Sie trat auf den schmalen Balkon des Hotels und blickte auf die Bahnstation hinunter. Soeben war die rote Zahnradbahn eingefahren;
etliche Touristen stiegen aus. Fünf Minuten hielt der Zug, dann fuhr er bergauf weiter bis zur Endstation auf 1800 Meter.
Es war der perfekte Tag zum Wandern bei ungetrübtem Blick ins Tal und klarer Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau in der Ferne.
Mit einem tiefen Seufzer schloß sie die Balkontür. Höchste Zeit, die Zimmer herzurichten. Die Gäste saßen bereits im Frühstücksraum, und die zerwühlten Betten warteten auf sie.
„Wir sind ein kleines, familiäres, nettes Hotel – nichts Spektakuläres, aber sauber“, so die ständige Leier des Patrons.
Sie war kaum einen Monat hier, und es ödete sie bereits an. Die sie verfolgende, hartnäckige Gleichgültigkeit hatte schon nach ihr gegriffen.
Aber sie mußte ausharren. –
Zum Glück waren nur fünf von den neun Zimmern belegt. Sie herzurichten schaffte sie locker in zwei Stunden; in den Badezimmern ein bißchen durchputzen, die Decken kurz aufschütteln und allfälligen Staub unter die Betten kehren. Sie hatte ihre Methode gefunden, um die Zimmer innert kürzester Zeit in Ordnung zu bringen.
Denn in ihrem Kopf gärten andere Dinge. –
Sie klappte ihr Notebook zu und spähte aus dem Fenster. In Rekordzeit war sie durch die Zimmer gewirbelt. Die Bahn fuhr mit den wenigen Touristen, deren Aufenthalt zu Ende war, talwärts, nachdem die Milchkannen in den offenen Gerätewagen eingeladen worden waren.
Ein idealer Ausguck; von hier aus hatte sie den ganzen Bahnverkehr mit seinem steten Kommen und Gehen unter Kontrolle. Es war eine simple Geschichte: entweder fuhr der Zug auf dem einzigen Gleis tal- oder bergwärts. Sie sah jedes Bein, das da aus dem Wagon stieg.
Irgendwann würde auch er aus dem Zug steigen.
Sie war sich sicher, ihn auch inmitten einer Touristenschar zu erkennen.
Jahrelang hatte sie ihn wie besessen im Netz verfolgt - genau zehn Jahre - , ihn studiert, sein Verhaltensmuster bis ins Detail seziert. Sie kannte seine Vorlieben und Abneigungen, seinen Ehrgeiz, seine Arroganz und Überheblichkeit. Sie wußte, wie er tickte. Manchmal hatte sie ihn im Netz verloren; plötzlich war er weg gewesen. Doch nicht für lange; genau so prompt war er, wie ein Bumerang, wieder irgendwo aufgetaucht, denn er lechzte nach dem Netz. Er mußte sich produzieren, sich zur Schau stellen und Applaus bekommen. Den erntete er auch, denn er hatte einen gewissen Charme, den er spielen ließ, und das weibliche Geschlecht erlag ihm.
Er war ein ehrgeiziger Sportler mit einer großen Passion: Freesoloclimbing.
Ein Thema, das er gerne detailliert erläuterte und beeindruckende Bilder dazu einstellte: der mutige Mann am Felsen ohne Seil und Sicherheitshaken, der nur mit Körpereinsatz kletterte.
Und er liebte schnelle Autos. -
Das Geräusch der erneut einfahrenden Bahn riß sie aus ihren Gedanken.
Sie mußte ihre Zimmerstunde ausnutzen. Schnell zog sie die Kletterschuhe an und griff sich den Helm. Sie wollte zum Felsen bevor er im Schatten stand.
34 Meter hoch war der Felsen; eine gerade, kantige und trockene Felswand. Sie bestieg ihn regelmäßig, sofern es nicht regnete und kein Nebel die Sicht behinderte. Sie kannte inzwischen jede Ritze und Fuge für Finger und Füße. Sie wußte genau, wo es ratsam war, eine Pause einzulegen. Zwei ideale Stellen gab es dafür: in der Hälfte und kurz unter dem Grat, denn die letzten Meter waren die allerschwierigsten und erforderten eine letzte Sammlung und Aktivierung der Kräfte und höchste Konzentration. Die Felswand war hier aalglatt und bot nur an ganz bestimmten Punkten Halt für Finger und Füße. Vergriff man sich auch nur um ein paar Zentimeter, konnte das fatal sein.
Niemals würde man denken, daß sie erst spät – mit 39 mit dem Sport angefangen hatte. Man hatte ihr auch dringend davon abgeraten, sie sei zu alt für solche Strapazen. Freesoloclimbing: ohne Seil und jegliche Sicherung, nur mit der eigenen Körperkraft am Felsen!
Sie hatte sich nicht davon abbringen lassen, obwohl ihr der Sport anfangs nicht gefallen hatte.
Er war Mittel zum Zweck.
In Spanien hatte sie ihren Meister, Juan, gefunden, mit dem sie seither unermüdlich trainierte.
Sie war sicher am Felsen, kein Zögern, keine Unsicherheit, kein Zittern in den Beinen. Alle fragten sie nach ihrer mentalen Einstellung. Dabei war es ganz einfach; sie hatte keine Angst. Keine Angst vor dem Fall, vor dem Sturz in die Tiefe. So wie sie das oben Ankommen hinnahm, so würde sie auch einen Sturz akzeptieren. Immer wieder forderte sie das Schicksal heraus indem sie sich der Gefahr aussetzte. Am Felsen leerte sich ihr Kopf, da war er frei, wurde zu ihrem stärksten Muskel, die Finger wurden zu stählernen Haken, die Füße zur sicheren Basis. In diesen Momenten vermochte sie sogar die Schönheit der Natur wiederzuerkennen und zu riechen, wenn sie sich an dem Moos und den Flechten in den Felsnischen auf Nasenhöhe vorbeihievte.
Wenn sie ihr Leben heil auf den Grat brachte, war das ein Moment der Befreiung und Enttäuschung zugleich, denn sie rechnete damit, dass ihr das Schicksal eines Tages überstrapaziert den erlösenden Absturz bescheren könnte.
Sie schloß die Augen, tief atmete sie die Luft ein. Schatten hatte sich auf den Felsen gelegt; Zeit, ins Hotel zurückzukehren.
Die 10-Uhr-Bahn fuhr in die Station ein. Wieder ein strahlend schöner Tag, der viele Sonnenhungrige auf den Berg trieb. Die Bahnbegleiter öffneten die Türen der nostalgischen Wagons, und der Strom der Wanderer drängte auf den Bahnsteig. Sie verfolgte das Treiben vom Balkon aus. Plötzlich umklammerte sie die Balkonbrüstung, so daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Wie gebannt verfolgte sie zwei Gestalten, die der Bahn entstiegen waren; eine jüngere Frau und ein kleines Mädchen, bestimmt Mutter und Tochter. Das Mädchen trug einen kleinen Rucksack, Sonnenhütchen und Winnie Puh unter dem Arm. Mutter und Kind lachten und steuerten Hand in Hand auf das Hotel zu.
Bei diesem harmonischen Bild von Vertrautheit zog sich ihr Innerstes schmerzlich zusammen, und ein Kloß würgte sie in der Kehle.
Sie wandte sich ab. Die Zimmer warteten, wieder einmal höchste Zeit.
Sie wollte auch noch zum Felsen.
Mutter und Tochter belegten Zimmer neun. In einem unbeobachteten Moment hatte sie die Anmeldungen durchgeblättert. Die beiden hatten bereits gefrühstückt. Wohl gelaunt waren sie am Tisch gesessen, die Mutter hatte der Kleinen das Brötchen gestrichen. Das fröhliche Lachen des Mädchens konnte sie bis ins Entrée hören. Dann waren sie, Hand in Hand, mit Rucksack und Sonnenhut in den schönen Tag hinausmarschiert.
Sie stieg die Treppe hinauf. Sie würde heute ihre Runde bei Zimmer neun beginnen.
Im Bad fiel ihr Blick auf die Zahnbürsten; die kleine neben der großen.
Das versetzte ihr schon den ersten Stich.
Sie schüttelte die Bettdecken auf. Kleine rosa Pantöffelchen standen da.
Ein kleiner, rosafarbener Pyjama lag zerknüllt auf der Matratze. Sie setzte sich aufs Bett und faltete ihn zusammen. Wie hübsch er war, mit kleinen Rüschchen am Ausschnitt. Zwischen den Kopfkissen lag Winnie Puh. Sie setzte ihn aufs Kopfkissen neben den gefalteten Schlafanzug. Das Mädchen hieß Sarah und war sieben Jahre alt. Sie hatte es in der Anmeldung gelesen. Wie ihre Tochter Chantal, sie war damals auch sieben Jahre alt gewesen und hatte einen Winnie Puh besessen, ohne den sie nicht hatte einschlafen können. Sie hatte ihn ihr mit ins Grab gegeben. Zehn Jahre waren inzwischen vergangen.
Sie strich über die Rüschchen des Pyjamas, die langsam naß wurden. Die Tränen rannen ihr unaufhörlich übers Gesicht, der Schmerz wurde übermächtig und sie gab sich ihm hin. Sie hörte den Schrei ihrer Tochter, das Kreischen der Bremsen…
Sich das Gesicht trocknend, löste sie sich aus ihrer Trance. Aus der Schürzentasche kramte sie ein paar Schoko-Bonbons hervor, die sie neben den Schlafanzug aufs Kissen legte. Chantal hatte diese Schoko-Bonbons geliebt.
Jetzt wurde es Zeit, den Fisch an die Angel zu locken. –
Die Hotelgäste waren abends äußerst ungehalten, denn sie fanden die Zimmer so vor, wie sie sie morgens verlassen hatten. Sie hatte alles stehen und liegen lassen, es hatte sie zum Felsen getrieben, obwohl sie zu aufgewühlt war, um hochzusteigen. Doch sie faßte den Entschluß, ihr Vorhaben in Angriff zu nehmen.
Der Fisch hatte im Netz schon mal angebissen; er war auf das Profil der blonden Schönen voll abgefahren und versprühte seinen Charme. Die Blonde hielt ihn allerdings eher auf Distanz, was ihn noch mehr in Fahrt brachte. Zudem pflegte sie das gleiche Hobby: Klettern – freesolo. Das schien ihn besonders zu faszinieren. Die Schöne brachte seinen sportlichen Ehrgeiz in Wallung indem sie seine Kondition in Frage stellte.
Dann meldete sich die Blonde für ein paar Tage ab; sie gehe klettern, freesolo, ohne Seil. „Und du, alter Mann, schaffst du’s noch am Felsen?“
hatte sie ihm auf die Seite geschrieben.
Zwei Tage später stand auf seiner Seite: „bin vorübergehend abwesend, so long“.
Von da an beobachtete sie jeden Zug, der in den Bahnhof einfuhr, die Passagiere, die ausstiegen.
Dann war es soweit; er stieg aus. Sie erkannte ihn sofort. Er trug einen Rucksack, einen Helm aufgeschnallt.
Es hatte also geklappt, ihre Stichelei gewirkt; er fand keine Ruhe und musste sich am Felsen beweisen.
Gezielten Schrittes entfernte er sich. Sie wusste, wo sie ihn finden würde.
Er war da. Er sass an der Bar des Hotels, in dem er immer abstieg, und genehmigte sich einen Aperitif. Die Gelegenheit war günstig; sämtliche Barhocker waren besetzt - bis auf den einen neben ihm. Sie bezwang ihre aufsteigende Nervosität und gab sich einen Ruck. Das musste jetzt sein.
Mit einem knappen „noch frei?“ wandte sie sich, auf den freien Hocker deutend, an ihn. „Klar doch“, meinte er und musterte sie eingehend und zugleich überrascht. Sie hatte sich gestylt, schlichte Eleganz, die er liebte;
schwarze, tiefausgeschnittene Bluse salopp über schwarzer Hose, goldenes Halsband, die kurzen, schwarzen Haare hinters Ohr gestrichen, die blauen Augen stark geschminkt, ein Tupfer „Hypnotic Poison“, auf das er flog. Es verfehlte seine Wirkung nicht; er schien magisch angezogen.
Dankend nahm sie den offerierten Champagner an und ergriff mit ruhiger Hand das Glas. Er fixierte ihre vom Klettern gezeichneten Finger.
„Sie klettern?“, fragte er interessiert. – „Ja, freesolo“, antwortete sie, und in dem Moment war sie sich sicher, ihn im Netz zu haben. So war es auch;
er zog sein Charme-Register, und sie liess sich auf das Spiel ein.
Im Schutze des gedimmten Lichtes fühlte sie sich sicher, keine Gemütsregung preiszugeben und seinem eindringlichen Blick nicht ausgesetzt zu sein. Anderseits hätte sie ihn gerne bis ins Innerste geröntgt, um zu forschen, ob da irgendeine Spur von Schuldigkeit, Betroffenheit oder Traurigkeit schlummerte.
Aber es hätte nichts geändert. –
Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Treffpunkt Bahnstation.
Sie wollten zusammen auf den Felsen.
Ihre Siebensachen standen bereits gepackt im Schrank. Sie würde danach sofort abreisen. Spanien – Juan – wartete auf sie.
Er stand schon am Bahnhof und war erfreut, als er sie sah. Sie fuhren eine Haltestelle talwärts. Von da war es eine Stunde Fussmarsch bis zum abgelegenen Einstieg. Schweigend hatten sie den Weg zurückgelegt, um sich mental einzustimmen. Nach ein paar Dehnungsübungen zur Muskellockerung standen sie sich an der Felswand wortlos gegenüber. Sie fixierte ihn durch ihre Sonnenbrille. Doch auch seine Augen versteckten sich hinter einer schützenden Barriere.
All das, was jahrelang in ihrem Kopf gegärt hatte, begann zu oxidieren und verstärkte den Adrenalinschub in ihrem Körper.
Das Schicksal würde entscheiden - wie damals vor
zehn Jahren. -
Sie schloss die Augen und atmete tief durch; mit jedem Atemzug befreite sie ihre Gehirnstränge von jeglichem lähmenden Ballast.
Sie waren beide bereit für den Aufstieg. Sie würde zuerst hochklettern. Wenn sie oben war, würde er folgen.
Nach einem zügigen Aufstieg schwenkte sie ihren Helm. Jetzt war er an der Reihe.
Sie legte sich hart an der Felskante auf den Bauch, sodass sie in die Tiefe blicken konnte, und verfolgte jede seiner Bewegungen. Mühelos stieg er hoch; unverkennbar war er ein guter Kletterer, der den Felsen genau kannte und jeden Griff und Tritt mental gespeichert hatte.
Er näherte sich den letzten Metern, dem schwierigsten Teil. Auf dem knappen Felsvorsprung legte er die letzte Pause ein.
Das war ihr Moment:
„Mörder“, schrie sie, das Echo antwortete „Mörder“.
Sie sah, wie er zusammenzuckte und hochblickte. Keinen Ton gab er von sich, seine Hände suchten am Felsen unkontrolliert nach Halt.
„Du hast sie tot gefahren! Zwei Jahre Bunker reichen nicht für ihr Leben!“
Sie sah, wie seine Füsse zu zittern begannen und seine Finger sich in den Felsen krallten, bis Blut auf die Felswand tropfte.
„Es war meine Tochter!“
Seine Füsse rutschten ab, mit den blutüberströmten Fingern hielt er sich mit letzter Kraft und suchte vergeblich nach einem Halt für die Füsse.
„Mörder“, und das Echo warf es zurück.
Sein Schrei vermischte sich mit dem ihrer Tochter als er in die Tiefe stürzte.
Texte: (c) by Jeanne Guesch
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2009
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