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Die Fenster des Schulzimmers der ersten Klasse standen weit offen und ließen den Junimorgen mit all seinen Geräuschen herein strömen; knirschendes Kies unter eilenden Sandalensohlen, Gekicher, das Zuschlagen der Eingangstür. Noch zwei Wochen bis zu den Sommerferien, ungezügelte Vorfreude lag in der Schulzimmerluft. Die alte Linde im Schulhof reckte ihre Zweige weit in die Höhe, die äußersten Ausläufer reichten bis zu den Fenstern hin, wo Madeleines Platz war. Von der Schulbank aus konnte sie in das Geäst der Linde sehen, die Blätter waren greifbar nahe und die Kühle des Baumes strich über ihre Arme. Während der Unterrichtstunde wanderte ihr Blick immer wieder in das Grün des Baumes, hüpfte von Ast zu Ast und verlor sich im Gewirr der Blätter, folgte den kleinen Propellern, die sich bei einem Windstoß lösten und davon segelten.
Madeleine kannte keinen Calvino. Der Rucksack ihres kurzen Schülerlebens war noch klein und federleicht. So wußte sie nichts von einem Baron auf den Bäumen und wußte demzufolge auch nicht, daß durchaus ein erfülltes Leben auf Bäumen zu gestalten wäre. Aber sie kannte „Hans und die Bohnenranke“. Hans, der an seiner Bohnenranke in den Himmel hinaufkletterte und mit Goldmünzen wieder herabstieg, und niemand glaubte ihm sein Abenteuer. Sie wußte also durchaus um solche Dinge.
Je länger sie über den Rand ihres Lesebuches hinweg in das grüne Blätterreich starrte, desto inniger fühlte sie sich dem Baum verbunden. Sie hörte sein Wispern, spürte seinen Atem über ihre Arme streichen. Es wäre ein Leichtes, auf den Baum hinüberzusteigen und wie Hans empor zu klettern. Was Hans kann, kann ich auch, dachte Madeleine und sah sich dem Himmel schon ganz nahe.

Fräulein Widmer, die Lehrerin, erklärte inzwischen an der Wandtafel. Mit ihrem Rohrstock pochte sie gegen die Tafel, um das Gesagte akustisch zu betonen, damit es auch ja in die dreißig kleinen Gehirne eindränge und da auch hängen bleiben möge.
Auf beachtliche achtunddreißig Jahre Lehrerinnentätigkeit konnte sie zurückblicken. Seit achtunddreißig Jahren unterrichtete sie Erst- und Zweitkläßler. Immer wieder neue kleine, fragende Gesichter, junge schnatternde Entlein, die lieber spielen mochten, immer wieder das gleiche Nichtbegreifen, immer wieder die gleiche Geduld, die es brauchte, die jedoch im Laufe der Jahre aufgezehrt worden war bis auf ein Häppchen. Der Elan der jugendlichen Jahre, der Enthusiasmus hatten sie verlassen, hinzu kam das eine und andere Zipperlein, mit dem sie sich oft durch die Tage quälte und das ihr den Nerv für neue Schulmethoden, die eingeführt werden sollten, raubte. Noch zwei Jahre bis zu ihrer Pensionierung. Die würde sie durchstehen und dann den Ruhestand in ihrem Garten genießen, die Rosen pflegen und vielleicht auch Salat setzen.
In all den Jahren hatte sie den Rohrstock nur als zeigendes Hilfsmittel an der Wandtafel verwendet, trug ihn beeindruckend mit sich, wenn sie zwischen den Bankreihen auf und ab ging und ließ ihn, wenn es hoch kam, ungeduldig auf dem einen oder anderen Bank einen Trommelwirbel schlagen. Die jungen Entlein merkten schon bald, daß das Gebaren des Rohrstockes die dicke von Fräulein Widmers Geduldsfaden anzeigte, und gewöhnlich erstarb spätestens beim Trommelwirbel das unerlaubte Schnattern.

Fräulein Widmer ging mit ihrem Rohrstock zwischen den Bänken auf und ab. Heute war wieder so ein langer Zipperlein-Tag. Ein Hämmerchen pochte unaufhörlich an ihre Schläfen. Sie blieb plötzlich vor Madeleines Bank stehen. Was für ein mühsames Kind, diese Madeleine! Immer abwesend, immer irgendwo, aber nie bei der Sache! Im Laufe des Schuljahres hatte sie einen Trotz entwickelt, den sie ihrer Autorität entgegensetzte. Mit ihren blonden Haaren und den blauen Augen schien sie kein Wässerchen trüben zu können, ein liebes Kind, mit dem man doch zu Rande kommen sollte. Wenn sie sie auf ihre Abwesenheit ansprach, woran sie denn denke, dachte sie immer an „nichts“, wie sie sagte. Was ging nur in diesem kleinen Hirn vor. Irgend etwas blubberte da unerkannt, brütete da im Geheimen. Sie spürte es, es weckte ein ungutes Gefühl in ihr, das von Tag zu Tag wuchs, wie ein Geschwür, das sie durchwucherte. Schon lange hätte sie durchgreifen, Räson in die Sache bringen sollen. Vielleicht sollte sie mit dem Schuldirektor reden. Aber wie würde sie dastehen, als die Böse letztendlich. Sie hatte nichts Konkretes darzulegen, nichts war vorgefallen, das Kind hatte nichts getan. Unter seinem Engelshaar hervor würde es den Direktor aus seinen blauen Augen anblicken, es habe nichts getan, würde es beteuern, und der neue Direktor, ein junger, dynamischer Besserwisser, der alles alt Bewährte umkrempeln wollte, würde irgendwelche psychologischen Rückschlüsse ziehen, die ihm in irgendwelchen Seminaren suggeriert worden waren. Sie konnte sich das lebhaft vorstellen. Sie wäre nicht nur die Böse, nein, auch noch die Dumme. Und das kurz vor ihrer Pension. Ein schlechter Abgang. Nein, sie würde die Situation selbst meistern.
Madeleines Blick war vom Baumspaziergang widerwillig zurückgekehrt und heftete sich jetzt auf Fräulein Widmers weiße Schuhspitzen, die sich genau vor ihrer Bank platziert hatten. Es waren luftige Schuhspitzen mit seitlichem Lochmuster. Madeleine ließ den Blick noch etwas höher wandern, aber nur bis unters Knie, wo Fräulein Widmers Rock in einem mit Mohnblumen verzierten Saum endete. Sie wollte ihren durchdringenden Augen, die alles auszuleuchten versuchten, nicht begegnen. Es ging sie nichts an, was sie dachte. Außerdem würde sie ihr nicht glauben, es erginge ihr wie Hans, dem niemand glaubte.
Der Rohrstock tippte neben den Schuhen auf dem Boden auf und ab. Tipptapp.
„Madeleine, lies weiter!“
Madeleine blätterte suchend in ihrem Lesebuch und schielte zur Banknachbarin hinüber um festzustellen, auf welcher Seite denn gelesen wurde.
Der Rohrstock änderte seinen Takt. Er schlug jetzt im Gleichtakt – Achtel – mit dem Hämmerchen; der Rohrstock auf den Boden, das Hämmerchen an die Schläfe.
„Nun, Madeleine, ich warte!“
Vom Rohrstock angetrieben blätterte Madeleine wild hin und her und las mit unsicherer Stimme irgendwo in der Hoffnung, es würde passen. Dem war jedoch nicht so.
Der Rohrstock und das Hämmerchen schlugen jetzt Sechzehntel; der Rohrstock auf den Boden, das Hämmerchen an die Schläfe.
Fräulein Widmers Stimme war zu Eis gefroren: „Madeleine, das ist die falsche Geschichte! Was tust du die ganze Zeit?“
Der Rohrstock übertönte das Hämmerchen und schlug jetzt den Trommelwirbel auf Madeleines Bank, auf ihr Lesebuch, auf ihre Hände.
Ein Aufschrei. Madeleine sprang auf, stürzte zum Fenster und kletterte auf den Fenstersims.
Der Rohrstock blieb in der Luft hängen, Fräulein Widmer erstarrte für einen Moment. Dann schrie sie außer sich: „Madeleine, komm da runter!“
Doch Madeleine hatte sich vom Sims bereits in den Baum geschwungen.
Es war leicht, so wie sie es sich gedacht hatte. Das Geschrei der Lehrerin veranlaßte sie, gleich zwei Äste höher zu steigen. Da hockte sie sich hin und überdachte ihre Situation.
Jetzt saß sie auf ihrem Baum! So fühlte es sich also an. Seit Monaten hatte sie sich das gewünscht, sich ausgemalt, wie es wäre, im Baum zwischen den Blättern zu sitzen, aber bis anhin dazu nie den Mut gehabt. Sie roch den Baum, spürte seine schuppige Rinde, die an ihren Kniekehlen rippte. Der eine oder andere Sonnenstrahl stahl sich durchs Blätterdach und zeichnete feine Kringel auf den Stamm. Im Geäst knackte es, der Wind flüsterte durch die Blätter und vereinzelte Propellerchen tanzten in die Tiefe, in die Welt, der sie entstiegen war. Weit, weit weg war das, was da unten geschah.

Im Schulzimmer war ein unbeschreiblicher Tumult ausgebrochen; alle schrieen durcheinander und Fräulein Widmer beugte sich fassungslos aus dem Fenster, graue Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst und hingen wirr ins vor Aufregung gerötete Gesicht. „Madeleine, bleib wo du bist, ich hole dich runter“, rief sie.

Auf Madeleine wirkte dies wie eine Drohung. Nein, sie wollte nicht! Sie wollte nicht runtergeholt werden! Sie mußte sich vor Fräulein Widmer retten, sie mußte flüchten, so wie Hans vor dem Riesen. Der roch Menschenfleisch - schnell, höher, höher. Die Rufe aus dem Schulzimmer trieben sie an. Sie fühlte sich stark, stieg von Ast zu Ast, die Blätter umfingen sie, sie wurde eins mit dem Baum. Höher und höher stieg sie, bis unter den Himmel. Die oberen Zweige brachen unter ihrem Gewicht. „Hans, ich komme“, rief sie.


Im darauf folgenden Schuljahr wurde Fräulein Widmer vorzeitig pensioniert wegen Verletzung der Aufsichtspflicht, so befand die einberufene Untersuchungskommission.


Impressum

Texte: (c) Text und Cover by Jeanne Guesch
Tag der Veröffentlichung: 24.04.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
2011

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