Eine durch Göttermund gesprochene Prophezeihung gibt Hoffnung.
Eine Auserwählte, mächtiger als je zuvor, übertrifft die Hoffnung.
Eine Liebe, so stark und doch so falsch, zerstört die Hoffnung.
Jeder Atemzug schmerzt. In seinen Augen steht pure Verzweiflung. Er kann nicht fassen, dass er gescheitert ist. Wut und Angst wüten in ihm wie loderndes Feuer und vertreiben fast den unerträglichen Schmerz, den die klaf- fende Wunde in seinem Bauch verursacht. Einzelne Schweißtropfen lösen sich von seiner Stirn und kullern seine Wangen hinab, genau wie Tränen.
Doch es sind keine. Zum Weinen hat er keine Kraft mehr. Das Leben fließt so schnell aus ihm heraus, dass es ihm schwerfällt, klare Gedanken zu fassen. Wie gern würde er die Stimmen seiner Familie noch ein letztes Mal hören. Seine Kinder in den Arm nehmen, seine Frau küssen. Ihnen sagen, wie unglaublich leid ihm sein Ver- sagen tut. Doch nun ist es zu spät.
»Wo ist es?«, zischt jemand und rüttelt grob an den Schultern des sterbenden Mannes. Blinzelnd kommt er zu sich. Eine verhüllte Gestalt steht über ihn gebeugt. Ihr fauliger Atem lässt ihn würgen.
Mühsam richtet er sich etwas auf und lehnt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die kalte Steinmauer an. Der schmale Gang, in dem er sich befindet, ist kaum
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beleuchtet. Es ist ihm unmöglich, irgendetwas unter der großen Kapuze der Gestalt zu erkennen.
»Ich hab es nicht mehr.« Seine Stimme zittert und er muss mehrmals die Schwärze, die am Rand seines Blick- feldes lauert, wegblinzeln.
»Lügner!«, faucht die Gestalt und beginnt, ihn mit ihren klauenartigen Händen abzutasten. Er hat nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren. Aber das würde nichts nutzen. Es ist verschwunden.
Als die Gestalt nichts findet, schreit sie frustriert auf.
»Nichtsnutziger kleiner Dieb. Dann muss ich mich wohl selbst darum kümmern.« Die Gestalt steht auf und blickt herablassend auf ihn nieder.
»Bitte. Verschone sie. Verschone meine Tochter!«, nuschelt der sterbende Mann und streckt flehend eine Hand in Richtung der hämisch grinsenden Gestalt.
»Die Auserwählte wird sterben. So oder so. Genau wie du.« Mit diesen Worten schnellt die Gestalt zu ihm hinunter und rammt ihm einen Dolch in die Brust. Seine Augen weiten sich ungläubig und er stöhnt schmerzerfüllt, als sie den Dolch langsam aus seiner Brust zieht.
Lachend wendet sich die Gestalt von ihm ab und lässt ihn blutend zurück. Es fällt ihm immer schwerer, bei Bewusstsein zu bleiben, doch er muss noch diese eine Sache erledigen, bevor er sich der verlockenden Schwärze ganz hingeben kann. Wenigstens das ist er ihr schuldig.
Mit letzter Kraft, sendet er eine Botschaft an den ein- zigen Ort in diesem magischen Land, dem er vertraut.
Dem Seelenflüsterer.
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Dann erlöscht der letzte Funke Leben in ihm und er stirbt allein in dieser fremden Welt.
»Verdammter Mist!«
Fluchend stampfte ich mit einem Bein auf den schwarz - weiß gefliesten Boden der Schulcafeteria auf.
»Oh mein Gott! Es tut mir so leid! Das wollte ich nicht!« Eifrig versuchte Emeley, meine beste Freundin, mir mit vielen Taschentüchern das Erbsenpüree von der dunkelgelben Bluse der grässlich olivgrünen Schuluniform zu wischen. Dabei verschmierte sie es umso mehr und jetzt prangte ein riesiger brauner Fleck auf meiner Brust. Super.
Hätte Emeley besser aufgepasst und nach vorne, anstatt in ihr Handy geschaut, dann wären wir nicht zusammengestoßen und ich hätte mein Erbsenpüree essen können. Stattdessen waren wir volle Kanne zusammengekracht und ich hatte mein »leckeres« Mittagessen auf meiner Schuluniform verteilt.
»Schon gut. Das Zeug bekommt man ja nüchtern sowieso nicht runter«, murrte ich und schob mich an ihr vorbei. Mein schmutziges Tablett landete scheppernd am nächstbesten Tisch und ich stapfte aus der Cafeteria. Ems kam mir nach. Erst als ich am Mädchenklo angekommen war, wagte ich einen Blick an mir hinunter.
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Oh Gott. Die gesamte Bluse war durchnässt und jeder hatte jetzt eine tolle Aussicht auf meinen schwarzen Hello - Kitty BH. Frustriert fuhr ich mir durchs Haar.
»Wenn du willst, können wir Bluse tauschen. Ich habe heute ausnahmsweise Mal einen schönen BH an«, schlug Emeley kleinlaut vor. Prüfend sah ich sie an. Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Schultag hier, nach meinem Umzug nach London, als mir ein großer Junge so auf meine neuen Schuhe getreten war, dass sie nachher ganz kaputt und dreckig waren. Gleich darauf ist ein kleines, ziemlich dünnes und verdammt hübsches Mädchen mit kurzen braunen glatten Haaren und blau - braunen Augen zu mir gekommen und hat gemeint, wenn wir mal so alt sind wie der, werden wir ihm auch weh tun. Danach hatte sie sich vorgestellt unter: »Übrigens, ich heiße Emeley und komme immer zu spät!« Sie grinste übers ganze Gesicht und als sie das sagte, wusste ich, dass wir Freundinnen werden würden. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Sie war ein wahrhaftiger Engel auf zwei Beinen und immer mit einem geheimnisvollen Funkeln in den Augen anzutreffen.
»Nein, ist schon okay. Ich zieh einfach meine Jacke darüber an.« Ich wusste wirklich nicht, wie sie das machte, aber Ems war die einzige Person, die ich kannte, die gleichzeitig traurig und zweifelnd aussehen konnte. Und mit genau diesem »Du weißt, dass das nicht erlaubt ist« und dem »Es tut mir so leid« Blick sah sie mich jetzt auch an.
»Wirklich Ems. Es ist okay.« Ich wusch meine Hände und betrachtete mich kurz im Spiegel. Meine blonden
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Locken waren schon etwas zerzaust und wegen des schlechten Lichts hier, wirkten meine grünen Augen fast schwarz. Ich sah müde und abgeschlagen aus. Ich wandte den Blick von meinem Spiegelbild ab und warf Ems einen Seitenblick zu. Sie stand genau neben mir und prüfte gerade ihr Make-up. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Mit meinen klatschnassen Händen rubbelte ich ihr durch das perfekt frisierte Haar und zerzauste es total. Emeley quietschte erschrocken auf und schob dann entrüstet meine Hände weg.
»Fayne! Du weißt genau wie empfindlich meine Haare sind! Jetzt stehen sie sicher voll weg!« Lachend trocknete ich meine Hände an meinem Rock ab und zog die kleine protestierende Ems an den Armen vom Spiegel weg und aus der Mädchentoilette hinaus auf den ebenfalls weiß - schwarz gefliesten Schulflur.
»Wusstest du, dass wir einen neuen Mitschüler bekommen sollen?«, fragte Emeley unvermittelt und blieb stehen. »Nein.« Ich runzelte die Stirn. Normalerweise wusste ich immer relativ schnell, was alles so auf der Westminster High los war. Emeley sah mich prüfend an, dann sprudelte es nur so aus ihr heraus:
»Er heißt Leroy und soll angeblich rattenscharf aussehen. Ich habe ihn zwar noch nicht gesehen, aber wenn Amy O ́Sheard das sagt, dann glaube ich ihr das. Auch wenn ich sie abgrundtief verabscheue, hat sie leider einen sehr guten Geschmack was Jungs angeht.« Ich verdrehte die Augen, konnte mir aber ein Lächeln nicht verkneifen.
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»Ach wirklich? Kannst du ihn auch beschreiben?«, fragte ich und bemühte mich um einen seriösen Gesichtsausdruck, der mir aber nicht so recht gelingen wollte.
»Ja sicher! Was denkst du bloß von mir?«, kicherte sie. »Also er ist ungefähr einen Meter achtzig groß, hat schwarze Haare, blaue Augen und eine gerade Nase. Er ist schlank, aber muskulös, trägt Schuhgröße 43 und seine Lieblingsfarbe ist Blau.«
Mir fiel die Kinnlade runter. Irritiert schielte ich zu ihr rüber. »Das weißt du alles, obwohl du ihn noch nie gesehen hast?«, fragte ich verwundert.
»Nun ja ... das hat Amy halt so der ganzen Klasse erzählt.«
»Und woher weiß sie das?«
»Keine Ahnung, aber ich bin schon gespannt, ob das auch alles stimmt, was sie da erzählt. Bei ihr ist ja jeder Typ der muskulös ist ein potenzieller Traummann«, meinte Ems, packte diesmal mich am Ärmel und zog mich in den Klassenraum, in dem wir die nächste Stunde mit Englischer Literatur verbringen würden.
Die Busfahrt nach Hause verlief ruhig. Zumindest von meiner Seite aus. Ems und ich saßen in der letzten Reihe. Während sie mir das Ohr über süße Jungs abkaute, starrte ich aus dem Fenster und sah den Regentropfen zu, die sich langsam ihren Weg nach unten bahnten. Ich war mit meinen Gedanken ganz wo anders, konnte aber nicht genau sagen wo. Ich war irgendwie da, aber dann auch
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wieder nicht. Mein Arm schmerzte und meine Rippen pochten. Auf einmal verschwammen die Tropfen vor meinen Augen und ich sah Schemen von einem Gesicht. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte einen Jungen. Seine dunklen Haare hingen ihm ins Gesicht und verdeckten seine Augen, doch ich könnte schwören, dass er mich direkt ansah. Mir wurde eiskalt und ich spürte ein schwaches Ziehen in der Brust. Plötzlich rammte mir Ems mit ihren Ellenbogen in meine Rippen. Ich keuchte auf und der Junge war verschwunden.
»Fayne, hörst du mir überhaupt zu?«, empörte sie sich.
»Klar«, murmelte ich und blinzelte ein paar Mal. Emeley schaute mich an, als ob ich ein Alien von einem anderen Planeten wäre. Ich grinste sie verschmitzt an und überspielte gekonnt meine Schmerzen und die Unsicherheit wegen diesem blöden Gefühl, beobachtet zu werden. Sie zuckte die Schultern und brabbelte weiter vor sich hin. Die Häuser zogen an uns vorbei und der dichte Londoner Verkehr wich dem gemütlichen Vorstadtverkehr. Bei unserer Haltestelle angekommen, packten wir alle Sachen zusammen und stiegen aus. Es tröpfelte und ich zog mir den Rucksack über den Kopf. Hastig verabschiedete ich mich von Ems und rannte die letzten paar Meter nach Hause.
Zuhause angekommen, schüttelte ich mir die Wassertropfen aus meinen blonden Haaren und stampfte hinauf in mein Zimmer. Die dreckige Schuluniform schmiss ich in die Ecke, während ich mir den iPod schnappte und mich aufs Bett fallen ließ.
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Ich suchte gerade meine Lieblingsplaylist raus, als mein Handy klingelte. Seufzend nahm ich ab, ohne aufs Display zu sehen. »Hallo?«, murmelte ich und scrollte weiter durch meine Playlists.
»Hallo Mäuschen.« Ich hielt mitten in der Bewegung inne. Diese Stimme kannte ich doch!
»Dad!«, rief ich erfreut und setzte mich auf.
»Na meine Kleine? Wie gehts dir?«, fragte er und ich hörte ihn schmunzeln.
»Gut, danke! Aber wie gehts dir? Wie laufen die Forschungsarbeiten? Wann kommst du nach Hause?« Meine Stimme überschlug sich, so aufgeregt war ich. Dad rief meistens dann an, wenn er etwas Besonderes entdeckt hatte oder wusste, wann er wieder nach Hause kommen konnte. Mein Vater war ein hoch angesehener Forscher in einer geheimen Mission und war deshalb selten zu Hause. Wir sind früher oft zu ihm gezogen, wenn er irgendwo für einen längeren Zeitraum stationiert worden war. Das hieß für uns, dass wir sehr oft umgezogen sind, doch das machte mir nie was aus. So konnte ich Freundschaften auf der ganzen Welt schließen und die verschiedensten Kulturen und Bräuche kennen lernen. Hier in London lebten wir bis jetzt am längsten, da Dad in den letzten zwei Jahren ständig zwischen Schottland, England und Irland herumreiste. Im Moment befand er sich allerdings in Schottland.
»Ich komme bald nach Hause Mäuschen. Und dann müssen wir uns unterhalten. Es gibt da etwas, dass ich dir unbedingt erzählen muss.«
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»In Ordnung Dad. Ich freue mich schon auf dich! Wir vermissen dich alle«, sagte ich, obwohl ich lieber gleich erfahren hätte, was er mir erzählen wollte.
»Ich weiß Schatz. Ich bin bald zu Hause. Ich vermisse euch auch! Warte- ...« Es raschelte kurz in der Leitung, dann hörte ich unterdrücktes Murmeln, bevor Dad wieder in den Hörer sprach.
»Tut mir leid Fayne, aber ich muss jetzt weiter machen. Wir sehen uns ganz bald!« Damit legte er auf und ließ mich seufzend zurück. Ich war es gewohnt, dass unsere Gespräche so abrupt endeten, doch diesmal fühlte es sich anders an. Mich ließ das Gefühl nicht los, dass etwas Schreckliches passieren würde. Kopfschüttelnd verjagte ich das Gefühl, legte mich zurück aufs Bett und ließ mich von meiner Lieblingsplaylist sachte in den Schlaf singen.
Ich fuhr hoch und schlug mir den Kopf an der Dachschräge an, als es schrill an der Tür klingelte. Während die eine Hand die Stöpsel aus den Ohren zog, massierte die andere meine schmerzende Stirn.
Helles Sonnenlicht strahlte durchs Fenster und blendete mich. Hatte ich etwa den ganzen Abend gestern verschlafen? Kopfschüttelnd legte ich die Arme um meinen Körper und ging aus dem Zimmer.
Es klingelte erneut an der Tür, unten rumorte es und dann hörte ich meine Mutter rufen: »Ich komme ja schon!« Ich trabte die Treppen hinunter, während Mom murrend die Tür aufsperrte.
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Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, als ich zwei Polizisten in Uniform im Türrahmen stehen sah.
»Sarah Thores?«, fragte der Größere der beiden und sah von dem Zettel in seiner Hand auf.
»Ja, das bin ich«, sagte meine Mom.
»Guten Morgen, Mrs Thores, ich bin Police Officer Bernard Layne und das ist mein Kollege Officer O’Hare. Dürften wir kurz hineinkommen?« Seine Stimme war freundlich, doch sein Gesicht wirkte bedrückt. Mit einem Nicken trat Mom einen Schritt zurück und ließ die Polizisten eintreten. Stirnrunzelnd schloss sie die Tür hinter ihnen wieder. Officer Layne war ein großer, breitschultriger Mann mit ernstem Gesichtsausdruck und braunem, gelocktem Haar. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig, da einige kleine Falten im Gesicht sein ungefähres Alter verrieten. Officer O’Hare war klein und etwas dicklich, seine Glatze glänzte und er wirkte leicht verstört.
»Folgen Sie mir bitte«, bat meine Mom und steuerte den Esstisch an. Ich folgte ihr und setzte mich zu meiner kleinen Schwester Lucy an den Tisch. Sie hatte noch ihren Pyjama an und ihre dunkelblonden Korkenzieherlocken waren ganz zerzaust. Dave, mein älterer Bruder, kam aus der Küche geschlendert, eine dampfende Tasse Tee in der einen Hand und eine Schale Müsli in der anderen. Als er die Polizisten sah, blieb er verunsichert neben Mom stehen.
»Womit kann ich behilflich sein, Officers?«, fragte meine Mutter und knetete sich nervös die Finger.
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»Ich denke, Sie sollten sich besser hinsetzten Mrs Thores«, meinte Officer Layne höflich, aber bestimmt und deutete auf den freien Stuhl. Mom blieb stehen.
Neugierig und ängstlich zugleich musterte ich Officer Layne. Er erwiderte meinen Blick mit einem traurigen Lächeln und plötzlich wirkte er unglaublich erschöpft. Officer O’Hare blieb im Eingang der Küche stehen, verschränkte die Arme und musterte uns still.
»Ist etwas passiert, Officer?« Meine Mutter wurde zunehmend nervöser. Sie hatte ihre Hände krampfartig in einander gekrallt und ich konnte das leichte Zittern in ihrer Stimme hören. Ihr Blick huschte von einem Officer zum anderen.
»Es tut mir wahnsinnig leid, Mrs Thores, aber ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Ihr Mann in Schottland einen Autounfall hatte.«
Mom wurde bleich und hielt sich schnell an der Stuhllehne fest.
»Was ist passiert? Geht es ihm gut?« Ihre Stimme war erfüllt von Panik.
Officer Layne überging ihre Frage und sah uns alle traurig an. Die Zeit schien still zu stehen. Meine Hände fingen an zu schwitzen und ich rutschte ängstlich auf dem Hintern hin und her. Ich hatte panische Angst vor dem, was er noch sagen würde. Lucy drückte sich an mich und krallte ihre Finger in meinen Arm. Den Schmerz nahm ich nicht mal wahr.
Officer Layne seufzte bedrückt und faltete die Hände hinter dem Rücken zusammen.
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»Samuel Thores verstarb noch an der Unfallstelle. Es tut mir leid. Die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun. Ihr Mann wird für die Überführung nach London vorbereitet, sobald Sie alle erforderlichen Dokumente eingereicht haben. Er sollte dann binnen der nächsten 36 Stunden ins Bestattungsunternehmen Ihrer Wahl gebracht werden. Ich bedaure Ihren Verlust zutiefst.«
Mir rutschte das Herz in die Hose. Das konnte nicht wahr sein. Da musste eine Verwechslung vorliegen! Ich hatte doch gestern erst mit ihm telefoniert. Er dufte es nicht sein!
Mom war wie erstarrt. Ihre Augen waren glasig, doch sie rührte sich nicht. Irgendwo klirrte es und es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass Dave seine Tasse Tee und Schale voll Müsli fallen gelassen hatte. Tränen verschleierten mir die Sicht, doch ich sah, wie meine Mutter plötzlich in sich zusammensackte, doch Officer Layne fing sie auf und stützte sie. Sobald er sie berührte, fing sie an wild um sich zu schlagen, und kreischte wie eine Verrückte: »NEIN, das KANN nicht sein! Sie lügen, Sie lügen! Nein, Sam, nein! Das kannst du mir nicht antun, Sam!«
Wie besessen schlug Mom auf die breite Brust des Polizisten ein, doch dieser packte sachte ihre Hände und schob sie hinter ihren Rücken, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Mom hing nun kraftlos in seinen Armen und Officer Layne führte sie sachte zum Sofa. Das Ganze fühlte sich so unreal an, dass ich fast schon zu glauben begann, dass das alles ein Riesen Scherz war und gleich
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hinter der Ecke jemand mit einer versteckten Kamera hervorkam und Cut schrie. Doch es kam keiner. Wir blieben allein mit Officer Layne, dessen Gesicht vor Kummer gezeichnet war und plötzlich begriff ich, was hier eigentlich gerade passiert war. Mein Dad war tot. Und auf einmal lag meine ganze Welt in Scherben, ohne dass ich voll begriffen hatte, wie mir geschah.
36 Stunden später
Mom weinte die ganze Autofahrt in Richtung Bestattungsunternehmen still vor sich hin, während ich stur aus dem Fenster starrte. Ich konnte es immer noch nicht glauben, was passiert war. Es war unmöglich! Dad konnte und durfte nicht tot sein! Mom hatte heute früh einen Anruf bekommen, dass Dad überführt worden war und sie zur Identifizierung und Besprechung des Begräbnisses ins Bestattungsunternehmen kommen sollte. Da ich sie nicht alleine lassen wollte, kam ich mit, obwohl mich die Angst beinahe auffraß. Zumindest redete ich mir das ein. Insgeheim musste ich mich mit meinen eigenen Augen davon überzeugen, dass es wirklich mein Dad war. Dave war mit Lucy zu Hause geblieben.
In mir breitete sich eine kalte und sehr schmerzhafte Leere aus. Mein Körper fühlte sich taub an und doch kribbelte es überall. In meinem Kopf drehte sich alles und ich sah nur noch verschwommene Häuserumrisse an uns vorbeiziehen. Ich lehnte meine Stirn gegen das kalte Fenster, doch das Gefühl blieb. Ich spürte, wie mir die
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Tränen kamen, als sich eine besonders schöne Erinnerung an Dad in meine Gedanken schlich.
Ich war sieben Jahre alt, als mein Dad zu mir sagte: »Komm Fayne, ich möchte dir was zeigen.« Er streckte mir seine Hand entgegen und ich ergriff sie neugierig. Er zog mich in den Wald, der sich hinter unserem Haus in Edinburgh erstreckte. Dort bog er mit mir auf einen, mir unbekannten Weg ab, tiefer in den Wald hinein. Ich war so aufgeregt und fragte minütlich, ob wir schon da seien. Als er immer verneinte, wurde ich nur ungeduldiger. Nach einer gefühlten Ewigkeit blieb er stehen und zeigte mit dem Zeigefinger gen Norden. Ich verfolgte seinen Finger und entdeckte einen wunderschönen Baum, der ein paar Meter von uns entfernt stand. Es war eine Weide, die mit einem Ahornbaum verzweigt war. Die beiden waren zu einem Ganzen verwachsen. Es war ein überwältigender Anblick. Die langen Zweige der Weide wehten im Wind sacht hin und her, während die Blätter vom Ahorn sich wie ein Dach über der Weide ausbreiteten. Ich betrachtete die verschiedenen Grüntöne. Die Sonne erleuchtete die Ahornblätter von oben und warf lange Schatten auf die Weidentriebe. Der Baum strahlte eine innere Ruhe aus und ich vergaß all meine Sorgen, Ängste und Probleme. Als wäre ich ein neuer Mensch.
»Wow«, flüsterte ich und sah meinen Vater an. Seine blauen Augen strahlten wie die Sonne am Himmel und sein blondes gelocktes Haar war vom Wind leicht
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zerzaust. Wir verbrachten den restlichen Tag dort und es war einer der schönsten Momente, die ich mit meinem Vater jemals teilte. Nach diesem Tag waren wir oft dort, auch um nur mal einen Moment für uns zu sein. Keiner außer meinem Dad und mir wusste von diesem Ort. Es war unsere geheime Zuflucht, die wir mit niemandem teilten.
Mom kam mit quietschenden Reifen auf dem Parkplatz zum Stehen. Wir stiegen aus und ich ergriff Moms Hand. Sie war schweißnass. Erst jetzt bemerkte ich, wie stark sie zitterte. Wie sehr ich zitterte. Langsam, fast schon zögerlich, gingen wir Hand in Hand zum Eingang. Ich wusste nicht, wer sich an wem festklammerte, doch ich war mir sicher, würden wir uns voneinander lösen, wäre meine Kraft mich auf den Beinen zu halten verschwunden.
Ich stieß die schweren Türen auf und eine unangenehme Wärme umhüllte mich. Sie fühlte sich falsch auf meinen eiskalten Wangen an. Es lag ein seltsamer Geruch in der Luft, der mir den Magen umdrehte. Eine kleine, runde Frau mit freundlichem Gesicht stand auf und kam uns entgegen.
»Ah, Sie müssen Mrs Thores sein! Mein Name ist Martha Fitzgibbens, aber Sie können mich ruhig Martha nennen.« Sie nahm Mom am Ellenbogen und führte sie zu einer gemütlichen Sitzecke. Als wir uns setzten, versanken wir tief in den weichen Lederkissen.
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»Mrs Thores, Ihr Verlust tut mir wahnsinnig leid! So eine Tragödie.« Sie stellte Mom eine Taschentuchbox vor die Nase, da sie schniefend versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Doch es gelang ihr nicht. Martha tätschelte mütterlich ihre Hand, dann griff sie zu dem Klemmbrett, welches am Tisch lag und begann mit Mom die Formulare zu besprechen.
Ich blendete Marthas Geplapper und Moms Schniefen aus, während sie den Papierkram erledigten. In mir war seit dem Tag, an dem die Polizisten an der Tür klingelten, alles erfroren. Ich fühlte nichts mehr, war taub. Ich hatte nicht mal mehr Tränen zum Vergießen, war komplett ausgetrocknet. Ich erlebte alles wie im Rausch. Nur bruchstückhafte Erinnerungen der letzten drei Tage waren mir geblieben.
Es ist seltsam, woran man sich erinnert. Nachdem die Polizisten gegangen waren, ging ich wortlos hinauf und stellte mich unter die Dusche. Dort fing ich an zu weinen. Ich weinte so lange, bis meine Haut vom heißen Wasser brannte und blieb dann noch darunter stehen, bis ich keine Tränen mehr zum Weinen hatte, trocknete mich ab und ging ins Bett.
Ich erinnerte mich genau daran, wie meine Mom weinend und fluchend mit dem Telefon am Ohr durchs Haus lief, doch ich wusste nicht mehr, was sie sagte.
Ich weiß, dass ich zwei Tage lang am Fenster saß, ohne etwas zu essen, und den Regentropfen zusah, die langsam am Fenster hinunterliefen.
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Ich sprach kein Wort. Drei Tage lang. Ich blendete alles aus. Konzentrierte mich nur auf die Regentropfen. Und innerlich erlosch alles. Wurde kalt und leer. Mein Herz war zerbrochen und ich glaubte nicht, dass es jemals wieder heilen würde. Dafür klaffte ein viel zu großes Loch in meiner Brust. Mein Handy klingelte ununterbrochen. Jedes Mal war es Ems. Ich hob kein einziges Mal ab.
»Fayne?« Mom rüttelte an meiner Schulter und riss mich aus meinen Gedanken. Blinzelnd kam ich zurück ins hier uns jetzt.
»Es ist so weit«, sagte sie und stand auf. Langsam folgte ich ihrem Beispiel. Martha sah uns aus traurigen Augen kurz an, drehte sich dann um und ging in einen langen Flur. Wir folgten ihr und ließen einige verschlossene Türen hinter uns. Keiner sagte ein Wort. Diese Stille war bedrückend.
Als Martha schließlich vor einer schlichten Türe stehen blieb, begann ich zu zittern. Ich hatte unglaubliche Angst vor dem, was mich erwarten würde. Auf einmal war ich mir nicht mehr sicher, ob ich das wirklich sehen wollte.
»Er liegt hier drinnen. Sind Sie bereit?« Martha sprach leise, mit beruhigender Stimme. Meine Mom wischte sich über die vom Weinen geröteten Augen, schnäuzte sich und trat dann durch die Tür.
Wir befanden uns in einem karg eingerichteten Raum. In der Mitte stand ein großer Tisch, auf dem ein dunkler Sarg lag. Ich bleib wie angewurzelt im Türrahmen stehen.
Mom ging zum Tisch und blickte in den Sarg. Sie schlug die Hände vor den Mund und Tränen tropften auf
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den Boden. Ihr Wimmern riss mich aus meiner Starre. Ich schüttelte benommen den Kopf und trat näher zum Tisch.
Der Anblick, der sich mir bot, verschlug mir den Atem. Da lag er. Ganz friedlich, es schien, als ob er einfach nur schlafen würde. In mir regte sich etwas. Dad sah zu friedlich aus. Müsste man nach einem Unfall nicht irgendwie ... keine Ahnung ... schlimmer aussehen? Vielleicht hatte der Bestatter auch einfach nur unglaublich gute Arbeit geleistet. Ich wünschte mir, er würde die Augen aufschlagen und das alles wäre nur ein böser Traum. Aber Dad rührte sich nicht. Er war von uns gegangen. Ich wandte den Blick ab, konnte es nicht ertragen, meinen Vater anzusehen. Für einen Moment hasste ich ihn so sehr, dass ich fast wieder was fühlte. Warum musste er nach Schottland reisen? Warum musste ausgerechnet er dort die Forschung leiten? Warum ist er gegangen? Warum hat er mich verlassen?
Ich verfluchte seinen Job, ich verfluchte ihn. Das alles war zu viel auf einmal. Viel zu viel. Ich schüttelte wieder fassungslos den Kopf, dann musterte ich meine Mutter. Diesmal sah ich sie richtig an. Sie hatte vom vielen Weinen gerötete Augen und eine geschwollene Nase. Tiefschwarze Augenringe unter ihren Augen ließen sie tiefer in den Höhlen erscheinen. Sie sah alt und sehr erschöpft aus.
»Mom...« Meine Stimme war leise und hörte sich leicht kratzig an. Es tat beinahe weh, nach drei Tagen wieder zu sprechen, doch mir fielen keine tröstenden
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Worte ein. Alles wird gut? Das wird es wohl ganz bestimmt nicht. Wir schaffen das? Wahrscheinlich schon, aber ob wir das überleben? Keine Ahnung. Im Moment spürte ich nur eine tiefschwarze Leere in mir.
Mom schniefte und kniff die Augen zusammen. Mein Herz war ein einziger Scherbenhaufen. Schweigend standen Mom und ich da und starrten ins Leere, den Blick auf Dads Leichnahm gerichtet, bis uns Martha irgendwann leise bat zu gehen.
Eine Woche später ...
Wir alle sagen immer, er hat die Form von einem Tropfen. Wir sagen immer, wenn er fällt, platscht er auf den Boden. Wir sagen immer, er ist blau und kalt. In Wahrheit ist er rund. In Wahrheit zerbricht er in tausend weitere Kugeln, wenn er auf den Boden fällt. In Wahrheit ist er glasklar und sehr, sehr traurig. Weil er einsam ist. Regentropfen fallen allein, zerbrechen allein und weinen allein. Sie sind immer allein, obwohl sie mit ganz vielen anderen einsamen Tropfen fallen, zerbrechen und weinen.
So fühlte ich mich jetzt. Wie ein einsamer Regentropfen, der allein inmitten tausend anderer fällt,
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zerbricht und weint. Genau so, obwohl bestimmt nur rund zwanzig Menschen mit mir auf der Beerdigung waren. Mein Blick war auf den mit Blumen verzierten Sarg gerichtet, mein Gesicht war Tränen überströmt, meine Hände fest ineinander verkrampft, mein Rücken gebeugt und meine Beine pressten gegen einander, weil ich ganz furchtbar dringend aufs Klo musste.
Ems krallte ihre Hand in meinen Unterarm, sodass ich wenigstens ein bisschen von meiner vollen Blase abgelenkt war. Dave stand in seinem schwarzen Anzug neben Emeley. Der Parkplatz war gerammelt voll und es erstaunte mich, wie viele Menschen sich von Dad verabschieden wollten. Neben unserer recht kleinen Familie sah ich noch einige unbekannte Gesichter.
Nach der Zeremonie setzte ich mich alleine neben das Grab. Ich erzählte Dad ein paar meiner Lieblingserinnerungen an uns, dann beschimpfte ich ihn, weil er uns so früh verlassen hatte und am Ende kauerte ich nur noch weinend an seinem Grab.
Irgendwann wurde mir kalt und ich wollte nur noch weg. Weg von alledem, was mich an Dad erinnerte. Blind vor Tränen rannte ich durch den Friedhof auf die Straße und hatte nach kurzer Zeit keinen blassen Schimmer mehr, wo ich mich befand. Aber das war mir egal. Ich rannte einfach weiter, immer weiter ... bis ich mit jemandem zusammenkrachte.
Verlegen murmelte ich eine Entschuldigung und wollte mich gerade an der männlichen Gestalt vorbeidrängen, als mich zwei Hände sanft an meinen Schultern packten
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und mich wieder dorthin zurückschoben, wo ich eben noch gestanden hatte. Und zwar ihm direkt gegenüber.
»He was...« Meine Proteste blieben mir im Hals stecken, als ich ihm direkt ins Gesicht sah. Mich überkam ein Schauer und ich hatte das Gefühl, als hätte ich ihn schon mal gesehen. Meine Nackenhaare stellten sich auf und Gänsehaut überkam meinen Körper, als ich seine schwarzen zerzausten Haare erkannte.
Vor mir stand der Typ, den ich letztens im Bus in der Fensterscheibe gesehen hatte! Am letzten Tag, wo mein Leben noch in Ordnung war. Es schien eine Ewigkeit entfernt zu sein. Ich keuchte und mir blieb wortwörtlich die Luft weg. Mein Herz setzte einen Schlag aus und pochte dann unregelmäßig und lauter als zuvor. Wie in Zeitlupe hob er langsam seinen Kopf und ich konnte seine Augen sehen. Ich blickte in kristallblaue Augen, welche von kleinen Diamanten durchsetzt waren und mehr zu verbergen schienen, als sie preisgaben. Ich sah nur seine Augen. Eine Tiefe, die mich zu verschlingen drohte.
Beinahe hätte ich dieses kleine, aber beunruhigende Detail in ihnen übersehen. Ich kniff die Augen zusammen, aber ich irrte mich nicht. Da war eindeutig in jedem Auge eine Sichel am äußeren Rand der Pupille. Sie schmiegte sich an diese und wenn ich mich nicht täuschte, dann schillerte sie in den schönsten Regenbogenfarben, die ich je gesehen hatte. Es war wunderschön und gleichzeitig auch so abstrakt.
Entsetzt schüttelte ich den Kopf. Ich taumelte ein paar Schritte zurück und starrte den Fremden einfach nur an.
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Er starrte mich ebenfalls mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen an, aber ich konnte noch etwas Anderes in seinen Augen lesen.
Hoffnung. Ich blinzelte und als ich ihn dann wieder ansah, war sie weg. Die Sichel, sie war einfach verschwunden. Habe ich jetzt schon Halluzinationen?
Als er mich sanft am Arm berührte, waren all meine Gedanken wie weggefegt und ich trat wieder einen Schritt auf ihn zu. Er neigte den Kopf zur Seite und grinste mich schief an.
Seinem Blick zu begegnen war wie ein Erwachen. Ich vergaß alles um mich herum und noch bevor er auch nur einen Ton sagte, wurde mir bewusst, was reiner, das Herz vergiftender Hass war.
»Hallo.« Seine Stimme war tief und ließ mir einen Schauder über den Rücken laufen.
»Äh ... hallo«, stotterte ich und versuchte krampfhaft, meine Hände nicht um seinen Hals zu schließen.
»Geht es dir gut? Du siehst so« er überlegt kurz und meinte dann: »Du siehst so traurig aus.«
»Ehm ja ... ich ... äh ...«, stotterte ich und mir fiel es schwer, Worte zu formen. Was war bloß los mit mir?! Irgendetwas an ihm kam mir seltsam vor. Und wo kam auf einmal diese Wut her? Verlegen räusperte ich mich und sagte mit versucht fester Stimme:
»Alles Bestens. Danke. Entschuldige, ich wollte dich nicht anrempeln.«
»Schon okay.« Er steckte seine Hände in die Hosentaschen seiner Jeans und stand nun total lässig vor
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mir. Er starrte mich neugierig an und ich senkte meinen Kopf, als mir die Röte ins Gesicht schoss. Mein Herz raste und ich fühlte mich, als würde ich ersticken. Ich keuchte und meine Augen füllten sich mit Tränen und verschleierten meine Sicht.
»Alles okay mit dir?« Der fremde Junge trat näher an mich heran und strich mir unbeholfen über den Arm. Die Linie, die er mit seinen Fingern auf meinem Arm zog, brannte wie Feuer auf meiner Haut. Ekel überkam mich, als ich mir seiner Berührungen immer bewusster wurde. Ich konnte nichts sagen, da der Kloß in meinem Hals mich beinahe erstickte. Zitternd sog ich seinen Duft ein. Er roch nach Wald, Luft und noch etwas, was ich nicht zuordnen konnte. Ich schloss die Augen und versuchte, durch den Mund zu atmen. Sein Geruch verätzte mir regelrecht die Atemwege.
Der fremde Junge stellte keine weiteren Fragen und ich beruhigte mich etwas und er ließ seine Hand von meinem Arm gleiten. Auf einmal verschwand die blinde Wut, lediglich der Hass blieb zurück.
Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. Sein Blick glitt über mein Gesicht, über meinen Körper und wieder zurück zu meinen Augen.
»Du bist es«, stellte er stirnrunzelnd fest. Ich runzelte verwirrt die Stirn und schüttelte den Kopf. Meine Hände waren zu Fäusten geballt. Wahrscheinlich war ich schon wieder so rot wie eine Tomate.
Ich versuchte, ihm nicht in die Augen zusehen, denn ich wusste, sobald ich das tat, konnte mich keiner mehr
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aufhalten und ich würde ihm die Augen aus dem Kopf kratzen. Ich wusste nicht, was mit mir los war und woher dieser ungebändigte Hass und die furchterregende Wut kamen. So stark hatte ich noch nie empfunden, und das machte mir furchtbare Angst.
»Ich muss jetzt weiter«, murmelte ich und wollte mich gerade umdrehen, als er meinen Arm packte und mich erneut zu sich umdrehte.
»Fass mich nicht an!«, fauchte ich und entriss mich seinem Griff. Der Junge ließ mich sofort los und hob beschwichtigend die Hände. Wütend funkelte ich ihn an, doch als ich sein zufriedenes Grinsen erblickte, sah ich rot. Meine Wut war so stark, dass es sich anfühlte, als hätten meine Organe Feuer gefangen.
Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und der Hass übernahm die Kontrolle. Wie eine Furie stürzte ich auf den fremden Jungen zu und wollte meine Hände um seinen Hals legen, doch er war schneller. Der Junge umklammerte meine Handgelenke, um meine Hände von seinem Hals fernzuhalten. Wenn ich mit den Fingern nur einen Zentimeter dichter herankam, konnte ich seine Kehle erreichen.
Und was dann?, fragte eine Stimme in meinem Kopf. Töte ihn!, antwortete eine andere.
Meine Arme brannten und meine Knochen fühlten sich an, als würden sie brechen.
Die blauen Augen des Jungen wurden vor Überraschung ganz groß, denn mein Fingernagel kratze schon an der pulsierenden Arterie, die ich unbedingt
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aufreißen wollte. Doch bevor ich wusste, wie mir geschah, leuchtete seine Sichel hell auf und er wirbelte meinen Körper herum, presste mich gegen seine Brust, hielt meine Arme eng an meinen Körper gepresst und stellte ein Bein zwischen meine Beine. Die Haltung, die er mir aufzwang, brachte mich aus dem Konzept. Ich konnte mich nicht mehr bewegen.
»Beruhige dich!«, sagte er mit eindringlicher Stimme in mein Ohr und packte mich ein bisschen fester. Sein Atem kitzelte mich auf der Wange. Aber ich war jenseits von allem Sprachverständnis.
Hilflos fing ich an, vor Wut zu kreischen, aber dann zwang ich mich, damit aufzuhören. Erst jetzt, wo ich seine Augen nicht mehr sehen konnte, wurde die Wut ein bisschen weniger. Ich entspannte mich kurz in seinem Griff und blickte auf. Bei meinem Verhalten und meinem Geschrei, hatte ich erwartet, dass uns alle Passanten anstarren würden, doch keinen einzigen schien es zu interessieren. Es wirkte so, als würden sie uns gar nicht wahrnehmen. Als wären wir nicht hier.
Einen Moment lang dachte ich, zu sehen, wie die Luft um uns herum waberte, ähnlich wie bei einer Fata Morgana.
»Geht es wieder?«, fragte er und als ich zaghaft nickte, ließ er mich langsam los.
»Bist du verletzt?«, fragte er mit leiser, unsicherer Stimme und musterte mich prüfend. Ich wich zurück und es kostete mich meine ganze Willenskraft, meine Augen zuzukneifen, um ihn nicht anzusehen. Die Wut brodelte
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ganz dicht unter meiner Haut, bereit, jeden Moment wieder an die Oberfläche zu brechen.
»Bitte lass mich gehen«, flehte ich. »Du hast mir geholfen und dafür bin ich dir sehr dankbar. Es tut mir leid, dass ich dich angefallen habe und ich weiß nicht was mit mir los ist. Aber ich will dich wirklich, wirklich umbringen.«
Einen Moment lang war es still, dann hörte ich, wie der Junge Luft holte.
»In Ordnung. Verrätst du mir noch deinen Namen?«, fragte er mit halb erstickter Stimme.
Mein Herz setzte einen Moment lang aus. In meinem Kopf wirbelte alles Mögliche wild durcheinander. Warum wollte er meinen Namen wissen? Ich überlegte fieberhaft, doch der einzig plausible Grund, der mir einfiel, war der, dass er mich bei der Polizei wegen Körperverletzung anzeigen wollte. Meine Mom würde mir das niemals verzeihen. Deswegen sagte ich: »Wie wäre es, wenn das ein Geheimnis bleibt, hm?«, drehte mich um und rannte in die Richtung, aus der ich glaubte gekommen zu sein, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Texte: Der Inhalt ist frei erfunden und gehört mir und darf demnach von niemanden kopiert, geklaut oder für sonstwas verwendet werden!
Bildmaterialien: Cover designed by © Selia Ascrala (JYA)
Cover: Cover designed by © Selia Ascrala (JYA)
Lektorat: Ciara Henning
Satz: Marion Andel
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Schwester Sophie