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Am Hafen von Neapel herrschte am Abend des
12. November 1949 eine hektische Betriebsamkeit. Nebelschwaden hingen in der Luft und verbreiteten eine Feuchtigkeit, die bis auf die Knochen drang.

Raimondo, er war vergangenen Monat elf geworden, hatte noch nie eine derartige Menschenansammlung erlebt; Menschen, die sich eilig bewegten, riesige Koffer mit sich schleppten oder sich mit unförmigen Gepäckstücken herumbalgten, andere blickten suchend und unschlüssig in die Runde und wurden von der Masse herumgeschubst.

„Was für ein Schlachtfeld“ rief Raimondos Mutter, doch ihr kräftiges Organ wurde von noch lauteren Stimmen übertönt. Sie deutete mit dem Finger auf den Namen des gigantischen Schiffes, das vor Anker lag. In riesengroßen Buchstaben war er auf der Längsseite aufgemalt: „VULCANO“. So überdimensioniert geschrieben vermittelte der Namenszug Größe und Kraft. Raimondo, ein schmächtiger Junge, fühlte sich neben der haushohen Schiffswand klein und verloren. Er musterte den Dampfer eingehend vom Bug bis zum Heck, vom Kamin bis zum Wasser und stellte fest, daß der Name zutraf; ein schwimmender Vulkan lag da vor Anker. Für Raimondo bedeutete das als „Vulkan“ bezeichnete Koloß weit mehr. Es war die Bestätigung der Worte, die seine Mutter während der letzten Wochen ständig wiederholt hatte: „Ihr müßt keine Angst haben“. Ihre Äußerung bezog sich auf die Reise, die Raimondo und seinen zwei Brüdern, Giovanni und Lorenzo, bevorstand.

Eine Reise, die sie dahin führen würde, wo die Schokoladentafeln nie endeten und die Kinder nicht barfuß liefen. Es mußte ein wunderbarer Ort sein, wo auch den kleinen Jungs das Geld im Sack nicht fehlte. „Fantasyland“ nannte Raimondos Mutter dieses fantastische Land der Verheißungen, das auf sie wartete: Amerika.

Raimondo und seine Brüder sollten beim Onkel wohnen bis die Mutter nachfolgen würde; so jedenfalls war es ihnen gesagt worden.

Die Stunde des Abschieds war gekommen. Raimondo und seine Brüder beeilten sich, die Prozedur hinter sich zu bringen und ließen sich von Mutter und Vater umarmen. Die Mutter versuchte vergeblich die Tränen zu unterdrücken, die ihr schließlich in Bächen über die Wangen flossen. Man hätte meinen können, sie müßte sich von der ganzen Familie verabschieden, dabei stellte Raimondo mit seinen Brüdern gerade mal einen Viertel der Familie dar, die aus elf Jungen und
zwei Mädchen bestand.

Raimondos Eltern war es nicht erlaubt, ihre Kinder an Bord zu begleiten. Doch der älterer Bruder Raimondos, Marco, der bei der Marine im Dienst stand, hatte sich eine Sondererlaubnis geben lassen, um dies zu übernehmen, was ihm wohl Dank seiner beeindruckenden Uniform gelang.
Er brachte seine Brüder bis in die Kabine; sie war sehr groß und viele, schmale Kajütenbetten standen da. Sie mußten die Kabine mit anderen 13 Personen teilen.
So würden sie sich nicht alleine fühlen, meinte Marco.

Alle waren damit beschäftigt die Betten herzurichten und das Gepäck zu verstauen.
Raimondo und seine Brüder folgten ihrem Beispiel.
Ein psychisch wie auch physisch anstrengender Tag lag hinter ihnen, und sie waren froh, die Geborgenheit eines Kajütenbettes zu finden.
Marco entschied, daß der kleinste, Giovanni, unten schlafen solle und die beiden größeren in der oberen Etage.

Raimondo lag endlich in der Enge seines Kajütenbettes. Müde wie er war, schlief er auch gleich ein, „Fantasyland“, das ihn erwartete, vor Augen.

Am nächsten Morgen, aus dem bleiernen Tiefschlaf erwacht, wurde er vom Lärm der Motoren aus dem nahen Maschinenraum vollends geweckt.
Giovanni, nach vergeblichen Versuchen seine beiden Brüder zu wecken, hatte schon mal den Frühstücksraum aufgesucht und sich durch das verlockende Frühstücks-
angebot gegessen. Trotz seinen Schilderungen wollten seine Brüder nichts essen, was Giovanni überhaupt nicht verstehen konnte: „Ihr seid verrückt, bei all dem Zeug das es da gibt!“ Raimondo gab vor, nicht hungrig zu sein. Der wahre Grund war ein anderer: er fühlte ein seltsames Unwohlsein in der Magengegend.
Giovanni kehrte zu einer zweiten Runde in den Frühstücksraum zurück.
Stunden vergingen bevor er wieder auftauchte. Er war quietschfidel und hatte inzwischen auch noch das Schiff inspiziert. Um seine Brüder stand es hingegen schlechter wie zuvor. „Ich war bis zuoberst auf dem Schiff, es ist wunderschön da, und das Meer ist überall, wohin man auch schaut“, erzählte er begeistert. „Wie“,
wunderte sich Raimondo, „sind wir noch in Neapel?“ - „Nein, wir haben in der Nacht abgelegt und sind mitten auf dem Meer“, erklärte ihm Giovanni. „Nein“, Raimondo war schockiert und verweigerte den Gedanken, daß Neapel nicht mehr zu sehen sein sollte. Er wollte es nicht wahr haben. Eher wollte er glauben, daß Giovanni ein Lügner war!


Sie stiegen viele Treppen hoch bis sie das Deck erreichten. Raimondo sprang hin und her, vom Bug bis zum Heck, den Horizont vergeblich nach jenem Punkt absuchend, wo er Vater und Mutter beim Abschied hatte stehen sehen. Nein, da war nichts Vertrautes mehr, da war absolut nichts da draußen; ein großes Nichts!
Sein Innerstes hingegen quoll über. Da war alles; sein ganzes gequältes Ich voller Angst. Seine Augen, die vergeblich im großen Nichts suchten, quollen über, und der bis jetzt im Zaum gehaltene Schmerz walzte die mühsam errichtete Wand der Beherrschung nieder. Siedend heiß fühlte er sich an, trieb ihm Schweiß ins Gesicht,
der sich mit den Tränen vermischte. Raimondo brach auf dem Deck zusammen und
mußte sich übergeben.

Wie er in sein Bett gelangte mußten ihm seine Brüder später berichten. Es wurde daraus eine fabelhafte Geschichte, die sie sich heute noch – in breitem Amerikanisch – erzählen; der kleine Giovanni mit seinen neun Jahren, die halbe Portion, wurde zum Retter in der Not und schleifte seine beiden Brüder, denn auch Lorenzo kämpfte gegen Unwohlsein, in die Kajüte.

Üble Tage folgten. Der Koloß hatte sich in ein Fischchen verwandelt, das dem tobenden Meer hilflos ausgeliefert war. Gewaltige Wogen hatten das Kommando übernommen, die keine Bewegungsrichtung ausließen: rauf und runter, hin und her.
Dementsprechend fühlten sich die Passagiere. Raimondo schleppte sich unter größten Anstrengungen in den Frühstücksraum, aber nicht etwa, um ein Hunger-
gefühl zu stillen, sondern um dem Magen etwas zuzuführen, dem Brechreiz
Nahrung zu geben und ihm erliegen zu können. Das brachte etwas Erleichterung.
Nachts, wenn Raimondo sich in seinem Kajütenbett schlaflos hin- und herwälzte, dachte er wehmütig an das, was er hinter sich ließ und nicht an „Fantasyland“,
das vor ihm lag. Er begann es sogar zu hassen. –
Er hörte die Stimme seiner Mutter, wie sie ihm „Fantasyland“ in den schönsten Farben ausmalte. Er wußte, seiner Mutter wäre es lieber, wenn er an „Fantasyland“ denken würde, um den Gemütszustand während der Reise stabil zu halten;
aber in seinem Herzen gab es nur Bitterkeit. Sein Dorf, an der Südküste Neapels, war der schönste Ort auf Erden, seine wunderbare, heile, kleine Welt, wo er jeden Stein kannte. Dort gab es keine dröhnenden Diesel-Motoren. Den einzigen Lärm verursachten die meckernden Ziegen, die grunzenden Schweine oder frühmorgens
der Hahn mit seinem Kikeriki.

Tage vergingen. Ein Sturm löste den andern ab. Es war, wie wenn jemand mit einer großen Gießkanne unaufhörlich Wasser ins Aquarium goß und Monsterwellen und sintflutartigen Regen auslöste. So empfand es Raimondo.
Giovanni war gegen alles gewappnet. Er versorgte seine Brüder auf Empfehlung der Kellner aus dem Frühstücksraum mit Orangen und Zitronen, was letztendlich die Übelkeit linderte.

Aufgrund des schlechten Wetters war das Schiff bereits um drei Tage verspätet.
Endlich, am Morgen des 27. November 1949, fand die Reise ihr Ende:
Amerika war in Sicht.

Alle drängten sich erwartungsvoll auf dem Deck. Raimondo mußte sich zwingen, hinaufzusteigen, denn ihm fehlte es an Enthusiasmus.
Der Morgen brach an, es war kalt und neblig. Ein magischer Moment, der die Passagiere an Bord gefangen nahm; ein Raunen ging durch die Reihen.

AMERIKA – ein mächtiger Anblick der sich ihnen bot:
hoch erhoben begrüßte sie die „Statue of Liberty“; mit ihrem warmen Licht, das schon von weitem durch den Nebel zu erkennen war, hieß sie die erschöpften Einwanderer willkommen. Für viele bedeutete dieses Licht Zuversicht und Hoffnung auf ein besseres Leben.

Je näher sie kamen, desto besser waren die imposanten Silhouetten der Hochhäuser von New York zu erkennen. Der Funke der Begeisterung sprang nicht auf Raimondo über. Er war nur froh, daß die Reise zu Ende war.
Es dauerte jedoch noch sieben lange Stunden bis das Schiff anlegte.

Bedächtig stieg Raimondo hinter seinen Brüdern die vielen Stufen hinunter und hielt einen Moment inne, bevor er seinen Fuß mit leichtem Zögern auf amerikanischen Boden setzte.

Laut den mütterlichen Instruktionen würde das Gepäck auf dem Quai in alphabetischer Reihenfolge hingestellt. Die Buchstaben waren auf großen Kartons aufgemalt und in die Höhe gehängt. Raimondo suchte nach dem D. Er war mit seinen Brüdern noch am Überprüfen der Gepäckstücke als sich eine Frau und ein Mann näherten. Es mußten Tante und Onkel sein. Raimondo suchte nach den Fotos in seiner Jackentasche, die ihnen die Mutter vorsichtshalber mitgegeben hatte,
damit sie Tante und Onkel auch erkennen könnten.

Der Onkel lachte und nahm den Hut vom Kopf. „Wie war die Reise?“ fragte die Tante. Das war das Signal für Giovanni um die Geschichte von seiner Samariter-
Tätigkeit zum ersten Mal zu erzählen.
Raimondo blieb still und schaute sich um. Wieder viele Leute, Gepäckträger in Arbeitskleidung, die sich mit ihren Handwagen einen Weg durch die Menge bahnten. Sie sahen so aus wie die in Neapel – und doch waren sie in Amerika, im Land der Verheißungen, wo es viel Arbeit gab, wie die Tante erklärte.

„Kommt“, sagte der Onkel, „wir nehmen die „Subway“, sie würde sie nach Brooklyn bringen. „Wie viele Tage wird es brauchen?“ fragte Raimondo besorgt. Die Fahrt würde nur eine Stunde dauern, beruhigte ihn der Onkel lachend.

Hinabgestiegen in den Untergrund warteten sie auf den Zug. Nicht einen Schimmer Tageslicht gab es hier, und die Luft war erdrückend. Mit Getöse fuhr die „Subway“
in Form von diversen, aneinandergehängten, eisernen Schachteln ein. Eine dieser Schachteln hielt direkt vor ihnen und die Türe öffnete sich. Gerade Zeit genug zum Einsteigen, Platz nehmen, und der Zug setzte sich bereits wieder in Bewegung. Bei jedem Stopp zeigte der Onkel mit den Fingern an, wie viele Haltestellen noch übrig blieben. Es fehlten noch vier als sich die Türe öffnete und eine Kuriosität mit tiefschwarzem Gesicht einstieg. Raimondo war perplex.
Da sich der Schulunterricht auf die eigene Kultur beschränkt und die Mutter
diesen Aspekt in ihrer Aufbauarbeit komplett vergessen hatte, war Raimondo völlig überrumpelt. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Schwarzen gesehen. Er konnte die Augen nicht abwenden; sie blieben wie angeklebt auf dem schwarzen
Gesicht haften. „Schau, Onkel“, er zeigte mit dem Finger auf die Erscheinung.
Der Onkel versuchte die peinliche Situation abzuwenden und klopfte Raimondo auf
den ausgestreckten Zeigefinger. „Psst“, wies er ihn zurecht. Doch die Kuriosität entpuppte sich als freundlicher Schwarzer, der den konsternierten Blicken des Jungen sein warmes Lachen entgegensetzte. Er entblößte eine Reihe großer, weißer Zähne und ließ ein klangvolles „Hi“ hören, was Raimondo aus seiner Erstarrung löste.
Später, in seinem Brief an die Mutter, schrieb er dazu: „In der „Subway“ hat mich Amerika begrüßt“.

Es war Zeit auszusteigen. Sie eilten die Treppen hoch – endlich Tageslicht!
Auf den Bergspitzen in der Ferne entdeckte Raimondo ein weiteres ihm unbekanntes Phänomen: Schnee, oder „snow“, wie der Onkel ihn nannte. Raimondo und seine Brüder hatten noch nie von seiner Existenz gehört, und der Onkel war gefordert.

Zu Hause angekommen, wurden die Brüder mit Fragen bombardiert; sie sprachen stundenlang. Es gab weder Schweine noch Ziegen und auch keinen Hahn, nur
eine Katze namens „Cathy“. Rebberge gab es auch keine. –

Die Bettzeit nahte. Ein richtiges Bett wartete. Doch bevor Raimondo seine müden
Glieder strecken konnte, mußte er seiner Mutter wenigstens einen kurzen Brief
schreiben, denn sie wartete besorgt auf eine Nachricht.


Raimondo schrieb:
„Liebe Mamma, lieber Papà,
Wir hatten eine schöne Reise. Nicht einmal Giovanni wurde seekrank, ich ein wenig,
denn ich habe zuviel Schokolade gegessen. Wir tragen nicht nur Schuhe sondern sogar Überschuhe aus Gummi wenn es regnet, und in der Wohnung tragen wir spezielle Schuhe, sogenannte „Pantoffeln“. Wir werden neue Hosen kaufen müssen,
denn die Hosentaschen der unsrigen sind nicht tief genug um das Geld rein zu tun,
und in der „Subway“ (metropolitana) hat mich Amerika begrüßt.“

Den Brief beendet, schlüpfte Raimondo erschöpft ins Bett.


Seine Gedanken kehrten in die Fantasie zurück, die über den Ozean hinweg in seiner einstigen, heilen Welt beheimatet war.


Impressum

Texte: Copyright by Jeanne Guesch
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2009

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