Der Mond schien durch das Küchenfenster geradewegs auf den Tisch. Der Schatten des Gittermusters der Gardine wurde dabei auf die Tischplatte gezeichnet, durchbrochen von einem Päckchen, das da lag. Ein längliches Etwas war in Zeitungspapier eingewickelt.
Schon seit einer Stunde fixierte er das Ding obwohl der strenge Geruch, der aus dem Päckchen aufstieg, unerträglich war. Aber er hielt ihm stand. Ja, er ließ sich von ihm betäuben und noch mehr in seinen Frust treiben.
Es war ein Fisch. Vor ein paar Tagen hatte er dieses prächtige Exemplar gefangen; sein erster Fisch! Nie hätte er gedacht, daß ihn dieser Sport begeistern könnte, denn seine Interessen waren gänzlich anderer Art.
Die Gläser im Küchenschrank begannen leise zu klirren. Das Klirren schwoll an und wurde sekundenlang vom vorbeibrausenden Intercity übertönt. Er schaute auf die Uhr: 22 Uhr.
Dann war der Spuk vorbei, und es war wieder still.
Diese actionslosen Stunden am Fluß, das Warten auf den Fisch hatten ihn seltsamerweise beglückt. Nun stank das einstige Prachtexemplar und das Glücksgefühl war dem Frust gewichen.
Schon seit Tagen lag der Fisch auf dem Tisch; seit dem Telefonanruf hatte er ihn ignoriert.
An jenem Tag nach dem Fischfang, er schwamm noch im Glücksgefühl, wurde er vom Büro angerufen und zum Chef zitiert.
Er saß seinem Boss gegenüber, bereits geduckt von der Vorahnung, daß ihn eine Lawine überrollen würde. So war es auch:
Er sei ein zuverlässiger AzuBi; speditiv, kompetent, ein Hoffnungsträger. Wenn nur die Krise nicht wäre! Personalabbau sei unumgänglich. Er als Chef stünde nun vor einer äußerst schwierigen Entscheidung: Familienvater oder AzuBi.
Er habe sich für den Familienvater entschieden. –
Sein Chef legte ihm ein Stück Papier vor – sein Abgangszeugnis. Er möge es überprüfen, ob er damit einverstanden sei. Er starrte auf das Stück Papier, und ein schwarzes Loch öffnete sich.
Das Papier war ideal, nicht zu dünn und nicht zu dick. Er begann es zu falten, wie ging es doch gleich? Er hatte schon lange keinen Papierflieger mehr gefaltet: zweimal in die Mitte falten von der oberen Kante ausgehend, wenden, in die Hälfte legen und die Flügel abwinkeln. Perfekt. Ein gezielter, kräftiger Stoss und der Papierflieger samt Hoffnungen segelten durch das offene Fenster.
Jetzt saß er ratlos am Tisch, den starren Blick auf das stinkende Päckchen gerichtet.
Nein, Fischen war nicht sein Ding! Er würde sein altes Hobby wieder aufnehmen.
Es war Vollmond; ideal.
Er holte einen schwarzen Rucksack hervor und überprüfte seinen Inhalt.
Okay, die Spraydosen waren noch voll. Bei ihrem Anblick spürte er, wie sich sein Körper spannte und auf den Adrenalinschub wartete.
Er schnürte den Rucksack zu, schlüpfte in seine schwarze Jacke und zog sich die Kapuze tief über den Kopf.
Heute Nacht würde er wieder sprayen, und niemand und nichts würde ihn davon abhalten.
Die Gläser klirrten; der 23-Uhr Intercity fuhr soeben vorbei.
Er mußte los; er hatte eine Stunde Zeit.
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2009
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Widmung:
Beitrag zum 9. Wortspiel;
das Papierflugzeug, der Fisch und der Mond