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Klicker-Mutprobe-Dunkle Gestalten

 

 

Klicker

 

Der Laut war kaum wahrnehmbar. Dennoch, er schreckte von seinen Schularbeiten auf, so vertraut war ihm der kurze, schrille Pfiff, der von der Straße her kam. So hatte er sich schon früher vor dem Kindergarten in den Pausen an der Mauer des Schwesternheims bemerkbar gemacht, um ihm ein Zeichen zu geben, dass er, der den Kindergarten nicht besuchen konnte, da war und ihm helfen wollte, wieder einmal über die Mauer zu klettern und abzuhauen. Oft war es den beiden auch gelungen und die Nonnen waren dann immer ganz aufgeregt hinüber zu seiner Mutter gelaufen, um ihr klar zu machen, dass das auf Dauer wohl nicht so weiter gehen könnte. Besonders erfolgreich waren die Fluchtversuche meist nicht, denn sehr schnell wurden die zwei von der Mutter im alten Gartenhäuschen aufgetrieben und Axel musste wieder in den ungeliebten Kindergarten zurück zu den strengen Ordensschwestern. Immerzu beten und singen, wo das Leben mit dem freien und unbeaufsichtigten Atzeler so viel interessanter und spannender war. Etwas schuldbewusst schaute er von seinem Platz auf und sah von der Eckbank hinüber zu seiner Mutter, die am Herd mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt war.

Hatte sie es auch gehört?

Ein Glück, es sah nicht so aus, denn sonst hätte sie bestimmt reagiert, aber die Gasflammen waren voll aufgedreht und die Suppe fing auch schon an, geräuschvoll zu brodeln.

Er war also schon wieder draußen und ich sitze hier immer noch bei den blöden Hausaufgaben, dachte Axel verärgert. Die Sonne schien und es wurde allerhöchste Zeit, dass endlich die Sommerferien anfingen und er ohne Zwang auf der Straße, im Garten oder in den nahe gelegenen Feldern spielen konnte. Naja, drei Tage noch, dann war es geschafft!

Doch noch saß er hier, musste sich mit Rechenaufgaben herumquälen und auf das Mittagessen warten. Außerdem nervte die kleine Schwester, die auf der anderen Seite der Eckbank saß, total ab. Sie blätterte geräuschvoll in den Comicheften, kritzelte mit entsetzlich quietschender Kreide auf der Schultafel herum, denn sie wollte ja unbedingt Schule spielen, und quasselte ununterbrochen. In solchen Situationen konnte man den Atzeler nur beneiden, wegen seiner Unabhängigkeit. Seine Eltern gingen beide arbeiten, zumindest nahm man das an. Vielleicht saßen sie auch den ganzen Tag nur in Kneipen herum? Wer wusste das schon? Den Atzeler hat es offenbar nie gestört. Seine größeren Geschwister waren alle schon berufstätig und deshalb auch tagsüber meist unterwegs und seine kleine Schwester Nadine übernahm mit ihren erst sechs Jahren die Küchenarbeiten, sorgte für das Essen und hielt die Wohnung einigermaßen in Ordnung. Aber so genau wusste das niemand und es kümmerte auch niemanden. Darüber sprachen die beiden nicht, so als würden sie sich etwas schämen. Jedoch, verhungert sahen sie eigentlich nicht aus, höchstens etwas unordentlich. Schularbeiten kannten sie offensichtlich nicht, denn wie sonst wäre es möglich, dass er jetzt schon wieder auf der Straße war und Spielkameraden suchte?

Verstohlen warf Axel einen Blick durch das Küchenfenster zur Straße.

Er saß wie immer auf der Mauer des Schwesternheimes, übte sich im Kirschkern weit spucken, denn im nahen Feld sind ihm sicher ganz zufällig ein paar Kirschen in die Mütze gefallen. In den Händen hielt er sein prall gefülltes Klickersäckchen und er sah gerade so aus wie eine Spinne, die auf ihr nächstes Opfer lauerte. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch das direkt hinter ihm stehende, uralte, mit Efeu überwucherte Jesus-Kreuz und daneben üppig wachsende Büsche, die ihm Schatten spendeten.

Oh nein, dachte Axel, ich nicht; diesmal gelingt es ihm nicht, mir meinen Klickerschatz abzuluchsen. Mit dem spiele ich so schnell nicht mehr, der gewinnt ja doch immer. Ich werde nachher nur zugucken, wie dieser Atzeler wieder bei den anderen zuschlägt. Er war so stolz auf seine neuen Klicker, die ihm erst gestern seine Tante aus der nahen Stadt mitgebracht hatte. Viele bunt angemalte Tonklicker und dann, diese riesige Murmel aus durchsichtigem Glas. In der Mitte war eine Ellipse in allen Regenbogenfarben, die, hielt man sie in die Sonne, wunderschön funkelte und strahlte. So eine schöne hatte niemand im ganzen Dorf. Er war deshalb seiner Lieblingstante um den Hals gefallen und hatte sie rechts und links abgeküsst für dieses tolle Geschenk.

„ Räumt jetzt mal den Tisch ab“, schreckte ihn seine Mutter aus seinen Gedanken auf, „das Essen ist fertig.“

Im Nu verschwand das Schulzeug und die Hefte mit lautem knallen in der Eckbank und die Mutter konnte die Teller mit der gutriechenden, dampfenden Nudelsuppe auf den Tisch stellen.

„Möchte noch jemand ein Ei in die Suppe haben?“ , fragte sie die beiden Kinder.

„Oja, Mama, aber nur, wenn man dann auch noch die Buchstaben sehen kann“, antwortete Jenny, die schon ganz wild darauf war, die Buchstaben ihres Namens aus der Suppe zu fischen und am Tellerrand aufzukleben, denn das war so ziemlich das einzige Wort, was sie schon fehlerfrei schreiben konnte und darauf war sie natürlich sehr stolz. Jetzt wollte sie vom großen Bruder noch mehr gezeigt bekommen, doch dieser hatte heute überhaupt keine Lust auf „ Nudelschreibstunde“ und aß in ungewohnter Eile seinen Teller leer.

„Du scheinst ja heute mächtigen Hunger zu haben, oder kannst du es wieder einmal nicht länger abwarten, um hinaus zu deinem Freund zu kommen?“, sagte die junge Mutter lächelnd zu ihrem etwas betröpfelt dreinschauenden Sohn.

Natürlich hatte sie auch den Pfiff gehört, war ja ganz klar, alles kriegt sie mit, dachte sich Axel und grinste heimlich in sich hinein. An ihr war eine gute Wachtmeisterin verloren gegangen, so aufmerksam war sie, vor allem bei ihren Kindern. Lag das daran, weil der Vater immer nur am Wochenende zuhause war? Fühlte sie sich dadurch verpflichtet, doppelt aufzupassen?

Das könnte schon sein, aber lästig ist es manchmal schon.

„ Jetzt iss doch mal deine Suppe und hör’ endlich auf mit dem Buchstabensalat auf deinem Tellerrand!“, murrte, leicht verärgert, Axel seine kleinere Schwester an, „ich bin schon lange fertig und würde gerne endlich zu meinen Freunden gehen, um mit ihnen zu spielen, du lahme Trine.“

„ Bin gar keine Trine“, sagte Jenny beleidigt, „ die Suppe ist mir nur noch zu heiß.“

„ Ist schon in Ordnung, Axel“, beendete die Mutter den kleinen Streit, „ich seh’ schon, dir juckt der Hosenboden, du kannst ruhig gehen. Wir zwei können auch ganz gut alleine fertig essen und dir, mein kleiner Schatz, dir zeige ich noch ein paar neue Wörter.“

Dankbar schaute er seine Mutter an und war mit einem Satz aus dem Zimmer, rannte über den Flur zum Treppenhaus, schnappte sich im Vorbeieilen sein Klickersäckchen und rutschte wie gewohnt dem Treppenhausgeländer hinunter. Geschickt, da tausendmal geübt, bremste er vor dem Pfosten ab und sprang mit einem lauten Knall auf die unterste Stufe der Holztreppe. Beim Zuschlagen der Haustür konnte er noch hinter sich seine Tante Liese hören: „Axel, muss das denn sein?“

Das störte ihn herzlich wenig, denn das gehörte wie selbstverständlich zum Geländer rutschen dazu. Es hätte ihm richtig etwas gefehlt, hätte er irgendwann einmal nicht die resolute Stimme seiner Tante vernommen, wie das immer in der Urlaubszeit ist, wenn sie verreist sind. Onkel, Tante und der Cousin Ferdi, den alle Kinder nur „Stacho“ nannten, wegen seiner kurzgeschorenen Igelfrisur, packten dann ihren Kleinwagen bis zur Halskrause voll; mit Zelt, Sack und Pack, bis er in die Knie ging und machten sich auf die, für die anderen Dorfbewohner unvorstellbar weite Reise zum Mittelmeer.

 

Dann war es im Haus immer ganz ruhig, ja es wirkte fast leer, obwohl ja noch viel mehr Personen hier lebten; aber Tante Liese war immer so präsent, dass sie ein richtiges Vakuum hinterließ.

Er rannte, unvorsichtig wie immer, über die Straße, die eigentlich eher ein besserer Feldweg war, hinüber zur Schwesternhausmauer. Warum sollte er auch beim Überqueren des Weges groß aufpassen? Autos fuhren hier fast keine und die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 02.08.2017
ISBN: 978-3-7438-2614-4

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