Cover

Als er früh morgens zum Bahnhof kommt, liegt noch eine
gespenstische Ruhe in den Hallen. Nur ein einziger der vielen Schalter ist geöffnet. Dahinter sitzt eine Frau, die gelangweilt durch die fast blinde Scheibe blickt und ihm schliesslich mürrisch eine Fahrkarte verkauft. An der Anzeigetafel sind zwei Abfahrten gelistet. Sein Zug würde auf Gleis acht fahren. Langsam schlendert er dahin, während er sich nochmal in Erinnerung ruft, wohin seine Reise führen
sollte. Aber wusste er das tatsächlich? Er hat sich ebenso auf diesen Tag gefreut wie er ihn nun fürchtet. Sein Herzklopfen und das flaue Gefühl im Magen machen es ihm wieder bewusst. Nur eines ist ihm
ganz und gar klar: Heute und jetzt ist die Zeit gekommen.

Mit diesen Gedanken schickt er sich an, den Zug zu besteigen. Schon oft hat er davon geträumt: Einfach einsteigen und hinfahren. Als ob er einen alten Bekannten besuchte. Er würde an die Türe klopfen, und
sobald sich diese öffnete, würden sie sich begrüssen, zusammen eine Tasse Tee trinken, über dies und jenes reden, und wenn sich die ersten Anzeichen von Müdigkeit zeigten, würde er sich wieder verabschieden.

Gerade als seine rechte Hand die Haltestange des Zugs zu fassen bekommt, hört er die Durchsage: „... ohne Halt bis ...“.
Er erschrickt. Wenn er diesen Zug nun bestieg, würde er nicht mehr umkehren können. Und wenn dieser Zug einmal in Bewegung war, wäre er nicht mehr zu stoppen. Bis zur Endstation. Ohne Halt.
Dann müsste er die Geschichte unweigerlich zu Ende bringen. Eine Geschichte, die er nicht gewollt hatte. Eine, die ihm aufgezwungen worden war. So wie man geboren wurde. Und wie man sterben würde ohne zu wissen, ob es einen Sinn gibt dazwischen.
Aber wenn er es nicht täte, wäre all die Zeit des Hoffens und Bangens vergeblich gewesen. Vergeblich die Leere des Nichtwissens und die Suche nach der Wahrheit.

Vorsichtig setzt er einen Fuss auf die unterste Stufe des Trittbretts.
Wahrheit? War das, was er mühsam herausgefunden hat, die Wahrheit? Oder könnte es nicht genauso gut das sein, was er nicht herausgefunden hat?
Seine Mutter hatte nur sehr bruchstückhaft erzählt. Mit der Zeit wurde ihm immer klarer, dass sie nicht in der Lage war, die Geschehnisse genauer wieder zu geben. Ihr Schmerz darüber war zu gross. Immer
wenn sie mit feuchten Augen etwas davon Preis gab, spürte er, wie sie es sorgsam einem Schatzkästchen entnahm, von dem sie nicht wusste, ob sie es ein weiteres Mal würde öffnen können.

Nur zögernd hebt er seinen anderen Fuss an, um ihn auf die nächste Stufe zu stellen. Es fällt ihm schwer, sich auf etwas zu konzentrieren.
Sie war sehr jung und unverhofft schwanger geworden, weit weg von zuhause. Dann entschied sie, ihn zur Welt zu bringen, obwohl ihr die Kraft für ihn zu sorgen fehlte. So überliess sie ihn einer dieser
Einrichtungen, wo Geborgenheit durch volle Säle und Liebe durch Disziplin ersetzt waren. Die Ordensschwestern hatten die undankbare Aufgabe, die ihnen anvertrauten Kinder zu gehorsamen Mitgliedern
der Gesellschaft zu erziehen, was ganz selten gelang.

Seine Bewegung verlangsamt sich. Die Erinnerung an jene Zeit im Kinderheim lähmt ihn. Und in seinen Ohren hallt noch immer die Trostlosigkeit von dessen Wänden wider.
Einige der Kinder, die ebenso wie er dort abgegeben worden waren, schafften es später nicht ins Leben. Noch ehe sie davon richtig gekostet hatten, waren sie unrettbar ertrunken im weissen Meer der Vergessenen. Auch er hätte den Stoff haben können. Aber auf
wunderbare Weise hatte er immer geahnt, dass damit keine Träume in Erfüllung gingen.

Mit Erleichterung stellt er seinen Fuss auf der zweituntersten Stufe ab und entlastet damit seinen Arm, der schon zu zittern begann.
Die Familie, die er gekannt hatte, bestand aus Nonnen. Wenn sie ihn bei seinem Namen riefen, schwang immer ein tadelnder Unterton mit, damit er nicht auf die Idee kam, ein Lob zu erwarten. Aber sie sorgten
für ihn und er wuchs heran.
Seine Mutter hatte ihn einmal monatlich, sonntags und falls ihr nichts dazwischen kam, besucht. Als sie ihn nach vielen Jahren aus dem Heim abholte und zu sich nahm, wurde er ohne Vorwarnung in eine neue Familie geworfen.

Er hält inne. Stille. Nichts bewegt sich.
Nun war er in Gefangenschaft geraten. Meterhohe Mauern türmten sich um ihn. Er liess sich einschliessen und es war ihm wohl dabei. Er wollte die neue Familie nicht kennen lernen. Einzig zur kleinen Halbschwester hatte er von Beginn weg eine Verbindung, die er sich nicht erklären konnte. Sie öffnete ihm das Herz und sorgte dafür, dass er es nie mehr ganz verschliessen konnte.
Aber er wusste nicht, wie ihm geschah. Er fand keinen anderen Weg zu überleben. Erst sehr viel später erkannte er, dass er den Schmerz und die Erstarrung seiner Mutter übernommen hatte.

Weiter vorne unterhält sich der Verantwortliche für die Zugabfertigung mit einem anderen Passagier und weist diesen zum baldigen Einsteigen an.
Sein Stiefvater wollte ihn auf Drängen seiner Mutter adoptieren. Aber davon wollte er nichts wissen. Sondern nur, wer sein leiblicher Vater sei. Schliesslich erzählte seine Mutter ihm von einem Mann aus Deutschland, den sie damals kennen gelernt hatte und der für ihn später Unterhalt zahlte. Sie hatte ihn nicht geliebt, aber er war der erste Mann, der nett zu ihr gewesen war.

In seinen Augenwinkeln nimmt er wahr, wie auf dem
gegenüberliegenden Geleise ein anderer Zug einfährt.
Als sein Stiefvater ihm eröffnete, dass er nun adoptiert sei, weinte er zum ersten Mal. Seine Mutter hielt ihn für undankbar und sein Stiefvater reagierte sehr unbeholfen. Er hatte wohl bereits geahnt, dass er zwei Jahre später im Gefolge der Scheidung versuchen würde, die Adoption rückgängig zu machen. Leider haben ihm die Gerichte das verwehrt.

Der Bahnbeamte kommt nun auch auf ihn zu und beginnt, ihn mit energischen Handzeichen zum Einsteigen zu bewegen.
Aber er wollte doch nur wissen, wer sein leiblicher Vater war. Seine Mutter hatte ihm und seinen Halbgeschwistern französische Vornamen gegeben. Wann immer er den Klang dieser Sprache einatmete, das Essen aus der Provence roch oder Geschichten von
Marcel Pagnol las, war es sofort da, das Gefühl nach Hause zu kommen und seine Wurzeln zu spüren. Am Gymnasium zog ihm seine Französisch-Lehrerin immer eine halben Punkt von seiner Note ab, da sie fand, dass er als Bilingue sonst viel zu einfach zu guten
Noten käme. Er freute sich ungemein über ihr Argument.

Jetzt bemerkt er, dass auf der offenen, ihm zugewandten Seite der Zugtüre steht: „Bitte nicht einsteigen, Türe klemmt!“
Wann immer er seine Mutter auf das heikle Thema ansprechen wollte, wich sie ihm aus. Der Deutsche sei sein Vater. Er habe schliesslich für ihn bezahlt. Das Gesicht, das sie dabei machte, verbot ihm jede weitere Frage. Dabei hätte er so viele gehabt. Warum die französischen Vornamen? Warum diese gewaltige Anziehungskraft der französischen Kultur, die, und das wurde ihm jetzt richtig bewusst, auch seine Schwester in ihren Bann zog? Und vor allem: Warum
erzählte sie ihm nichts von seinem Vater?

Ein schriller Pfeifton hallt dem Geleise entlang und alle Türen schliessen automatisch. Nur seine bleibt offen.
Vor Jahren hatte er zufällig eine alte Freundin seiner Mutter getroffen. Diese freute sich ihn zu sehen und begann sogleich von alten Zeiten zu erzählen. Was für tolle Herren das Café damals besuchten, in dem die beiden Frauen zusammen gearbeitet hatten. Einer habe sich besonders um seine Mutter bemüht. Ein stattlicher Herr mit ebensolchem Charakter, wie sie sich ausdrückte. Leider musste
dieser bald wieder zurück nach Frankreich und sei erst ein paar Jahre später nochmal aufgetaucht, um dann endgültig aus ihrem Leben zu entschwinden. Die Freundin vermutete, dass er verheiratet war und
sich schliesslich für seine Familie entschieden hatte.

Jemand ruft ihm etwas zu. Es ist der Bahnbeamte, der sich gleichzeitig mit dem Zug in Bewegung setzt und wild mit seinen Armen gestikuliert, weil er noch immer unentschlossen auf dem Trittbrett steht.
Dank monatelangen akribischen Nachforschungen und etwas Glück stiess er in einem Zeitungsarchiv auf den Bericht über einem Bankvertreter, der in jener Zeit zu Verhandlungen mit Investoren in die Stadt gekommen war. Das Bild zeigte einen stattlichen Herrn vor dem Café. Sofort hatte er es der Freundin seiner Mutter gezeigt, die ihm seine Vermutung bestätigte. Schliesslich fand er seine Adresse. Das Haus lag in einem schönen Quartier mitten in der Stadt und von
da an träumte er unaufhörlich davon ihn zu besuchen.

Der Zug wird immer schneller. Er kann sich nicht bewegen und weiss nicht, was er tun soll. Als sich auf seiner Stirn die ersten Schweissperlen bilden und ihm fast schwindlig wird, fühlt er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter.
Und erwacht.
Er sitzt im Wohnzimmer seiner Mutter vor einer Tasse Kaffee. Sie geht zurück auf ihren Platz und blickt ihm direkt in die Augen.
„Er ist gestorben“, sagt sie, „vor vier Monaten. Ich habe es gestern erfahren.“
Er erwidert ihren Blick und lächelt dankbar.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /