Kapitel 1
Myuki war ein normales Mädchen, das wie alle anderen Kinder ihres Alters jeden Tag zur Schule ging. Doch Myuki mochte die Schule nicht, denn sie wurde gehänselt. Ihre Mittschüler tuschelten über sie und lachten sie aus. Sie hatte keinen einzigen Freund. Warum das so war, das konnte sich Myuki nicht erklären, doch sie verstand die anderen Kinder auch nicht immer, denn sie war erst vor ein paar Monaten mit ihren Eltern und ihrer Oma aus Japan hierher gezogen, weil der Vater hier eine neue Arbeitsstelle angenommen hatte. Die Sprache, die hier gesprochen wurde, verstand Myuki noch nicht so gut, auch wenn sie extra einen Sprachkurs besuchte.
Als Myuki eines Tages am Nachmittag aus der Schule kam und den Weg nach Hause lief, bemerkte sie, dass zwei Jungs, die bei ihr in der Klasse waren hinter ihr her liefen. Myuki machte das Angst und daher lief sie etwas schneller. Dies schien nichts zu nutzen, denn als sie sich erneut umdrehte, hatten die Jungs ihren Abstand zu ihr sogar noch verringert. Bis zu ihrer Wohnung war es noch ein ganzes Stück und Myuki sah sich nach links und rechts um, ob sie eventuell in einem Geschäft Zuflucht finden könnte, denn die beiden hatte gewiss nichts Gutes im Sinn, so wie sie grinsten und die Köpfe beim gehen zusammen steckten.
Doch nichts war ins Sicht, bloß ein paar Wohnhäuser und eine Bank, die geschlossen hatte.
Plötzlich tat sich zu ihrer Rechten eine kleine Seitenstraße auf und ehe sie überhaupt nachdenken konnte, bog Myuki ab. Zu spät bemerkte sie jedoch, dass diese kleine Straße eine Sackgasse war. Als sie stehenblieb und zurück blickte, konnte sie die beiden Jungen am Anfang der Straße sehen. Jetzt brauchten sie sich nicht mehr beeilen, sie konnte ihnen nicht mehr weglaufen.
Myuki bekam Angst, noch mehr als vorher. Fieberhaft überlegte sie, was sie nun tun sollte. Laut schreien und hoffen, dass jemand sie hörte und ihr half? Als sie um sich schaute bemerkte sie eine Tür aus Holz. Ein kleines Schild baumelte an der Innenseite der Tür auf dem „Geöffnet“ stand. Darunter stand sogar das gleiche Wort in japanischer Schrift. Was genau für ein Laden sich hinter dieser Tür befand, dass konnte sie nicht erkennen aber es war ihr egal. Sie war einfach nur dankbar darüber, dass er ihr in letzter Sekunde eine Zuflucht gewährte und so öffnete sie schnell die Tür, blickte noch einmal zu den beiden Jungs, die nun wieder stehen geblieben waren und sie beobachteten und huschte dann in den Raum, der sich hinter der Tür verbarg.
Kapitel 2
Als sie die Tür wiedergeschlossen hatte, wurde es durch das nun fehlende Tageslicht in dem kleinen zugestellen Raum gleich dunkler, sodass sich Myukis Augen erst an den Lichtwechsel gewöhnen mussten. Sie erkannte jedoch, dass dieser Laden sowas wie ein Trödelladen sein musste, denn hier stand nahezu alles herum, ob Möbel oder Schmuck und alles sah recht alt und gebraucht aus.
Hinter einer kleinen vermackten Holztheke stand ein alter Mann mit einem langen Gesicht und grauen Harren. Er trug eine dunkelgrüne Strickjacke und darunter ein weißes Hemd, außerdem trug er eine rote Fliege. Er hatte die Hände hinter dem Rücken und lächelte Myuki an.
Diese war etwas schüchtern und wusste nicht, was sie sagen sollte. Eigentlich wollte sie ja nichts kaufen aber sie wusste nicht, ob sie dem Mann ihre Lage erklären konnte, denn zu ihrer Überraschung war der Mann kein Japaner, obwohl auf dem Schild an der Tür japanische Schriftzeichen standen. „Hallo Kleine.“, sagte der Mann dann. Er hatte eine leise aber sehr angenehme und freundliche Stimme. Sofort fühlte sich Myuki geborgen bei ihm. „Hallo“, erwiderte sie leise und zaghaft. „Verrätst du mir deinen Namen?“, fragte der Mann nun.
„Ich heiße Myuki.“
„Myuki? Ein schöner Name. Und wie alt bist du, Myuki?“
„Ich bin 11 Jahre alt.“.
„Du siehst traurig aus, mein Kind. Was ist dir passiert, dass du so traurig bist?“, fragte der liebe Mann nun, mit warmer Stimme, blieb jedoch hinter seiner Theke stehen und rührte sich nicht.
„Ich…“, begann Myuki, doch schnell fehlten ihr die richtigen Worte und sie wusste nicht weiter.
„Du kannst es mir ruhig erzählen.“, sagte der Mann nun plötzlich auf japanisch. Myuki machte große Augen als sie hörte, dass der Alte japanisch konnte, doch es stimmte sie froh und sie wirkte gleich selbstbewusster. Nun konnte sie sich wenigstens ohne Probleme verständigen. Daher erzählte sie ihm in ihrer Sprache, dass sie mit ihrer Familie hierher gezogen ist, sie aber in der Schule gehänselt wird. Sie erzählte dem Mann auch von den beiden Jungs aus ihrer Klasse, die sie auf ihrem nach Hause Weg verfolgt hatten und dass sie nun hier in diesem Laden Schutz gesucht hatte.
Während der ganzen Zeit blickte der Mann sie nur mit gütigen Augen an und hörte ihr aufmerksam zu. Anschließend sagte er zu ihr: „Kleine Myuki. Was für ein Glück, dass du in meinen Laden gekommen bist. Hier bist du sicher.“. Dann trat er hinter der Theke hervor und schritt durch den Raum. Er trug eine graue Stoffhose. Er zog einen alten staubigen Stuhl hervor, der mit rotem Polster ausgestattet war. Davor schob er einen kleinen runden Kaffeetisch, der ebenfalls aus Holz war.
„Setz dich doch und wir trinken eine Tasse Tee.“, sagte er lächelnd.
„Das ist sehr freundlich, aber meine Eltern werden sich Sorgen machen, wenn ich nicht nach Hause komme.“, sagte Myuki, die den alten Mann, der so nett zu ihr war nicht kränken wollte.
„Keine Sorge. Der Tee ist schon fertig. Und so kannst du sicher gehen, dass die beiden Jungs das Interesse verloren haben und nach Hause gegangen sind.“. da der Mann mit seinen Argumenten nicht unrecht hatte, nahm Myuki auf dem Stuhl platz und stellte ihre braune Schultasche neben sich.
Wenig später kam der alte mit zwei kleinen Teetassen wieder. Myuki kannte diese Art von Teetassen nur zu gut, es waren japanische. Solche hatten sie selbst zu Hause. In einer Teekanne, passend zu den Tassen brachte der Alte den Tee. Er stellte alles auf das kleine Tischchen und zog sich einen einfachen Holzstuhl heran. Ächzend setzte er sich, dann schüttete er Myuki und sich selbst Tee ein. Er dampfte noch und hatte eine blass rosa Farbe. Der Geruch kam Myuki fruchtig aber auch süßlich vor. Als er einigermaßen abgekühlt war, nahm sie den ersten Schluck. Er schmeckte fabelhaft. Solch einen wunderbaren Tee hatte sie noch nie zuvor getrunken. Schnell hatte sie ihre Tasse leer getrunken und der Alte schüttete ihr lächelnd nach. Nachdem auch die Zweite Tasse ausgeleert war, sagte Myuki: „Jetzt sollte ich aber wirklich gehen. Ich danke Ihnen vielmals dafür, dass ich mich bei Ihnen verstecken durfte und dass Sie so nett zu mir waren und ich Tee trinken durfte.“. Sie nahm sich ihre Schultasche, stand auf und legte sich einen Riemen der Tasche über die Schulter.
„Bevor du gehst, Myuki, habe ich noch etwas für dich.“, sagte der Mann, der sich nun ebenfalls erhob, wenn auch etwas langsam. Dann ging er mit leicht schlurfenden Schritten durch den Raum hinter die Theke und kramte in einer Schublade. Nach ein paar Minuten kam er wieder und gab Myuki einen Ring. er war silbern und hatte einen kleinen ovalen Stein, der die Farbe eines sehr dunklen Blau zu haben schien. „Der hier ist für dich, Myuki. Es ist ein Stimmungsring. Je nachdem, wie deine Stimmung ist, ändert sich die Farbe des Steins.“, sagte er und legte ihn in die Hand des Mädchens. „Das ist sehr nett von Ihnen.“, sagte Myuki und wurde rot. Sie steckte den Ring an den Ringfinger der linken Hand und betrachtete den ovalen Stein. Seine Farbe nahm schnell ein sattes Orange an. „Wunderbar!“, rief der Mann plötzlich aus und lächelte wieder freundlich. „Das bedeutet, nun bist du zufrieden.“, sagte er. Myuki grinste denn Alten an, bedankte sich noch einmal und verließ das Geschäft. Draußen schien die Sonne, sodass sie im ersten Augenblick geblendet wurde und sich die Augen mit einer Hand abschirmen musste. Keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. Von den beiden Jungs war weit und breit ebenfalls keine Spur mehr zu sehen, also machte sich Myuki auf den Heimweg.
Kapitel 3
Als sie zu Hause ankam, erwartete ihre Mutter sie schon. Myuki berichtete ihr von dem Mann, der sie in seinem Laden aufgenommen hatte weil sie Schutz suchte und der ihr Tee angeboten hatte und den Ring geschenkt hatte. Ihre Mutter bestand darauf, dass sie dem Mann am nächsten Tag ein paar selbst gemachte Reiskuchen vorbeibringen sollte, um sich nochmals zu bedanken, doch als Myuki am nächsten Tag nach der Schule in die Gasse lief, war das Geschäft nicht mehr dort. Wo gestern noch die Holztür war, war heute eine triste graue Wand, an der der Putz bereits abbröckelte. Enttäuscht ging Myuki nach Hause. Hatte sie sich in der Straße geirrt? Aber eigentlich war sie sich sicher, dass es die richtige Straße war. Ihre Mutter war etwas erboßt darüber, dass sie die Reiskuchen wieder mitgebracht hatte.
Der darauffolgende Tag war ein Mittwoch. Als Myuki sich für die Schule fertig machte war sie wieder traurig. Der Ring, den sie nie absetzte zeigte ihr ein tiefes Schwarz. Dies war also die Farbe für Trauer, dachte sich Myuki. Draußen wehte ein starker Wind und grade als sie die Wohnung verließ, begann es zu regnen. Myuki rannte unter dem schwarzen Schirm durch den Regen zur Schule. Den ganzen Tag wurde das Wetter nicht viel besser.
Texte: Copyright by Fay Andersen
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2011
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