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Zeit, Geld auszugeben. Zeit, Geschenke zu kaufen. Höchste Zeit. Es ist der 19. Dezember.
Wenn man es denn hätte

, das Geld.

Du drückst die Nase an einem der Schaufenster platt. Es ist Sonntagabend, der 4. Advent, 19 Uhr. Die Bahnhofstrasse mit den Schaufenstern im weihnachtlichen Prunk ist verlassen. Alle sitzen in ihren weihnachtlichen Stuben bei Nüssen, Mandarinen, Lebkuchen und der vierten Kerze. Nur du drückst in klirrender Kälte die Nase an einem Schaufenster platt. Nie hättest du gedacht, daß du so was jemals tun würdest. Aber es fühlt sich erstaunlich gut an, das eisige Glas gegen das Gesicht zu spüren. Die Kälte dringt bis ins Gehirn und friert jeden Gedanken ein.
Du betrachtest die weihnachtlich dekorierte Auslage. Ungeweckte wie auch lang gehegte Wünsche liegen da; ob aus Cashmere, Seide, Spitze, Leder, Gold – alle verführerisch drapiert, gebettet unterm prachtvollen Tannenbaum. Die dezenten Preisschildchen sind nicht zu lesen.

Du läßt ab vom Schaufenster, die Wangen leicht unterkühlt. Weihnachtsmärchen aus Kindertagen kommen dir in den Sinn, in denen arme Knaben und Mädchen vor herrschaftlichen Häusern durch große Fenster prächtige Weihnachtsbäume bewundern und dabei in der Eiseskälte erfrieren.
Du schreitest die Strasse entlang, darauf bedacht, auf dem festgetretenen, an den Trottoirrand gefegten Schnee zu laufen, weil die Schuhe dabei knirschen.
Wenn man es denn hätte

, knirschen sie Schritt für Schritt – anstatt ein schönes Weihnachtslied wie etwa „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ oder „Kling, Glöckchen, klingelingeling“ zu knirschen. Nein, sie halten hartnäckig an dem Refrain fest, wenn man es denn hätte, wenn man es denn hätte



Du möchtest heuer dem weihnachtlichen Ringelreigen entfliehen. Über Geschenke hast du nicht nachgedacht, und Plätzchen hast du auch noch keine gebacken.

Ein Blick ins Schaufenster der Schokolade: Schokolade ist da nicht schlicht Schokolade.
Winzige Stückchen werden hier zu Kunstwerken, gehüllt in aufwendig drapierten Krep-Kreationen, mit Glitter bestäubt und von Engelchen und Weihnachtsmännern bewacht. Keine Preisschilder. Offenbarung gibt’s im Laden.

Sachte beginnt es zu schneien. Kleine Flocken, die sich zusehends vergrößern und sich zu einem weissen Vorhang verdichten, durch den das Licht der Straßenlaternen nur noch spärlich durchdringt, legen sich auf deine Haare. Der Schnee dämpft jedes Geräusch, und die Nacht wird noch leiser. Du gehst jetzt eilig und achtest nicht mehr auf das dumme Knirschen der Schuhe. Der Schnee in deinen Haaren verwandelt sich in eisige Nässe, die langsam deinen Nacken hinabkriecht und deinen Schritt beschleunigt. Du biegst von der mondänen Ladenstraße ab in eine Gasse der Altstadt, die zur Limmat hinunter führt, und gehst schließlich unter den Bögen der „Schipfe“ hindurch. Der Durchgang ist nur von einer Laterne

schwach beleuchtet. In den Schaufenstern ist’s dunkel.
Plötzlich bleibst du irritiert stehen. Zu einem Stern geordnete Lämpchen leuchten über dem Eingang einer Ladentür. Seltsam, du hast den Laden noch nie bemerkt, er muss neu sein. Im Schaufenster tanzen Lichter. Du trittst näher. „Geschenkewerkstatt“, steht über dem Eingang. Es handelt sich um ein recht sonderbares Schaufenster. Obwohl von undefinierbarem Licht beleuchtet, vermagst du nichts Genaueres zu erkennen. Drei eigenartige Kerzen brennen, eigenartige Lichter flackern und eine noch eigenartigere Katze mit leuchtenden Augen sitzt im Vordergrund. An der Tür baumelt ein Schild: „offen“. Eine Einladung - so scheint dir - der du nicht widerstehen kannst.

Du stösst die Türe auf, ein helles Glöckchen wird dadurch betätigt. Ein Duft von Myrrhe, Patchouli, Sternanis und Fichtenharz liegt in der Luft. Der hintere Teil des Ladens ist im Dunkeln, nur der Ladentisch wird von einer Tischlampe erhellt. Ein eigentümlicher, glatzköpfiger Mann, weder alt noch jung, in einem grün-rot karierten Jackett mit grüner
Fliege steht dahinter. Er schaut über den Rand seiner auf der Nasenspitze sitzenden Nickelbrille und scheint über die nächtliche Kundschaft, die er mit „einen schönen guten Abend“ begrüßt, nicht erstaunt.

Nähertretend erwiderst du den Gruß und bleibst unschlüssig vor der Ladentheke stehen, wo sich Schachteln in allen Grössen türmen. Was willst du eigentlich hier. Einer inneren Eingebung folgend hast du die Schwelle übertreten, doch jetzt fühlst du dich ob deiner Spontaneität in Verlegenheit, und eine wachsende Unruhe ergreift dich.

„Wer sollte wie beschenkt werden?“, bricht der Mann das Schweigen und fixiert dich mit seinen blauen Augen.
„Jaaa…“. Du fühlst dich überrumpelt.
„Wen möchten Sie beschenken?“, vereinfacht der Mann seine Frage.
„Ja, wenige“, antwortest du reserviert.
„Aha, Mutter?“ fragt der Mann weiter.
„Nein“, deine präzise Antwort.
Der Mann nickt wohlwissend.
„Vater?“
„Nein.“
„Verstehe. Freund…?“
„Nnnein…“ hebst du an, doch er fällt dir ins Wort: „Nein, sagen Sie nichts, ich weiss schon.
Gehen wir es anders herum an. Was möchten Sie denn schenken?“
Doch die eine Frage ist so verwirrend wie die andere. Der Mann scheint aber seine Kundschaft zu kennen. Er schaut dich über den Rand seiner Nickelbrille an und zuckt nicht mit der Wimper, auch kein Augenrollen oder Stirnrunzeln ob deiner Unschlüssigkeit.
„Es darf nicht viel kosten, habe wenig Geld“, sagst du vorsichtshalber.
„Geld…?“, sagt der Mann mit einer Verwunderung, das Wortende dabei zur Frage in die Höhe ziehend, als würde er die Grösse Geld nicht kennen. Auch die Augenbrauen zieht er dabei hoch, was seine Verwunderung unterstreicht. Die unbekannte Grösse zur Weihnachtszeit. Irgendwie scheint dir, dass dem hier so ist. Wie du dich jetzt umsiehst, ist da nichts, was an Geld denken lässt. Ein schwerer, bordeaux-farbiger Samtvorhang ist hinter der Ladentheke beidseits mit einer Kordel auf die Seite gebunden. Dahinter befindet sich eine Wand, wo sich Schublade an Schublädchen reihen, winzige zuoberst, die grössten zuunterst. Goldene Buchstaben sind aufgemalt.

„Für Geld gibt es bei mir nichts; nichts gibt es hier, das man kaufen kann“, sagt der seltsame Mann. „Also, was möchten Sie schenken? Liebe, Vertrauen, Friede, Zeit, Fantasie, ein Lachen…? Sehen Sie, wir haben alles da“, der Mann deutet jeweils auf die mit dem entsprechenden Buchstaben bezeichnete Schublade. Die F-Schublade ist riesig. Er sieht deinen erstaunten Blick und denkt wohl, du wunderst dich über die Grösse der Schublade. „Die Nachfrage ist hier am grössten, erklärt er und deutet dabei auf die mit „F“ bezeichnete Schublade.
„Wir können auch eine Mixtur kreieren.“ Bei diesen Worten stellt er einen goldenen Schüttelbecher auf die Ladentheke.
„Ja, ich wüsste jetzt nicht…“, sagst du unentschlossen.
„Sie können sich ja auch selber was schenken, sich eine Freude machen, was wünschen Sie sich?“ Die Geduld des Mannes scheint unerschöpflich.
„Dieses Jahr haben wir auch Märchen im Angebot“, setzt er die Geschenkesuche fort.
„Ach“, sagst du und weißt nicht, wie das funktionieren soll, sagst aber lieber nichts, um dich nicht zu blamieren.
Doch der Mann hat deine Unwissenheit erkannt und erklärt dir das Prozedere:
„Wir packen das Märchen schön ein, Sie nehmen es mit nach Hause, legen es unter den Tannenbaum und am Weihnachtstag öffnen Sie es – ganz einfach. Und die Hauptfigur persönlich wird Ihnen beim Einstieg ins Märchen behilflich sein. Also dann - ein Märchen?“
Du nickst, dein Mund wird langsam trocken, und du weißt nicht, wie dir geschieht.

Der Mann öffnet die M-Schublade. „Also, da hätten wir: das tapfere Schneiderlein

, den Froschkönig, im Schlaraffenland, der fliegende Teppich…

Beim Letzteren entwischt dir ein kleines „Oh“.
„Ah“, sagt der Mann, deutet es als Zusage und hebt eine kleine Holzschatulle heraus, die er in eine Schachtel verpackt, in prächtiges Weihnachtspapier einschlägt und eine rote Schleife darum bindet.

Irgendwie perplex nimmst du das Geschenk, das er dir mit einem unergründlichen Lächeln und ein schönes Weihnachtsfest wünschend über die Ladentheke reicht, dankend in Empfang. Vorsichtig trägst du es aus dem Laden und eilst nach Hause.
Noch so lange bis Weihnachten! Du besorgst den schönsten Tannenbaum, schmückst ihn und legst das Geschenk darunter. Du kannst den 24. Dezember kaum erwarten.
Aber du weißt, dieses Jahr wird es abgehobene Weihnachten geben.

© Jeanne Guesch


Impressum

Texte: Bild und Text by Jeanne Guesch 2010
Tag der Veröffentlichung: 06.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

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