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Für immer verschwunden?

 

 

 

 

 

 

 

 

Jahr für Jahr verschwinden in Deutschland etwa 2100 Kinder und Jugendliche im Alter bis zu vierzehn Jahren.

Ein Teil von ihnen kehrt gesund und unversehrt in das besorgte Elternhaus zurück, bei einem weiteren Teil wird es zur bitteren Realität, dass sie einem brutalen Verbrechen zum Opfer gefallen sind.

Jedoch bleibt das Schicksal von geliebten Töchtern und Söhnen oder Enkelkindern oft ungeklärt und rätselhaft, bleiben sie

 

für immer verschwunden?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Es gibt immer wieder Anlass zu Kritik.“

Der große Mann ließ sich in den viel zu weichen

Ledersessel fallen. Seine tiefe Stimme, in die er all seine Unzufriedenheit legte, hallte durch das lange Zimmer. Große Gemälde an den Wänden, prunkvolle gläserne Kronleuchter, antike Möbelstücke, alles an und in dieser Räumlichkeit verriet, dass es ein Teil einer gut erhaltenen Festung oder einer Burg sein musste.

„Ich fordere Ergebnisse. In erster Linie in Fragen der Sicherheit, aber speziell auch auf dem Gebiet der Materialbeschaffung. Ich habe Berichte vorliegen, die eindeutig ihre als schwächste ausweist. Das muss doch einen Grund haben, oder?“

Mit gesenktem Haupt und herabhängenden Schultern stand der Befragte inmitten der Antiquitäten, als würde er zu ihnen gehören. Verlegen spielte er mit der breiten Krempe seines dunklen Filzhutes, welcher ebenso wie das frackähnliche, dunkelblaue Sakko und die schwarze, mit silbernen Borten abgesetzte, Stoffhose zur Pflichtbekleidung sprich Uniform bei jedem Vierteljahresrapport gehörten. Der Mittvierziger mit dem glatten schwarzen Haar und dem gepflegten Schnauzer, welcher gekonnt eine dunkelrote Narbe unter der Nase

verbarg, wurde noch nervöser und suchte wie ein kleines Kind nach Ausreden.

„Ich habe zurzeit private Probleme.“

Dies war zwar eine ziemlich schnelle, jedoch sehr unpassende Notlüge.

„Dann lösen sie diese. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich durch sie unser großes Ziel gefährden lasse.“

„Ja, aber ich …“

„Ich will Ergebnisse sehen. Aktivieren sie ihre Leute, wir machen doch hier keine Spielerchen. Wenn sie beim nächsten Rapport wieder die schlechtesten Zahlen haben, werde ich einen Nachfolger berufen, und sie wissen, was das für sie bedeutet.“

Der Angesprochene erstarrte zur Skulptur. Und ob er wusste, was das bedeutete. Und er wusste auch, dass weder Widerworte noch Erklärungen, und seien sie noch so wahrheitsgetreu und von ihm unbeeinflussbar, bei diesem Despoten etwas bewirken würden. Sein selbstherrliches „Sie können wegtreten!“ bestätigten seine Überlegungen.

 

* * *

 

Thomas und Tobias waren schon lange Freunde, sehr gute

Freunde. Einmal in der Woche trafen sich die sechzehn-jährigen Jungs auf dem Sportplatz draußen vor dem Dorf, um gemeinsam Fußball zu spielen. Kicken war ihre große Leidenschaft.

„Toby, es ist Zeit, wir müssen los.“

Nachdem sie ihre sieben Sachen zusammengepackt hatten, schwangen sie sich auf ihre Mountainbikes und fuhren nach Hause. Sie hatten fast den gleichen Weg, denn sie mussten in dieselbe Straße.

Tobias wohnte mit seinen Eltern in einem schönen zweistöckigen Einfamilienhaus. Während sein Vater als Wissenschaftler in der Forschung außerhalb arbeitete und nur das Wochenende nach Hause kam, hatte sich Frau Zerber voll und ganz aus dem Berufsleben zurückgezogen; die Erziehung der drei Kinder sowie Haus und Grundstück nahmen sie voll und ganz in Anspruch.

Thomas wohnte noch immer mit seinen Eltern und einer jüngeren Schwester in dem großen alten Mehrfamilienhaus, wo noch vor einem Jahr Tobias sein Nachbar war. Die Mutter von Tommy, so nannten Thomas fast alle, war als Lehrerin in der hiesigen Grundschule sehr beliebt bei den Kindern, den Kollegen und auch bei den Eltern. Vater Schneider hatte eine Kanzlei in Kronstedt, dem nahe

gelegenen Städtchen.

Nachdem sich die Freunde verabschiedet hatten und Tobias auf Zerbers Grundstück abgebogen war, ging Thomas aus dem Sattel und erhöhte das Tempo, um pünktlich wie immer zu Hause zu sein. Als der junge Mann

die große Vierraum-Wohnung im ersten Stock betrat, begannen im Radio gerade die Sechs-Uhr-Nachrichten.

„Hallo, ich bin da … a!“

„Hallo Tommy, pünktlich wie ein Maurer.“

Frau Schneider war stolz darauf, dass sie sich auf ihren Großen so verlassen konnte.

„Das Essen ist gleich fertig.“

„Ich geh mich nur noch frisch machen.“

„Ist gut. Bringe dann bitte gleich Sabine mit.“

Als sich die Kinder eingefunden hatten, setzten sich alle an den liebevoll gedeckten Tisch der rustikalen Essecke in der Küche.

„Psst!“

„Was ist denn?“

„Im Radio …“

Gabriele Schneider machte den Ton lauter:

„… berichtete der Sprecher der Polizei gegenüber unserem Sender. Wir werden sie über den weiteren Verlauf der

Ermittlungen informieren. Hamburg …“

„Was war denn?“

„Es wird schon wieder ein zwölfjähriges Mädchen aus Mittelbach vermisst. Das nimmt und nimmt kein Ende mit diesen Entführungen und Kinderschändereien.“

Mutter Schneiders Gesicht drückte große Besorgnis aus:

„Sabine, versprich mir …“

„Ja Mutti, das haben wir doch schon so oft besprochen.“

„Nimm dir ein Beispiel an Thomas, nach dem kann man die Uhr stellen.“

„Was hab ich denn gemacht? Ich bin doch auch immer pünktlich.“

„Ja, aber du weißt …“

„Mutti, lass doch Sabine. Du kannst dich doch auf sie auch verlassen.“

„Na ja, aber …“

„Ja, ich weiß. Aber jedes Mal, wenn es im Radio oder im Fernseher darum geht, fängt alles wieder von vorne an.“

„Ist schon gut, Kinder, ihr habt ja Recht. Na dann, lasst es euch schmecken.“

Die Kinder bedankten sich und es zog wieder Ruhe ein, so dass alle anfingen zu essen.

„Wo ist eigentlich Vati?“

„Er hat angerufen, es wird bei ihm heute später.“

 

* * *

 

Sehr oft wurde er schon gefragt, ob das als Privatdetektiv nicht langweilig ist, dieses ewige Gewarte.

Karl Schneider griff in die weiten Taschen seines Trenchcoats, holte Feuerzeug sowie ein Zigarillo heraus und leierte das Fenster in der Fahrertür herunter. Nachdem er den Glimmstängel angezündet hatte, ließ er sich gelangweilt an die Rückenlehne des Fahrersitzes fallen. Wie lange würde es heute wieder dauern? Zehn Minuten? Drei Stunden? Immer dieses ewige Gewarte. Diese schier unendlich lange Zeit nutzte Karl Schneider meist dazu, um die Fakten der offenen Fälle noch einmal zu recherchieren, zu sortieren und die Puzzles aneinander zu setzen. Doch heute wollte ihm das nicht so recht gelingen. Immer wieder überraschte er sich selbst mit den Gedanken an seine Familie. Er hatte eine glückliche Kindheit. Als Kind von Anna und Richard Schneider wurde er zwar nicht verwöhnt, aber mit allem versorgt, was er für ein behagliches Zuhause brauchte. Dafür war er damals und auch heute noch seinen Eltern sehr dankbar.

In diesem Moment fiel ihm auf, dass ein Besuch bei ihnen überfällig war. Es gab da bestimmt wieder ein paar Dinge, bei denen Mutter und Vater seine Hilfe brauchten. Auf jeden Fall freuten sie sich immer auf ihre Enkel, und auch auf Gabriele, obwohl sie anfangs gegen eine Beziehung zwischen ihrem Sohn und seiner jetzigen Ehefrau waren. Die Eltern hatten Karl nie irgendeine Unterstützung verweigert. Ob das in den Kindheitsjahren war, während seiner Jugendzeit oder auch dann, als erwachsener Mann. Sogar bei seinem Berufswunsch als Privatdetektiv halfen sie, wo sie nur konnten, im Gegenteil, sie hatten ihn förmlich dazu überredet. Aber warum sie gegen seine Ehefrau waren, blieb für Karl bis heute ein Rätsel. Das änderte sich erst, als Gabi mit Thomas schwanger war. Seitdem war sie nicht nur eine Schwiegertochter für seine Eltern, sie liebten und achteten sie über alles.

Der Abend hatte lange seinen dunklen Mantel übergezogen, als zwei kleine Lichtpunkte auftauchten. Schneider griff zu seiner Kamera. Schnell hatte er das unbekannte Objekt im Sucher erfasst, fuhr den Fokus voll aus und konnte es jetzt genau erkennen: ein Auto kam langsam herangerollt. Die Fahrweise und die Tatsache, dass der Fahrer nur das Standlicht eingeschaltet hatte,

erhärteten den Verdacht: das musste er sein. Aus dem Verdacht wurde Gewissheit. Der Unbekannte stellte seinen Polo möglichst verborgen ab, jedoch nicht weit weg von dem Objekt, das er auszurauben beabsichtigte. Der Mann; so wie sich die Gestalt bewegte, musste es ein Mann sein; stieg aus und lief übertrieben unauffällig auf dem Bürgersteig entlang, schaute sich viel zu hektisch und viel zu oft um und verschwand urplötzlich zwischen dem Lebensmittelladen und dem Uhrengeschäft. Jetzt wurde es Ernst. Noch einmal ein kurzer Blick durch die Infrarotkamera zum Auto des Verdächtigen und es war klar, der Mann hatte den Motor laufen lassen, also führte er etwas im Schilde.

Der Detektiv drückte auf eine Speicherwahltaste seines Autotelefons.

„Polizeiwache vier, Auguststraße …“, klang es aus dem Lautsprecher.

„Ich möchte einen Einbruch melden.“

„Wer spricht denn da?“

„Das Uhrengeschäft hier in Kronstedt in der Brückenstraße wird gerade jetzt in diesem Moment überfallen.“

„Sagen sie uns doch …“

Klick, Schneider hatte sein Telefon abgeschaltet.

„Sicher ist sicher“ sagte der Privatdetektiv zu sich selbst, „entweder die kommen gar nicht oder mit Sirene und Blaulicht.“ Er knipste die Innenraumbeleuchtung seines Wagens aus, öffnete vorsichtig die Fahrertür und stellte ein kleines Gefährt auf den Asphalt. Nun nahm er die Fernbedienung und setzte den „Krebs“, wie er selbst das kleine Ding nannte, in Bewegung. Gekonnt steuerte er das Minifahrzeug Richtung PKW des vermeintlichen Einbrechers. Zielsicher ließ er es gegen den Hinterreifen rasen. Beim Aufprall klappten die „Scheren“ aus,

umklammerten das Rad und bohrten ihre Spikes in das Profil.

In diesem Moment erklangen auch schon die Sirenen von zwei Einsatzwagen der Polizei. Genüsslich beobachtete Karl Schneider das Geschehen gegenüber auf der anderen Straßenseite, wo sich die Ereignisse jetzt überschlugen. Gewarnt durch das Sirenengeheul kam der Einbrecher herbei gestürmt, sprang in seinen Wagen und gab Gas. Ein dumpfer Knall und der „Krebs“ hatte seine Aufgabe erfüllt.

„Armes Kerlchen!“

Der Detektiv grinste dennoch zufrieden. Er war stolz darauf, dass er es wieder einmal geschafft hatte, den

Auftrag eines Mandanten zu erfüllen, wie er überhaupt stolz darauf war, was er in seinem Berufsleben alles erreicht hatte: ein tolles Büro, einen zuverlässigen Mitarbeiter und vor allem eine zufriedene Kundschaft, welche sein Wissen, seine Diskretion und seine Fairness zu schätzen wusste. Er schaute seelenfroh zu, wie kurze Augenblicke später der Verbrecher umstieg, jedoch in ein Fahrzeug, mit dem er eigentlich nie mitfahren wollte.

Als der ganze Spuk vorbei war, startete Schneider sein Auto und fuhr zurück zur Kanzlei. Obwohl es immer das Gleiche war, ließ es der Privatdetektiv nie zur Routine werden, denn gerade das könnte in seinem Beruf gefährlich werden, ja sogar tödlich enden. Also konzentrierte er sich beim Betreten des Geschäftshauses wie immer auf die von ihm selbst installierten Sicherungen. Da war als erstes dieses unscheinbare kleine Licht im Schalter, welches nicht wie gewohnt anzeigte, wo sich der Lichtschalter befindet, wenn es dunkel ist, sondern ob irgendwer die Treppe herauf gekommen ist. Diese Lampe war aus. Aber es konnte doch sein, dass jemand die Stufe einfach nicht benutzt hat, welche das kleine Licht einschaltet, jemand, der es eilig hatte oder der aus Gewohnheit immer zwei Stufen nimmt oder aus welchem Grund auch immer.

Deswegen klebte, für nicht Eingeweihte unsichtbar, ein Stück Plastikfolie oben zwischen Tür und Rahmen. Auch diese Sicherung war unbeschädigt. Schneider konnte also ohne Bedenken die Tür zu seinen Geschäftsräumen aufschließen und die Kanzlei betreten.

Der Detektiv zog den Trenchcoat aus und hängte ihn an den Garderobenständer. Er rückte das Jackett zurecht, unter welchem er wie gewohnt einen dunkelfarbigen Rolli trug. Nachdem er sich vor dem Spiegel noch das dunkelblonde mittellange Haar gerichtet hatte, mit welchem er geschickt das kleine Muttermahl über der rechten Augenbraue verdeckte, nahm er am rustikalen Schreibtisch Platz. Er knipste die Kontrolllampe für die Treppe aus und schaltete das Telefon auf Lautsprecher, wählte und ließ es klingeln. Genau, als sich nach drei kurzen Pieptönen die sanfte Frauenstimme meldete, sprang das angeschlossene Tonbandgerät an, denn der Detektiv dokumentierte alle Gespräche:

„Kuppe, guten Abend.“

„Guten Abend, Frau Kuppe. Kann ich ihren Mann sprechen?“

„Wer ist denn da?“

„Kanzlei Schneider.“

„Ach, Herr Schneider, einen kleinen Moment bitte, ich hole meinen Mann.“

Der Detektiv konnte die rufenden Worte der Frau über den abgelegten Hörer vernehmen. „Walter, kommst du mal, der Herr Schneider.“ Nach kurzer Zeit meldete sich eine raue Männerstimme.

„Kuppe.“

„Guten Abend, Herr Kuppe. Entschuldigen sie die späte Störung, aber ich muss ihnen eine gute und eine schlechte Mitteilung machen.“

„Zuerst die schlechte.“

„Sie haben heute noch eine ganze Menge Arbeit vor sich. Suchen sie ihre Inventarlisten, Lieferscheine, Zahlungsbelege und so weiter heraus, die werden sie morgen bestimmt brauchen.“

„Sage sie bloß, sie haben den Kerl erwischt?!“

„Tja, wenn sie sich nicht beeilen, wird der wieder

auf freien Fuß gesetzt. Also gehen sie morgen zur Polizeiwache 4 in der Auguststraße und machen sie ihre Anzeige.“

„Ich schätze mal, das ist die gute Nachricht.“

„Genau. Ich wünsche ihnen und ihrer Familie noch einen schönen Abend, Herr Kuppe.“

„Ja, danke. Auch einen schönen Gruß in unbekannter Weise an ihre Familie. Und vielen Dank noch einmal, ich denke, dass jetzt endlich Ruhe ist mit diesen Einbrüchen.“

„Das denke ich auch, auf Wiederhören.“

Karl Schneider drückte das Telefon aus und die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters an. Nach kurzem Geknister und Gepiepse erklang die Stimme von Klaus Bodinger vom Band:

„Hallo Karl, ich bin es mit der obligatorischen Meldung …“

Der Privatdetektiv und sein Mitarbeiter hatten eine Vereinbarung: immer wenn einer von beiden außerhalb tätig war, das heißt, mal einen Tag nicht im Büro erschien, meldete sich dieser beim jeweils Anderen. Wieder so eine Sicherung, die Schneider eingebaut hatte.

„… Soweit läuft alles ganz gut, aber ich bin da auf was gestoßen, was mich ein wenig beunruhigt. Das ist aber nichts fürs Telefon. Wir machen das dann auf die übliche Art und Weise. Das war’s für heute, tschüss, bis morgen.“

Die Nachricht seines Mitarbeiters war die einzige heute auf dem Band, aber sie löste eine gewisse Neugierde bei Schneider aus. Was meinte er nur damit? Na ja, in drei Wochen ist er aus Brasilien zurück. Und wenn es sehr wichtig und dringend war, würde er bald Post von Karl

bekommen.

Für heute war erst einmal Feierabend. Ein kurzer Blick auf die Wanduhr verriet ihm, dass es wieder einmal ziemlich spät geworden war. Eigentlich zu spät, denn er hatte in den letzten Wochen viel zu wenig Zeit mit seiner Familie verbracht. Gabriele und die Kinder mussten sehr oft allein mit allem klarkommen. Vor allem jedoch fehlte ihm das Zusammensein mit seinen Lieben. Die Nähe zu seiner Frau, die Gespräche unter Männern mit seinem Sohn, das Präsentsein als Vater für seine Tochter, all das musste er unbedingt ändern.

 

* * *

 

Einmal im Jahr, jedes Mal zur „Saisoneröffnung“, wie alle den Anlass nannten, traf sich die ganze, große Familie, die im Laufe der Zeit gewachsen und gewachsen war. Aus Kindern waren Eltern, aus Eltern Großeltern und aus Oma und Opa waren Uroma und Uropa geworden. Der Stammbaum einer urwüchsigen Eiche mit vielen gesunden und kräftigen Ästen und Verzweigungen, der aber tief verwurzelt hier in Pausendorf war, wo sich alle aus Tradition und Familienzusammengehörigkeit immer wieder

an diesem Tag einfanden.

Achim Schober hatte mit seiner Frau Heidrun und seinen zwei Kindern noch nie diesen wichtigen Termin verpasst. Ja, er war wirklich wichtig für ihn. Zum einen hing Achim sehr an seinen Eltern und zum anderen konnte er wenigstens einmal im Jahr seine Geschwister und deren Familien sehen. Es gab immer viel zu erzählen und Neues zu berichten; und die Kinder, die Grüppchen weise fast das gleiche Alter hatten, tobten sich so richtig aus und verstanden sich prächtig, eben darum, weil sie sich nur einmal im Jahr sahen.

Aber auch so ein schöner Tag musste einmal zu Ende gehen. Da die Schobers im Gegensatz zu einem Teil von Achims Geschwistern sehr rücksichtsvoll waren, traten sie noch vor dem Abendessen die Rückreise an. Der Tag war sehr anstrengend für die gealterten Gastgeber und daher wollte Familie Schober zumindest ein wenig für Beruhigung durch ihren Aufbruch sorgen. Zudem hatte sie die längste Heimfahrt von allen vor sich.

Nach einer regelrechten Verabschiedungszeremonie ging es ab nach Hause, jedoch nicht ohne ihr ebenso traditionelles Abendessen in einem, für Fremde kaum wahrzunehmenden, kleinem Gasthaus im Stile einer Block-

hütte, etwas versteckt im Kiefernwald nahe Nissau, der Kreisstadt von Pausendorf.

Diesmal war jedoch alles anders. Schon beim Einbiegen auf den Parkplatz bemerkten die Schobers, dass hier heute mächtig viel Betrieb war, denn es war kaum noch ein Fleckchen frei. Das wäre nicht so verwunderlich gewesen, da ja das Gasthaus und besonders die rustikale Küche einen sehr guten Ruf hatte. Sonderbar war nur die Herkunft der vielen, meist teuren Fahrzeuge. Die Nummernschilder verrieten, dass hier Besucher oder Gäste aus allen Teilen des Landes angereist waren. Die Schobers blieben dennoch ihrer Tradition treu und parkten ein.

Am Eingang zum Wirtshaus stand ein mittelgroßer Mittvierziger mit kurzem schwarzem Haar und einem gepflegten Schnauzbart. Sein Äußeres, der dunkelblaue Frack und die verzierte schwarze Hose, ließen einen Pförtner vermuten, nur ein bisschen ausgefallener. Als der dann auch noch die Schobers nicht in die Gaststube ließ, sondern in den großen ungemütlicheren Raum umleitete, bemerkte Sohn Christian ironisch:

„Bei denen muss es aber gut laufen, wenn die sich einen Pförtner leisten können.“

Eine Weile lang lief alles ab wie jedes Mal, außer, dass man

nicht an seinem Stammtisch saß. Alle suchten sich ihre Lieblingsspeise aus und dann wurde bestellt. Die Kinder wurden langsam unruhig, besonders Melanie, die achtjährige Tochter. Heute dauerte es wirklich lange mit der Zubereitung.

Inzwischen war das Kneipengemurmel im Nebenraum, der Gaststube, verstummt und es hörte sich an, als hielte jemand eine Ansprache.

„Na, das war scheinbar doch kein Pförtner“, bemerkte Christian.

„Wer weiß?!“, Achim Schober sah die ganze Sache nicht so ernst: „Vielleicht irgend ein Schützenverein oder so etwas.“

Während Heidrun Schober damit beschäftigt war, Melanie die Wartezeit bis zum Abendessen zu verkürzen, nahm Achim immer öfter Bruchstücke des Gesagten im Nebenraum wahr. Und das, was er hörte, machte ihn zunehmend nachdenklicher, ja sogar unsicher.

„Melanie, komm da weg.“

Allein die Tatsache, dass seine Tochter nur in die Nähe der Tür kam, ließ Achim jetzt die Fassung verlieren.

„Was ist denn los?“

Seine Frau wunderte sich über diese plötzliche Gefühlswandlung bei ihrem Mann.

„Das muss doch nicht sein, dass sie immer rumrennt. Kann sie denn nicht am Tisch sitzen bleiben?“

„Das dauert aber auch heute“, verteidigte Heidrun die Unruhe ihrer Tochter.

Endlich, der Kellner brachte das Bestellte.

„Ich erzähl dir das später mal, jetzt lass uns nur in Ruhe essen.“

Schon zwanzig Minuten später begaben sich die Schobers bereits auf den Heimweg, weg von dieser einst so geliebten Blockhütte.

„Ich möchte mal wissen, was das für eine Truppe war, die haben ja ein paar Dinger gucken lassen.“

„Christian, vergiss das lieber schnell.“

„Warum?“

„Ja warum denn?“, mischte sich Frau Schober in das Gespräch zwischen Vater und Sohn ein.

„Ich weiß auch nicht. Aber irgendetwas beunruhigte mich an diesem ganzen Verein.“

„Aber einen schönen Anzug hatte der Pförtner an“, musste auch Melanie noch ihren Senf dazu geben.

„Wisst ihr was? Am besten, wir vergessen das alles, als wären wir heute gar nicht hier gewesen. Schluss, aus!“

Damit hatte Achim Schober ein Machtwort gesprochen. Je

weniger über eine Sache, einen Vorfall, eine Begegnung geredet wurde, umso schneller würde sie jeder vergessen. Alle versprachen sich gegenseitig, diese gesamte Geschichte niemandem außerhalb der Familie zu erzählen.

„Das soll ab sofort unser kleines Geheimnis bleiben.“

 

* * *

 

Zwei Wochen später …

 

Christian Schober saß im Wohnzimmer und sah sich einen Actionfilm mit Chuck Norris im Fernsehen an. Normalerweise war er um diese Zeit schon schlafen, aber er wollte noch auf die Rückkehr seiner Familie warten, die zum Geburtstag von Tante Elke nach Böllinghausen gefahren war. Gewöhnlich fuhr er immer mit, aber gestern kam da kurzfristig eine wichtige Sache dazwischen, die Christian unbedingt erledigen musste: sein Freund Michael hatte angerufen und ihn gebeten, vorbei zu kommen und sich das Moped anzusehen. Der Junge wünschte sich schon lange ein Moped, und dieses war in gutem Zustand, preiswert und schon Anfang der Woche zu haben.

Es war ein verregneter Sonntagabend. Christian erhob sich aus dem weichen Sessel, ging an das große Balkonfenster und schaute durch die Gardine hinaus auf die Straße. Langsam machte er sich Sorgen. Morgen früh müssen doch alle wieder zeitig aus dem Haus, und für Melanie war es doch jetzt schon viel zu spät. So etwas kannte er von seinen Eltern überhaupt nicht. Im Licht der Straßenlaternen konnte der junge Mann erkennen, dass es sich so richtig eingeregnet hatte, das Wasser konnte gar nicht mehr so schnell ablaufen, wie es von oben herunter kam. Große Pfützen hatten sich bereits gebildet, von denen aus kleine Rinnsale sich in alle Richtungen den Weg bahnten.

Eine Weile schon schaute Christian den Wasserspielen auf der Straße zu, in Gedanken versunken an sein vielleicht neues Moped, an seine Kumpels, die ihn darum beneiden würden, an die Mädchen, die er zu einer Testfahrt mitnehmen könnte und … na endlich, es hatte an der Wohnungstür geklingelt. Mit schnellen Schritten ging er durch den Korridor und riss die Tür auf.

„Guten Abend. Sind sie Christian Schober?“

Vor der Wohnung standen zwei Männer in gepflegtem Äußeren, mit Sakko und Binder. Der junge Mann war

überrascht, ja erschrocken, denn er hatte keine Fremden erwartet.

„Sie sind doch Christian Schober, oder?“, fragte der andere mit ruhiger Stimme noch einmal vorsichtig nach.

„Ja, aber … aber …“ Christian war verwirrt.

„Mein Name ist Albrecht, das ist mein Kollege Zimmermann“, begann der etwas Kleinere und Ältere der beiden zu erläutern, holte Ausweis und Marke aus dem Sakko und hielt diese dem verstörten Jungen vor die Augen, „wir kommen vom Polizeirevier. Dürfen wir hereinkommen?“

Christian konnte nun gar nichts mehr sagen und deutete mit der Hand nur kurz an, dass sich die Fremden in das Wohnzimmer begeben möchten. Ihm steckte ein Kloß im Hals, das Herz raste wie wild, die Hände wurden feucht und nur schwer konnte er die Tränen unterdrücken, die ihm bereits in den Augen standen. Er ahnte das Schlimmste; und nach kurzer Zeit wurde das Schlimmste Gewissheit: seine Familie hatte einen schweren Verkehrsunfall, und alle, seine geliebte Mutter, sein von ihm bewunderter Vater und seine kleine anhängliche Schwester Melanie sind dabei ums Leben gekommen.

 

* * *

 

„Vati, kann ich dich kurz sprechen?“

Respektvoll äugte Thomas in das Arbeitszimmer

seines Vaters.

Karl Schneider versuchte, das Dienstliche hier zu Hause vom Privaten zu trennen, so gut es eben ging, jedoch gelang es ihm nicht immer. Daher hatte er sich den kleinsten Raum der Wohnung hergerichtet, um sich mal zurückzuziehen oder mit Klienten, die den Weg in die Kanzlei scheuten, in aller Ruhe reden zu können.

„Hallo Thomas, komm doch rein.“

Der Sohn trat zögerlich ein, schaute sich um, als wäre er das erste Mal in diesem Raum, und nahm langsam auf dem kleinen gemütlichen Sofa Platz.

„Na, was ist denn los?! Hast du irgendwas angestellt?“

„Nein, nein …“

„Liebeskummer?“

„Ach Quatsch …“

„Brauchst du etwa …“

„Es geht nicht um mich.“

„Ist es etwas Ernstes?“

Karl Schneider lehnte sich langsam in seinem gepolsterten Drehsessel zurück und nahm seine Zuhörstellung ein, die er normalerweise bei neuen Klienten bevorzugte.

„Ja … also … wie soll ich da anfangen … du kennst doch den Christian Schober?“

„Der Junge aus deiner Klasse, dessen Familie verunglückt ist?“

„Ja, genau der. Also der Christian hat da … oder könnte dir das der Christian selber erklären?“ Gespannt wartete Thomas auf die Reaktion seines Vaters.

„Warum fragst du denn, du weißt doch, dass ich mir grundsätzlich erst einmal alles anhöre.“

„Weil Christian unten im Hof wartet.“

Karl Schneider stimmte dem Gespräch zu, obwohl er sich ziemlich überrumpelt vorkam.

Was sich der Privatdetektiv jetzt von dem jungen Mann, der das Geschehene noch immer nicht richtig verarbeitet hatte, zu hören bekam, konnte er nicht glauben. Christian Schober behauptete felsenfest, dass der Verkehrsunfall, bei dem seine Familie ums Leben kam, nie und nimmer ein Unfall gewesen sei. Zumindest muss da jemand anderes daran schuld gewesen sein oder … oder … oder.

„Christian, weißt du, was du da sagst?“

„Ja, das weiß ich genau.“

„Die Konsequenz daraus wäre, es gäbe einen Unfallverursacher, einen Schuldigen oder so etwas, auf

jeden Fall würde hier eine Straftat vorliegen. Wie kommst du denn darauf?“

„Weil meine Mutti gefahren ist. Sie hatte erst vor einem halben Jahr den Führerschein gemacht, und wenn sie seitdem mal fuhr, dann immer übervorsichtig, sie wurde immer überholt. Und dann besonders bei diesem Wetter, es hatte ja in Strömen gegossen.“

„Christian, schau mal. Das ist doch nur eine Vermutung. Gerade bei diesem Wetter hat es jemand, der nicht so eine Fahrpraxis hat, besonders schwer. Wenn da ein Fahrzeug mit schlecht eingestellten oder mehreren Scheinwerfern entgegen kommt, dann …“

„Herr Schneider“, unterbrach der Junge die für ihn unangenehme Belehrung, „da ist noch etwas, was ich ihnen erzählen muss.“

„Na dann mal raus damit.“

„Also“, Christian holte tief Luft und begann zu erzählen, „es war ja eigentlich geplant, dass wir alle gemeinsam zu Tante Elke fahren. Dass ich zu Hause geblieben bin, hat sich ganz kurzfristig ergeben.“

„Du willst doch nicht etwa behaupten …“

„Doch, das will ich. Seit diesem Unfall bin ich dreimal gerade so mit dem Schrecken davon gekommen. Erst fuhr

mich ein Auto an und verschwand, obwohl ich mit dem Fahrrad ziemlich schwer gestürzt war, dann hat jemand versucht, mich auf die Straße vor einen Laster zu schubsen, dann knallte ein großer Stein kurz neben mir auf die Straße … das kann doch alles kein Zufall sein.“

Karl Schneider hatte aufmerksam zugehört und wurde sehr nachdenklich. Ging hier die Phantasie mit dem Jungen durch oder hat da wirklich wer versucht, ihn zu beseitigen?

Christian war verwirrt, ihm standen die Tränen in den Augen: „Sie glauben mir auch nicht, oder? Was ist, wenn ich beim nächsten Mal nicht so viel Glück habe?!“

Schneider sah ihm an, dass er sehr verängstigt, ja eingeschüchtert war. Dazu noch der Verlust seiner Lieben vor kurzem und die daraufhin verursachte Isolierung von seiner gewohnten Umgebung sowie von seinen Freunden durch den Umzug zu Tante Elke. Wie musste dieser Junge leiden, und wie stark war er dennoch.

Für den Privatdetektiv war klar, hier musste er unbedingt was tun, und wenn es nur dazu dienen würde, Ruhe in das Leben dieses psychisch so belasteten jungen Mann zu bringen.

 

* * *

 

„Hallo Hannes!“

„Hallo Karl, Mensch, dich habe ich ja lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir, wie geht es deiner Familie?“

Hannes Grabowski war sichtlich überrascht, dass sein alter Freund Karl Schneider wieder einmal zu Besuch kam. Beide liefen sich vor langer Zeit das erste Mal über den Weg und gerieten in einen Streit über einen Fall. Seitdem achtete jeder den Anderen für das, was er zu leisten vermag.

„Danke gut, und dir?“

„Wie es einem in diesem Beruf eben so geht. Erzähl mal, wie geht es Gabi und den Kindern.“

„Prächtig. Wir müssten uns wieder einmal treffen, schön grillen, ein Bierchen oder zwei. Die Frauen hätten sich sicherlich einiges zu erzählen, und wir natürlich auch.“

„Das ist eine tolle Idee, das müssen wir unbedingt mal auf die Reihe bekommen.“

„Genau. Aber deswegen bin ich gar nicht hier.“

„Das habe ich mir schon gedacht.“

Hannes Grabowski war Inspektor bei der Kriminalpolizei und hatte schon des Öfteren dienliche Hinweise für den Privatdetektiv gehabt, jedoch immer unter Beachtung der Vorschriften.

„Du weißt, ich würde nicht hier her kommen, wenn es nicht

wichtig wäre.“

„Worum geht es denn, sprich dich aus.“

„Um einen Verkehrsunfall. Der Fall müsste bei euch abgeschlossen sein, sonst würde ich mich da nicht reinhängen.“

„Und welcher?“

„Der vor etwa drei Wochen. Eine Familie Schober ist dabei ums Leben gekommen.“

„Ja, ich kann mich erinnern. Den hatten wir aber gar nicht auf dem Tisch, das war eine reine Angelegenheit der Verkehrspolizei, also nichts, was nach einer Straftat aussah.“

„Könnte ich irgendwie mal die Akte einsehen? Es ist wirklich wichtig.“

„Muss ich darüber was wissen?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich hatte gestern ein interessantes Gespräch mit dem Christian Schober, ich wollte da nur mal was überprüfen, reine Routine.“

„In Ordnung, ich rufe unten an und lass sie dir raussuchen. Aber denke bitte daran, wenn sich irgendetwas in meiner Richtung ergibt, will ich der erste sein, der informiert wird.“

„Ich denke, wir kennen uns lange genug. Du weißt, dass

du dich auf mich verlassen kannst. Mach’s gut Hannes, ich habe es eilig. Ich will mir heute zum Feierabend den Unfallort mal ansehen. Tschüss, ich muss los.“

„Tschüss Karl, schönen Gruß an Gabi.“

„Danke, du auch.“

Der Privatdetektiv verließ das Büro von Inspektor Grabowski und begab sich eine Etage tiefer zur uniformierten Truppe.

 

* * *

 

Karl Schneider hatte die Akte gesichtet und die für ihn wichtigen Hinweise in sein Notizbuch übernommen. So war ihm jetzt bekannt, an welcher Stelle der so tragische Unfall passiert war. Also wusste er genau, wo er mit seinen Recherchen beginnen konnte; und das tat er noch am gleichen Tag.

Nachdem er zum regulären Zeitpunkt seine Kanzlei verlassen hatte, begab er sich direkt auf die Landstraße, die Kronstedt mit Birkenhain verband. Schon Bald hatte er die beschriebene Stelle gefunden. Schneider parkte seinen Wagen in einer kleinen Waldeinfahrt. Er stieg aus und ging die letzten Meter bis zur scharfen Linkskurve zu Fuß, wo

der Ford Fiesta schnurgerade die steile Böschung hinuntergestürzt war und dann gegen eine stämmige Birke knallte. Dem Privatdetektiv schossen alle Informationen durch den Kopf, die er von Christian Schober und aus der Polizeiakte hatte. Er versuchte, sie zu ordnen, sich ein Bild vom Hergang des Unglücks zu machen und er kam zu dem Schluss: hier konnte tatsächlich etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Umso gründlicher würde er also jetzt vorgehen und begann, den Asphalt zu untersuchen. Zentimeter für Zentimeter nahm er in Augenschein, und er wurde wahrlich fündig. Ob dies nur ein Zufall war oder wirklich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Lothar Liberka
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2013
ISBN: 978-3-7309-0701-6

Alle Rechte vorbehalten

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