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Windstärke 6: steifer Wind.

Das Meer war graublau. Es bildeten sich grössere Wellen mit brechenden Schaumköpfen, die sich anschliessend in weissen Schaumflechten verteilten. Die kreischenden Möwen liessen sich vom Aufwind in die Höhe heben, um anschliessend in sanftem Gleitflug den Klippen entlang hinunter zu segeln, und das Spiel begann von Neuem.

Sie sass mit geschlossenen Augen auf der Mauer und liess sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Sie liebte diesen Platz hoch auf der Klippe, wo man den Blick ungestört übers weite Meer bis zum Himmel wandern lassen konnte. Das half beim Nachdenken.


Schliesslich erhob sie sich und trat einen Schritt vor, um in die Tiefe zu blicken. Unter ihr schlugen die Wellen an die Klippen, sodass sich eine weisse Gischt bildete.

Sie starrte in die Brandung und fragte sich, bei einem Sturz in die Tiefe, was sich für ein Anblick böte, zerschmettert auf den Felsblöcken vom Schaum umspült? Ein grausiger! Nein, das mochte sie sich nun wirklich nicht ausmalen.
Das war keine Lösung! -


Tot, kalt und schlüpfrig lag er vor ihr. Die glasigen Augen starrten sie anklagend an. Sie hielt seinem Blick stand. „Jetzt schau nicht so! Wenn’s nach mir ginge, käme kein Fisch ins Haus.“ Sie wetzte das Küchenmesser und schnitt den alabasterfarbenen Bauch auf. Wie konnte sie sich das nur antun! Sie hasste Fisch!

So ein japanisches Küchenmesser war schon schön scharf. Es konnte auch zu einer Waffe werden. Der Gedanke machte sie irgendwie nervös. Da schnitt sie sich in den Finger. Das Blut quoll augenblicklich aus der angeschnittenen Fingerbeere.


Es tropfte auf den alabasterfarbenen Fischbauch. Wie gebannt schaute sie auf den unaufhörlich hervorquellenden Saft, der den Fischbauch rot zu färben begann. Unglaublich, wie viel Lebenssaft durch einen Finger strömte. Wie viel Blut würde fliessen, wenn man das Messer in die Brust gestossen bekäme! Das gäbe eine Sauerei! Nicht zum Beschreiben!
Nein, das kam nicht in Frage! -

Der Fisch riss sie aus ihrem Bann. Sie griff nach dem Küchentuch und drückte es auf die pochende Wunde. Mäxchen, die Katze, strich bettelnd um ihre Beine. „Ja Mäxchen, du darfst ihn haben“. Der blutige Anblick ekelte sie. Sie würde etwas anderes zum Abendessen kochen.


Er war da. Sie hörte die Autotüre zuschlagen. Sein schneller und leichter Schritt verriet ihr, dass es für ihn ein guter Tag gewesen war; er brachte gute Laune mit nach Hause.

„Wie war dein Tag?“ fragte er, währenddem er sich offensichtlich hungrig an den Tisch setzte. Er war immer hungrig und durstig und nicht wirklich daran interessiert, wie ihr Tag war.

„Ach, kein Fisch heute?“ fragte er sichtlich verstimm, als sie ihm die Minestrone in den Teller schöpfte. „Nein, heute nicht“ murmelte sie und blickte zu Mäxchen, das faul und satt auf der Couch lag. „Ich habe mich eigentlich auf Fisch eingestellt“, nörgelte er, während er ein Stück Brot in die Minestrone tunkte.


Wie sie das hasste, wenn er das Brot gierig in Stücke riss, sodass Krümel auf den Tisch fielen. Unappetitlich!

„Was haste denn heut gemacht?“ fragte er mit vollem Mund.

Auch das hasste sie. Wie konnte er nur mit vollem Munde reden! Seine Tischmanieren hatten sich geändert im Laufe der Jahre. Abscheulich!

Sie erzählte ihm nie von ihren Spazier- gängen auf die Klippen, er würde es sowieso nicht verstehen; „die faule Madame, die sich einen schönen Tag macht“, so sah er das.


Sie schwieg lieber, wie sie es schon seit Jahren tat. Er schien es nicht bemerkt zu haben.

Er las seine Zeitung, genauer gesagt den Sportteil, nichts war wichtiger.
Wie sie das hasste!
„Mann erstach Frau mit Küchenmesser – seither auf der Flucht“ las sie auf der Rückseite.
Ihr Blick fiel auf ihren verbundenen Finger. Nein, ausgeschlossen, kam nicht in Frage, zuviel Blut; das wäre unbeschreiblich.
Sie war für eine saubere Lösung. –

Sie fegte die Krümel vom Tisch. Sie mochte Krümel nicht ausstehen; Krümel in der Jackentasche, Krümel auf der Couch, die allerschlimmsten waren die im Bett.


Das tägliche, wiederkehrende Einerlei war unerträglich. Sie musste ihm wenigstens für ein paar Stunden entkommen bevor er nach Hause kam.

Sie stieg in ihr altes, gepflegtes Auto und fuhr kurzerhand in die Stadt. Die Bücherei war leer, keine Kunden um diese Uhrzeit. So war es angenehm still, eine wohltuende Ruhe, die zum Verweilen einlud. Unweigerlich überfiel einen hier die unbändige Lust, sich aus den vollen Regalen ein Hardcover-Buch zu greifen, um sich auf einen der bequemen Sesseln für ungewisse Zeit niederzulassen.


Ihr Blick fiel auf die Beschriftung der Regale: „Krimis“ stach ihr ins Auge. Das war ihr Genre. Was für ein Angebot; dicke und dünne Buchrücken reihten sich in den Regalen. Wie viele mörderische Lösungen schlummerten hier. Ihre Hand, die im Begriff war, sich ein Buch zu greifen, zögerte. Nein, lieber nicht, sie konnte schlecht beeinflusst werden. Das wäre fatal; unerwünschte Gedanken im Kopf zu haben, die sich verankern könnten! Sie wandte sich um, gegenüber im „Garten“ war sie besser aufgehoben.

Sie griff sich ein wunderbar bebildertes Gartenbuch und versenkte sich genüsslich darin.


"Oleander als Gartenpflanzen“ las sie. Wunderschön, sie hatte auch welchen im Garten. „Giftigkeit“ stand weiter, „Oleander ist giftig. Er enthält Glykosid, das Kopfschmerzen und Uebelkeit verursacht. Starke Dosierung kann zum Herzstillstand führen“.
Ihr Blick blieb auf der Abbildung haften. Sie hatte einen weissen im Garten. Schnitt man ihn zur Unzeit, tröpfelte der milchige, klebrige Saft aus den Schnittstellen.

Nachdenklich klappte sie das Buch zu. Tod durch Vergiftung. Wie sähe das aus? Sich unter Krämpfen winden bis zum Herzstillstand. An und für sich eine saubere Sache, aber verbunden mit Gestöhne und Gejammer, wer weiss, wie lange das dauern würde.
Auch eine fragwürdige Variante. –


Sie machte sich auf den Heimweg; es war schon spät. Er würde heute früher nach Hause kommen, und vorher wollte sie noch auf die Klippen. Sie musste nachdenken.


Windstärke 0: Windstille. Spiegelglatte See.

Sie sass auf der Mauer und blickte auf die spiegelglatte See. Durch die Wolken drangen ein paar Sonnenstrahlen bis auf die Wasser- Oberfläche, wo sie brachen und einen gleissenden Teich bildeten. Würde die Sonne noch etwas tiefer stehen, dann würde das Abendrot den Teich rosa färben. Ein atemberaubender Anblick, der sie immer wieder verzauberte und sie bis ins Innerste berührte.

Innerlich war sie so ruhig wie das Meer. Nach langem Dafür und Dawider hatte sie sich entschieden: sie würde ihn leben lassen.


So konnte sie schliesslich die Möglichkeit offen lassen, noch Band II zu schreiben, wenn sie Arthur – ihrer Romanfigur – in Band I nicht das Leben nahm.

Wenn er heute abend nach Hause kam, würde sie es ihm mitteilen: sie wollte die Scheidung.


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Tag der Veröffentlichung: 19.05.2009

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