Es war im Januar 2001, den Tag weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß noch, dass es bitter kalt war.
Mein Vater hatte den Dezember überlebt und dem Tod somit ein Schnippchen geschlagen. Die Ärzte hatten uns im vergangenen Mai erklärt, mein Vater würde Weihnachten nicht mehr bei uns sein. Aber uns war klar gewesen, das er sämtliche Geburtstage, die fast alle im Dezember liegen, noch mitmachen würde.
Und nun war Januar, es war bitterkalt aber die Sonne schien von dem wunderschönen blauen Himmel auf uns hinab. Die Äste der Bäume glitzerten durch den Frost der vergangenen Tagen und ich kam auf die Idee meinen Vater ins Auto zu bugsieren und ihn mit zum einkaufen zu nehmen.
Mein Vater war ein Naturmensch. Fast den ganzen Tag hatte er, bevor der Gehirntumor ihn ans Bett fesselte, in der freien Natur verbracht, egal bei welchem Wetter und zu welcher Jahreszeit. Mit einem Seitenblick konnte ich sehen, das er die Fahrt genoss, die durch unsere Wälder und an den Wiesen und Feldern vorbei zu der nächst größeren Stadt führte.
An unserem Ziel angekommen, parkte ich den Wagen auf einen Behindertenparkplatz gleich am Eingang, holte den Rollstuhl heraus, half meinem Vater hinein und ging dann noch mal zur Fahrerseite weil ich etwas vergessen hatte.
Was dann folgte, werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich werde es diesem Menschen nie verzeihen und ich bin eigentlich nicht nachtragend. Es war eines der wenigen Male in meinem Leben wo ich total sprachlos war und ich kurz davor war meine gute Erziehung zu vergessen. Aber der Reihe nach.
Der Ort an dem wir uns befanden war eine Kurstadt, ein Bad um genau zu sein. Mit einer der bekanntesten Psychosomatischen Kliniken nicht nur in Deutschland sondern in ganz Europa und mit einer nicht minder bekannten Rheumaklinik gleich nebenan. Menschen aus ganz Deutschland und den benachbarten Ausland pilgerten also zu uns nach Schleswig-Holstein um sich in einer der beiden Kliniken behandeln zu lassen. Unter anderem auch dieser Mann.
Während ich also noch auf der Fahrerseite beschäftigt war, höre ich es plötzlich mit bayrischem Dialekt:
„Das geht doch nicht! Das da ist doch unmöglich!“
Natürlich denke ich mir nichts dabei, fühlte ich mich doch nicht angesprochen.
„Hey! Das geht nicht! Das tut doch in den Augen weh!“
Wie gesagt, ich fühlte mich nicht angesprochen, stieg aus und prallte beinahe mit einem Mann zusammen, der sich vor der Fahrertür aufgebaut hatte. Die Hände in die Hüften gestemmt sah er mich böse an und sagte wieder:
„Mädel, nehm das da weg!“
Irritiert sah ich ihn an, schaute mich um und überlegte, was ich denn wegnehmen sollte. Mein fragendes Gesicht hatte er richtig gedeutet und deutete mit der Hand auf den Rollstuhl indem mein Vater saß. Ich schaute hin und überlegte immer noch, was der Mann eigentlich von mir wollte. Vielleicht wollte ich auch nicht wissen was er von mir wollte, aber in den hintersten Windungen meines Gehirns wusste ich es.
„Was soll ich wegnehmen?“ fragte ich daraufhin.
„Das da! Ich bezahle hier nicht viel Geld um so etwas zu sehen!“ Wieder deutete er auf meinen Vater.
„Das da“, sagte ich betont ruhig, was bei meinem Temperament nicht gerade leicht war, „das da ist mein Vater!“
„Mir egal Mädel, nehm das da weg! Das tut in den Augen weh!“
Ja, ich war fassungslos und so was von perplex, das es mir die Stimme verschlug. Und nicht nur mir. Auch den zahlreichen Menschen, die um uns herum standen und zuhörten, wussten nicht was sie sagen sollten. Ich kannte viele von ihnen, denn in diesem Ort hatte ich meine Ausbildung gemacht und im Grunde war die Stadt ein Dorf. Unter den Menschen war auch ein älterer Mann, der den Mann interessiert musterte und dem doch recht einseitigem Dialog folgte.
„Früher“, so hörte ich den bayrischen Dialekt wieder, „da wusste man was man mit so was macht.“
Mein Vater musste mein Gesichtsausdruck gesehen haben. Mochte er auch aussehen wie der wandelnde Tod, seinen Sarkasmus, seine Ironie und sein Zynismus hatte er immer noch. Er wandte seinen Kopf zu dem Mann und sagte mit leiser Stimme:
„Guter Mann, ich möchte Sie doch bitten meine Tochter nicht weiter aufzuhalten. Wir wollen etwas hier einkaufen und dann gleich weiterfahren. Bielitz hat ein Lager wieder eröffnet wo so etwas wie ich hinkommen soll, damit Menschen wie Sie so etwas wie mich nicht mehr sehen müssen.“
Der ältere Mann hatte ein Lächeln auf den Lippen, schaute kurz von meinem Vater zu mir und dann auf den Mann, der immer noch neben mir stand. In der Zwischenzeit nicht mehr so groß und fordernd sondern eher verlegen und Kleinlaut. Er murmelte irgendetwas in seinen imaginären Bart und bahnte sich einen Weg durch die Menschen, die ihm leicht verachtend, leicht grinsend hinterher schauten. Der alte Mann jedoch war zu meinem Vater gegangen und hatte ihm die Hand gereicht.
„Ich bezweifle, das es ihm eine Lehre sein wird. Aber Ihnen wünsche ich noch viele glückliche Tage.“
Zwei Anmerkungen vor allem für die jüngeren Leser:
Bielitz liegt heute wie damals in Polen und ist der Landkreis in dem das Nazi-Vernichtungslager Auschwitz liegt. Der alte Mann hatte den Holocaust überlebt, meinen Vater übrigens auch. Er starb vor vier Jahren. Mein Vater 3 Monate nach dieser Geschichte. Weder er noch ich haben sie meiner Mutter erzählt oder gar meinen jüngeren Geschwistern...
Tag der Veröffentlichung: 10.11.2010
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