während die anderen in den Häusern verschwanden.

 

An diesem Abend war die Runde wieder fast vollständig versammelt, inklusive Doc und Santos. Auch einige der Forro-Schergen waren auf Wunsch von Almeida erschienen; er wollte von ihnen hören, welche Stimmungen sie wahrgenommen hatten. Und er wollte sie nochmals instruieren, auf keinen Fall provokant aufzutreten. Aber er war noch nicht eingetroffen, Maria und Catharina fehlten ebenfalls, was niemand kommentierte, wahrscheinlich arbeiteten sie noch. Trotzdem war den Anwesenden nicht wohl dabei.

Dann jedoch hörten sie den Jeep, Almeida holte sich sein Bier und warf sich in den Sessel; gespannt warteten die anderen, was er auf Dos Angolares erfahren hatte.

„Ich war gar nicht da," und er leerte sein Glas in einem Zug.

„Was? Ihr wolltet doch ..."

„Ich wollte. Aber man hat mich nicht aufs Gelände gelassen. Überall Soldaten. Sie haben das Militär geordert, die Roca ist vollständig abgeriegelt."

„Scheiße!"

„Das könnt Ihr wohl sagen. In Santa Fe und Cruzeiro ist Ausgangssperre. Wer auf die Straße geht wird festgesetzt. Ich bin dann noch zur Fernao Gomes rüber. De Costa hat das Gelände nicht besetzt, aber seine Leute patroulieren überall."

„Aber es gibt keine Revolte?" fragte Alves.

„Nein, es schien alles ruhig. Sousa, arrogant wie immer, machte einen selbstsicheren Eindruck, er verlässt sich auf das Militär."

„Vielleicht sollten wir das auch tun," warf Ribeira ein, erntete aber heftigen Widerspruch, es wäre doch wie Öl ins Feuer gießen!

„Wo sind eigentlich Maria und Catharina?" wollte Almeida dann wissen, was mit allgemeinem Achselzucken beantwortet wurde: „Die arbeiten bestimmt noch."

„Kann nicht sein," entgegnete er, „in den Hallen ist alles dunkel, keine Funzel mehr an, das hätte ich von hier oben gesehen."

Bestürztes Schweigen.

„Ich geh sie suchen!" Filipe sprang auf und wollte sich auf den Weg machen.

„Bleibt hier." Almeida hielt ihn am Ärmel fest, "“wo wollt Ihr die denn jetzt suchen? Wollt Ihr durch die Häuser laufen? Jetzt, als Branco?"

Filipe hielt inne, da war was dran. Es war dunkel jetzt, wenn die beiden nicht direkt vor ihm standen, würde er sie wahrscheinlich gar nicht erkennen. Er setzte sich wieder, trank einen Schluck.

„Beruhigt Euch, die Mädchen wissen schon, was sie tun. Vielleicht wollen sie in dieser Situation nur noch mal mit ihrer Familie reden, vielleicht besänftigen oder irgend sowas."

„Kann sein," murmelte Filipe, glaubte aber nicht recht daran.

Almeida begann nun, die Forro-Schergen zu instruieren, er hörte sich deren Berichte an, und was sie erzählten, war doch beruhigend: Keine Spur von Unruhe. Almeida lud sie zum Wein ein, aber sie wollten ihre Pferde noch in den Stall bringen und versorgen, bis morgen also.

Sie waren grade weg, da kamen fünf oder sechs Menschen vom Damm her auf die Häuser der Weißen zu. Sie steuerten die Runde an, es waren die Mädchen und drei fremde Männer. Erleichtert begrüßte man die Frauen, rückte Stühle zurecht, sie setzten sich.

„Ich kann jetzt auch ein Bier gebrauchen," seufzte Maria und Filipe holte das Gewünschte. Auch für die Fremden brachte er Getränke und Gläser mit. Die waren aber mit etwas Abstand stehen geblieben und kamen auch nicht näher, als sie dazu aufgefordert wurden.

„Das sind drei Leute von Angolares," erklärte Maria auf die allgemein im Raum stehende Frage, sie machte einen erschöpften Eindruck. „Kommt jetzt bitte her," forderte sie die drei auf, „setzt euch und erzählt, was ihr uns in der Halle erzählt habt." Und als die immer noch zögerten, meinte sie: „Los doch jetzt, hier beißt keiner!"

Die Anwesenden grinsten über die Unsicherheit der Männer und die Art und Weise, wie Maria damit umging. Aber Die drei folgten, und begannen mit ihrem Bericht. Als sie fertig waren, herrschte auch hier allgemein bestürztes Schweigen. Allen war außerdem die Gefahr bewusst, in die die Männer sie gebracht hatten, und bevor einer eine Lösung vorschlagen konnte, erklärte Maria, was sie eigenmächtig angeordnet hatte.

Wieder Schweigen, Almeida strich sich übers Kinn und überlegte, Alves nickte zustimmend, und Filipe sowieso.

„Das war aber keine gute Idee, Maria," fand Ribeira zuerst ein Wort, „die hätten übergeben werden müssen. Jetzt sitzen wir mit drin!"

„Ribeira!" Filipe war empört, „das hat sie doch prima gelöst!"

„Hm," machte Almeida, „wenn wir sie hätten melden wollen, Ribeira, wie denkt Ihr, hätte man das tun sollen?" Offensichtlich war er sich selbst noch nicht im Klaren, wie man sonst hätte mit dieser Situation umgehen sollen.

„Die beiden hätten hierher kommen sollen, uns die Fremden melden und wir hätten sie festgesetzt, ganz einfach!"

„Wer ist wir?" wollte Almeida wissen, „wir neun hier? Wir wären dann da runter gegangen, hätten in Anwesenheit von fünfzig Forrofrauen und fünfundzwanzig Arbeitern verkündet, dass Letztere nun festgesetzt seien. Und dann hätten die gesagt: Ja, ist gut, die Frauen wären nach hause gegangen und die Männer hätten sich einsperren lassen."

„Wir hätten ja die Reiter noch mal holen können." verteidigte sich Ribeira, dem aber die Unsinnigkeit eines solchen Unterfangens auch klar wurde. „Dann hätte Maria sie eben überreden müssen, in die Häuser zu gehen, wo wir sie morgen hätten abholen lassen können."

Catarina war aufgestanden und hatte sich hinter den Stuhl von David gestellt, einerseits um ihm Sicherheit zu geben, andererseits aber auch, um ihn in Anbetracht des blöden Geredes von Ribeira notfalls mit der Machete an einer Flucht zu hindern. Maria wusste sofort, was ihre Schwester bezweckte und hatte sich hinter Andre gestellt. Nach Ribeiras letzten Worten fauchte sie los: „Ich glaub, du spinnst, Ribeira! So einen Verrat ...!"

„Ist gut, ist gut," beruhigte Almeida sie, wusste er doch um ihre wenig respektierliche Art wenn sie empört war. „Ribeira, diesen Vorschlag brauchen wir hier wohl nicht zu diskutieren!"

„Ja, ist sie nun auf unserer Seite oder nicht?"

„Sie ist auf der Seite, die zum Wohle der Roca beiträgt. Und dazu gehört unbedingt der soziale Frieden, den wir hier mühsam genug aufrecht zu erhalten versuchen. Mit Eurem Vorschlag wäre er sicherlich zerstört!"

„Und was machen wir, wenn ein de Costa morgen kommt und die Nigger sucht?"

Maria und Catarina schäumten schon wieder, aber Almeida hob beschwichtigend die Hand: „Niemand weiß, dass sie hier sind. Maria hat das Problem in einer Weise gelöst, dass sie auch kaum auffindbar sind. Wir müssen eben alle die Klappe halten. Klar?"

Das war allen klar. Aber Ribeira schmollte: „Die wollen die Liste der Arbeiter sehen, zählen dann durch, und dann wissen sie es."

„Ribeira! Ihr wollt mir doch nicht erzählen, dass Ihr eine vollständige Liste unserer Arbeiter führt! In den letzten zehn Jahren hat doch keiner der Nachgewachsenen Leute einen Vertrag von Euch gesehen. Wenn Ihr solches Vorgehen eines de Costa akzeptiert, sind wir mit einem Schlag über die Hälfte unserer Leute los. Und das mitten in der Ernte. Macht Euch schon mal einen Plan, wie Ihr das dem Patrone erklären wollt!"

Der Angesprochene schmollte noch mehr, die anderen grinsten still in sich hinein.

„Ich mach Euch einen Vorschlag," fuhr Almeida fort, „Ihr gebt einem de Costa Euren Fehler zu, keine Verträge gemacht zu haben. Das ist nichts Schlimmes, das macht hier doch keiner auf der Insel, sonst könnten die Arbeiter am Ende noch auf Vertragserfüllung klagen. Im Gegenzug decke ich das und gebe zu, nicht genau zu wissen, wer hier alles arbeitet. Dann findet uns der General zwar beide unfähig, aber wen interessiert das? Und von fünfundzwanzig neuen Arbeitern wissen wir beide nichts. Gut?"

Santos, der neben Ribeira saß, legte seine Hand auf dessen Arm: „Mein Sohn, der Herr wird es Dir verzeihen," und er nickte ihm aufmunternd zu.

Erleichtertes Lächeln, irgendwie war Santos schon in Ordnung.

Filipe und Almeida begleiteten die drei Männer zurück zu den Häusern und übergaben sie an die dort wartenden Frauen. Beiden war klar, dass das Problem möglicherweise nicht endgültig gelöst war, aber die akute Bedrohung war gemeistert. Und sie freuten sich ungeniert über die unerwartete Hilfe.

Als sie zurück zur Runde kamen, war Ribeira schon gegangen. Maria ertränkte ihren Ärger über diesen Mann ausnahmsweise in dem einen oder anderen Glas zuviel, was zur Folge hatte, dass sie in der Badewanne einschlief und Catarina allein die nächtliche Regie führen musste.

 

Am folgenden Tag herrschte Ruhe, die Anspannung lag aber für alle spürbar in der Luft. Wie jeden Morgen fuhr Almeida seine Runde über das Gelände, an ausgewählten Punkten hielt er an, im Auto stehend beobachtete er demonstrativ das Geschehen um ihn herum. Anschließend fuhr er zum Stall runter, sattelte ein Pferd und machte sich auf den Ritt in die eine oder andere Plantage. Alles ruhig, keine Beschwerden.

Je länger er über den gestrigen Abend nachdachte, um so mehr kam er zu der Überzeugung, dass Maria genau das Richtige getan hatte. Er hätte gern noch mehr Frauen und Männer unter den Schwarzen, die ein derartiges Engagement zeigten. In Catarina lag zweifellos ein ähnliches Potenzial, und am liebsten hätte er sie in einem anderen Bereich eingesetzt. Er war sich aber sicher, dass die Schwestern sich gegenseitig Halt gaben, sie zu trennen wäre keine gute Idee. Aber was war denn mit ihren Brüdern? Die beiden hatten zweifellos auch Führungsqualitäten. Leider nicht zugunsten der Roca sondern sie liebäugelten mit einer Revolte. Würde eine passende Situation entstehen, würden sie zuschlagen, da war er sich sicher. Er beschloss, sie in den Monaten nach der Ernte mit verantwortungsvolleren Aufgaben zu betrauen, die sie auch mehr in Kontakt mit Weißen brachte. Aber bis dahin wollte er sie gut im Auge behalten. Allerdings war das nicht so einfach. Die beiden arbeiteten auf der Plantage IV; vor einigen Tagen war er dort gewesen, hatte das Gelände durchstreift, in dem grade geerntet wurde, hatte sie aber nicht gesehen. Nun war es nahezu unmöglich, alle Pflücker zu treffen, es sei denn, man unterbrach die Arbeit und ließ sie sich versammeln, aber das war es ihm auch nicht wert. Er lenkte sein Pferd also erneut zur Plantage IV, hielt sich länger dort auf, befragte seinen Forroschergen, auch an der Verladestation beobachtete er die Arbeit mehr als eine Stunde lang: Weder Tiago noch Jorge! Mit etwas Unruhe im Bauch beschloss er, heute Abend die Schwestern nach ihren Brüdern zu fragen.

Auch über die anderen Mitarbeiter der Roca machte er sich Gedanken: Es war damit zu rechnen, dass früher oder später das Militär hier auftauchte. Er hoffte, dass die Soldaten sich anständig benehmen würden, was wohl nicht überall der Fall gewesen war. Und er hoffte, dass der Offizier sich erst einmal an ihn wenden würde um einen Überblick über die Lage hier zu bekommen. Für Mendoza, Alves mit seinen Leuten, und Alfonso würde er die Hand ins Feuer legen. Santos war ein sehr konservativer Mensch, eher monarchistisch eingestellt. Den derzeitigen Machthabern in Lissabon konnte er nicht viel abgewinnen, deren Soldaten um so weniger. Und, das musste man ihm unbedingt zugute halten: Er war streng Bibeltreu, die zehn Gebote waren sein Dogma. Mit dem sechsten Gebot 'du sollst nicht Ehebrechen' hatte er hier schon genug zu tun, das fünfte zu überschreiten, 'du sollst nicht töten', währe eine Todsünde. Daher konnte Almeida sich nicht vorstellen, dass Santos sich in irgendeiner Art einmischen würde, wenn er dadurch Menschenleben gefährdete. Silva, der Doktor hatte Dreck am Stecken, da war er sich sicher. Mit seinem Krankenhaus stimmte irgend etwas nicht, es war viel zu groß, nachts konnte man manchmal Schreie vernehmen, und vor einigen Jahren hatte er in frühen Morgenstunden zufällig einen Gefängnistransporter beobachtet, aus dem Baren ins Haus getragen wurden. Es war allgemein bekannt, dass Sao Tome von der Administration in Lissabon als Exil für unliebsame Bürger benutzt wurde, der bekannteste war ccc. Auch Sousa, der Chef der Baufirma, war

 

 

 

 

 

 

so ein Exilant, von Beruf war er schließlich Pastor und hatte mit Beton nichts am Hut. Und der hatte offensichtlich mit Silva noch ein Hühnchen zu rupfen, warum auch immer. Aus all diesen Beobachtungen schloss Almeida, dass es sich bei dem Krankenhaus, neben der medizinischen Versorgung um ein "psychiatrisches Krankenhaus" für unliebsame Portugiesen handelte. Silva als Leiter war dann in dieses Geheimnis eingeweiht, und Almeida war sich nicht ganz sicher, ob an diese Aufgabe nicht auch noch weitere gebunden waren, Spitzeldienste zum Beispiel. Andererseits konnte er sich nicht erinnern, dass es irgendwelche nachteiligen Ereignisse gegeben hätte, die vermuten ließen, dass ein Spitzel Informationen an die Behörden gegeben hätte. Und Silva war dermaßen uninteressiert an internen Vorgängen außerhalb seines Aufgabenbereichs, dass er darüber auch gar keine Kenntnis besaß. Aber es hatte in den Jahren ja auch nichts gegeben, was die Behörden interessieren könnte, höchstens die vergleichsweise liberale Struktur dieser Roca. Aber erstens gab es davon auch noch andere im Land und zweitens bedurfte es keines Spitzels, um diese Information den Behörden zukommen zu lassen. In diesem Zusammenhang fiel ihm auch der Besuch von De Costa im letzten Jahr ein, für den er bis heute keinen plausiblen Grund hatte erkennen können: Um eine Revolte niederzuschlagen oder im Keim zu ersticken, war seine zwanzig Mann Truppe viel zu klein für eine weitläufige Roca mit hunderten von Verstecken. Das zeigten ja auch die Vorgänge in Angolares: Die Schergen dort mussten massive Militärhilfe in Anspruch nehmen, um die Lage wenigstens halbwegs in den Griff zu bekommen. Und auch auf Fernao Gomes konnten seine Leute im Fall des Falles wahrscheinlich das Gebäudeensemble und die drumherum liegenden Höfe schützen und damit das Leben der Weißen, mehr aber auch nicht. Vielleicht war seine eigentliche Aufgabe, hier auf der Rio do Ouoro nach dem Rechten zu sehen, weil man von Silva so lange nichts gehört hatte. Er hätte sich sicherlich gerne hier einquartiert, war aber auf soviel Ablehnung gestoßen, dass er Fernao Gomes vorgezogen hatte, wo er herzlich aufgenommen worden war. Nach den gestrigen Ereignissen hätte Silva aber was zu berichten, niemand würde es bemerken. Almeida wurde klar, dass es besser gewesen wäre, wenn Maria die fremden Männer nicht der Runde vorgestellt, sondern ihn allein über den Sachverhalt informiert hätte. Aber nun war es nicht mehr zu ändern, er machte ihr keinen Vorwurf.

Und Ribeira? Der war ein Opportunist. Wenn es brenzlig würde, würde der seine Großmutter verraten, nur um sein Leben und seine Position zu retten. Er war zweifellos das schwächste Glied in der Kette. Wenn Militär hier Stellung bezog, musste er ihn irgendwie isolieren.

Er verließ die Plantage IV und ritt hinauf zur VII, die er wegen der Nähe zu Fernao Gomes am kritischsten einschätzte. Aber auch hier war alles ruhig, auch der Kranwagen stand unberührt und verankert auf der Grenze. Er band sein Pferd dort fest, kletterte über den Wagen und schlenderte die Gleise entlang in die benachbarte Plantage. In etwa zwei Kilometer Entfernung wusste er einen Punkt, von dem man einen guten Überblick auf deren Gelände hatte und auch die Gebäude der Roca sehen konnte. Kein Mensch zu sehen unterwegs, aber immer wieder wurde er Rascheln und Huschen gewahr: Offenbar versteckten sie die Leute in Anbetracht seiner Gegenwart. Er nahm seinen Revolver, entsicherte ihn und trug ihn offen sichtbar in der Hand, aufmerksam hielt er nach allen Seiten Ausschau. An einer Verladestelle waren etwa zehn Männer damit beschäftigt, einen kleineren Haufen von Früchten auf einen Zug zu laden; Almeida grüßte, schweigend sahen sie ihm nach, Pflücker, die Nachschub brachten, waren nicht zu sehen. An dem besagte Aussichtspunkt musste er ein kleines Stück den Hang hinauf klettern um einen besseren Überblick zu haben, er legte den Revolver griffbereit neben sich und zückte sein Fernrohr. Das dichte Grün der Hänge war undurchdringlich. Aber es stieg auch nirgendwo Rauch auf, der das Fahren eines Zuges signalisiert hätte. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Gebäudekomplex der Roca, der sich großflächig den weit hinten liegenden Hang hinauf erstreckte. Vor dem Verwaltungsgebäude war eine größere Menschenmenge versammelt, drum herum einige Soldaten mit den Gewehren im Anschlag. Mist! Da war doch wieder was im Busch, verdammt! Aber es passierte nichts, sie standen einfach nur dort herum. Wieder ließ er seinen Blick über das dichte Grün streichen: Es schien, als sei die Roca in einem Dornröschenschlaf versunken, und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass auf der Verladestelle vergleichsweise wenige Früchte lagen, jedenfalls viel weniger als auf seinen Verladeplätzen. Vielleicht war der vorherige Zug ja grade nach unten gefahren. Und wo war er dann? Wie gesagt, kein Rauch stieg auf.

Plötzlich fiel ein Schuss. Sofort richtete er sein Fernrohr wieder auf den Platz mit den Menschen. An der Seite standen sieben Männer, und ein weiterer lag reglos daneben, davor drei Soldaten, die ihre Gewehre auf die Männer richteten. Es wurde gestikuliert, offensichtlich diskutierte man über irgendwas, dann wieder ein Schuss, ein weiterer Mann sank zu Boden. Die Menge wurde unruhig, weitere Schüsse wurden abgegeben, was war da bloß los? Jetzt erkannte er Sousa, er schritt die Riege der sechs verbliebenen Männer ab, vor dem letzten blieb er stehen, schien auf ihn einzureden, der gestikulierte, warf sich auf die Knie und reckte seine Hände flehend nach oben. Sousa trat zur Seite, minutenlang passierte nichts, dann hob er die Hand, ein Schuss, der Kniende sank zur Seite. Es sah aus wie ein Verhör, offensichtlich verlangte Sousa eine bestimmte Information, die ihm die Männer aber nicht geben konnten oder wollten. Hilflos musste Almeida mit ansehen, wie einer nach dem anderen exekutiert wurde! Zwischendurch fielen immer wieder Schüsse um die panische oder aufgebrachte Menge im Zaum zu halten. Nachdem auch der letzte der Männer gefallen war, drangen die Schergen in die Menge vor. Gezielt griffen sie Frauen mit kleineren Kindern auf dem Arm heraus und zerrten sie neben die toten Männer. Einer der Schergen umfasste eine der Frauen von hinten und setzte seinen Revolver an den Kopf des Kindes. Panische Reaktionen in der Menge, wieder fielen Schüsse, die Entfernung war zu groß um die Schreie der Verletzten zu hören. Dann endlich schien Sousa seine Informationen zu bekommen, er breitete die Arme aus als wolle er sagen „Na also, geht doch!" Die Soldaten senkten ihre Gewehre, Sousa schoss mit seinem Revolver in die Luft um die Menge zu zerstreuen, die dann auch in Panik flüchtete. Nur der Scherge neben den Toten hielt dem Kind noch den Revolver an die Stirn. Mit einer Handbewegung deutete Sousa ihm, zu verschwinden, wahrscheinlich in Tränen aufgelöst ging die Mutter mit dem Kind auf dem Arm auf die Knie. Sousa machte sich auf den Weg zurück in sein Büro, drehte sich dann aber noch mal um und erschoss die Frau, einfach nur so.

Entsetzt aber mit kühlem Kopf kletterte Almeida runter auf die Gleise, zügigen Schrittes trat er den Rückweg an. An der Verladestelle war nun niemand mehr, vereinsamt standen die kaum beladenen Waggons auf den Schienen, und Almeida war doch froh, als er über den Kranwagen auf eigenes Gelände kletterte.

 

„Ich habe da so eine Idee, Senhor Almeida," bemerkte einer der Forroschergen in die Stille, die nach Almeidas Bericht am Tisch herrschte, und alle sahen ihn erstaunt an, „ich kann mir denken, was Senhor Sousa wissen wollte."

„Na, dann mal raus mit der Sprache," forderte der Angesprochene ihn auf.

„Er sucht seine Leute."

„Wie kommst du darauf?"

„Es wird erzählt, dass in Trindade und der Umgebung davon immer wieder Versammlungen stattfinden. Irgendwo müssen die Leute ja herkommen."

„Was für Versammlungen denn?" wollte Filipe wissen.

„Moment, Moment," ging Almeida dazwischen, „du meinst, die Arbeiter bleiben nicht in den Plantagen, sondern gehen zu den Versammlungen?"

„Könnte doch sein. Deswegen habt Ihr auch keine Pflücker gesehen, Senhor."

„Und was für Versammlungen sind das?" hakte Filipe erneut nach.

"Trindade war schon immer ein Treffpunkt der Leute, Roca do Café und Roca do Monte Mocá sind ja nicht weit davon. Die Leute müssen immer wieder vorbei an diesem Knotenpunkt, auf dem Weg zur Arbeit, beim Transport von Waren und sowas. Viele Neuigkeiten werden dort weitererzählt. Und nach den Ereignissen auf Angolares hat das da sofort die Runde gemacht. Ich denke auch, dass viele der Geflüchteten, die sich irgendwo versteckt halten, daran teilnehmen. Von Fernao Gomes sind die Leute wahrscheinlich vor den drastische Methoden des Senhor Sousa geflohen, ich kann mir vorstellen, dass er dort fündig würde."

„Ist dir bekannt, ob von unseren Leuten auch welche dorthin gegangen sind?"

„Mir ist nicht aufgefallen, dass bei uns Arbeiter fehlen, aber es könnte schon sein, dass Einzelne dorthin sind."

Almeida sah die anderen Schergen fragend an, sie bestätigten mit Kopfnicken das Gesagte.

„Und Sousa weiß nichts davon?" mischte Ribeira sich ein.

„Wahrscheinlich nicht ..."

„Wir wussten es ja auch nicht," erklärte Filipe, „und was machen die da auf den Versammlungen?"

Der Forro zögerte. „Weiß ich nicht," sagte er dann leise, „ich war noch nicht da."

Allen war klar, dass er mehr wusste, es aber nicht mitteilen wollte. Und im Grunde musste er das auch nicht: Die Geflohenen und wahrscheinlich auch andere, die während ihrer Tätigkeit dort vorbeikamen, tauschten sich über die Ereignisse aus, und es bedurfte keiner großen Fantasie um zu ahnen, in welche Richtung dieser Austausch ging.

„Mist!" entfuhr es Almeida denn auch.

„Und unser Militär lässt das zu?" wunderte Ribeira sich.

„Die Versammlungen werden immer wieder gewaltsam aufgelöst," berichtete der Forro, „aber die Leute treffen sich dann eben in den Plantagen in der Nähe. Auf dem Platz in Trindade soll jetzt ein Panzer stehen und ein Teil der umliegenden Plantagen soll mehr oder weniger gerodet worden sein."

„Sagt mal," wandte sich Almeida an Maria und Catarina, „wisst ihr wo eure Brüder sind? Tiago und Jorge?"

Die beiden sahen sich an: „Nein, wieso? In der Plantage, denke ich doch," antwortete Catarina.

„Ich war heute dort, lange. Ich habe sie nicht gesehen."

„Du meinst ..."

„Hälst du das für ausgeschlossen?"

Wieder sahen sich die Schwestern an, Angst überkam sie, natürlich hielten sie es nicht für ausgeschlossen, dass ihre Brüder an den Versammlungen teil nahmen, möglicherweise sogar eine wichtige Rolle dort spielten.

„Wir müssen dahin, sie suchen!" bestimmte Maria.

„Wie willst du das machen? Der Platz ist besetzt, die Soldaten werden dich gar nicht bis dahin lassen. Und willst du alle Plantagen durchkämmen?"

„Wir könnten die Leute fragen, uns würden sie sagen, wo Versammlungen stattfinden."

„Und wenn du sie wirklich findest: Glaubst du, dass du sie überreden kannst, zurück zu kommen? Sie haben dich als Colombahure beschimpft, sie sind auf der anderen Seite! Auch wenn es dir schwer fällt, du solltest das einfach akzeptieren, Maria."

Schnaubend leerte sie ihr Glas, dann stand sie auf und ging ins Haus. Catarina wollte ihr folgen, Filipe hielt sie am Arm zurück: „Lass sie jetzt allein, sie muss das erst einmal verdauen, wie du wahrscheinlich auch. Und vielleicht sind eure Brüder ja auch gar nicht in Trindade," versuchte er sie zu trösten, glaubte aber selbst nicht so recht daran.

 

Es war noch dunkel draußen, Maria hatte sich schon aus dem Bett gerollt und war nach unten gegangen um Kaffee und Frühstück vorzubereiten, Filipe und Catarina lagen noch eng aneinander geschmiegt; es war so gemütlich, warum mussten sie jeden Morgen aufstehen? Ungewöhnliche Geräusche ließen sie aufschrecken, Motoren brummten draußen, Stimmen, Befehle, Filip war plötzlich hellwach. Noch ehe er in Hemd und Hose springen konnte, hörte er heftige Tritte gegen die Außentür.

„Aufmachen! Sofort aufmachen!"

Und dann hörte er das Splittern von Holz, krachend wurde die Tür aus dem Schloss gestoßen, Maria schrie in heller Panik. Laute Männerstimmen: „ ... deine Brüder ... Tiago ... Jorge ..." Im allgemeinen Lärm waren nur Bruchstücke zu verstehen, immer wieder unterbrochen von Marias gellenden Schreien. Noch vor Filipe hastete Raposa laut bellend die Treppe herunter, Filipe hinterher, die Diele war voller Soldaten, im matten Licht der Laterne waren Gesichter kaum zu erkennen, irgendjemand schaltete die Lampe an der Decke ein, entsetzt starrte Filipe in den Raum, es bot sich ein Bild des Grauens, Raposa machte sich wütend knurrend am Bein eines Soldaten zu schaffen, wurde weggestoßen. Maria war, wie jeden Morgen, völlig unbekleidet aus dem Schlafraum in die Küche gegangen. Gewaltsam fixierten einige der Soldaten die Frau auf dem Tisch in der Diele, blutverschmiertes Gesicht, brutal schlug einer mit seinem Gewehrkolben auf sie ein: „Wo sind deine Brüder!" fragte er immer wieder. Raposa wollte erneut zubeißen, aber Filipe pfiff ihn zu sich her, sie würden ihn erschießen!

„Aufhören!" brüllte er in den Raum, „sofort aufhören!"

Erst jetzt wurden die Männer auf ihn aufmerksam, der Schläger senkte sein Gewehr und sah zu ihm rüber, ein breites Grinsen verzerrte sein Gesicht. Ein anderer kam auf Filipe zu:

Senhor Mandoza, vermute ich?"

„Wer seid Ihr? Was wollt Ihr? Lasst sofort Maria los! Sie ist meine Frau!"

„Eure Frau. Soso, ist ja interessant. Vielleicht könnt Ihr uns dann ja auch weiterhelfen: Habt Ihr eine Ahnung, wo sich die Brüder Eurer Frau aufhalten, Senhor?" neugierig spöttisches Grinsen im Gesicht!

„Was gehen mich denn die Brüder meiner Frau an? Ich ..."

Senhor. Ich glaube, ihr habt den Ernst der Lage nicht verstanden. Die Brüder Eurer - Frau, wie ihr sagt, gehören zu den Aufwieglern, zu den Revoluzzern in Trindade. Habt Ihr das nicht gewusst?"

Filipe wollte an dem Mann vorbei zu Maria, zwei Soldaten stellten sich ihm in den Weg.

„Hier sind keine Brüder!" schimpfte Filipe nun laut, „meine Frau und ich leben allein hier, ohne Familienanhang, verdammt!"

Letzteres hatte er besonders laut gerufen, in der Hoffnung, dass Catarina es gehört hatte und sich versteckt hielt.

„Das kann ja sein," grinste der andere, „deswegen wird uns Eure Nutte trotzdem verraten, wo ihre Brüder stecken!"

„Woher soll sie das denn wissen? Sie war doch ewig nicht mehr in den Häusern unten!"

„Das ist mir doch egal, woher sie das wissen soll. Hauptsache, sie verrät es uns. Und das wird sie! Wisst Ihr, das ist doch ganz einfach: Wir fragen sie, und sie antwortet uns. Wollt Ihr nicht ein wenig zusehen?"

Verzweifelt wollte Filipe sich auf Maria stürzen, aber der Schergen hielten ihn an den Armen fest.

„Dort an die Wand!" kommandierte der erste, „macht Platz!"

Filipe wurde gewaltsam an die Wand gegenüber der Küchentür gestellt und dort festgehalten. Er musste hilflos mit ansehen, wie vier Soldaten seine Maria auf dem Tisch festhielten, mit feisten Bemerkungen befingerten sie sie überall, das Blut rann aus Mund und Nase. Raposa bellte und knurrte ununterbrochen, aber Filipe passte auf, dass er keinen der Soldaten anfiel.

„So, du Niggernutte, willst du uns jetzt nicht sagen, wo deine Brüder sind?"

„Ich - weiß- es - nicht." flüsterte sie kaum hörbar.

„Du weißt es nicht, soso. Sollen wir deinem Gedächtnis mal ein wenig auf die Sprünge helfen?"

Maria spuckte Blut: „Ich - weiß - es - nicht -" stotterte sie wieder.

„Fang an!" befahl der Vormann seinem Untergebenen, der vorhin schon auf Maria eingeschlagen hatte. Der nahm das Gewehr am Lauf, wie mit einem Knüppel schlug er der Kolben auf Marias Brust, erstickender Schrei. Filipe wollte sich losreißen, brüllte wie ein Tier, aber die Männer hielten ihn fest

Der Vormann kniete sich neben Marias Gesicht: „Und, Niggernutte? Wo ist dein Brüderchen?"

Wieder spuckte sie Blut, wollte was sagen, brachte aber nur undeutliche gurgelnde Laute hervor.

„Was? Ich kann dich nicht verstehen!"

Wieder nur Lallen.

„Wie du meinst." Er stand auf, gab dem anderen einen Wink: „Nun aber mal richtig! Wir sind hier nicht im Streichelzoo!"

Der grinste feist. Er hob das Gewehr und rammte den Kolben mit Wucht in Marias Unterleib. im unerträglichen Schmerz versuchte sie sich aufzubäumen, aber die lachenden Soldaten hielten sie fest. Filipe schrie, flehte, aufhören! Die sollen endlich damit aufhören!

„Also," wandte sich der Vormann wieder an ihn, „wenn Ihr vielleicht doch eine Vorstellung haben solltet, wo die Kerle sich versteckt halten, könntet Ihr die Prozedur deutlich verkürzen." Der Hund fletschte die Zähne.

„Ich sagte doch, ich weiß nichts von den Brüdern," keuchte er hervor und hielt Raposa fest, „Ich weiß nicht, dass sie revoltieren, ich weiß nicht, wo sie sind, ich habe sie seit Monaten nicht gesehen!"

Der Vormann winkte einen weiteren Soldaten heran, gab ihm ein Zeichen: "Soll doch jeder mal das Vergnügen haben. Vielleicht in die Titten?"

Schallendes Gelächter. Der Mann hob sein Gewehr über Marias Brust. In dem Moment riss Raposa sich los, stürzte auf den ersten Schläger und verbiss sich in sein Bein. Der schrie auf, versuchte den Hund abzuschütteln, dann schlug er mit dem Gewehr nach ihm, Raposa heulte schmerzhaft auf und ließ von dem Mann ab. Der richtete nun sein Gewehr auf das Tier, Filipe schrie, „Nein! Nicht!"

Der andere ließ sein Gewehr sinken. „Bist du verrückt, du Tierquäler? Du willst doch nicht den Hund erschießen! Was kann der denn dafür?!"

„Die Bestie hat mich gebissen! Hast du das nicht gesehen, du Idiot?"

Drohend stellte der andere sich zwischen Hund und den Schläger: „Ich sagte, lass den Hund in Ruhe!"

„Schluss jetzt!" machte der Vormann dem Streit ein Ende, „haltet gefälligst Euren Köter im Zaum," herrschte er Filipe an und gab ihm die Leine zurück, und zu dem Mann, der jetzt an der Reihe war: „Los jetzt!"

Der wandte sich nun wieder Maria zu, hob das Gewehr und rammte es gewaltsam in ihre Brust. Filipe schrie erneute, mußte wegsehen, diese Brutalität, und er so hilflos dabei! Marie grunzte und keuchte nur noch, das Blut lief erneut aus ihrem Mund, spritze beim Husten umher. Der Schlag hatte ihr bestimmt mehrere Rippen gebrochen, Filipe tobte, aber die Männer lachten nur.

Dann wurde wieder die Tür aufgestoßen, ein Offizier kam rein, die Männer nahmen Haltung an. Er sah sich kurz um, betrachtete die geschändete Frau auf dem Tisch, angewidert verzog er den Mund:

„Was ist das denn für eine Sauerei hier! Das ganze Drecksblut, wer soll das denn alles wieder wegmachen?" Und dann zu Filipe gewandt: „Seid Ihr Senhor Mandoza?"

Filipe nickte, er bekam kein Wort heraus.

„Folgt mir, wir setzen uns draußen hin, hier ist mir das zu versaut!"

Einer der Soldaten hob Marias Kopf an: „Die kann ja gar nicht mehr reden," konsultierte er anhand ihrer Verletzungen, mit einem heftigen Hustenanfall spritzte ihr Blut in sein Gesicht, worauf er angeekelt ihren Kopf auf den Tisch fallen ließ.

"Das woll‘n wir doch mal sehen", grinste der Schläger; die beiden Soldaten, die Filipe festhielten, schoben ihn nun dem Offizier hinterher nach draußen, während der andere erneut zum Hieb auf die schwer verletzte Maria ausholte.

Draußen vor dem Haus standen immer noch Tische, Stühle und Sessel, in denen sie so viele Abende gesessen hatten, erzählt und diskutiert und die Geschicke der Roca besprochen hatten. Nun war Terror und Gewalt hier eingezogen, all ihre Bemühungen waren umsonst.

Höflich bot man Filipe einen Stuhl an, seine Aufpasser stellten sich rechts und links daneben. Ribeiro, Alves und seine Gesellen waren schon anwesend, Alfonso wurde grade, begleitet von einem Soldaten, gebracht. Der Offizier und seine Untergebenen setzten sich ebenfalls, als Letzter kam Almeida, auch von zwei Soldaten begleitet. Sie fassten ihn nicht an, ihre Gegenwart war aber nicht misszuverstehen: An Flucht konnte Almeida nicht denken; wäre auch nicht seine Art gewesen.

„Meine Herren," eröffnete der Offizier das Wort, nachdem Almeida mit versteinerter Miene Platz genommen hatten „ich bin Capitano de Lavarro. Ich habe hier das Kommando. Unsere Absicht ist es, hier so schnell wie möglich wieder ein normales Leben zu ermöglichen. Aber unsere Aufgabe ist es auch, Ruhe und Ordnung auf dieser Insel wieder herzustellen. Einige Unannehmlichkeiten sind da leider unausweichlich."

Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Am liebsten wäre Filipe ihm an den Hals gesprungen, Almeidas Mundwinkel zuckten.

„Ich will es kurz machen," fuhr der Capitano fort, „wie wir durch unsere Informanten in Erfahrung bringen konnten, befinden sich auf Eurer Roca zwei der Rädelsführer der Revolte, man nennt sie Tiago und Jorge. Kann einer von Euch, meine Herren, dazu etwas kundtun?"

Erwartungsvoll sah er in die Runde.

„Die Genannten stammen von hier." Almeidas Stimme war fest und bestimmend.

„Und wo befinden sie sich jetzt, Senhor Almeida?"

„Ich habe sie seit Monaten nicht mehr gesehen."

Es entstand eine Pause, die knappen Antworten des Verwalters schienen dem Capitano zu missfallen. Fragend schaute er in die Runde, offensichtlich hoffend weitere Informationen zu erfahren. Aber niemand fügte dem Gesagten etwas hinzu.

„Nun gut," brummte er dann, „unsere Männer sind dabei, die Behausungen der Nigger zu durchkämmen. Gnade Euch Gott, wenn sie fündig werden!"

Und nach einer weiteren Schweigeminute fuhr er an Filipe gewandt fort: „Senhor Mandoza, Ihr seid mit der Frau, die in Eurem Haus grade verhört wird, verheiratet?"

„Nicht im christlichen Sinne. Sie ist eben meine Frau."

„Soso. Wusstet Ihr, dass sie die Schwester der Gesuchten ist?"

„Ja."

„Ach," erstaunt zog der Capitano die Augenbrauen hoch, „und sie hat nie etwas von ihren Brüdern erzählt?"

„Die Namen sind mal gefallen. Von aufwieglerischen Aktivitäten war nie die Rede. In den letzten Monaten hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie." Offensichtlich war de Lavarro nicht bekannt, dass da noch eine zweite Schwester war, und Filipe hoffte inbrünstig, dass sie Catarina nicht finden würden.

Der Offizier wollte wieder was sagen, da kam einer seiner Männer aus dem Haus: „Capitano, sie hat nichts gesagt."

„Hm. Durchsucht das Haus! Jeden Winkel!"

Der Mann nahm Haltung an und verschwand wieder in der Tür. Filipe starrte reglos in die Runde, Catarina, dachte er nur, Catarina! Catarina!

Vom Damm her waren immer wieder Schreie zu hören, auch Schüsse fielen. Ab und zu waren flüchtende Menschen zu sehen, verfolgt von Soldaten, die sie wie Wild jagten und niederschlugen, wenn sie ihrer habhaft werden konnten.

„Außerdem wird berichtet," fuhr de Lavarro fort, „dass Ihr Niggern Unterschlupf gewährt habt, die sich unerlaubt von anderen Anwesen entfernt haben. Ist das richtig?"

Seine Frage war nun wieder an Almeida gerichtet. „Ich kenne nicht jeden unserer Arbeiter. Wenn sich Fremde dazwischen mischen, zum Beispiel in den Weiten der Plantagen, dann würde es mir wohl kaum auffallen."

Das war einsehbar. Der Capitano sah ihn scharf an, dann wechselte sein Blick zu Ribeira, fragend.

Der Mistkerl hat gequatscht, schoss es den anderen in den Kopf, aber sie konnten diesen Gedanken nicht weiter verfolgen. Von drinnen waren plötzlich laute Schreie zu hören: Catarina! Sie hatten sie gefunden.

Die Tür wurde aufgestoßen, zwei Soldaten schleppten sie heraus.

„Da sind keine Männer, Capitano. Aber die hier hatte sich oben versteckt."

De Lavarro musterte sie von oben bis unten. "Ich das auch Eure Frau?" fragte er Filipe dann schnippisch.

Die Männer grinsten, einige kicherten, machten zotige Bemerkungen: „Eine ist ihm wohl nicht genug," und dergleichen.

„Sie ist meine Haushälterin."

„Ach, Haushälterin! Soso." De Lavarro war davon nicht überzeugt, er war wohl eher der Meinung seiner Männer. „Dann kann sie uns ja mal einen Kaffee servieren. Bei diesem schönen Wetter können wir doch ein Schlückchen vertragen, nicht wahr, meine Herren? Vielleicht noch ein paar Kekse dazu!"

„Hast du gehört, du Nutte?" rief einer der Männer, der sie hergebracht hatte, „ab in die Küche!" Mit einem Fußtritt bekräftigte er seine Aufforderung.

Der Capitano lehnte sich zurück in seinem Sessel, fummelte eine Zigarre ausseiner Uniformtasche, biss die Spitze ab um sie zu Boden zu spucken, dann zückte er seine Streichhölzer. Schweigend bliess er einige Kringel in die Luft.

„Es ist schön hier bei Euch," meinte er dann in sanftem Ton, „wenn das alles vorbei ist, würde ich Euch gern öfter besuchen."

Mit steifem Gang und zittrigen Händen brachte Catarina das Tablett mit Kaffee und Gebäck. Sie stellte es auf den Tisch und schenkte ein. Unten hörte man das unverkennbare Geräusch von Kettenfahrzeugen: Zwei Panzer bezogen Stellung auf dem Steindamm.

„Nun, greift zu," forderte der Capitano die anderen auf, die weder Kaffe noch Kekse angerührt hatten, „Das muss man der Niggerin lassen, Kaffee kann sie kochen." Nur Ribeira folgte seiner Aufforderung.

Catarina war in der Tür stehen geblieben, still weinte sie vor sich hin.

„Habt Ihr auch noch einen Brandy im Haus, Mandoza?"

„Sicher."

„Na, Ihr möchtet doch bestimmt auch einen, das lockert die Stimmung ein wenig."

Filipe gab Catarina ein Zeichen und sie verschwand wieder im Haus. Aber sie kam nicht zurück. Nach einigen Minuten forderte der Capitano ihn auf, doch mal nachzusehen, wo sie denn bliebe, „nicht, dass die den guten Stoff an die Männer da drin verteilt!"

Filipe stand auf, ging zur Tür und öffnete. Es bot sich ein Bild, das ihn erschaudern ließ. Reglos und voller Blut lag Maria immer noch auf dem Tisch. Quer über ihren Leib hatten die Soldaten Catarina gezwungen: Zwei hielten sie vorne an den Armen währen ein anderer sie von hinten schändete. Die Umstehenden klatschten Beifall und zählten die Stöße des Vergewaltigers, zwei weitere warteten mit heruntergelassenen Hosen.

„Aufhören, verdammte Scheiße! Sofort aufhören!" Er stürzte auf das Unfassbare zu, wurde aber lachend von den Soldaten festgehalten.

„Na? Willst du auch mal meinen Schwanz spüren?" spottete der eine, "kannst ja schon mal deinen Arsch freimachen!" Schallendes Gelächter. Sie zwangen ihn, weiter zuzusehen, führten ihn um den Tisch herum, damit er auch von allen Seiten alles mitbekäme. Am Kopf von Maria versagten seine Knie den Dienst, er sank auf die Knie, sah in ihr entstelltes Gesicht, ihre Augen suchten ihn, sie lebte noch, die Schergen fixierten seine Arme, aber sanft rieb er seine Wange an der der Sterbenden, Tränen rannen, „ich liebe dich!"

Dann rissen die Kerle ihn fort, packten ihn und warfen ihn aus der Tür. Blutverschmiert stolperte er in die Sitzgruppe, stürzte zu Boden, rappelte sich auf, alle starrten ihn an.

„Aufhören," stammelte er, „Capitano, aufhören - das ist bestialisch - die - die ... "

Der sah seine Männer an. „Sieh mal nach," befahl er dann dem einen, der ging rein, man hörte einige Kommandos, dann kam er mit Catarina fest an der Hand wieder raus.

„Du Nutte wollte nur ihren Spaß haben," berichtete er. De Lavarro betrachtete sie.

„Gut. Also keinen Brandy," entschied er, „Ihr" - er wandte sich an die anderen Weißen – „begebt Euch in Eure Häuser. Ich werde Euch Wachen bereit stellen, damit Euch nichts passiert," und jeder wusste, dass das ein Hausarrest war. „Ihr, Almeida, begleitet Leutnant Delgado zum Hauptquartier, General De Cruze will Euch sehen. Und Ihr, Mandoza? Was mache ich mit Euch?"

‚Erschießt mich doch!' wollte er sagen, aber dann wäre Catarina schutzlos den Bestien hier ausgeliefert. Er wusste zwar nicht, wie er ihr helfen sollte, aber wenn er tot war, konnte er es erst recht nicht.

„Nehmt ihn mit zu General De Cruze," ordnete er an, „soll der entscheiden!" Er erhob sich, die anderen folgten. De Lavarro befahl seinen Männern, Alfonso, Alves, Miguel und Jose sowie Ribeira zu ihren Häusern zu begleiten und dort zu wachen bis sie abgelöst würden. Dann marschierte er mit seinem Stab zum Steindamm hinunter.

Almeida, Filipe, Catarina und zwei Soldaten blieben zurück, ein dritter machte sich auf den Weg, einen Wagen zu holen. Catarina sah nur noch zu Boden, sie wagte es nicht, den Blick zu heben. Almeida und Filipe sahen sich verstohlen an, fragte sich, was sie nun erwartete. Dann kam der Wagen.

„Einsteigen!"

Unten waren wieder Schüsse zu hören, eine Gruppe von flüchtenden stürmte zu ihnen herauf, gefolgt von einer Handvoll Soldaten. Die drei hier oben gingen in Stellung und empfingen die Schwarzen mit einer Gewehrsalve, mehrere stürzten getroffen auf den harten Stein. Filipe und Almeida nutzten das Durcheinander, um auch Catarina in das Auto zu bugsieren, die anderen bemerkten es nicht. Oder es war ihnen egal. Nachdem sich der Tumult gelegt hatte, startete der Fahrer, langsam kurvte er um die Toten und sterbend am Boden Liegenden herum, immer wieder mussten sie anhalten um das Ende von Gewehrfeuer abzuwarten, weiter unten an den Fermentierhallen war es ruhig, vereinzelte Soldaten standen Wache, so auch am Haupteingang der Roca. Kontrolle, kurzer Blick, dann winkte der Wachmann sie weiter, geschafft!

Aber dann rief einer der Wächter hinter ihnen her: „Stop! Halt!“

Der Fahrer hielt an, der Wachmann kam zum Auto, schaute noch einmal in den Fond:

„Aber nicht mit der Niggerhure hier raus!"

Er riss die Tür auf: „Raus hier!" Zwei weitere Wachsoldaten waren hinzu geeilt, zerrten Catarina aus dem Wagen, Almeida und Filipe versuchten ihr zu helfen, wurden mit Schlägen der Gewehrkolben aber daran gehindert. Schließlich zückte der Fahrer seine Waffe:

„Schluss jetzt! Raus mit der Nutte, wir wollen hier nicht ewig warten!"

Mit unbeweglicher Mine stieg Catarina aus, Filipe wollte ihr noch was Liebes sagen, aber dazu kam er nicht mehr.

„Und was machen wir jetzt mit der?" hörte er den einen Wachmann fragen.

„Was weiß ich? Du wolltest sie doch nicht durchlassen. Bring sie zu den anderen."

"Ja, ja, ich müh mich da jetzt rauf um die Nutte zu den anderen zu bringen! Ich glaub, du spinnst!"

"Na, dann lass sie hier stehen. Oder erschieß sie doch einfach, dann sind wir das Problem los!"

Die beiden feixten sich an. Der eine trat nach Catarina: "Los, du Hure, lauf!"

Der Fahrer startete den Motor und fuhr los. Aus dem Rückfenster konnte Filipe sehen, wie der eine seine Waffe zückte und Catarina kaltblütig erschoss.

 

Almeida und Filipe saßen schweigend im Fond des Wagens, Raposa zwischen ihnen, er legte seinen Kopf auf Filipes Schoß, gedankenverloren kraulte er ihn hinterm Ohr.

Er wollte an nichts mehr denken.

Er konnte diese schrecklichen Ereignisse immer noch nicht fassen und wünschte sich, endlich aus diesem Albtraum aufzuwachen.

Immer wieder schaute er aus dem Fenster, alles hier schien wie immer, Menschen in Arbeitskleidung, Waren und anderes schleppend, vereinzelte Lastwagen. Nur die Militärfahrzeuge, die ihnen in kleinen Kolonnen begegneten, die waren früher hier nicht zu sehen gewesen.

Wie lange die Fahrt gedauert hatte, wusste er nicht. Irgendwann erreichten sie ein Eisentor, Soldaten öffneten, eine Wache kontrollierte die Fahrgäste nachdem der Fahrer sich ausgewiesen hatte, dann durften sie weiterfahren.

Eine Kaserne, Filipe konnte sich dunkel erinnern, hier war er schon einmal gewesen, damals, als er mit Hortensia das Fest der Fischer besucht hatte und dann festgenommen worden war.

Der Wagen hielt an, sie mussten aussteigen, Raposa immer an seiner Seite. Im endlosen Flur des Gebäudes wies man sie an, auf den vereinzelt dort herumstehende Stühlen Platz zu nehmen, die Stunden vergingen zäh während sie von zwei Soldaten bewacht wurden. Ab und zu kamen andere Uniformierte vorbei, redeten, scherzten, bester Laune in diesen 'Friedenszeiten'.

Die gegenüberliegende Tür wurde geöffnet: "Senhor Almeida, kommt bitte herein."

Wieder dauerte es über eine Stunde, bis Filipe endlich herein gebeten wurde, von Almeida keine Spur, rechts und links geschlossene Türen, hinter denen aber offensichtlich heftig diskutiert wurde. Die rechte wurde geöffnet, "ja, so können wir es machen," sagte der Eintretende, es war General De Cruze. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, neben ihm die portugiesische Flagge, hinter ihm an der Wand ein Bild von General Craveiro Lopes. Lange betrachtete er Filipe, Raposa sah ihn neugierig an, begann mit dem Schwanz zu wedeln, General De Cruze begrüßte ihn mit „Na, mein Kleiner, wer bist du denn?"

„Er heißt Raposa, General," beantwortete Filipe die Frage.

De Cruze lachte. „Na, wie ein Raposa sieht er aber nicht aus."

„Meine Frau - meine verstorbene Frau hat ihn so genannt, General."

General sah zu ihm auf, betrachtete ihn lange. „Eure verstorbene Frau, soso." Und nach einer weiteren Pause fuhr er fort: „Senhor Mandoza, hatte ich Euch nicht gesagt, dass ich Euch hier nie wiedersehen wollte?"

„Ich bin nicht freiwillig hier, General."

Der lachte. „Nein, wenn es so wäre, hätten wir wohl kein Problem." Und wieder betrachtete er den Mann mit dem Hund auf der anderen Seite des Schreibtisches. „Was um alles in der Welt soll ich jetzt mit Euch machen?"

„Was werft Ihr mir denn vor, Senhor?"

„Das wisst Ihr nicht?"

„Nein, General."

Er zog die Augenbrauen hoch: „Eure verstorbene, sogenannte Frau, Senhor, war die Schwester von führenden Köpfen unter den Aufwieglern. Ihr steht im Verdacht, an der Nichtauffindbarkeit dieser Banditen beteiligt gewesen zu sein. Unterstützung von Landesverrat nennt man das. Darauf steht die Todesstrafe in diesem Lande, Senhor."

„Ich habe die Gesuchten seit Monaten nicht gesehen."

„Ja, das habe ich mir gedacht. Und Eure verstorbene Frau hat sie natürlich auch nicht gesehen."

„Unsere Roca hatte das Ziel, möglichst erfolgreich zu wirtschaften. Das funktioniert nur, wenn der soziale Friede gewahrt bleibt. Aufwiegeleien und dergleichen wurden bei uns in keinster Weise geduldet."

„Und um möglichst erfolgreich zu wirtschaften, habt Ihr auch solche Kräfte eingesetzt, die sich unerlaubt von anderen Arbeitseinsätzen anderer Betriebe entfernt hatten, richtig? Anstatt sie zu melden, habt Ihr sie stillschweigend geduldet."

„Da weiß ich nichts von, General. Ich war nicht mit der Einteilung und Organisation der Arbeitskräfte betraut."

„Ist in Euren abendlichen Gesprächsrunden nicht darüber gesprochen worden?"

„Nein, General. Von derartigen Zusammenhängen ist mir nichts bekannt."

Filipe fragte sich, woher er das alles wusste, von ihren regelmäßigen Runden vor seinem Haus, von den Fremden der Roca Angolares, von denen auch de Lavarro schon gesprochen hatte. Irgendjemand hatte da doch gequatscht. De Cruze beobachtete ihn wieder lange, sah ihm in die Augen, Filipe hielt dem Blick stand.

Senhor Mandoza," sagte er schließlich, „ich weiß, welchen Preis Eure Familie beim Kampf gegen die Kommunisten gezahlt hat; für unser ehrenwertes Vaterland Opfer zu erbringen ist keine Selbstverständlichkeit. Und ganz nebenbei," er lächelte kurz, "habe ich in meiner Zeit in Lisboa den Wein Eurer väterlichen Ageda stets zu schätzen gewusst."

„Danke, General, das ehrt mich sehr." antwortete Filipe brav.

„Mit dem nächsten Schiff verlasst Ihr diese Insel. Und Ihr werdet niemals wieder kommen, verstanden?" Wieder sah er ihm scharf in die Augen.

„Jawoll, General!"

De Cruzes Blick wurde wieder sanfter, er sah zu Raposa hinunter, streckte seine Hand nach ihm aus, schwanzwedelnd beantwortete dieser diese angedeutete Zuneigung.

„Was ist mit Senhor Almeida, General?" fragte Filipe im Hinausgehen.

„Geht jetzt, Mendoza!"

 

Filipe durfte nur das mitnehmen, was er am Leib trug, eine Rückkehr zur Roca Rio do Ouro wurde ihm untersagt. Es war nicht mehr die Joao de Santarem, die ihn zurück nach Portugal brachte. Es war nicht mehr Capitano de Alvo und seine Mannschaft, es war ein modernes Schiff mit einer Mannschaft, die er nicht kannte, viele der Männer sprachen nicht seine Sprache. Tagsüber versuchte er sich an Deck abzulenken, in den Nächten verfolgten ihn die fürchterlichen Erinnerungen, Raposa war sein einziger Freund.

 

Die Dämmerung brach herein, als Filipe von Bord ging, verloren stand er auf dem Kai herum während junge Frauen und Familienangehörige die anderen portugiesischen Besatzungsmitglieder begrüßten, ihnen um den Hals fielen. Seine Kleidung war verschmutzt, sie verbreitete einen unangenehmen Geruch. Um überhaupt etwas zu tun, schlenderte er langsam in eine Richtung davon, auf einem Poller nahm er Platz, versonnen starrte er in das dunkle Wasser des Hafenbeckens. Er müsste einfach nur hineinspringen und das Elend hätte endlich ein Ende.

Er sah runter zu Raposa, seinen treuen Begleiter. Er konnte ihn nicht allein zurück lassen. Nein, unmöglich! Zärtlich kraulte er das Tier hinter den Ohren und Raposa antwortete mit heftigem Schwanzwedeln.

Filipe! Reiß dich zusammen! Das Leben geht weiter!

 

Zehn oder vierzehn Tage waren vergangen. Filipe hatte Geld von der Bank abgehoben; es hatte sich ein ordentliches Sümmchen angesammelt. In einer kleinen Pension war er untergekommen, in aller Ruhe wollte er von hier aus sein Leben neu organisieren. Und irgendwann auch seine Schwestern auf der Ageda besuchen. Die Abende verbrachte er mit ausgiebigen Runden durch die Gassen der Altstadt, damit Raposa sein Geschäft erledigen konnte. Die Taberna Doca de Ponte hatte er zu seiner letzten Station erkoren um dort noch ein Gläschen Wein zu genießen. Junges Publikum verkehrte hier, sicherlich interessante Menschen. Aber Filipe war es nicht möglich, die Kontakte, die sich zwangsläufig ergaben, aufrecht zu erhalten. Er hatte schon bald so etwas wie einen Stammplatz am Rande der Tische, die draußen auf der Straße standen, von hier aus war das Treiben am besten zu beobachten.

Die Gruppe junger Leute kam lachend und scherzend die Gasse herunter, einzelne Männer und Frauen, Paare Arm in Arm, sie blieben stehen, einige gingen hinein, eine der jungen Frauen mit wallenden schwarzem Haar wand sich aus dem Arm ihres Kavaliers und kam auf Filipe zu, Raposa wurde aufmerksam, voller Freude sprang er an ihr hoch:

"Filipe Mandoza?"

Er sah zu ihr auf: "Hortensia?!"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 31.03.2021

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