Bittersweet
Hoffnung
Wie wäre ein Winter zu ertragen,
ohne Hoffnung auf den Frühling,
wie ein Abschied auszuhalten,
ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen?
Nur die Hoffnung,
dass es immer wieder hell wird,
lässt uns die langen,
finsteren Nächte durchstehen.
von Annegret Kronenberg
Kapitel 1
Was hält mich hier überhaupt noch? Mein Leben verläuft aus den Rudern. Nichts wird so wie es mal war.
Meine Mutter und ich waren auf den Weg zu einer Beerdigung. In den letzten drei Jahren waren es fünf Begräbnisse. Und alle aus meiner Familie. Heute wird mein geliebter Vater beerdigt. Doch wenn ihr denkt es war ein natürlicher Tod, dann irrt ihr euch.
Meine Eltern waren seit vier Jahren geschieden und lebten auch getrennt. Seit dieser Zeit lernte meine Mutter einen neuen Mann kennen. Ab da war es die Hölle auf Erden. Meine Mutter, meine Brüder und ich wurden von Harry – das war sein Name – geschlagen. Obwohl meine vier Brüder älter waren als ich konnten sie sich nicht immer gegen ihn wehren. Er liebte es, wenn man schrie und um sein Leben bettelte. Ein Sadist wie er im Buche beschrieben wird.
Nach der Trennung von ihm wurde er rasend vor Wut. Innerhalb von einem Jahr mussten wir mehrmals umziehen, damit er uns nicht finden konnte. Doch immer wieder konnte er unsere Spur aufnehmen und übte seine Rache an uns aus. Er tötete meine vier Brüder auf brutalste Weise und auch vor Kurzem meinem Vater. Jedes Mal hinterließ er einen Zettel mit seinen widerlichen Worten:
»Ich werde jeden von euch zur Strecke bringen! Die Schreie meiner Opfer stärken mich immer wieder aufs Neue. Bald ist der Nächste dran.
ICH FINDE EUCH!«
Als wir zu der Kirche eingebogen waren, standen sie alle da. Jeder Blick durchbohrte mich. Das Gerede von Beileid konnte ich nicht mehr hören. Ich schaltete meine Ohren auf taub. Ich hörte nicht einmal die Predigt des Pfarrers. Immer wieder hallte seine Stimme stumpf durch meinen Kopf. Ich konnte Harry nie aus meinem Gedächtnis verbannen. Meine Mutter konnte sich auch nicht richtig auf das Begräbnis konzentrieren. Ständig drehte sie sich um und suchte hysterisch nach ihm. Ob er uns wieder gefunden hat? Ob er schon auf uns lauerte? Diese Fragen gingen uns Tag für Tag nicht mehr aus dem Kopf.
Die Zeit zog sich in die Länge. Ich konnte meine Gedanken nicht ausschalten. Wie in einem Buchstabensalat flogen sie in meinem Kopf herum. Keine klaren Sätze bildeten sich. Erst als meine Mutter mich am Arm zog, wachte ich aus meinem Tagtraum auf.
»Lilly? Schatz? Wir gehen jetzt«, sagte sie mit einer bedrückenden Stimme.
»Oh! Okay … wo fahren wir hin?« Ihr Blick wechselte zu einem sehr ernsten Ausdruck. Den ich nicht recht einordnen konnte. Ich fragte sie mehrmals und stupste dabei ihren Arm. Sie zögerte einen Moment und führte mich zu unserem Wagen. Es war ein ziemlich kleines Auto. So gesehen perfekt für eine Frau in einer Großstadt wie hier in Los Angeles. Als sie mir die Autotür öffnete, sah ich drei Koffer auf dem Rücksitz liegen. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte. Wir mussten mal wieder aus der Stadt fliehen. Meine Mutter schaute mich erst nicht an, um meinem Blick zu entkommen. Sie wusste genau, wie meine Reaktion sein würde.
»Was soll das? Ich hab gedacht der Kerl ist nicht hier!« Mit einer Erklärung starrte ich sie fragend an. Sie zögerte einen Moment und holte tief Luft.
»Die Polizei sagte mir, dass wir nicht außer Gefahr sind und deshalb hier weg müssen. Und außerdem habe ich ein tolles Jobangebot bekommen ...« Als ich „tolles Jobangebot“ hörte konnte ich meine Wut nicht mehr unter Kontrolle halten.
»Mom...das kann doch nicht dein Ernst sein? Ich habe doch nur noch zwei Jahre für die Schule. Und jetzt soll wieder alles von vorn anfangen?« Ich war so außer mir, dass ich sie regelrecht angeschrien hatte. Die Leute um uns herum machten große Augen und tuschelten über uns. Natürlich … auf einem Friedhof war es nicht angemessen so herumzuschreien. Doch ich ignorierte sie.
»Das wird schon gut gehen«, seufze meine Mutter. Sie legte mir ihre sanften Hände an meine Wangen und wollte mich beruhigen. Wie Mütter sind, schaffte sie es auch. Meine Atmung wurde ein wenig ruhiger. Doch immer noch wollte ich eine Erklärung für all das. Auf dem Weg zum Flughafen stellte ich ihr alles Mögliche. Auch Alternativen, die man in Erwägung ziehen könnte. Doch mit meiner Mutter ließ sich das nicht machen. Am offenen Autofenster atmete ich tief durch. Meine schwarzen langen Haare wehten mir in mein blasses Gesicht. Die Zugluft tat mir ein wenig gut. Da ich ja nicht wusste was mich erwarten würde.
Meine Mutter saß neben mir, auch nicht gerade entspannt da. Ihre Hände schnürten sich um das Lenkrad. Man konnte ihre feinen Adern auf ihrer Handoberfläche pulsieren sehen. Ich überlegte mir die richtigen Worte – wenn es die überhaupt in dieser Situation gibt – um ihr nicht wehzutun.
»Mom?«, fragte ich vorsichtig.
»Verheimlichst du mir irgendwas?« Plötzlich zuckte sie zusammen, als hätte ich sie dabei erwischt.
»Äh … wieso fragst du?«, wisch sie mir aus.
»Du bist so nervös, als wolltest du noch was sagen.« Ich schaute meine Mutter ernst an und hoffte, dass ich richtig lag. Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum.
»Lilly, Schatz.« Oh man ...wenn sie so anfing bedeutet das nichts Gutes.
»Dieses Jobangebot … das … das ist nicht in der Stadt wo ich dich hinbringe.« Meine Atmung setzte eine Sekunde lang aus vor Schreck.
»Was soll das heißen? Wo?« Durchlöcherte ich sie. Man konnte es ihr ansehen, das sie es versuchte zu verdrängen.
»Okay … ich erzähle dir alles. Aber lass mich bitte ausreden.« Natürlich … dachte ich mir. Ich möchte ja eine Erklärung für das alles. Ich nickte ihr zu.
»Ich werde nicht mit dir nach Sweet Grass County fliegen. Ich … ich werde nach New York gehen. Dort habe ich dieses tolle Jobangebot bekommen, aber da habe ich alle Hände voll zu tun und kann mich nicht um dich kümmern ...« Mein Herz zersprang in tausend Stücke. Ihre Worte hallten in meinem Kopf. Als sie mich ansah, hörte sie auf mit sprechen. Mein Gesicht wurde kreidebleich – ob das noch bleicher werden konnte?
»Du willst mich in eine fremde Stadt alleine schicken?«, fragte ich sie mit wütendem Ton.
»Ich weiß, dass es falsch ist, aber wenn ich genug Geld zusammen habe komme ich nach und wir können zusammen leben.« Sie versuchte es mit einem Lächeln – so gut es ging – schön zu reden. Doch das änderte nicht meine Einstellung ihr gegenüber. Die Wut brannte in mir und wollte herausströmen. Aber ich hielt mich unter Kontrolle.
»Also ist das jetzt unsere letzte Fahrt? Und keine Ahnung wann wir uns wieder sehen?« Mit ruhiger Stimme versuchte ich mich zurückzuhalten.
»Ich werde in ein anderes Flugzeug steigen als du. Bitte verzeih mir Lilly. Die Familie, bei der du wohnen wirst, ist wirklich sehr nett.« Oh man … eine andere Familie? Was kommt denn da noch auf mich zu? Und woher kennt meine Mutter sie? Kenne ich sie vielleicht auch?
»Welche Familie, Mom?«, fragte ich sie mit erwartungsvollem Blick.
»Du kennst sie nicht, aber dein Vater war ein sehr guter Freund von den Harrisons. Sie sind wirklich eine nette Familie. In deiner Tasche habe ich einen Briefumschlag mit eingesteckt. Dort findest du jede Information über die Harrisons. Bitte Lilly, vertrau mir. Bei ihnen bist du sicher.« Ich schaute nur noch aus meinem Fenster und sagte kein einziges Wort mehr. Aber meine Mutter sprach sich trotzdem dem Mund fusslig und wollte alles in ein schöneres Licht tauchen. Zwecklos. Ich stellte mich stumm und taub. Ich genoss lieber den Wind, der durch mein Haar wehte. Die frische Luft lenkte mich ein wenig ab.
Ich knallte mein Gepäck – was nur aus einer Tasche bestand – auf das Fließband, wo es dann gewogen wurde. Mein Ticket reichte meine Mutter ein. Damit ich auch wirklich in den Flieger stieg, buchte sie extra einen Flug eher. Stumm gingen wir zum Gateway 3 – von dort startete mein Flieger. Keiner von uns traute sich etwas zu sagen. Kurz vor unserem Abschied standen wir uns gegenüber. Tränen traten nicht nur mir in die Augen.
»Mom ...bitte! Lass mich nicht alleine in dieser Stadt«, flehte ich sie an. Doch nichts konnte ihre Meinung ändern. Auch keine Tränen der Welt.
»Mach´s gut Lilly. Wir sehen uns bald wieder. Du bist bei den Harrisons gut aufgehoben«, sagte sie mit ihrer lieblichen Stimme und drückte mir einen dicken Kuss auf meine blasse Stirn. Immer weiter stieg meine Angst in mir auf. Was würde mich in der kleinen Stadt Sweet Grass County erwarten? Und die Familie? Ich nahm meine Handtasche und ging durch den langen Gang in Richtung Flugzeugtür.
»Ruf mich an, wenn du angekommen bist!«, rief sie mir noch in letzter Sekunde hinterher. Ich nickte nur und drehte ihr meinen Rücken zu.
Der Flug verlief sehr ruhig. Jedenfalls dachte ich das. Doch in meinem Kopf waren unzählige Fragen, die beantwortet werden mussten. Ich wusste, dass ich sie erst wieder los werde, wenn ich in Sweet Grass County gelandet war. Während des Fluges öffnete ich den Umschlag – von dem meine Mutter gesagt hatte – er würde mir weiterhelfen. Ein riesiger Stapel von Papier kam zum Vorschein. Sie beinhalteten einige Informationen über Sweet Grass County und der Familie Harrison. Bei der Familie las ich ein wenig interessierter nach.
Der Herr des Hauses war Doktor Peter Harrison. Ein Allgemeinarzt. Er arbeitet in der Klinik von Sweet Grass County. Seine Frau ist Hausfrau und sie haben drei Kinder. Aber es sind nicht die Eigenen. Die Ehefrau – Hannah Harrison – kann keine Kinder bekommen und haben deshalb Julia, Darry und Matt adoptiert. Alle drei sind im selben Alter wie ich – also 16 Jahre.
»Das klingt schon mal nicht schlecht«, sagte ich leise vor mich hin. Peter und Hannah Harrison waren um die dreißig. Sehr jung finde ich. Ob sie mich vom Flughafen abholen werden? Diese Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie soll ich mich verhalten, wenn ich auf sie treffen werde? Ich merkte, wie der Druck in meinem Ohr nachließ. Das Flugzeug ging zum Landen über. Ich packte meine Sachen zusammen und wartete,bis wir aussteigen konnten. Als alle Passagiere an mir vorbei waren, ging ich auch von meinem Platz weg.
In der riesigen Halle angekommen – die fast nur aus Glas bestand – suchte ich nach einem Schild mit meinem Namen. Ich wusste ja nicht, wo ich hin sollte. Obwohl die Adresse in den Papieren stand. Ich lief immer und immer wieder im Kreis. Sodass mich auch keiner verfehlen konnte. Doch nirgends war jemand zu sehen der auf mich wartete. Ich ging zu den leeren Bänken und setzte mich hin. Ich kam mir so lächerlich vor, als ich ständig an denselben Leuten vorbei gegangen war. Sie starrten mich auch jetzt noch an. Ich spürte ihre Blicke, wie sie meinen ganzen Körper musterten. Vielleicht lag es auch daran, dass meine Hände zitterten. Doch nicht vor Kälte. Meine Nervosität stieg immer weiter an. Kalter Schweiß perlte von meiner Stirn und mein Gesicht bekam auch keine Farbe. Die Leute glaubten bestimmt ich würde gleich umkippen. Doch ich hielt mich zurück. Stunden vergingen und keiner kam mich abholen. Ich überlegte lange und kam auf einen Entschluss. Meine Mutter hatte mir noch eine kleine Menge Geld mit in den Umschlag gesteckt. Als Notfall meinte sie immer. Ich lief nach draußen und suchte mir ein Taxi. Da mich keiner abgeholt hatte, fuhr ich dann lieber zu ihnen. Vielleicht haben sie eine Erklärung dafür.
Es war ein langer Weg vom Flughafen bis zu ihrem Haus. Eine ganze Weile fuhren wir nur in einem Wald. Ich dachte schon der Fahrer hätte sich geirrt mit der Richtung. Doch vor einer Abzweigung blieb er stehen.
»So meine Dame. Wir sind am Ziel.« Versuchte er mit normaler Stimme zu schreien.
»Sind sie sich sicher? Das ist doch hier der Arsch der Welt!«, sagte ich ihm. Wahrscheinlich war ich noch wütend auf die Harrisons, weil sie mich am Flughafen vergessen hatten.
»Nein. Wir sind hier richtig. Du musst nur noch den kleinen Weg da entlang gehen.«
»Und wieso fahren sie mich nicht noch das Stück?« Was mich ein wenig wunderte.
»Äh … keine so gute Idee. Also, steig jetzt aus. Ich möchte gern hier weg.« Und er wurde immer nervöser. Was ich schon wieder nicht verstand. Er schmiss mich regelrecht aus dem Auto.
Mittlerweile hatte sich das Wetter von sonnig auf Regen und Nebel umgestellt. Nun stand ich mit meinem Gepäck auf der nassen Straße und der Regen strömte über meinen Kopf. Ich überlegte nicht lange und ging diesen kleinen Weg entlang. Meine Schuhe füllten sich mit Wasser und Schlamm. Genau wie mein Koffer.
»Von wegen kleiner Weg«, schnaufte ich. Hinter den dichten Wald ragte ein großes Haus mit vielen Fenstern heraus. Es sah aus wie eine prachtvolle Villa. So viele Fenster an einem Haus hatte ich noch nie gesehen. Einfach wunderschön. Die Außenfassade hatte einen rötlichen Farbton mit einem weißen hellen Dach. Von Weitem suchte ich nach einem Eingang. Doch mein Blick konnte sich nicht von den vier Autos losreißen. Einer davon ist ein Geländewagen von der Marke Jeep. Die anderen Autos sind von klassischer Art. Ein Mercedes, VW und Volvo. Ich dachte mir gleich das die Harrisons reiche Leute sind. Als ich ein Stück um das Haus herum ging, fand ich eine Eingangstür aber ohne Namensschild oder Klingel. Ich überlegte einen kurzen Moment und klopfte dann doch an die Tür. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hoffte, dass es nicht aus meiner Brust springen würde. Es dauerte keine Sekunde und die Tür öffnete sich. Und da stand er. Eine engelsgleiche Statur. Er reichte mir weit über den Kopf – so groß er war. Seine glatte perlweiße Haut schimmerte durch seine Kleidung. Was mich vor allem den Atem stocken ließ, waren seine wunderschönen eisblauen Augen. Ich konnte meine nicht von seinen lassen. Ich starrte ihn nur an und dachte nicht daran, wie peinlich es eigentlich war. Und dann ertönte seine Engelsstimme.
»Was kann ich für dich tun?«
»Ich … ich ...« Meine Worte blieben in meiner Kehle stecken. Er zog seine Augenbrauen zusammen und wirkte ein wenig genervt. Ich muss mich zusammenreißen – war mein einziger Gedanke.
»Was ist nun?«, fragte er mit knurrender Stimme. Plötzlich stand eine wunderschöne Frau hinter ihm und legte ihre Hand auf seine Schulter. Das Knurren – was von ihm kam – verschwand auf einmal. Er ging einen Schritt zurück, damit die Frau an die Tür treten konnte. Auch sie hatte eine sehr weiße Haut und eisblaue Augen. Sie sah schon besser gelaunt aus als er.
»Oh mein Gott!« Schreckte sie zurück, als sie mich sah. Ich dachte schon der Regen hätte mich total verunstaltet oder ich stinke wie die Pest. Flugzeuge waren nicht gerade eine Oase. Viel zu viele Gerüche sammelten sich dort. Ich wusste nicht ob ich was sagen sollte oder ob ich lieber wartete. Doch sie erhob als Erstes das Wort.
»Es tut mir so Leid Lilly. Aber deine Mutter hatte gesagt du kommst erst am späten Abend hier an ...« Dann unterbrach sie sich selbst, da ich einen merkwürdigen Blick auf sie gerichtet hatte. Woher wusste sie das ich es war und nicht irgendeine Fremde? Vielleicht sollte ich sie das fragen?
»Woher wissen sie das ich Lilly bin?«
»Deine Mutter hat uns ein Bild von dir geschickt, damit wir dich am Flughafen auch nicht verfehlen«, lachte sie. Doch mir war nach Lachen nicht zumute. Ich glaubte das konnte sie auch in meinem Gesichtsausdruck sehen.
»Vielleicht solltest du erst einmal ins Haus kommen. Du siehst ja total durchnässt aus.« Sie führte mich in eine riesige Empfangshalle. In der Mitte des Raumes befindet sich eine Treppe aus Marmor. Diese ging sie hinauf und bat mich ihr zu folgen.
»Deinen Koffer kannst du hier stehen lassen. Erst einmal brauchst du was zum Wärmen«, sagte sie mit einer süßlichen Stimme, die mich an meine Mutter erinnerte. Ein stechender Schmerz breitete sich in meiner Brust aus. Vielleicht war es die Sehnsucht nach meiner Mom. Ich folgte der Frau – ohne Namen – die Treppe hinauf und wir kamen in eine große Küche mit allem Schickschnack was der Mensch eigentlich nie brauchen würde. Sie nahm eine Tasse und goss mir einen heißen Tee ein. Als sie ihn mir gab, stellte sie sich sehr höflich vor.
»Mein Name ist Hannah Harrison. Herzlich Willkommen.« Und wieder lächelte sie herzlich.
»Ich bin Lilly Turner. Aber das wissen sie ja schon.« Ich versuchte, die Tasse in meinen Händen zu halten, aber es war sehr heiß.
»Ich entschuldige mich noch einmal, dass wir dich nicht abgeholt haben, aber deine Mutter hatte geschrieben, dass du erst am Abend kommst. Es tut mir Leid.« Ihr Blick wurde plötzlich sehr traurig, aber durch ihre süßliche Stimme konnte ich nicht böse auf sie sein.
»Oh nein … meine Mutter hatte wohl ihre Ankunftszeit in New York genannt. Ist schon okay. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.« Beruhigte ich sie. Plötzlich sah ich, wie der Junge von vorhin an der Tür uns belauschte. Ich konnte mir diese Frage nicht verkneifen.
»Wer war der Junge an der Tür?« Ich wusste, dass er zuhörte. Doch das störte mich nicht.
»Das war mein Sohn Matt. Verzeih wenn er irgendetwas komisches gemacht hat. So ist er nun mal.« Und ihr Lächeln kam wieder zurück. Wie auf Knopfdruck musste ich mitlachen. Als ich wieder zur Tür blickte, war er verschwunden. Hannah drehte sich um und wollte wissen, wo ich hinschaute. Aus der anderen Richtung kam ein Mann und ein Mädchen. Anscheinend hatten sie meine Ankunft mitbekommen.
»Darf ich vorstellen! Das ist Lilly … unser neues Mitglied im Hause.« Ich dreht mich zu den Anderen herum. Sie hatten dieselbe Haut- und Augenfarbe. Das musste wohl an der Familie liegen. Beide trugen ein liebliches Lächeln in ihrem Gesicht. Als erstes begrüßte mich das Mädchen.
»Hallo, meine Name ist Julia. Freut mich das du hier bist. Ich hoffe doch, dass wir uns gut verstehen werden.« Und reichte mir ihre Hand entgegen. Ich gab ihr auch meine. Ich konnte kaum glauben, dass eine zierliche Person, wie sie, so einen kräftigen Händedruck hatte. Ihr Aussehen trübt also. Sie hatte kurze schwarze Haare und war vielleicht ein kleines bisschen größer als ich. Das Schwarz ihrer Haare betonte ihre blasse Haut noch mehr. Eigentlich genau wie bei mir.
»Ich möchte mich auch noch vorstellen«, sagte der Mann mit freudiger Stimme.
»Mein Name ist Peter Harrison. Ich bin der Herr im Haus, wie man sieht. Ein herzliches Willkommen.Wieso ist sie denn schon da? Sollte sie nicht erst ...« Hannah unterbrach ihn um alles zu erklären. Julia brachte mich derweil in mein Zimmer. Es lag im zweiten Stock des Hauses. Es war wirklich riesig – im Gegensatz zu meinem Zimmer in LA. Ich hatte mein eigenes Bett, eigenen Schreibtisch und noch viele andere Möbel – die ich für unnötig hielt.
»Wow!« Das war glaube ich ernst gemeint. Dachte ich jedenfalls. Julia führte mich durch das ganze Zimmer. Jeden Winkel zeigte sie mir mit Freude.
»So … das ist dein Zimmer. Hast du noch irgendwelche Fragen.« Ja natürlich. Doch ich war viel zu müde, um sie noch alle zu stellen.
»Nein … erst einmal nicht. Ich bin ziemlich müde vom Flug. Wenn es dir nichts ausmacht ...«
»Oh, natürlich. Ich komme dann später nochmal zu dir. Wenn es dir recht ist?«, fragte sie vorsichtig.
»Ja klar. Danke.« Julia ging aus meinem Zimmer und ich legte mich gleich als erstes auf mein Bett. Es war so weich wie eine Wattewolke. Als würde ich im Himmel schweben. Ich drückte meinen Kopf tief in das Kopfkissen und schlief sofort ein.
»Hilfe!« schallte es durch den tiefen Wald. Ich befand mich mitten darin. Ich lag auf einer kleinen Lichtung im grünen Gras, mit meinem schönen weißen Sommerkleid. Man muss es am Rücken zusammenschnüren, sodass es sich an die Körperform genau anpassen konnte. Der Stoff aus Baumwolle schmiegte sich an meinen ganzen Körper. Meine Haare und das Kleid wehten zaghaft im Wind. Immer wieder hörte ich den Hilfeschrei. Ich richtete mich auf und rannte der Stimme hinterher. Mein Atem wurde schwächer. Meine Lungen konnten sich nicht mehr mit Luft füllen. Vor Erschöpfung blieb ich stehen. Das Licht veränderte sich in einen blauen Farbton. Der Wind wurde stärker, sodass sich die Bäume biegen konnten. Plötzlich hörte ich die Schreie nicht mehr. Mein Herz hörte auf zu schlagen. Als ich an meine Brust fasste, spürte ich etwas feuchtes an meinen Fingerspitzen. Ich schaute nach unten und sah das meine Hände voller Blut waren. Leuchtend Rot lief es mir den Armen herunter. Ich suchte hysterisch nach der Wunde an meinem Körper und spürte einen stechenden Schmerz an meinem Hals. Zaghaft führte ich meine Fingerspitzen daran. Zwei gleichgroße Stichwunden befanden sich an meiner Halsschlagader. Als ich wieder aufblickte von meinen Händen, bemerkte ich eine dunkle Gestalt vor mir. Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Es kam immer näher und streckte seine Arme nach mir aus. Ich wollte schreien, doch meine Kehle schnürte sich zu ...
Ich wachte – schweißgebadet – im Bett auf. Meine Atmung konnte ich kaum noch kontrollieren. Ich hastete nach Luft und fasste mir panisch an meinen Hals. Als ich nichts spürte, ließ ich mich wieder auf mein Bett fallen und versuchte gleichmäßig zu atmen. Diesen Traum hatte ich nicht zum ersten Mal. Immer wenn ich und meine Mutter vor Harry flüchten mussten. Seit einiger Zeit wurden sie realer. Ich schaute auf die Uhr und draußen fing es auch schon an zu Dämmern. Aus meinem Fenster hatte ich einen schönen Ausblick auf den Horizont. Zwischen den Bäumen ging die Sonne – in einen Hauch von Rot und Gelb – unter. Mein Magen machte komische Geräusche. Ich hatte seit acht Stunden nichts mehr gegessen. Ich überlegte ob ich nach unten gehen sollte - zu der fremden Familie. Nur bei dem Gedanken wurde mir ein wenig schwindelig und auch übel. Aber ich hatte solch einen Hunger und ging dann doch.
Als ich an der zweiten Treppe angelangt war, musste ich kurz überlegen, wo gleich noch mal die Küche war. Plötzlich krachte es. Ich folgte dem Geräusch und es führte mich – wie nicht anders zu erwarten – in die Küche. Ich hörte eine Stimme, die mir sofort unter die Haut ging. Obwohl sie so brüllte und laut war, klang sie für mich wie ein Engel. Süß und sanft. Ich blieb an der Ecke stehen und wollte nicht in das Geschehen hereinplatzen. Es waren Matt, Hannah und ein anderer Junge zu sehen. Einer von ihnen hatte eine Glasschüssel fallen gelassen. Die Scherben lagen quer auf dem Küchenfußboden. Hannahs Gesicht zeigte keinen Ausdruck von Wut oder sonst einer Eigenschaft. Die Drei starrten sich nur an. Ihre blauen Augen strahlten wie das Eis in der Sonne.
»Was will sie überhaupt hier?«, schrie Matt auf einmal seine Mutter an. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Auf seiner schönen blassen Haut sah man seine Adern pulsieren. Obwohl er so schrie, blieb Hannah ganz gelassen.
»Sie und ihre Mutter brauchen unsere Hilfe. Wieso sollen wir da nein sagen?«, sprach sie mit ihrer lieblichen Stimme. Es war nicht schwer heraus zuhören, das es Matt gegen den Strich ging, das ich hier war.
»Aber wieso gerade unsere Familie? Sie ist … anders als wir.« Er beruhigte sich langsam. Und seine Stimme klang ein wenig gelassener. Mich wunderte, dass der andere Junge nichts dazu beisteuerte. Er stand einfach nur da. Er bewegte sich kein bisschen. Ich glaube das ist der andere Sohn. Darry hieß er laut den Unterlagen von meiner Mutter. Auch er hatte diese perlweiße Haut. Im Gegensatz zu seinen Geschwister hat er blonde Haare. Aber genauso kurz wie sein Bruder. Bei Darry sah man einen Ansatz von Locken. Ich stellte ihn mir mit längeren Haaren vor und hatte einen Gold-lockigen Engel vor mir. Mit sanfter weicher Haut.
Hannah wollte gerade zu ihrer Antwort übergehen, aber Darry drehte seinen Kopf in meine Richtung. Es ging so schnell – man konnte seine Bewegung kaum wahrnehmen. Als ich ihn ansah, zuckte ich vor Schreck zusammen. Hannah und Matt drehten auch sich zu mir um und beendeten ihre Unterhaltung. Ich wollte mich entschuldigen, doch ich hatte einen Kloß im Hals der mich daran hinderte.
»Oh … Hallo Lilly. Du bist wach?« Sie näherte sich mir und legte ihren Arm um meine Schultern. Hannah fragte mich ob ich Hunger hätte, aber so wie Matt mich anstarrte verging mir der Appetit.
»Ich weiß nicht. Was ist mit ihnen?«
»Wir haben schon gegessen. Wir wollten dich nicht wecken, da du so erschöpft warst von der Reise.«
»Vielen Dank! Ich … entschuldigen sie mich. Ich wollte nicht lauschen ...« Ich versuchte es doch, aber Hannah unterbrach mich.
»Du musst dich nicht entschuldigen.« Sie lächelte mich an und ich konnte mich ein wenig beruhigen. Jemand anders aus dem Raum konnte dies nicht. Matts Augen leuchteten richtig vor Wut. Sein Unterkiefer spannte sich an, genau wie seine Hände. Darry dagegen blieb weiterhin so entspannt wie ein Stein der am Boden lag.
»Was kann ich denn essen?«, fragte ich, um schnell das Thema zu wechseln. Hannah öffnete mir die Kühlschranktür und erlaubte mir alles zu essen was ich finden konnte. Ich starrte sie mit offenen Mund an. Der Kühlschrank war voll mit Obst, Gemüse und vielen verschiedenen Fleischsorten. Ich glaubte die Harrisons aßen alles. Selbst neben dem Kühlschrank befand sich eine Schublade voll mit Süßigkeiten.
»Und hier Lilly, für den kleinen Hunger.« Verdutzt schaute ich sie an.
»Ich kann mir nehmen was ich will?« Hannah nickte mit dem Kopf und fragte mich nun was ich essen sollte.
»Und was möchtest du zuerst? Vielleicht ein leckeres Steak?«
»Oh … ehm … ich bin Vegetarier.« Auf einmal fingen die Anderen an zu lächeln. Ich war mir sicher, das ich keinen Witz gemacht hatte.
»Was ist denn so lustig daran? Noch nie einen Vegetarier gesehen?«, fragte ich mit einer leicht gereizten Stimme.
»Entschuldige Lilly. Das war nicht höflich von uns. Zum Glück haben wir genug Gemüse und Obst gekauft.« Matt und Darry verkniffen sich immer noch das Lachen. Und ich konnte mich nicht zurück halten und musste etwas zu den Beiden sagen.
»Ihr könnt jetzt wieder aufhören mit dem Gekicher. Ich hab es kapiert.« Und schaute sie mit einem bösen Blick an. Nun haben sich meine Hände zu Fäusten gebildet.
»Ach ja? Und was hast du kapiert?«, fragte mich Matt mit normalen Ton in der Stimme. Anscheinend hatte er sich wieder im Griff.
»Ihr seid auch Vegetarier?« Meine Antwort kam stockend, da mir die Stimme plötzlich versagte. Matt und Darry schauten sich – mit einem schiefen Lächeln – an. Schon jetzt konnte ich die Beiden nicht ausstehen. Bei Darry bin ich mir noch nicht so sicher. Aber der Empfang heute von Matt hatte mir schon gereicht.
»So kann man es sagen.« Platzte Hannah in das Gespräch ein. Sie bemerkte wahrscheinlich, dass mich die Jungs ärgern wollten.
»Verzeih, aber die Beiden verhalten sich immer wie die kleinen Kinder. Nimm es ihnen nicht übel.« Sie ging zu ihren Söhnen und bat sie aus der Küche zu gehen. Da stieß Julia zu uns und brachte sich in das Gespräch mit ein.
»Mach es wie ich. Ignoriere sie einfach.« Und lächelte mich mit ihren roten vollen Lippen an. Obwohl sie kein Make Up auf hatte, waren sie knallrot. Anscheinend lag es an ihrer blassen Haut. Und hoben sich derart von ihrem Gesicht ab. Ein richtiger Kussmund – würde ich sagen.
»Nun? Wo jetzt die Jungs raus sind … was möchtest du gern essen?«, fragte mich Hannah.
»Ich nehme etwas Obst. Das müsste für heute reichen. Ich bin immer noch ein wenig müde von der Reise. Wenn es euch nichts ausmacht?« Versuchte ich mit vorsichtiger Stimme zu fragen. Aber so wie Hannah aussah hatte sie nichts dagegen. Sie nickt mir zu. Julia sah ein wenig verärgert aus, da ich schon wieder auf mein Zimmer wollte. Doch sie sagte nichts und ging aus der Küche. Hannah ging auch und ich war nun allein. Ich stand ein wenig ratlos vor dem Kühlschrank. So viele leckere Sachen habe ich selten auf einen Haufen gesehen. Ich griff nach einer großen Schale voller Obst. Es sah sehr frisch aus, als hätte man es gerade erst geerntet. Ich nahm mir einen saftig roten Apfel. Das müsste für heute Abend reichen. Mir war sowieso flau im Magen. Die Worte von Matt gingen mir nicht aus meinem Kopf. War er so wütend – nur weil ich eine Weile hier bei ihnen wohnen werde? Das glaube ich nicht. Irgendetwas anderes muss ihn beschäftigen. Nur was?
Als ich wieder auf meinem Zimmer war konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich überlegte ein wenig über die Familie nach. Ihr Aussehen war so unglaublich. Diese perlweiße Haut und ihre eisblauen Augen. Ich habe noch nie solche Menschen gesehen. Ich fragte mich ob die Harrisons Albinos waren. Aber das würde nicht mit dem Augen funktionieren. Da müssten sie rot sein – glaubte ich. Und außerdem sind sie ja nicht richtig verwandt. Das sind nicht ihre eigenen Kinder, aber trotzdem haben sie dieselbe Haut. Die ganze Nacht dachte ich nur an ihre wunderschönen Körper – wie makellos sie waren. Mit Julia konnte ich nicht mithalten. Sie ist das schönste Mädchen was ich je gesehen hatte. Geschweige denn solche unglaublich attraktiven Jungs wie Matt und Darry es waren. Als ich an den Namen Matt dachte schlug mein Herz mir bis zum Hals. Das Blut floss mir in meine Wangen. Ich habe keine Ahnung warum ich auf einmal so reagierte. Seine Augen erschienen mir plötzlich vor meinem. Als würde er direkt vor mir stehen. Mir wurde ein wenig schwindelig an denn Gedanken – er könnte hier in meinem Zimmer stehen und mich anschauen. Ich schüttelte meinen Kopf um wieder klar denken zu können. Als ich auf die Uhr schaute war es kurz vor Mitternacht.
»Mist!«, fluchte ich. Morgen ist der letzte Tag zum ausspannen, dann fing die neue Schule an. Ich hoffte das Julia mit in meiner Klasse war. Da wird es vielleicht nicht so schwer werden. Ich legte mich in mein Bett und versuchte ein wenig zu schlafen, doch ich konnte nicht aufhören an ihn zu denken. Sein Schlafzimmer ist nur wenige Meter von meinem entfernt. Und wieder versuchte ich mit einem Kopfschütteln den Gedanken zu entfernen. Dann überwältigte mich doch die Müdigkeit. Meine Augenlider sanken immer weiter und ehe ich mich versah war ich eingeschlafen.
Leider verlief die Nacht nicht so ruhig. Ich hatte wieder diesen Traum – wo ich im Wald war mit dieser fremden Gestalt. Die immer wieder versuchte mir näher zu kommen. Schweißgebadet wachte ich auf. Der erste Gedanke war – ich muss duschen. Ich hatte so sehr geschwitzt, das ich wahrscheinlich stank wie ein Schwein. Und das wollte ich der Familie zum Morgen nicht antun. Die Dusche tat mir gut. Ich konnte zum ersten Mal ein wenig entspannen. Doch dann klopfte es an der Tür. Für einen kurzen Moment erschrak ich und machte die Dusche aus.
»Ja?« Musste ich schreien. Meine Ohren waren voll mit Wasser.
»Brauchst du noch lange?« Klang es mit einer wütenden Stimme. Diese konnte ich von allen anderen unterscheiden. Nie könnte ich sie verwechseln.
»Ja … ich … bin gleich soweit.« Und es verschlag mir die Stimme. Da ich wusste das er es war. Plötzlich bemerkte ich, dass ich keine frischen Sachen mitgenommen hatte.
»So ein Mist!«, fluchte ich leise vor mich hin. Was mach ich denn jetzt? Soll ich ihn – nur mit einem Handtuch um dem Körper – begegnen? Das wird peinlich werden. Mein Kopf wurde rot und mein Körper strahlte noch mehr wärme aus. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich legte mir das Handtuch fest um meinen Körper. Ich schloss die Tür auf und da stand er. An der Wand angelehnt und – man sah ihn kaum. Die Wand war genauso weiß wie sein Körper. Sein Blick sah angewidert aus. Er musterte mich von Oben bis Unten. Als er mich mit dem Handtuch sah musste er schmunzeln. Was mich rasend machte. Ich hielt meine Arme fest um meinem Oberkörper.
»Bist du jetzt fertig?« Versuchte er gelassen wie möglich zu sagen. Aber sein gemeines Grinsen konnte er sich dann doch nicht verkneifen. Weil ich so sauer war biss ich mir auf die Unterlippe, um ihn nicht an zu schreien. Ich ging mit stampfenden Schritten an ihm vorbei. Ich merkte seinen Blick auf meinem Rücken. Erst als ich die Tür zuknallen hörte, bemerkte ich, dass ich vergessen hatte zu atmen. In meinem Zimmer angekommen wich mir das Blut wieder zurück in meinen Körper.
Da heute Sonntag war zog ich ein paar guten Sachen an. Ich nahm mir meine blaue Lieblingsbluse mit halblangen Ärmeln. Eine schwarze Jeans und eine weiße Strickjacke. Meine Haare ließ ich offen. Als ich fertig war ging ich nach unten um zu frühstücken. Ich roch weder frischen Kaffee noch hörte ich etwas in der Pfanne braten. Was eigentlich typisch ist an einem Sonntag Morgen. In der Küche sah es – wie immer – sehr sauber aus. Die ganze Familie war anwesend. Sie starrten mich alle an, als ich um die Ecke gebogen kam. Ich blieb überrascht stehen und versuchte ruhig zu atmen. Auch Matt war da. Nur, wie konnte er eher vor mir hier sein? Das waren doch gerade mal zehn Minuten die ich gebraucht hatte. Ich verdrängte die Gedanken und setzte ein Lächeln auf.
»Guten Morgen.« Sie starrten mich immer noch an. Ich fragte mich warum? Hatte ich etwas im Gesicht oder auf meiner Kleidung? Ich setzte mich an den Tisch und wartete bis jemand das Schweigen brach. Meine Finger verkrampften sich ineinander.
»Guten Morgen Lilly. Wie hast du geschlafen?« Lächelte mich Hannah an und das Schweigen war endlich verschwunden.
»Ja, ich habe ganz gut geschlafen. Danke«,log ich ein wenig. Denn meine Nacht war ziemlich kurz. Matt starrte mich als einziger immer noch an. Als wüsste er das ich gelogen hatte. Seine eisblauen Augen strahlten je heller als sonst. Ich versuchte meinen Blick von ihm abzuwenden. Doch mein Kopf wollte etwas anderes. Wir starrten uns ein paar Sekunden gegenseitig an. Mir wurde ein wenig schwindelig und ziemlich heiß. Später bemerkte ich das Julia mich etwas gefragt hatte.
»Oh entschuldige. Ich … war mit den Gedanken woanders«, sagte ich mit verzerrter Stimme.
»Ich hatte gefragt, ob du vielleicht Lust hättest mit mir nach Draußen zu gehen?«
»Oh, ehm … ich weiß nicht so recht. Es sieht nach Regen aus«, seufze ich.
»Ach … ich glaube nicht. Kommst du trotzdem mit?« Sie ließ einfach nicht locker.
»Was willst du denn machen?«
»Ich wollte dir die Gegend mal zeigen. Bitte Lilly«, flehte sie mich an. Ich zögerte einen kleinen Moment. Matt ließ seinen Blick nicht von mir ab. Peter klopfte ihn an die Schulter. Das sollte bestimmt heißen, das er das lassen soll. Und er tat es auch. Ich drehte meinen Kopf wieder zu Julia und willigte ein. Frische Luft tat mir bestimmt ganz gut.
»Aber ich möchte vorher noch gern etwas essen. Haben sie Cornflakes?« Obwohl ich mir sicher war das sie es da hatten, fragte ich trotzdem nach.
»Ja natürlich. Ich hole dir eine Schüssel und die Cornflakes.« Hannah brachte mir alles.
»Vielen Dank. Die Milch hole ich selber. Wann möchtest du los machen Julia?« Und schaufelte mir eine kleine Portion in meine Schüssel. Darry und Matt waren ganz ruhig. Sie sagten kein einziges Wort. Peter und Hannah planten auch ihren Nachmittag. Mich wunderte ein wenig warum ich alleine aß. Mir brannte die Frage auf der Zunge.
»Warum esst ihr nichts?« Und wieder starrte mich Matt an. Irgendwann reicht es aber, dachte ich mir. Und ich kochte innerlich.
»Wir waren schon sehr zeitig auf und haben eher gefrühstückt«, erklärte Peter.
»Oh … dann stehe ich eben früher auf. Dann können wir zusammen essen?« Ich wollte es freundlicherweise anbieten. Hannah und Peter sahen sich fragend an und wussten nicht recht wie sie antworten sollen.
»Ehm … wir zwingen keiner unserer Kinder zum Aufstehen. Vor allem nicht an den Wochenenden«, versuchte Hannah zu erklären. Doch so richtig glaubte ich ihr nicht. Ich war die einzige die zu spät kam. Ich nahm es einfach hin und aß meine Cornflakes auf.
»So … wenn du fertig bist, dann machen wir los. Okay?« Julia konnte es kaum erwarten. Sie war total aufgeregt mit mir an die frische Luft zu gehen. Ehrlich gesagt, ein wenig freute ich mich auch darauf.
»Geht klar. Freue mich schon darauf.« Und ich meinte das diesmal ernst. Peter und Hannah gingen aus der Küche und machten sich einen ruhigen Tag. Zusammen natürlich. Die Beiden benahmen sich wie frisch verliebte. Ganz zärtlich küssten sie sich und fassten sich behutsam an. Wenn ich sie so sah musste ich an meine Eltern denken. Sie waren früher genauso liebevoll zueinander. Ein wenig Heimweh legte sich über mein Herz. Erst jetzt bemerkte ich wie sehr ich meine Mutter vermisste. Ich räumte meine Schüssel weg und blieb an der Spüle mit meinen Gedanken hängen. Meine Mutter fehlt mir so sehr. Mein Blick wurde starr und in meinen Augenwinkeln füllten sich Tränen. Julia merkte wie ich reglos in der Küche stand.
»Was ist mit dir Lilly?«, fragte sie und legte mir ihre Hand auf die Schulter. Sie sah wie eine Träne von meiner Wange perlte. Als ich ihre Hand spürte wachte ich aus meinen Tagtraum wieder auf. Ich zuckte zusammen und trocknete meine Augen.
»Entschuldige. Ich habe an meine Mutter gedacht. Sie fehlt mir so sehr.« Und meine Stimme versagte. Ich biss mir auf die Unterlippe um mich zu beherrschen.
»Lass uns nach draußen gehen. Dann geht es dir bestimmt besser.« Lächelte sie mich an und wollte mich damit besänftigen. Ihr freundliches Gesicht und ihre sanfte Stimme machte mich ein wenig glücklicher.
Julia und ich zogen unsere Jacken an und gingen auf Besichtigungstour. Unsere Reise verlief durch die ganze Stadt. Obwohl keine Läden auf hatten, waren viele Menschen auf der Straße. In mitten der Stadt blieben wir stehen und ich hörte die Glocken der Kirche läuten. Ich bemerkte nicht das wir auf einer gut befahrenen Straße standen. Julia ging weiter bis zur anderen Seite. Doch ich blieb stehen. Etwas wunderte mich. Ich hörte nicht nur die Glocken sondern noch ein anderes, merkwürdiges Geräusch. Aber ich kann es nicht in eine Kategorie einordnen. Vor meinen Augen verschwamm alles. Doch ich weinte nicht. Dieses Geräusch. Was war das? Es hörte sich an wie ein grollen oder knurren. Als würde genau neben mir ein riesiger Hund stehen der mich an knurrt, oder in der Ferne ein Erdbeben ausgelöst wurde. Meine Beine waren steif wie ein Stein, doch zugleich zittrig. Ich konnte wieder einigermaßen sehen. Der weiße Schleier vor meinen Augen verschwand. Aber ich sah nicht die Straße und Julia. Ich stand wieder im Wald. Es war derselbe wie in meinem Traum. Ich hatte auch wieder mein weißes Kleid an. Ein Geräusch ertönte hinter mir. Ich drehte mich mit einer schnellen Bewegung um. Und vor mir stand ein Junge. Seine Haut war genauso weiß wie bei der Familie Harrison. Aber seine Augen. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm lassen. Er war wunderschön. Seine Augenfarbe war Rubinrot. Der Blick brannte sich in meine Haut. Seine harte Miene verwandelte sich in ein sanftes Lächeln. Das Blut durchströmte meinen Körper. Mir wurde heiß und schwindelig bei seinem Anblick. Seine Lippen bewegten sich zu schnell für mich. Ich konnte nicht sehen was er zu mir sprach. Selbst hören konnte ich ihn nicht. Ein dröhnendes Geräusch drückte auf meinen Ohren. Der weiße Schleier legte sich wieder über meine Augen und ich sah Julia vor mir. Sie war außer sich. Ihre Hände fuchtelte sie umher. Ich bemerkte immer noch nicht, das ich auf der Straße stand. Andere Passanten hielten Julia davon ab sich von der Stelle zu bewegen. Sie blickten ständig zur linken Seite. Das dröhnen wurde lauter und ich blickte auch nach Links. Ich sah einen riesigen Lastwagen der immer näher kam. Das dröhnen war seine laute Hupe. Da die Straßen nass waren wurde sein Bremsweg länger. Meine Beine blieben auf der Stelle stehen. Mein ganzer Körper zitterte vor Angst. Ich kniff meine Augen zusammen, um nicht den Aufprall zu sehen. Das Gefühl von dem Laster angefahren zu werden reichte aus.
In Bruchteil einer Sekunde riss mich jemand von der Straße weg. Ich spürte einen kräftigen Griff an meinem Arm. Der Aufprall auf den Asphalt war sehr hart. Mein Kopf schmerzte plötzlich. Als ich meine Augen wieder öffnete sah ich den Jungen aus meinem Traum. Er starrte mich wieder genauso an – mit seinen stechenden Augen. Doch diesmal waren sie nicht Rubinrot sondern Schwarz wie die Nacht. Ich merkte das mein Mund offen stand und ich ihn anstarrte. Er lächelte mich an und stellte mich auf die Beine. Sein Lächeln war sanft wie bei einem Engel.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er mich mit seinem süßen Gesicht. Ich fing an zu stottern und brachte keinen richtigen Satz zustande.
»Ehm … ich … gut … glaube ich.« Ich fasste mir an den Hinterkopf und bemerkte eine feuchte Stelle. Meine Finger waren mit Blut übersät.
»Oh Gott! Bleib ganz ruhig.« Und er umklammerte mich noch mehr. Doch ich kann kein Blut sehen, auch nicht mein eigenes. Ich merkte wie es in meinen Ohren an fing zu rauschen. Meine Augen verdrehten sich und ich wurde Ohnmächtig. Der Junge trug mich auf seinen Händen. Das war das letzte was ich noch mitbekommen hatte.
Kapitel 2
Es riecht so gut. Was ist das? Ein süßlicher Duft breitete sich über meine Nase aus. Meine Augenlider wollten sich heben doch ich zwang sie unten zu bleiben. Ich wollte diesen Duft nicht sehen – ihn nur riechen und genießen. Aber mein Körper hatte andere Pläne.
Ich öffnete sie und sah eine Lichtröhre vor mir. Ich hörte ein gleichmäßiges Piepen im Hintergrund. Ich hob meinen Oberkörper ein wenig an und versuchte mich aufzurichten. Dabei bemerkte ich einen stechenden Schmerz an meinem Kopf und einen sperrigen Verband. Schläuche hingen mir aus den Armen. Da merkte ich – ich war in einem Krankenhaus. Ich schaute mich im Zimmer um und sah einen Jungen neben mir sitzen. Er schlief in einem dieser unbequemen Stühle. Er hatte mich vor den Lastwagen gerettet. Ich schaute ihn eine ganze Weile an und hoffte er würde seine wunderschönen Augen wieder auf machen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals – je mehr ich ihn ansah. Das Piepen wurde schneller. Ich musste versuchen ruhiger zu werden, sonst denken die Schwestern noch ich hätte einen Herzinfarkt.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, öffnete er seine Augen. Auf seinem Gesicht erschien wieder sein süßes Lächeln und mein Herz fing an kräftiger zu schlagen. Er rückte mit seinem Stuhl näher zu mir. Das machte das Ganze noch schlimmer. Er beugte sich nach vorn und reichte mir seine Hand.
»Hallo. Du bist ja endlich wach.« Und strich mir eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Meine Wangen wurden knall Rot.
»Hat es dir auch die Sprache verschlagen?« Seine Stimme war noch schöner als vorher. Natürlich verhinderte ein Kloß im Hals, das ich etwas sagen konnte. Ich öffnete den Mund aber das war auch schon alles. Ich nahm meine Gedanken und meinen ganzen Mut zusammen.
»Hallo … ehm … was ist passiert?«, fragte ich ihn mit zitternder Stimme.
»Du wurdest fast von einem Laster zerquetscht. Du standest mitten auf der Straße und hast dich nicht gerührt. Wieso?« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Ich war in Gedanken versunken. Das passiert mir öfters. Und du hast mich … gerettet?«
»Ja. Ich habe dich von der Straße weggerissen. Dabei ist dein Kopf auf den Asphalt aufgeprallt. Tut mir Leid«, flüsterte er zu mir.
»Du hast mich gerettet. Da brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Vielen Dank.« Ich versuchte nicht ganz so stark zu lächeln. Das wäre ein wenig peinlich. Er lachte jetzt etwas lauter und schauten auf seine Füße.
»Was ist?«
»Ich weiß noch nicht einmal deinen Namen«, seufzte er.
»Oh, ich heiße Lilly. Und du?« Verschämt schaute ich auch nach unten.
»Vincent. Ich weiß, ein blöder Name.«
»Nein … finde ich nicht. Der ist schön ...« Mit seinem Blick brachte er mich aus der Fassung. Endlich sah ich sein Lächeln wieder.
»Ehm … ich meine, nicht jeder hat so einen Namen. Sei stolz darauf.« Redete ich mich heraus.
»Danke. Ich ...« Der Arzt kam in das Zimmer und unterbrach ihm mitten im Satz. Der Arzt war natürlich Peter Harrison. Vincent und er starrten sich an. Bei Beiden pulsierte eine dicke Ader auf der Stirn. Ihre Blicke waren von wütender Art.
»Ehm … ich gehe jetzt lieber. Wir sehen uns später Lilly.« Er stand von seinem Stuhl auf. Ich wollte nicht das er ging.
»Aber, wieso?«, sagte ich mit flehender Stimme.
»Nein. Es ist besser wenn er jetzt geht«, sprach Peter bevor Vincent etwas sagen konnte. Er hob seine Hand und winkte mir zum Abschied.
»Also Lilly. Dein Kopf geht es besser. Du hast ein kleines Schleudertrauma. Aber das geht bald vorüber.« Beruhigte mich Peter.
»Kennst du diesen Vincent? Er ist ganz nett.« Peter runzelte die Stirn und seufzte.
»Er ist nicht gut für dich. Ein Rebell. Einer von der schlimmen Sorte.«
»Wie meinen sie das?« Und schaute ihn ein wenig wütend an. Doch er erwiderte meinen Blick nicht und untersuchte meinen Kopf weiter. Während der Untersuchung sprach er kein Wort mehr. Als wüsste Peter keine Antwort. Mein Kopf tat zu sehr weh und hatte deshalb nicht noch einmal nachgefragt.
»Deine Verletzung sieht schon besser aus. Es war zum Glück nur eine kleine Platzwunde. Soll ich dich Krank schreiben?« Er schaute mir immer noch nicht in die Augen.
»Nein. Morgen ist doch Schule und da möchte ich den ersten Tag nicht versäumen.« Ich möchte nur aus dem Krankenhaus raus. Ich kann weder den Geruch noch die weißen Wände mehr ertragen.
»Na gut. Dann kannst du dich anziehen und ich hole dich dann hier wieder ab«, sagte er. Ich nickte nur und er ging aus dem Zimmer. Ich versuchte langsam von meinem Bett aufzustehen. Meine Füße fühlten sich ein bisschen taub an. Meine Beine kribbelten bis in die Zehnspitzen. Als ich meine Sachen im Zimmer suchte, klopfte es zweimal an der Tür. Ich bat den unbekannten Besucher herein. Die Tür öffnete sich und es war Julia. Ihr breites Grinsen erstrahlte das ganze Zimmer. Wie konnte nur ein Mensch solch einen Effekt auslösen? Auch auf meinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Julia war ziemlich ansteckend – stellte ich fest. Als könnte sie die Gefühle der anderen Steuern. Ich bat sie mir meine Sachen zu geben, damit ich mich anziehen kann.
»Kannst du mir meine Sachen geben?«, fragte ich sie.
»Mein Vater hat gesagt du kannst jetzt wieder nach Hause ...« Nach einer kurzen Pause vollendete sie ihren Satz mit einer traurigen Miene.
»...und Entschuldige.« Mit einen Blick wie bei einem kleinen Hundewelpen schaute sie mich an. Es fehlte nur noch ein Winseln und der Hund wäre komplett.
»Wieso entschuldigst du dich jetzt?« Und zog mich derweil an.
»Naja … ich stand genau auf der anderen Straßenseite und konnte dir nicht einmal helfen. Diese blöden Leute. Sie haben mich festgehalten, damit ich nicht zu dir rennen konnte.« Und schaute dabei zornig auf ihre Füße und ballte die Hände.
»Das macht doch nichts Julia. Zum Glück war dieser Vincent da. Er hatte mich ja in der richtigen Sekunde weggezogen.« Ein noch breiteres Lächeln kam zum Vorschein in meinem Gesicht. Doch bei Julia war es ganz anderes. Als hätte sie einen Geist gesehen, wurde sie noch blasser im Gesicht. Ihre Augen wurden schmal und man konnte ihr schönes Blau nicht mehr sehen. Ich fragte vorsichtig nach, was ihr Problem auf einmal sei.
»Habe ich was falsches gesagt?«
»Nein … sagtest du Vincent?« Ihr Blick veränderte sich kaum.
»Ja, aber du hast ihn doch gesehen oder?« Ihre Frage verblüffte mich. Da er mich ja hierher gebracht hatte.
»Nicht wirklich. Als der Laster an euch vorbei gefahren war, sah ich ihn mit dir auf den Armen, aber nur von hinten. Das hätte jeder sein können.« War ihre Erklärung.
»Oh achso. Weißt du wann dein Vater kommt?« Ich wollte vom Thema ablenken. Da dieser Vincent bei keinem so richtig gut ankommt. Aber Julia ließ nicht locker.
»Er kommt dann gleich … Hat dieser Vincent was zu dir gesagt?« Sie beugte sich neugierig zu mir herüber.
»Er hat sich nur vorgestellt und sich bei mir entschuldigt. Sonst nichts weiter.« Ihr Blick lockerte sich ein wenig und sie beugte sich wieder zurück.
»Mehr nicht?«
»Nein. Dein Vater kam herein und unterbrach ihm in seinem Satz. Dann ist er lieber gegangen. Dein Vater hatte den selben Ausdruck wie du jetzt. Warum?«, fragte ich vorsichtig. Sie schaute zur Tür und dann wieder zu mir.
»Er ist ein Rebell. Mit dem sollte man lieber nicht befreundet sein«, flüsterte sie.
»Zu mir war er ziemlich nett. Erzähl mir mehr, damit ich es verstehe.« Mit großen Augen sah ich sie an und hoffte auf eine Antwort.
»Man hört einiges schlimmes von ihm. Ich zähl am besten alles auf, was ich weiß.«
»Jetzt bin ich aber neugierig.« Diesmal rückte ich näher zu ihr. Sie fing an zu erzählen.
»Man sagt er hätte sich schon als kleines Kind ständig geprügelt. Vor einem Jahr hatte er einen Jungen Krankenhausreif geschlagen. Er verschwindet immer mal wieder. Mitten in der Schulzeit und dann taucht er plötzlich wieder auf, als wäre nichts passiert. Zu seinen Mitschülern ist er nicht sehr nett. Vor allem zu uns … den Harrisons. Wir haben keine Ahnung warum.« Sie machte eine Pause um Luft zu holen.
»Vor ein paar Wochen prügelten sich Matt und Vincent auf dem Schulhof. Vincent bekam Arrest und Matt nicht. Das machte ihn ziemlich sauer ...« Ich unterbrach Julia bei ihrer Erzählung.
»Nun … das ist aber unfair. Wieso bekam nur Vincent die Strafe?« Ich fand es ziemlich ungerecht.
»Mein Vater hatte ein gutes Wort beim dem Rektor eingelegt. Deshalb kam Matt so gut weg.« Sie musste schmunzeln bei dem Gedanken das nur Vincent bestraft wurde.
»Trotzdem. Ich finde es ungerecht wie ihr ihn behandelt. Zu mir ist er nett.« Und kreuzte meine Arme vor der Brust.
»Naja. Das ist dir überlassen. Wir wollen dich nur vor ihn warnen. Mehr nicht.« Ich sah wie ihr der Satz schwer fiel. Aber ich blieb bei meiner Meinung und freute mich auf ein baldiges Wiedersehen. Bei dem Gedanken musste ich innerlich Lächeln. Ich merkte wie warm meine Wangen wurden und riss mich zusammen, damit Julia es nicht merkte.
»Mein Vater müsste gleich kommen. Wollen wir uns zu Hause auf die Schule vorbereiten?« Sie lenkte geschickt vom Thema ab. Mir war es recht. Ich wollte einfach nur raus aus dem Krankenhaus.
»Ja gern. Ich bin ein wenig nervös wegen Morgen.« Meine Handflächen fingen an zu schwitzen.
»Das brauchst du nicht. Ich habe in der Zwischenzeit Schulzeug für dich gekauft. Ich hoffe es gefällt dir.« Lächelte sie wieder.
»Das wäre doch nicht nötig gewesen. Aber danke!« Endlich kam Peter uns abholen. Ich konnte es kaum erwarten hier raus zu sein.
Auf dem Nachhauseweg plapperte Julia wie ein Wasserfall. Nach einer Weile konnte ich ihr nicht mehr zu hören. Es klang nur noch wie ein Zug der an mir vorbei sauste. Ich schaute aus dem Fenster und sah wie der Wald an uns vorbei rauschte. Peter hatte einen – für mich – zu schnellen Fahrstil. Ich krallte meine Fingernägel in den Autositz. Doch Peter und Julia saßen gelassen im Wagen. Ich dachte plötzlich nach, wieso ich auf der Straße stehen geblieben war. Doch ich hatte keine Erinnerung mehr. Wie gern würde ich mich daran wieder erinnern. Bei meinem Nachdenken blieb ich bei Vincent hängen. Seine perlweiße Haut, kurze blonde Haare und strahlend schwarze Augen – wo sich das Licht spiegelte – so hatte ich ihn in Erinnerung. Ich ließ ein sanftes Seufzen aus meiner Kehle ertönen. Leider war es ein wenig zu laut. Julia drehte sich sofort zu mir um. Ich saß auf der Rückbank.
»Was hast du Lilly?« Wie konnte sie meinen leisen Seufzer hören? Ich dachte mir – man hat die ein Gehör.
»Ach nichts. Sind wir bald da? Ich habe ein wenig Hunger«, sagte ich um nicht die Neugierde von Julia zu erwecken.
»Nur noch um die Ecke«, sagte Peter. Wie gesagt. Und schon standen wir in der Auffahrt. Julia half mir beim aussteigen. Kaum sind wir in dem Haus gewesen, lag mir Hannah schon um den Hals. Sie drückte mich viel zu fest. Ich konnte nur schwer atmen.
»Ich … Luft ..«, keuchte ich. Sie ließ ihre Umarmung locker. Julia ging mit mir auf mein Zimmer. Eigentlich wollte ich für mich alleine sein, aber sie bestand darauf mir das Schulzeug zu zeigen. Ohne große Interesse schaute ich es mir an. Und nickte immer mal wieder. Damit es höflich aussah. Zum Glück war es schon später Abend. Ich nahm einen Snack mit auf mein Zimmer. Und konnte endlich alleine sein. Ich hatte einen eigenen Computer in meinem Zimmer. Ich schaute nach meinen E-Mails. Meine Mutter hatte bestimmt hunderte geschrieben.
»24 Mails. Wow.« Zwanzig davon waren von meiner Mom. Ich freute mich von ihr zu hören. Sie berichtete von New York und ihrem neuen Job. Es sei anstrengend – meinte sie. In jeder Mail fragte sie nach der Familie. Ob es mir bei ihnen gefällt und wie sie so zu mir waren. Sollte ich ihr von dem Unfall erzählen? Aber wenn sie es weiß kommt sie bestimmt hier her und macht sich viel zu viele Sorgen. Na gut … ich erzähle von einem „Fastunfall“. Das müsste sie mir dann einfach glauben. Doch von Vincent werde ich lieber nichts erzählen. Ich schreibe morgen am besten eine richtig lange Mail. Da kann ich von meinem ersten Schultag berichten. Bestimmt habe ich viel zu erzählen. Oh man … der erste Schultag. Eigentlich brauche ich nicht aufgeregt sein. So etwas hatte ich schon mehrmals gemacht. Vincent. Der Name kam mir plötzlich ins Gewissen. Ob er morgen auch in der Schule ist? Diese Frage nervte mich die ganze Nacht. Ich konnte sowieso nicht schlafen. Ich war viel zu sehr aufgeregt.
Ich öffnete meine Augen. Ein helles strahlendes Licht blendete mich. Anscheinend war ich eingeschlafen. Ich war froh das meine Nacht so ruhig verlaufen war. Keine rätselhaften Träume oder schöne Jungs die mir begegneten. Ich zog mir eine alte Jeans an und meinen dunkelblauen dünnen Pullover. Ich ging die Treppe nach unten und wie konnte es anders sein – Julia wartete ungeduldig.
»Guten Morgen Lilly. Möchtest du noch etwas frühstücken? Wir haben schon alle«, begrüßte sie mich.
»Morgen. Nein … ich bin viel zu aufgeregt wegen heute.« Ich merkte wie die Übelkeit in mir aufstieg. Hannah wünschte mir alles gute. Darry, Matt, Julia und ich fuhren mit dem Mercedes zur Schule. Es war mir ein bisschen peinlich mit solch einem protzigen Auto vor zu fahren. Doch es schien die anderen Schüler nicht zu interessieren.
Auf dem Schulhof ging es unruhig zu Gange. Aber erst als ich aus dem Auto ausstieg. Die Neue – konnte ich schon hören. Ihre Blicke durchbohrten mich. Ich senkte meinen Kopf und Julia legte mir ihren Arm schützend um mich.
»Die reagieren immer so wenn jemand Neues hier auftaucht.« Versuchte Julia mich zu beruhigen. Doch so richtig half das nicht. Ich musste nicht nur mit den fremden Blick fertig werden, sondern auch den von Matt. Er starrte mich die ganze ein. Außer wo er Auto gefahren ist. Doch sein Blick wanderte ständig zum Rückspiegel. Am liebsten würde ich ihn anschreien und ihm sagen, das er das lassen sollte. Aber feige wie ich war, machte ich es natürlich nicht.
»So. Hier ist die Schulleitung. Hier musst du dich zuerst melden.« Julia ließ mich alleine, da der Unterricht bald anfangen würde. Nun stand ich vor der Tür. Mein Herz raste vor Nervosität. Ich klopfte und trat ein. Eine kleine dicke Frau begrüßte mich sehr herzlich hinter einem Tresen.
»Hallo Kleines. Was kann ich für dich tun?«
»Hallo. Mein Name ist Lilliane Turner. Ich bin neu hier.« Ich merkte wie ein dicker Kloß in meinem Hals stecken blieb. Ich versuchte ihn herunter zu schlucken.
»Ah natürlich. Wir haben sie schon erwartet. Ich gebe ihnen ihren Stundenplan und eine Lehrerbescheinigung. Diese müssen sie bitte jedem Lehrer heute vorlegen. Das ist ganz wichtig. Haben sie noch eine Frage?« Ich dachte schon sie holt gar keine Luft mehr. Ich nahm die ganzen Zettel in meine Hand und schüttelte den Kopf, da mir keine Fragen einfielen. Aus dem Zimmer wieder raus schaute ich nicht nach vorn sondern nur auf den Zettel mit dem Wegplan. Ich hatte keine Ahnung wo das Zimmer 33 war. Ich hatte jetzt als erstes Mathematik. Ich war so in den Plan vertieft, das ich mit einem Jungen zusammen gestoßen war. Unsere Bücher knallten auf den Boden.
»Oh entschuldige. Ich habe nicht aufgepasst.« Und hob die Bücher auf und gab sie ihm. Meine Augen und mein Mund standen weit offen. Da war er wieder. So schön wie bei unserer ersten Begegnung. Er lächelte mich an und ich merkte wie mein Mund noch offen stand. Er hob seine Hand und legte sie mir unter mein Kinn – er schloss meinen Mund. Seine Berührung brannte auf meiner Haut obwohl seine Finger eiskalt waren. Ich konnte nicht anders und stammelte etwas undeutliches zu ihm
»Hi … ich … ehm … wie geht es dir?« Oh man … was war das denn für ein Mist? Doch er lächelte immer noch. Das half mir kein bisschen – mich zu konzentrieren.
»Ganz gut. Und dir?«, erklang seine engelsgleiche Stimme. Ich musste mich zusammen reißen. Ich sank meinen Blick auf meine Schuhe.
»Mir auch. Ich muss zu dem Zimmer 33. Weißt du wo das ist?«, fragte ich in einem schnellen Tempo. Ich wollte mich nur nicht verhaspeln.
»Hey, da muss ich auch hin. Also haben wir zusammen Mathematik.« Auch das noch. Aber er war glücklich über dieses Erkenntnis.
Wir liefen gemeinsam zum Unterricht. Noch immer hatte ich meinen Kopf gesenkt. Doch als ich ihn anhob schaute er mich mit seinen schwarzen leuchtenden Augen an. Das Blut pumpte sich in meine Wangen. Sie wurden knall Rot.
»Wir müssen einen kurzen Weg draußen weiter gehen. Nicht das du dich wunderst.«
»Oh okay. Ist das in einem anderen Gebäude?«, fragte ich ihn mit roten Wangen. Draußen war zwar kein Wind aber seine blonden Haare wehten. Er hatte sie bis zum Ohr lang wachsen lassen. Sein Haaransatz war dunkel. Ob er sich sie gefärbt hat? Was für blöde Fragen stellte ich mir denn? Ich konnte meine Augen nicht von ihm lassen. Als er mich ansah klopfte mein Herz noch lauter. Hoffentlich hört er das pochen nicht.
Wir waren im anderen Gebäude angekommen und standen vor Raum 33. Ich atmete tief durch und schloss für einen Moment meine Augen, um mich zu konzentrieren. Vincent schaute mich fragend an.
»Was hast du?«
»Ich bin ein wenig nervös.« Ich machte meine Augen auf und Vincent lächelte mich mit seinen süßen und bezauberten Lachen an. Er nahm meine Hand und öffnete mir die Tür. Ich spürte seine zarten Finger wie sie mich kaum berührten. Seine Haut war kalt. Doch das störte mich nicht in diesem Moment. Als wir im Zimmer eingetreten waren ließ er meine Hand los und ging zu seinem Platz. Alle Köpfe richteten sich zu mir. Ich ging zu dem Lehrer hin und gab ihm den Zettel.
»Hallo Ms. Turner. Ich bin Mr. Tailer, der Mathematiklehrer. Wir haben nur noch einen Platz. Da wird deine Auswahl nicht sehr groß sein«, stellte er sich vor.
»Danke.« Ich drehte mich in die Richtung der Klasse und suchte den freien Platz. Zum Glück war der Platz in der hintersten Reihe. Ich ging zu ihm und merkte nicht das Vincent mit einem anderen Jungen getauscht hatte. Der andere Junge war ziemlich sauer und fluchte vor sich hin. Vincent rückte mir meinen Stuhl zurecht. Automatisch musste ich lächeln und setzte mich neben ihn. Der Lehrer fing nun mit seinem Unterricht an. Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch Vincent schaute nur mich an. Seine schwarzen Augen bewegten sich keinen Moment weg von meinen. Beschämt schaute ich immer mal wieder auf meine Finger. Ich hatte keine Ahnung was der Lehrer – vorn an der Tafel versuchte zu erklären. Unsere Blicke blieben mehrere Minuten lang aneinander geheftet. Mein Mund wollte etwas sagen aber mein Kopf ließ es nicht zu. Sein sanftes Lächeln verwandelte sich plötzlich in eine harte Miene. Er drehte seinen Kopf zum Lehrer. Wieso tat er das? Habe ich etwas Falsches gemacht? Er starrte nur nach vorn zur Tafel. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Oh Gott, was habe ich getan? Ich hätte mich von seinem Blick abwenden sollen. Nun schaute ich auch nur nach vorn. Seine Fäuste zitterten, sodass der ganze Tisch bebte. Er versuchte zwanghaft mich nicht an zusehen.
Die ganze Stunde änderte sich nichts. Meine Hände fingen an zu schwitzen. Als es zur Pause klingelte stürmte er von seinem Platz und verschwand aus dem Zimmer. Ich nahm mein Zeug zusammen und ging zu meiner nächsten Stunde. Bei dieser tauchte Vincent auch nicht auf. In der Mittagspause schleifte mich Julia mit zu ihren Stammtisch. Dort saßen auch Matt und Darry. Wie nicht anders zu erwarten – starrte mich Matt mal wieder schief von der Seite an.
»Kannst du das endlich sein lassen? Du gehst mir tierisch auf den Senkel.« Voller Wut schnauzte ich ihn an. Seine Augen wurden größer. Ich glaubte, mit solch einer Reaktion hätte er nie von mir gerechnet. Ohne ein Wort zu sagen drehte er sich weg. Die Anderen aber konnten ihre Klappen nicht halten.
»Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte Julia.
»Das weiß er schon selber«, antwortete ich in einem wütenden Ton zurück. Für eine kurze Weile sagte niemand ein Wort. Aber Julia fing wie immer an zu plappern. Ich dachte über Vincent nach.Und darüber was wir geredet hatten. Doch der Weg war zu kurz um sich richtig zu unterhalten. Julia boxte mich in die Seite und wollte eine Antwort von mir.
»Und...was hältst du davon?«
»Äh...was?« Ich schüttelte den Gedanken über Vincent aus meinem Kopf und folgte dem Gespräch der Gruppe.
»Ob du mit zum einkaufen kommen willst?«, fragte sie ein wenig wütender nach.
»Ich weiß nicht so recht. Wann denn?« Obwohl ich keine Lust hatte tat ich interessiert.
»An diesem Wochenende«, sagte Julia.
»Nein danke. Ich bleibe lieber hier.« Hoffentlich macht jetzt Julia keinen Aufstand.
»Okay.« War ihre einzige Antwort. Was mich erstaunte. Sonst ließ sie nie so schnell locker. Aber das kann mir nur gut tun. Ein wenig Zeit für mich. Ich bekam jetzt doch Hunger und ging zur Gemüseabteilung. Ich stellte mir gerade einen kleinen Teller zusammen, als sich jemand neben mich stellte. Dieser Duft. Denn kenne ich doch. Ich drehte meinen Kopf nach Links und sah plötzlich Vincent neben mir stehen.
»Tut mir Leid«, flüsterte er zu mir. Sein Gesicht sah wieder wie normal aus. Ein Lächeln war darin und auch seine Augen leuchteten in einem freundlichen Ton. Ich schaute wieder zu meinem Teller und ging wütend von ihm weg. Was hab ich mir nur dabei gedacht? Jetzt hätte ich ihn fragen können. Ich blieb stehen und wollte mich umdrehen und da stand er neben mir. Ohne einen Laut von sich zu geben.
»Du warst auf einmal so schnell weg, warum?« Und schaute ihn tief in seine Augen. Mir fiel es schwer konzentriert zu zuhören.
»Mir ging es plötzlich nicht so gut. Ich wollte nicht die Aufmerksamkeit der Anderen erregen. Da bin ich lieber eher gegangen. Tut mir Leid«, erklärte er mit einer ruhigen Stimme.
»Das hättest du mir doch sagen können, dann ...«
»... dann hättest du den Lehrer geholt und alle Blicke wären auf mich gerichtet gewesen«, unterbrach er mich. Jetzt konnte ich ihn verstehen – das hätte ich auch nicht gewollt.
»Was war denn? Dir scheint es ja wieder besser zu gehen.« Ich war ein bisschen Neugierig, aber ich wollte auch so sehr mit ihm reden. Seine Stimme hören und in seine Augen sehen.
»Mir wurde ein wenig Übel, aber das ist jetzt wieder vorbei. Wahrscheinlich die Aufregung«, schmunzelte er.
»Aufregung?«, fragte ich verwundert. Das müsste ich doch sein.
»Wegen dir.« Er sank verschämt seinen Kopf und stocherte in dem Salat herum. Ich wurde rot und machte dasselbe.
»Wegen mir?«, wiederholte ich. Jetzt schaute er mich wieder an mit seinem engelsgleichen Gesicht und nickte mir zu.
»Wieso? Wenn ich fragen darf.« Ich dachte nur – halt die Klappe – das ist schon peinlich genug. Doch er hatte anscheinend kein Problem damit mir es zu sagen.
»Ich hörte das eine neue Schülerin kommt ist hier immer die Hölle los. Als sich dann heraus stellte das du das bist, wurde ich ein wenig nervös. Unser erster Zusammenstoß war nicht gerade klasse.« Ich hörte ihn genau zu und ließ ihn ausreden.
»Ich wusste nicht wie du reagieren würdest.«
»Wieso?«, fragte ich schnell nach.
»Naja … Julia hat dir doch sicher schon was über mich erzählt, oder?« Und schaute über seine Schulter zu ihr.
»Ja … aber so etwas interessiert mich nicht. Besser selber kennen lernen als auf andere hören. Und du bist überhaupt nicht wie sie es gesagt hatte.« Ich stocherte weiter in meinem Salat herum. Es schien ihn zu amüsieren wie die Anderen über ihn redeten.
»Nur die Harrisons können mich nicht leiden. Die anderen Schüler sind eher nett zu mir. Was hat sie denn so gesagt?« Er schaute mich mit einem Ausdruck an denn ich nicht recht deuten konnte.
»Sie haben gesagt du seist ein Rebell und einer von der schlimmen Sorte. Na ja und so weiter. Doch es ist mir egal. Ich finde dich ziemlich nett.« Er musste automatisch zu Julia und ihren Brüdern schauen. Wahrscheinlich war er sauer auf sie. Aber als er sich zu mir umdrehte lächelte er mich an. Plötzlich beugte er sich zu mir vor. Ich spürte seinen süßlichen – aber auch kalten – Atem an meinem Ohr. Das Blut erhitzte sich wie Feuer in meinem Körper. Meine Hände zitterten wie Espenlaub. Seine Lippen waren ganz nah am Ohr. Einen Millimeter mehr und er hätte mich geküsst.
»Danke! Ich finde dich auch sehr nett«, flüsterte er mir zärtlich in mein Ohr. Er entfernte sich wieder von mir und lächelte mich an. Ich konnte nicht anders und lachte mit.
»Was machst du dieses Wochenende?« Er merkte das ich nervös war und wollte die Stimmung ändern.
»Ich … ich … Julia wollte einkaufen gehen, aber ich habe keine Lust dazu«, stammelte ich. Ich musste mich konzentrieren um nicht rot zu werden.
»Hättest du Lust mit mir was zu unternehmen?«, fragte er verschämt.
»Und was wollen wir machen?«
»Ich könnte dir die Stadt zeigen und andere schöne Orte, die sonst keiner weiß.« Er musste dabei lächeln – anscheinend war es ihm peinlich. Ich überlegte keine Sekunde und sagte Vincent sofort zu. Ich war wie ein kleines Kind aufgeregt.
»Super … äh, ich meine … dann bis später.« Es sah niedlich aus wie er versuchte die richtigen Worte zu finden. Bei seinem Anblick musste ich schmunzeln. Er verabschiedete sich mit einem Winken und seinem Lächeln von mir.
Ich merkte nicht wie schnell die Mittagspause zu ende war. Und der Schultag erst, im Nu saß ich wieder im Auto auf der Heimfahrt. Wahrscheinlich war es die Vorfreude auf das kommende Wochenende. Julia nahm es mit Fassung hin, das ich ihr abgesagt hatte. Doch von Vincent habe ich noch nicht gesprochen. Mein Magen krümmte sich bei der Vorstellung es ihnen zu sagen. Vielleicht dachte Hannah anders als ihre Familie. Ich sollte besser zu ihr gehen.
»Kann ich dich etwas fragen, Hannah?« Vorsichtig tastete ich mich an das Thema heran. Sie machte gerade das Abendessen. Jedenfalls versuchte sie es. Sie wirbelte mit dem Messer herum und überall lagen Essensstücke auf dem Fußboden. Sie drehte sich zu mir und hatte bedrohlich das Messer in der Hand. Ich ging einen Schritt zurück um nicht erdolcht zu werden.
»Was gibt es denn Lilly?«
»Ich habe da eine Frage, wegen einen Jungen aus der Schule.« Ich sah wie ihre Augen strahlten vor Freude. Sie legte das Messer weg und umarmte mich.
»Oh … ein Junge. Wie heißt er? Wie sieht er aus? Kenne ich ihn?« Fragte sie neugierig nach. Sie löste ihre Umarmung und ich bekam endlich wieder Luft.
»Aber bitte lasse mich ausreden, bevor du etwas sagst.«
»Natürlich. Ist er so süß?« Immer weiter stocherte sie nach. Doch ich musste es sagen. Mit irgendjemanden musste ich darüber reden.
»Also, er heißt Vincent und ...« Ihr Blick sagte schon alles. Mitten im Satz hörte ich auf und überlegte, ob es sich lohnt noch weiter zu reden.
»Und weiter?«, sagte sie mit einem ruhigen Ton. Ich musste sie wegen Samstag fragen.
»Er möchte mir am Samstag die Gegend zeigen und ich habe ihm zugesagt. Und jetzt wollte ich deine Erlaubnis haben.« Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen und starrte deshalb auf den Boden. Ich hatte mich innerlich schon auf eine Absage eingestellt. Hannah ließ sich wirklich Zeit mit ihrer Antwort. Ich hörte wie das Gemüse in der Pfanne briet.
»Hmm … Na schön. Du kannst mit ihm ausgehen«, seufzte sie.
»Ausgehen? Er zeigt mir nur die Stadt, klar?«, korrigierte ich sie. Denn ein Date wird das auf keinen Fall. Ich fragte lieber nicht wie sie über ihn dachte. Meine Antwort hatte ich und gab mich damit zufrieden.
»Aber natürlich.« Und endlich kam ihre sanfte Seite zum Vorschein. Sie lächelte wie meine Mutter, wenn es um einen Jungen ging.
»Danke Hannah. Ich sag es ihm am besten morgen. Ich mache jetzt meine Hausaufgaben.« Und drehte mich schnell um, damit sie ihre Meinung nicht ändern konnte.
»Aber beeile dich, das Essen ist gleich fertig«, rief sie mir hinterher.
»Okay.« Ich ging auf mein Zimmer und konnte nicht mehr aufhören zu grinsen. Ich war so aufgeregt. Wieso konnte es nicht schon Freitag sein. Ich machte meine Hausaufgaben in Mathematik, Englisch und Biologie. Da ich immer sehr gut in der Schule war, fiel mir es nicht schwer sie bis zum Abendessen fertig zu machen. Hannah rief von unten zum Essen.
Am Tisch war ich die Letzte. Es gab eine leckere Reispfanne mit viel Gemüse für mich und für die Anderen eine riesige Portion Schweinefleisch. Bloß bei dem Geruch kam mir der Brechreiz wieder hoch. Aber ich hatte mein Gemüse. Obwohl Hannah aussah als hätte sie keine Ahnung vom kochen, schmeckte es sehr lecker. Während des Essens sagte keiner ein Wort. Ich beobachtete sie ganz genau. Denn ich hatte die Harrisons noch nie speisen sehen. Jeder
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2013
ISBN: 978-3-7309-5787-5
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